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Full text of "Zeitschrift für französische Sprache und Literatur"

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Zeitschrift 


für 


französische  Sprache  und  Litteraiur 

unter  besonderer  Mitwirkung  ihrer  Begründer 

Dr.  G.  Kcerting  un.i  Dr.  E.  Koschwitz 

Professor a.cl. Universität  z.  Kiel         Professor a.d.Uuiveröitätz.Greifswald 

herausgegeben 
von 

Dr.  D.  Behrens, 


Professor  au  der  Universität  zu  Giesseu. 


Band  XV. 


Berlin. 

Verlag-  von  Willu'lm  Groiniu. 
18y;5. 


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Zeitschrift 


für 


frajizüsische  Sprache  und  Litteratur 

unter  besonderer  Mitwirkung  ihrer  Begründer 

Dr.  G.  Kcerting  umi  Dr.  E.  Koschwitz 

Professor  a.  tl.  L'uiversität  z.  Kiel        Proiossor  a.  d.  üiiiversitiit  z.  üreifswald 
herausgegeben 


Dr.  D.  Behrens,  .^ 


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Professor  au  der  Universität  'iu  Giessen.      3^^^^  I  *1  I 


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Band  XV. 
Erste  Hälfte:  Abhandlungen. 


Berlin. 

Verlag  von  Wilhelm  Gronau. 
1893. 


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INHALT. 


Abhandlungen. 

Seite 
Hartmann,  K.   A.  Martin,    Die  neue  Moliere-Uebersetziing  von 

Ludwig  Fulda 308 

Koschwitz,  E.,   Die  französische  Xuvellistik  und  Ronianlitteratur 

über  den  Krieg  1870/71 73 

Mabrenliültz,  R.,  Die  Memoiren  des  Fürsten  Talleyrand     ...  61 

Mann,  M.  F.,  Lafontaine  als  Scbuiscbriftstellcr 293 

Morgenroth,  K.,  Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen  .  .  1 
Sachs,  K.,  Ueber  die  neueren  französischen  Literaturbestrebungen, 

besonders  die  Decadents 24 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen. 
I. 

Allgemeines  über  die  Bedingungen  des  Bedentungswechsels 
und  dessen  Erklärung. 

In  seinem  im  ersten  Bande  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie 
und  Sprachwissenschaft  erschienenen  Versuche  eines  Systems  der  Ety- 
mologie unterscheidet  L.  Tobler  zwischen  immanenter  und  zu- 
fälliger Bedeutungsänderung-.  Erstere  soll  aus  einer  der  Sprache 
selbst  ursprünglich  innewohnenden,  der  natürlichen  Ordnung  der 
Dinge  entsprechenden  Anlage  zur  Entwickelung  zu  begreifen  sein, 
während  letztere  meistens  durch  willkürliches  Thun  oder  Eeflectieren 
der  Menschen  zu  Stande  komme.  Gegen  die  Fassung  dieses  Unter- 
schiedes Hesse  sich  nun  viel  einwenden.  Vor  Allem,  dass  die  Sprache 
nicht  als  selbständiger  Organismus  betrachtet  werden  kann,  der  die 
Ui'sache  seiner  Entwickelung  in  sich  selbst  trägt,  sondern  als  ein 
Product  gemeinsamer  menschlicher  Arbeit. 

Bei  seiner  Beurteilung  des  Darmes  teter 'sehen  Buches:  „La 
vie  des  mots  etudiee  dans  leurs  sigmßcations"  im  Journal  des  Savants 
(Fevrier  1887)  und  schon  früher  Sclüeicher  gegenüber  in  der  Revue 
critiquc  d'histoire  et  de  litterature  1868  t  II  p.  242  hat  Gas  ton 
Paris  auf  diesen  häufig  begegnenden  Irrtum  hingewiesen  und 
ausgeführt,  dass  man  vor  all  diesen  Metaphern:  organisme,  naitre, 
crmtre,  se  developper,  vieillir  et  mourir,  auf  der  Hut  sein  müsse. 
Denn  die  Entwickelung  der  Sprache  liege  nicht  in  dieser  selbst, 
sondern  im  Menschen,  in  den  physiologischen  und  psychischen  Gesetzen 
der  menschlichen  Natur.  Giebt  es  nun  aber  wirklich  solche,  aus 
denen  sich  der  Bedeutungswandel  erklären  lässt?  Können  wir  da 
von  Gesetzen  reden,  wo  die  spontane  Thätigkeit  des  individuellen 
Empfindens,  Denkens  und  WoUens  so  tief  eingreift  und  die  kulturellen 
Bedingungen  einen  so  grossen  Einfluss  üben?  Das  sind  Fragen, 
welche  sich  bei  der  Lektüre  der  Gaston  Paris'schen  Kritik  auf- 
drängen, besonders  wenn  auf  den  gewaltigen  Einfluss  des  Theaters, 
der   Litteratur,    der  Journalistik   hingewiesen   wird.     Auf  die   be- 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.   XV'.  1 


2  K.  Morgenroth. 

stimmende  Gewalt  der  Kulturbedingungen  macht  auch  besonders 
Breal  in  seiner  Besprechung  desselben  Buches  in  der  Revue  des 
deux  mondes  (Juli  1887  unter  dem  Titel:  L'histoire  des  mots)  auf- 
merksam, indem  er  S.  192 — 94  ausführt,  wie  sich  die  Bedeutungen 
besonders  durch  die  Bildung  verschiedener  Berufsklassen  in  ver- 
schiedenem Sinne  entwickeln.  So  zeigt  auch  Oscar  Weise  in 
seiner  beachtenswerten  Charactcristik  der  lateinischen  Sprache  (Leipzig 
Teubner  1891),  dass  besonders  der  metaphorische  Gebrauch  der 
Wörter  durch  den  ieweiligen  Kulturzustand  eines  Volkes  bestimmt 
wird.  Es  dürfte  demnach  wohl  behauptet  werden  können,  dass  die 
Sprache  vorzugsweise  ein  historisches  Product  ist  und  in  ihren 
Wandlungen  die  Eigenarten  der  Völker,  ihre  Anschauungen,  ihr 
Wissen  und  ihre  Erfahrungen  entfaltet.  Wie  die  Geschichte,  ist 
auch  die  Bedeutungslehre  Wissenschaft  von  der  Entwickelung  der 
Menschen ,  weshalb  dieselbe  Methode  auch  auf  sie  Anwendung 
linden  wird. 

Es  werden  deshalb  wohl  die  allgemeinen  physischen  (physio- 
logischen), psychischen  und  kulturellen  Factoren  des  Bedeutungs- 
wandels zu  erörtern  sein,  aber  auf  Aufstellung  allgemeingültiger 
Gesetze  muss,  wie  in  der  Geschichte,  so  auch  hier  verzichtet  werden. 
Die  Bedeutungslehre  kann  auch  nur  den  Zusammenhang  der  ver- 
schiedenen Wortbedeutungen  zu  erklären  suchen.  Wie  eine  Ein- 
teilung der  Bedeutungsentwickelung  in  psychidogische  und  historische 
nicht  durchführbar  ist,  zeigt  sich  schon  in  der  Abhandlung  Toblers, 
wo  die  Variationen  des  Sprachgebrauches  zwischen  mhd.  adel  (Ge- 
schlecht überhaupt),  gelt  (vertragsmässige  Leistung  überhaupt),  icette 
(rechtliches  Pfaiul),  ding  (Gerichtsverhandlung)  und  den  neuhoch- 
deutschen Bedeutungen  derselben  Wörter  als  eine  Art  des  im- 
manenten Bedeutungswechsels  aufgefasst  werden,  während  doch 
liier  Veränderungen  im  socialen  Leben  bestimmend  gewirkt  haben 
müssen. 

Inneres  und  äusseres  Geschehen,  die  Wirkung  der  psychologischen 
Associationsgesetze  mit  den  sich  ihnen  anschliessenden  Appeiceptions- 
vorgäiigen  und  die  Entfaltung  des  historischen  Ganges  der  Ereignisse 
greifen  eben  so  ineinander,  dass  eine  solche  Trennung  des  Bedeutungs- 
wandels gar  nicht  durchführbar  ist.  Auch  scheint  übersehen  zu 
sein,  dass  den  meisten  Bedeutungsänderungen  Willenshandlungen  zu 
Grunde  liegen,  nämlich  das  Setzen  neuer  Beziehungen,  auf  dem 
wesentlich  der  historische  Fortschritt  l)eruht. 

Welchen  Wert  könnte  aber  eine  sogenannte  psychologische 
Klassifizierung  der  verschiedenen  Bedeutungsentwickelungen  nach 
äusseren  und  inneren  Associationen  haben?  Jedenfalls  einen  sehi" 
geringen,  weil  der  psychische  Mechanismus  allein  nichts  erklärt  und 
die  sprachlichen  Associationen  im  Dienste  des  Willens  stehen,  welcher 


Zum  BedeutHngsicandel  im  Französischen.  3 

im   einzelnen   Falle   immer  diejenige   erfasst,    welche    den    grössten 
Gefühlswert   für   das   Bewusstsein   besitzt.      So   meint   auch  Gaston 
Paris,  dass  man  wohl  bei  der  Bildung  neuer  Bedeutungen  die  Ideen- 
association  versteht;   aber  nicht  einsieht,   warum  dieselbe  in  dieser 
und  nicht  in  einer  andern  Richtung  wirkt.     Wir  können  nicht  er- 
klären,   warum   z.   B.    im   Französischen   bureati,    das   zuerst   einen 
groben  Wollenstoff  von  brauner,  dann  von  grüner  Farbe  bezeichnet, 
den  mit  diesem  Stoff  überzogenen  Arbeitstisch  und  weiter  jedes  Möbel 
in  der  Kanzlei,  die   Kanzlei  selbst,  ja  sogar  das  Personal  derselben 
benennt.     Warum  ist  der  Schreibtisch  aufgefasst  als  ein  mit  Wollstoff 
überzogener   Tisch,    nicht    nach    seinem   Zweck    als   table   ä   ecriref 
Warum   ist   auch   hureaic  nur  Bezeichnung  des  mit  dem  genannten 
Stoff'  überzogenen  Tisches,  nicht  auch  eines  andern  Stoffes  oder  der 
Personen,  welche  sich  in  diesen  Stoff'  kleiden,  so  wie  grisette  zuerst 
nur  einen  grauen  Stoff',   ein  graues  Hauskleid  und  später  auch  die 
diesen   Stoff  tragenden   Nähterinnen    bezeichnet?     (S.    Journal   des 
Savants  1887,  S.  154.)    Mit  W.  Wundt  wird  die  neuere  Psychologie 
hierauf  antworten,   dass  der  Apperceptionsakt  nicht  durch  die  Be- 
ziehungen zwischen  Siibject  und  Object  allein  bestimmt  wird,  sondern 
dass    sein    besonderer    Verlauf  in    weit    höhei'eni    Grade    teils    von 
den  begleitenden   Verhältnissen   der   äusseren  Dinge,    teils  von   der 
intellectuellen    Richtung    der    einzelnen    Personen    oder    einzelnen 
Generationen  und  Völker  abhängt.     Wollen  wir  deshalb  den  Grund 
eines  einzelneu  Bedeutungsüberganges  ausfindig  machen,  so  müssen  wir 
uns  in  das  Bewusstsein  der  Gesellschaftsklasse,  unter  der  derselbe  vor 
sich   ging,   versetzen   und  die   äusseren  veranlassenden  Verhältnisse 
uns  vergegenwärtigen  können.    Wir  müssen  immer  den  besonderen 
Fall   aufsuchen,   der  die  Entstehung   der   neuen  Bedeutung  veran- 
lasste.    So  erklärt  z.  B.  defier  (diffidare)  =  a  fide  quam  quis  alicui 
debet  aut  pollicitus  est,   per  litteras  aut  epistolam  delicere,    seinen 
Bedeutungswechsel    nur    durch    das    Bewusstsein    der    Gesellschafts- 
klasse,   die    ihn    vorzüglich   brauchte    und    mit   der    Aufkündigung 
der   Treue    die   Vorstellung    einer  Kriegserklärung,    einer  Heraus- 
forderung eng  verbunden  haben  muss.    Ähnlich  ist  auch  der  Wandel 
von  forfaire   (aus   tbris   facere)   zu    erklären.     Dasselbe   erhält   aus 
demselben  Grunde  die  Bedeutung:  sich  einer  Sache  unwürdig  machen, 
sich  derselben  berauben.     Der  Übergang  von  sauskr.  däsa  Feind  in 
däsa  Unterthan  (S.  M.  Müller  Selected  Essays  vol.  I.  S.  339)  wird 
durch  die  historische  Thatsache  der  Unterjochung  bestimmt. 

Freilich  wird  in  vielen  Fällen  der  Bedeutungswandel  schwer 
erklärbar  sein,  weil  wir  uns  nicht  in  die  ganze  Vergangenheit  und 
Anlage  des  Bewusstseins  eines  Volkes  versetzen  können.  Dieselbe 
Schwierigkeit  hat  übrigens  auch  der  Historiker  zu  überwinden,  wenn 
er  in  die  Empfindungen  und  Anschauungen  vergangener  Jahrhunderte 

1* 


4  K.  Morgenroth. 

zu  dringen  sucht.  Dennoch  darf  hier  wie  dort  an  der  Möglichkeit 
sicherer  Erkenntnis  nicht  gezweifelt  werden. 

Die  Schwierigkeit  einer  Einteilung  des  Bedeutungswandels  in 
psychologischen  und  historischen  tritt  ausser  bei  Tobler  noch  in 
anderen  Darstellungen  dieser  sprachlichen  Erscheinung  hervor.  So 
in  H.  Lelimann's  Arbeit  (1884)  über  den  Bedcidungsicandel  im 
Französischen.  Dort  werden  Seite  48 — 59  Wörter  angeführt,  die 
der  auf  Seite  9  festgestellten  Unterscheidung  zufolge  sich  unter  den 
historischen  Wörtern  des  3.  Kapitels  betinden  sollten.  Ausserdem 
verwiiTt  sich  die  Darstellung  des  Verfassers  noch  besonders  durch 
die  liier  ganz  unstatthafte  Hereinziehung  des  logischen  Begriffs. 
(So  schon  Seite  9.)  Während  in  dem  wirklichen  Denken  der  Begriff 
durch  seinen  Umfang  gedacht  wird,  will  ihn  Lehmann  durch  seinen 
Inhalt,  seine  Merkmale  denken  und  nennt  diese  Seite  14  überdies 
den  Umfang  des  Begriffes.  Es  will  sich  auch  deshalb  trotz  aller 
Einteilungen  das  gesammelte  reiche  Material  zu  keiner  übersicht- 
lichen und  befriedigenden  Ordnung  zusammenfügen.  Nur  über  die 
Gründe  des  Bedeutungswechsels  findet  sich  manche  wertvolle  Be- 
merkung. 

Auch  A.  Rosenstein  hat  in  seiner  Abhandlung  über  die 
psychologischen  Bedingungen  des  Bedeidtingswechsels  der  Wörter  (1884) 
keine  festen  Grenzen  zwischen  psychologischem  und  historischem  Be- 
deutungswandel gezogen.  Ausserdem  trifft  den  Verfasser,  dessen 
Untersuchung  in  W.  Wundts  Logik  wurzelt,  noch  der  Einwurf,  dass 
er  die  Benennungen  des  Letzteren  aus  ihrer  gewöhnlichen  Be- 
deutung herausgehoben  hat;  denn  unter  associativem  Bedeutungs- 
wechsel verstellt  derselbe  nicht  denjenigen,  bei  dem  zufällige  Asso- 
ciationen die  Hauptrolle  spielen,  sondern  die  bei  vorwiegend 
passiver  Apperception  sich  vollziehenden  Vorstellungsverbin- 
dungen. Es  wäre  deshalb  die  ganze  Einteilung  abzuändern  und 
müssten,  um  mit  W.  Wundt  übereinzustimmen,  die  Fälle  des  asso- 
eiativen  Bedeutungswechsels  beim  apperceptiven ,  umgekehrt,  die 
des  apperceptiven  beim  associativen  untergebracht  werden. 

A.  D armesteter  in  La  vie  des  tnots  etudiee  dans  Jcurs  signi- 
fications  (1887)  unterscheidet  ebenfalls  p.  90  zwischen  historischem 
und  psychologischem  Bedeutungswandel.  Wenn  er  aber  dem  zweiten 
diejenigen  Wörter  zuweist,  welche  den  meisten  Kulturvölkern  gemein- 
same Begriffe  und  Gefühle  bezeichnen,  so  lässt  auch  er  die  Schwierig- 
keit einer  solchen  Scheidung  erkennen,  weil  die  Entwickelung  einer 
Kultur  ohne  ein  historisches  Geschehen  unnii)glich  ist.  So  müssen 
erst  tugendhafte  Handlungen  erscheinen,  bevor  Wort  und  Begriff 
Tugend  entstehen  können.  Ehre,  ursprünglich  Gabe  bezeichnend,  wie 
altfranzösisch  honneur  zeigt  aucli  recht  deutlich,  wie  die  psychologische, 
innere  Entwickelung  von  der  historischen,  äusseren  abhängt.    Merk- 


Zum  Bedeutungstvandcl  im  Französischen.  5 

würdiger  ist  dies  noch  bei  Wörtern  wie  englisch  sltall  und  icill. 
Ersteres  bedeutet  nach  Whitney  ursprünglich:  eine  Übertretung 
begangen  haben  und  deshalb  straffällig  sein,  letzteres:  ich  habe 
gewählt  oder  noch  früher:  ich  habe  eingeschlossen. 

Als  rein  psychologische  Bedeutungsentwickelungen,  unabhängig 
von  einem  historischen  Geschehen ,  können  vielleicht  nur  die  der 
sinnlichen  Wahrnehmungen  aufgefasst  werden.  Doch  ist  auch  hier 
im  Auge  zu  behalten,  dass  nur  durch  gegenseitige  Verständigung, 
durch  gemeinschaftliche  Thätigkeit  einer  menschlichen  Gesellschaft 
dieselben  entstehen  konnten.  Die  Sprache  ist  eben  wesentlich  eine 
gesellschaftliche  Function.  Da  die  Formen  des  Bedeutungswechsels, 
wie  schon  erwähnt,  zur  Erklärung  desselben  nicht  führen,  so  kann 
hier  auf  eine  Betrachtung  derselben  verzichtet  werden.  Ebenso 
wenig  fördernd  ist  es,  die  verschiedenen  Veränderungen  der  Wort- 
bedeutung unter  den  von  den  Rhetorikern  gewählten  Namen: 
„Synekdoche,  Metonymie,  Metapher  und  Katachrese''  zu  behandeln, 
wie  Darraesteter  S.  45 — 73  gethan  hat.  Denn  es  sind  dies  nur  Be- 
zeichnungen für  die  verschiedenen  inneren  und  äusseren  Associationen; 
bei  der  Katachrese  kommt  nur  noch  vollständiges  Vergessen  der 
ursprünglichen  Bedeutung  hinzu.  Auch  wird  die  Einsicht  in  das 
Wesen  des  Bedeutungswechsels  nicht  besonders  vermehrt,  wenn 
Darmesteter  darlegt,  dass  eine  Reihe  von  Bedeutungsentwickelungen 
entweder  von  einem  gemeinschaftlichen  Mittelpunkte  ausgehen 
(le  rayonnement)  oder  mittelst  einer  Verkettung  von  Begriffen  durch 
Merkmale  gewonnen  werden  (V  encliamemeni) .  Indessen  können 
diese  Vorgänge  bei  den  psychischen  Bedingungen  des  Bedeutungs- 
wechsels immerhin  ihre  Stellen  finden.  Fruchtbar  und  den  Aus- 
führungen Breal's  über  den  Einfluss  der  verschiedenen  Lebens- 
sphären an  die  Seite  zu  stellen  ist  jedoch  seine  Bemerkung,  dass 
eine  Bedeutungsänderung  gewöhnlich  dadurch  erfolgt,  dass  ein  mit 
einem  Worte  schon  verknüpfter  Nebenbegriff  zum  Hauptbegriff 
wird.  (S.  86).  Bü\).  ijciien  lat.  ^^ar/aw^s  Landbewohner — Heiden. 
Ebenso  auch  seine  Bemerkungen  über  die  historischen  Gründe  des 
Bedeutungswechsels  (S.  34—35.)  und  sein  Satz:  „Le  transformismc 
jst  Ja  loi  de  Vevohdion  du  Jangage"  (S.  27). 

Sehr  beachtenswert  sind  auch  die  Ausführungen  Georg's 
von  der  Gabelentz  in  seinem  umfassenden  Werke  die  Sprach- 
wissenschaft, ihre  Aufgaben,  Methoden  und  Jjisherigen  Ergehnisse. 
(Leipzig,  T.  0.  Weigel  Nachfolger  1891).  Hier  begegnen  wir  zuerst 
S.  221  einigen  treffenden  Bemerkungen  über  den  Bedeutungswandel 
durch  das  laut-symbolische  Gefühl.  Ferner  in  S.  225—247  eine 
vollständige  Uebersicht  über  alle  beim  Bedeutungswechsel  bisher  in 
Betracht  gekommenen  Erscheinungen:  Verengung,  Erweiterung,  ein- 
seitige Verrückung    des    Ganzen,    Erhöhung    und   Erniedrigung    der 


6  K.  3Iorgenroth. 

Worte.  Es  sind  dies,  so  zu  sagen,  die  Ergebnisse  der  vollzogenen 
Associationen.  Bei  Aufzählung  der  bewegenden  Mächte  des  Be- 
deutungswechsels: „Aelinlichkeit  der  Vorstellungen,  Komposition  und 
Konstruction,  Entähnlichung  der  Bedeutungen  bei  Doubletten,  Ver- 
deutlichungen und  Verstärkungen,  Ironie  und  rhetorische  Frage, 
Sitte  und  Satzung"  hat  der  Verfasser  jedoch  die  wünschenswerte 
Vollständigkeit  wohl  nicht  ganz  erreicht. 

Eine  andere  Einteilung  des  Bedeutungswandels  hat  Dr.  G.  Franz 
in  seinem  1890  erschienenen  Programm  des  Wettiner  Gymnasiums 
zu  Dresden  durchgeführt.  Derselbe  findet  die  Ursachen  des  Bedeu- 
tungswandels einmal  in  dem  der  Sprache  innewohnenden  Streben 
nacli  Veränderung  (dem  transformisnic  Darmesteter's)  und  in  äusseren 
historischen  Gründen.  Es  ist  dies  im  Ganzen  wohl  zutreffend,  wenn 
wir  unter  Sprache  den  ganzen  menschlichen  Logos  verstehen. 
Immerhin  aber  führt  die  Einteilung  der  Arbeit  zu  Missverständnissen 
und  Vermengungen.  Denn  wenn  der  Bedeutungswandel  in  historisch 
erklärbaren  und  nicht  auf  äussere  historische  Gründe  zurückführbaren 
geschieden  wird,  so  leidet  die  Klarheit  der  Darstellung  durch  Unter- 
bringung der  psychisclien  Associationen  beim  sogenannten  Um- 
sprung  der  Bedeutung.  Ferner  ist  es  bedenklich:  Vermehrung, 
Erweiterung,  Vergröberung,  Veredelung  und  Umsprung  der  Bedeu- 
tung (auch  Verschiebung  genannt)  als  die  Arten  des  nicht  auf 
äussere  historische  Gründe  zurückführbaren  Bedeutungswandels  dai-- 
zustellen,  da  der  historische  dieselben  Resultate  aufweist.  Uebrigens 
entliält  die  Arbeit,  welche  sich  in  ihren  Ausführungen  besonders  die 
Ergebnisse  des  A.  Darmesteter'scheu  Buches  angeeignet  hat,  eine  Fülle 
von  Beispielen  über  alle  Arten  des  Bedeutungswandels  im  Franzö- 
sischen und  ist  deshalb  ein  schätzenswertes  Hülfsmittel  für  das 
Studium  des  Bedeutungswandels.  Auch  die  Dissertation  von 
E.  Thomsen  über  die  Bcdi'HiHngscntivickeJiuui  der  Scheideicörter  des 
Französi.-ic]ien  (Kiel  1890)  enthält  viel  Bemerkenswertes,  das  in 
der  speziellen  Darstellung  des  französischen  Bedeutungswandels 
zu  berücksichtigen  ist.  Hier  wird  es  genügen  zu  erwähnen,  dass, 
wie  Brächet  in  seinem  Dictionnaire  des  doubJets  an  drmbles  formes 
de  In  lanfjue  fnmraise  (Paris  1868),  der  \'erl'asser  die  französischen 
Scheidowörter  in  drei  Gruppen  behandelt:  gelehrten,  volkstümlichen 
und  ausländischen  Ursprungs.  Es  ist  jedoch  nicht  nötig  die  von 
dem  Verfasser  aufgestellten  Unterscheidungen  hier  näher  zu  erörtern, 
weil  die  gelehrten  "Wörter  keiner  Bedeutungsentwickelung  fähig 
sind,  Scheidewörter  ausländischen  Ursprunges  nicht  viel  des  Inter- 
essanten bieten  und  die  volkstümliclieu  nur  Spaltungen  sind,  welche 
olinehin  in  der  späteren  Darstellung  der  Bedingungendes  Bedeutungs- 
wechsels zur  Sprache  kommen. 

Ausführliches  über  die  verschiedenen  Formen  des  Wandels  der 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  7 

Wortbedeutung  ist  in  Hermann  Paul's  Principien  der  SjJrach- 
geschichte  (2.  Auflage  S.  66 — 84.  Kapitel  IV  Wandel  der  Wort- 
bedeutung) enthalten.  Die  Gründe  desselben  enthalten  besonders 
Kapitel  VII  (Bedeutungswandel  auf  syntaktischem  Gebiet)  und 
Kapitel  XIV  (Bedeutungsdifferenzirung.)  H.  Paul  bringt  die  Masse 
der  Erscheinungen  unter  3  Hauptrubriken  unter:  1.  Spezialisirung 
der  Bedeutung  durch  Verengung  des  Umfanges  und  Bereicherung 
des  Inhaltes.  2.  Beschrcänkung  auf  einen  Theil  des  ursprünglichen 
Inhaltes.  3.  Uebertragung  auf  das  räumlich,  zeitlich  oder  causal 
mit  dem  Grundbegriff  Verknüpfte. 

Auch  gegen  diese  Einteilung  macht  sich  das  Bedenken  geltend, 
dass  die  Associationen,  wie  sie  kurz  unter  Nr.  3  zusammengefasst 
sind,  allen  Bedeutungsveränderungen  vorausgehen  müssen  und  Be- 
reicherung sowie  Beschränkung  auf  einen  Teil  des  ursprünglichen 
Inhalts  erst  infolge  derselben  eintreten  können.  Was  im  Einzelnen 
über  Verwendung  von  Stoffbezeichnungen  für  Producte  aus  dem 
Stoff,  über  die  Entstehung  der  Eigennamen  durch  Verwandlung  der 
occasionellen  concreten  Bedeutung  gewisser  Wörter  in  usuellen, 
über  Bezeichnung  des  Teiles  eines  Gegenstandes  nach  dem  hinsicht- 
lich seiner  Lage  entsprechenden  Teile  eines  anderen  Gegenstandes, 
über  die  Analogie  zwischen  Eaum  und  Zeit,  über  die  Analogie 
zwischen  den  verschiedenen  Sinnes  Wahrnehmungen,  über  die  Über- 
tragung für  sinnliche  Wahrnehmungen  und  Zustände  auf  geistige, 
über  Bildung  von  Gattungsbegriffen  etc.  erörtert  wird,  dürfte  wohl 
füglich  am  besten  bei  Darstellung  der  Associationen  seine  richtige 
Stelle  finden. 

Aus  den  vorangehenden  Betrachtungen  ergiebt  sich  nun  zu- 
nächst Folgendes: 

1.  DerUnterschied  zwischen  psychischer  und  historischer 
Bedeutungsentwicklung  ist  nicht  durchführbar.  Die 
Sprache  ist  wesentlich  Function  der  menschlichen 
Gesellschaft,  welche  das  Streben  nach  Veränderung 
in    sich  trägt. 

2.  Bei  Behandlung  der  Bedeutungsentwicklung  ist 
auszugehen  von  den  Bedingungen  desselben,  den 
psychisch-physiologischen  und  kulturellen.  Die- 
selben sind  möglichst  vollständig  darzustellen. 

3.  Letzter  Grund  der  Bedeutungsentwickelung  ist  die 
Spontaneität  des  menschlichen  Geistes,  der  Wille, 
bei  welchem  von  Gesetzen  nicht  gesprochen  werden 
kann,  weil  diese  nur  die  constante  Art  ausdrücken, 
wie  reale  Dinge  sich  verhalten. 


8  K.  Morgenroth. 

Indem  wir    nun  versuchen    die  Bedingungen   des  Bedeutungs- 
wechsels aufzufinden,  unterscheiden  wir: 


A.  Die  psycho-physiologischen  Bedingungen. 

Darunter  fallen:  1.  Die  Associationsgesetze  mit  den  sich  ihnen 
anschliessenden  Apperceptionsvorgängen  der  Verdichtung  und  Ver- 
schiebung der  Vorstellungen.  2.  Der  Trieb  zur  Gruppenbildung. 
3.  *  Der  Differenzirungstrieb.  4.  Die  Entfaltung  des  Bewusstseins 
nach  einer  bestimmten  Ordnung.  5.  Der  Deutlichkeitstrieb.  6.  Die 
Ironie  (Gegensinn).  7.  Der  Euphemismus  und  die  Zote.  8.  Das 
Vergessen  der  Bedeutungen.  9.  Die  Gefühlsveränderungen.  10.  Die 
Verflechtungen  der  Wörter  in  der  Sprache.  11.  Die  Verflechtung 
von  Vorstellungen,  die  nicht  zum  sprachlichen  Ausdruck  gelangen. 
12.  Das  lautsymbolische  Gefühl. 

1.  Die  Associationsgesetze. 

Vor  Allem  ist  festzuhalten,  dass  allen  Bedeutungsentwickelungen 
die  Processe  des  psychischen  Mechanismus  „die  sogenannten  Asso- 
ciationsgesetze" zu  Grunde  liegen. 

Es  liegt  in  der  Entwicklung  der  Sprache  begründet,  dass 
jede  dem  Bewusstsein  sich  zudrcängende  neue  Vorstellung  durch 
eine  schon  vorhandene  erfasst  und  mit  ihr  verbunden  werden  muss. 
Darin  liegt  schon  ein  Unterschied  von  der  rein  psychischen  Association, 
welche  dem  Bewusstsein  sich  aufnötigt.  Anders  ist  es  bei  der 
sprachlichen  Association.  Hier  ündet  unter  den  verschiedenen 
psychisch  schon  vorhandenen  Verbindungen  eine  Auswahl  statt  und 
der  Wille  ergreift,  vom  Sprachbedürfnis  geleitet,  die  zweckmässigste. 
Dies  erklärt  auch  den  im  allgemeinen  logischen  Character  des  Be- 
deutungswechsels. 

Es  findet  beim  Bedeutungsübergang  eigentlich  eine  doppelte 
Association  statt:  1.  Die  zwischen  appercipirender  und  appercipirter 
Vorstellung.  2.  Die  zwischen  appercipirter  Vorstellung  und  dem 
Wort,  das  eine  Bewegungsvorstellung  ist. 

Auch  kommt  der  Prozess  mit  der  Association  nicht  zur  Ruhe, 
sondern  es  folgt  ihm  noch  eine  Verdichtung  oder  Verschiebung  der 
Vorstellungen,  infolge  deren  sicli  die  Bedeutung  des  Wortes  verengt 
(»der  erweitert.  Des  Weiteren  treten  noch  Associationen  mit  den 
Gefühlen  hinzu:  Die  Bedeutung  fällt  und  sinkt  im  Werte.  Denn 
das  Wort  ist  nicht  nur  Vertreter  einer  allgemeinen  Vorstellung, 
sondern  es  fliesst  ihm  auch  durch  vielseitige  Verflechtungen  und 
Beziehungen  noch  ein  besonderer  Gefühlswert  zu. 

Es  unterliegt  deshalb  stetem  Wandel  und   liängt   seine  Bedeu- 


Zum  Bedeuhmgsivayidel  im  Französischen.  9 

tung  ebenso  sehr  von  den  der  einzelnen  Sprache  eigentümlichen 
Associationen  der  Wörter  als  vom  Wechsel  der  Kultur  ab.  Bei- 
spiele für  die  verschiedenen  Associationen,  äussere  und  innere: 
Associationen  simultaner,  unabhängig  coexistireuder  simultaner  Vor- 
stellungen, successiver  Vorstellungen,  Associationen  nach  Über-  und 
Unterordnung,  nach  Bezeichnung  der  Coordination,  der  Ähnlichkeit, 
der  Abhängigkeit  werden  sich  in  den  nun  folgenden  Abschnitten, 
welche  die  die  Associationen  regelnden  Vorgänge  zu  behandeln 
haben,  in  Menge  bieten  und  wäre  es  deshalb  überflüssig,  dieselben 
hier  weitläufig  zu  behandeln. 

2.  Der  Trieb  zur  Gruppenbildung. 

In  seinen  Principien  der  Sprach geschicMe  hat  Hermann  Paul 
schon  treffend  bemerkt,  dass  das  Wort  seinem  Wesen  nach  einer 
Gruppe  ähnlicher  Vorstellungsmittel  als  Beziehungsmittel  diene. 
Es  scheint  dies  ein  Gesetz  der  spraclilichen  Entwickelung  zu  sein, 
nach  welcher  aus  einer  kleinen  Anzahl  von  Wurzeln  der  ganze 
Reichtum  des  Wortschatzes  einer  Sprache  entsteht.  Das  Wort 
erscheint  hier  bestimmt  vielen  Vorstellungen  als  gemeinsamer  Mittel- 
punkt zu  dienen,  eine  Erscheinung,  welche  schon  in  der  frühesten 
Sprachperiode  uns  entgegentritt. 

Dass,  wie  schon  Tobler  aufgestellt  hat,  es  besonders  lebens- 
kräftige und  fruchtbare,  lautlich  wie  begrifflich  wohlgetällige  und 
fügsame,  daher  zur  Apperception  besonders  geeignete  Wurzeln  und 
Wörter  gab,  wird  wohl  nicht  zu  bestreiten  sein  und  wäre  es  wohl 
wünschenswert,  dieselben  für  die  einzelnen  Sprachen  zusammen- 
zustellen. 

Im  einzelnen  ist  hier  zu  bemerken: 

a)  Wechselbegriffe  entstehen  oft  aus  einem  Grundbegriff.  So 
bedeutet  das  alte  „Ort"  „Anfang"  und  „Ende".  Das  alte  Ende 
auch  Anfang,  beides  eigentlich:  hervorragender  Teil,  subirc  heisst 
ebensowohl  hinabtauchen  wie  auftauchen,  cedere  und  sQ/sodai  be- 
deuten Gehen  und  Kommen,  frz.  l'liofe  ist  Wirt  und  Gast,  altfrz. 
detteur  Schuldner  und  Gläubiger  (s.  Lehmann),  apprendre  lernen 
und  lehren. 

b)  Begriffe,  die  eine  Negation  enthalten,  werden  oft  aus  ent- 
sprechenden positiven  abgeleitet.  Nhd.  brauchen  =  geniessen  und 
bedürfen,  angels.  hrucan  geniessen,  gebrauchen.  Vgl.  mhd.  bederben 
(gebrauchen):  darben.  Vgl.  deutsch  mangeln,  ahd.  mangolon  mit 
englisch  mangle  verstümmeln,  lat.  mancus.  Nihil  =  ne  hilum;  nicht 
:=:  neoiviht;  ne  rlen  =  non  rem.  Doch  kann  auch  das  Umgekelirte 
stattfinden;  so  schwächte  sich  im  17.  Jahrhundert  die  negative  I^e- 
deutung  von  md  so  ab,  dass  es  vielfach  =  aucun,  personne  gebraucht 
wurde ,    wie   es   noch  jetzt    nacli   komparativem   que   und   sans   ge- 


10  K.  Morgenroth. 

wohnlich  ist.     Ebenso  auch  pas  un  (S.  Haase,  französische  Syntax 
des  XVIL  Jahrhunderts  1888  §  52). 

c)  Ihrer  Natur  nach  doppelseitige  Anschauungen  werden 
manchmal  durch  ein  und  dasselbe  Wort  fixiert.  Bsp.  riechen  und 
schmecken,  die  sowohl  vom  Organ  als  von  der  Substanz  gebraucht 
werden.  Vgl.  franz.  sentir.  S.  auch  lat.  vallum  und  vallis.  Das 
Gegrabene  benannte  ebensowohl  den  Hügel  wie  die  Grube,  den  Damm 
wie  das  Thal,  da  es  unmöglich  ist,  eines  ohne  das  andere  hervor- 
zubringen. 

d)  Ursache  und  Wirkung  sind  meist  in  ein  und  derselben 
Wurzel  eingeschlossen  oder  werden  durch  dasselbe  Wort  bezeichnet. 
Hierher  gehört  auch  das  Nebeneinanderbestehen  der  transitiven  und 
intransitiven  Bedeutungen,  besonders  bei  Worten  der  Bewegung. 
Besonders  viele  Beispiele  lassen  sich  hier  aus  dem  Französischen 
beibringen.  Altfrz.  curage  Herz.  —  Neufrz.  courage  Absicht,  Mut. 
Vgl.  neufrz.  cueur  Herz  und  Mut.  errors  hatte  im  Altfranzösischen 
meist  den  Sinn  von  Pein,  Not.  Irrtum  hat  Pein,  Not  zur  Folge. 
Bsp.  Jason,  sire  hiax  amis  genz  Molt  soi  por  vos  en  grant  error. 
(Troie  ed  JoUy.)  Celle  remaint  en  grant  errors  (Jouf.  ed.  Hofmann.) 
invention  heisst  Erfindung  und  Erfindungskunst,  la  gräre  Gnade  und 
Begnadigung,  jeunesse  Jugend,  jeimesses  Jugendstreiche,  ignorance 
Unwissenheit,  ignorances  Fehltritte,  amitie  Frenndschaft  —  amities 
=  j)aroles  abligeanfes.  privation  Beraubung  und  der  daraus  erfolgende 
Zustand  des  Beraubtseins.  L'injure  das  gethane  und  erlittene  Un- 
recht, approidre  lernen  hat  im  Altfranzösischen  auch  die  Bedeutung 
von  gewohnt  sein.  Ein  Beispiel  aus  Rutebeuf  ist:  cnvis  lait  on  ce 
qiCon  aprend.  la  parole  die  Kede  (Fähigkeit)  und  das  Gesagte, 
Wort,  production  das  Schöpfungsvermögen  z.  B.  la  produdion 
poetique  das  poetische  Schöpfungsvennögen  und  das  Geschaffene,  la 
consfruction  das  Bauen  —  tme  constructlon  de  hols  ein  aus  Holz 
ausgeführter  Bau.  (Als  Folge  der  Handlung).  Justice  Gerechtigkeit 
und  Akt  der  Gerechtigkeit,  titre  Anspruch,  Kechtsgrund  (das  Be- 
deutung Schaftende)  —  Bedeutung;  z.  B.  les  titrcs  2^i'inci2)ai(x  de  cet 
homme  sont  fondes  sur  ....  S.  hierüber  auch  Darmesteter  S.  62: 
La  phipart  des  suhstantifs  frangais  en  -ement  dcsignent  d'ahord  Vaction 
verbale  abstraite  qn'exprime  le  radical,  et,  par  metonymie,  le  resuUat 
concrct  de  Vaction.  Einige  Beispiele  aus  anderen  Sprachen  sind: 
Spanisch:  aircarsc  sich  der  Luft  aussetzen  und  den  Schnupfen 
bekommen,  lograr  erlangen  und  haben,  besitzen,  intcntare  beab- 
sichtigen und  versuchen,  ausführen.  Lateinisch:  lingua  Zunge  — 
Sprache.  Man  vergleiche  auch  die  Metonymien  laetae  segetes,  tristis 
senectits,  Ceres  imä  Bach iis  für pa)iis  und  vinmn.  Griechisch:  eßukkov 
Impf,  ich  warf  und  Aorist  f("y«Äor  ich  ti'af.  tt/or  ich  hatte  eo/or  Aorist 
ich  bekam.    Deutsch:  Kriegen  =  sich  anstrengen,  streben,  trachten. 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  11 

widerstreben  und  Kriegen  =  erlialten,  bekommen.  Vgl.  alid.  whman 
sich  anstrengen,  kämpfen  und  geidnnan  gewinnen.  Icli  schiesse  einen 
Pfeil  und  ich  schiesse  (erlege)  einen  Hasen. 

Übergang  von  Bezeichnung  der  Wirkung  zur  Bezeichnung  der 
Ursache  liegt  vor  im  Frz.  araignee  (aranea)  urspr.  Spinngewebe, 
später  Spinne,  altfrz.  entercier  in  die  Hand  eines  Dritten  legen  — 
wiedererkennen,  apprendre  erfahren  —  mitteilen,  crayon  Skizze  — 
Stift,  mit  dem  diese  zu  Stande  kommt,  merci  Lohn,  Gnade,  vccu 
Gelübde  —  Wunsch  (das  das  Gelübde  Veranlassende)  vofum.  Schon 
im  Lateinischen  vereinigt  voveo  die  Bedeutungen  geloben  und 
wünschen.  —  Lateinisch:  f atigare  ermüden  und  tummeln,  z.  B. 
equos.  opprimere  unterdrücken  und  überraschen;  z.  B.  hostem.  syot 
urspr.  stark  sein,  fähig  sein,  können  geht  in  die  Bedeutung  „haben" 
über.  (Vgl.  auch  ungarisch  „birni"  Kraft  haben  zu  etwas,  heben 
können  —  besitzen,  haben,  können.)  Diese  ursprüngliche  Bedeutung 
erklärt  vielleicht:  syair  ovyyi'Wf.iriy  in  der  Bedeutung  1.  Verzeihung 
gewähren,  Antiph.  V.  5,  2.  Verzeihung  bekommen,  Ant.  V.  92.  zd 
jii&v  uxovoiu  Tujv  u/iiuQri]ji(urior  eysi  oi:yyr(t'i/.irjv ,  tu  dt  axovoia  ov/. 
s/si,  von  den  Vergehen  werden  die  unfreiwilligen  verziehen,  die 
freiwilligen  aber  nicht.  Dieselbe  zweifache  Bedeutung  lindet  sich 
bei  Demosthenes  XXI,  66.  tu  toiovtu  ttoisTv  s/si  tivu  ovyyvwf.ir^r 
(kann  verziehen  werden,  bekommt  Verzeihung).  Ebenso  gehören 
hierher:  alriur  s/siy  beschuldigt  werden  (Schuld  bekommen),  y.uTr^- 
yogiuv  sysiv  angeklagt  werden,  Dem.  LVII,  25.  vnoxpiav  h/m' 
verdächtigt  werden  (dagegen  auch  Verdacht  hegen),  do^uv  eyeiv 
Ruhm  haben  bei  anderen  '^dagegen  auch  eine  Meinimg  haben)  Aleid. 
n.  ooq).  27.  nioTir  i/w  es  wird  mir  vertraut.  Dem.  XXX,  16. 
Dagegen  ich  habe  Vertrauen,  Dem.  XVHI,  216. 

Wie  schon  gesagt  wurde,  besteht  das  der  Gruppenbildung 
Eigentümliche  darin,  dass  eine  Lautvorstellung  eine  grössere  Anzahl 
verschiedener  Vorstellungen  zusammenschliesst  und  so  das  Wort  als 
Beziehungspunkt  für  sehr  verschiedene,  oft  weit  von  einander  ent- 
fernte Begriffe  erscheint,  wie  z.  B.  frz.  denf  Zahn,  Zacke,  Scharte, 
kegelförmiger  Berggipfel  und  Gehege  von  Blumenbeeten,  timhrc 
Hammerglocke,  Klang,  Klangfarbe,  Stempel,  Stempelamt,  Schildhelm, 
Trommelboden  bedeuten  kann.  Ob  die  Association  immer  von  der- 
selben Vorstellung  ausgeht  oder  nicht,  ist  hierbei  gleichgiltig. 

3.  Der  Differenzierungstrieb. 
Während  der  Trieb  zur  Gruppenbildung  möglichst  viele  Be- 
griffe unter  einem  Worte  vereinigt,  wirkt  der  Dilferenzierungstrieb 
in  entgegengesetzter  Richtung  und  sucht  die  verschiedenen  Begriffe 
auch  lautlich  zu  trennen,  indem  er  entweder  in  die  Wurzeln  laut- 
liche Differenzierungen  einführt  und  so  Doppelbildungen  schafft  oder 


12  K.  Morgenroth. 

Bedeutungen  eines  Wortes  auf  andere  überträgt.  So  entstehen 
französisch  einerseits  chaise  und  cMire,  croyance  und  creance,  flairer 
und  fteurer,  gemir  und  geindre,  camp  und  cliamp,  caisse,  casse  und 
cJuUse ,  andrerseits  überträgt  „nager'^  ursprünglich  „schiffen  und 
schwimmen"  seine  erste  Bedeutung  auf  naviguer  und  es  scheiden 
sich  pis  und  poitrine,  elire  und  cJioisir,  issir  und  sortir,  venin  und 
poison,  enceinte  und  parc.     Vgl.  auch  lat.  orare  und  dicere. 

Bemerkt  zu  werden  verdient,  dass  die  Arten  meist  aus  den 
Gattungen  abgeleitet  werden.  Man  erklärt  dies  damit,  dass  beim 
Aussprechen  eines  allgemeinen  Namens,  wie  Tier,  Baum  etc.  uns 
zuerst  die  Hauptarten  von  Tieren  und  Bäumen  einfallen,  die  wir 
als  die  für  uns  am  wichtigsten  betrachten.  So  sei  bei  dem  Jäger 
das  Tier  das  weibliche  Dam-,  Rot  und  Elenwild  und  verstehe  der 
Norddeutsche  unter  Korn  vorzugsweise  den  Eoggen.  (Vgl.  auch 
catus:  das  Tierchen,    das  Junge  —  die  Katze;    atica  das  Vögelchen 

—  die  Cfans;  Ja  pecora  it.  das  Schaf;  dovq  Eiche,  eigentlich  Baum. 

Auf  dem  Streben  nach  Differenzierung  beruht  auch  der  Über- 
gang von  Baumnamen  in  Bezeichnungen  für  bestimmte  Waffen, 
grch.  i.is}dri  ist  Esche  und  Lanze,  grch.  izta  ist  Weide  und  Schild, 
atn.  ((Imr  ist  „Ulme"  und  Bogen,  grch.  utyurtT]  Speer,  bedeutet 
urspr.  Eiche  (alid.  ah),  dann  eichener  Speer.  Vgl.  auch  Buche 
und  Buch. 

Apperception  einer  Artvorstellung  durch  die  Gattungsvorstellung 
in  Folge  des  Differenzierungstriebes  liegt  ferner  vor  in:  chäiiment 
allgemeine  Unterweisung,  im  Neufrz.  Unterweisung  durch  Strafe. 
corroycr,  Felle  zurechtmachen,  gerben;  altfrz.  allgemein  bereiten, 
ausrichten.  Vgl.  angels.  gearician  praeparare  colligerc  sammeln  — 
Stellen  aus  einem  Buche  sammeln.  (Gelehrt)  chaon  nfrz.  Ableitung 
von  cavus  die  Höhlung  —  speziell  die  Höhlung  unter  dem  Hinter- 
haupt, Nackengrube.     /w^^/Kaninchenhidile  v.  hole.     Za&o»/"cr  arbeiten 

—  das  Feld  bearbeiten,    hraire  schreien  —  yanen.     divorce  Trennung 

—  Elieschcidung,  er  in  Haar  —  Rosshaar,  etal  Ort,  Stelle  —  Laden- 
tisch, Art  Tisch,  auf  dem  die  Fleischer  ihre  Waaren  legen,  gabclle 
Steuer  —  Steuer  auf  das  Salz,  jocus  wird  mjeu  zu  einer  bestimmten 
Art  des  Zeitvertreibs,  poncrc  legen  —  pondre  Eier  legen,  noyer 
(necarej  töten  —  ertrunken,  orteil  v.  articulus  Gelenk  —  grosse 
Zehe,  poison  (potio)  Getränk  —  Gift,  a^sener  altf.  einem  etwas 
bestimmen  oder  zuweisen  —  neufrz.  einen  Schlag  versetzen,  couvent 
Vereinigung  —  Vereinigung  von  Mönchen,  Kloster,  daintie  (v.  dig- 
nitas)  Würde,  Kostbarkeit  (S.  Rol.  45)  —  Leckerbissen  (eine  Art 
der  Kostbarkeit).  morve  (v.  morbus")  Krankheit  —  Rotz  der 
Pferde,  rohe  Kriegsbeute,  Raub  —  Kleid,  pomum  Frucht  —  pomme 
Apfel,  viandc  (vivenda)  Nahrungsmittel  —  Fleisch,  faon  das 
Junge  jedes  Tieres  —  Junges  des  Reh.    Rehkalb,     jumentian    Zug- 


Znm  Bedeutungswandel  im  Französischen.  13 

vieh,  noch  altf.  allgemein  Vieh,  Tier  im  Gegensatz  zum  Menschen 
wird  zu  jwnent  Stute,  pigeon  Taube  v.  pipio  junger,  piepender 
Vogel,  poussin  Küchlein,  altfrz.  allgemeine  Bedeutung  „Junges". 
Vgl.  noch  englisch  hound  und  fowl,  dtsch  Bettich  (radix)  als  wich- 
tigste Art  der  Wurzeln  gefasst. 

4.  Die  Entfaltung  des  Bewusstseins  nach  einer  bestimmten 

Ordnung. 

a)  Wir  bemerken  zuerst  bei  den  frühesten  Bezeichnungen  der 
sinnlichen  Wahrnehmungen,  dass  dieselben  nach  den  sie  veranlassenden 
begleitenden  Erscheinungen  benannt  werden.  So  erscheint  nach 
Bechtels  Untersuchungen  „sehen"  mit  „hell  sein,  leuchten"  identisch 
(Grundbegriff  „durchdringen");  hören  mit  tönen,  letzteres  bezeichnet 
sprachlich  das  Spannen,  aus  dem  der  Ton  hervorgeht.  Die  Verben, 
welche  ein  transitives  Schmecken  bedeuten,  sagen  eigentlich  nichts 
anderes  als  schlingen;  alle  diejenigen  aber,  die  zur  Bezeichnung  des 
intransitiven  Schmeckens  dienen,  heissen  von  Haus  aus  geradezu 
,fliessen" .  Eiechen  wird  von  rauchen  benannt,  berühren  von  bewegen. 
Die  äussere  Erscheinung  dient  also  zur  Bezeichnung  der  Empfindung. 
Es  scheint  überhaupt  von  der  sichtbaren  Bewegung  alle  Sprach- 
bezeichnung auszugehen.  So  bedeutet  auch  die  Wurzel  von  „schallen" 
wahrscheinlich  „scheiden,  spalten"  und  erinnert  an  die  Anwendung 
von  brechen  auf  Schall-  und  Lichterscheinungen.  Vgl.  frz.  toucher 
ahd.  zuclmi  (zucken),  altf.  Imndir  =  retenfir.  frz.  entendre  hören 
V.  intendere.  dtsch.  donnern  zu  mhd.  doncn  spannen,  dehnen.  Diese 
und  ähnliche  Bedeutungsübergänge  hängen  psychologisch  mit  der 
sogenannten  Projicierung  zusammen,  d.  h.  mit  der  notwendigen  Um- 
bildung unserer  Empfindung  zu  Aussendingen.  So  kann  auch 
der  Körperschmerz  nur  als  stechend,  beissend,  nagend,  bohrend, 
reissend  u.  s.  w.  charakterisiert  werden. 

b)  Ebenso  muss  die  Sprache  den  Ausdruck  für  Gefühle  in  ähn- 
licher Weise  gewinnen,  indem  sie  an  Vorstellungen  von  Aussen- 
dingen oder  auch  an  Empfindungen  anknüpft.  Beispiele :  Französisch 
courage  Herz  —  Mut.  les  entrailles  die  Eingeweide  —  Gefühl. 
angoisse  v.  angustia.  craindre  v.  tremere.  gai  hellfarbig,  lustig. 
abattu  niedergeschlagen,  lat.  horreo  starren  —  sich  entsetzen.  Vgl. 
deutsch  „entsetzen"  ursprünglich  aufspringen,  auffahren,  invideo 
bezeichnet  ursprünglich  eine  Art  des  Sehens.  Deutsch:  Kummer, 
mittelh.  Jcumber  =  frz.  decombres.  Feig  bedeutet  ursprünglich  zum 
Tode  bestimmt.     Zorn  ist  von  zerren  abzuleiten. 

c)  Übergang  von  einer  Sphäre  der  Sinnenwelt  auf  eine  andere 
findet  sich  sehr  häufig.  Grund:  Gefühlsanalogie.  So  kann  sweet 
auf  den  Geschmack,  den  Geruch,  das  Gehör  und  das  Gesicht  bezogen 
werden,  denn  man  spricht    von  sweet  fruits,   sweet  rose,   sweet  music 


14  K.  Morgenroth. 

und  siveet  face.  Deutsch  hell  aus  inhd.  hcl  Adj.  laut,  tönend.  Im 
Französischen  spricht  man  von  vin  aigre,  metal  aigre,  des  couleurs, 
des  tons  aigres.  Ferner  von  durete  und  mollesse  des  Ions,  une  voix 
criarde,  des  couleurs  criardes,  von  la  verte  odeur  de  la  rosee  etc. 
Aus  Toblers  Versuch  eines  Systems  der  Etymologie  führe  ich  noch 
an:  Lateinisch  siirdus  =  goth.  smris;  /nb'/Mg  heisst  auch  heiser, 
ags.  heäni  radius  und  tuba  (der  baumartig  hervorschiessende  Strahl 
und  Schall),  mhd.  läesen  sehen,  aber  korun  gustare,  ysvaaSui.  griech. 
amuXog,  Gi(f)X6c  blind,  lahm,  stumpf.  Auch  frz.  Volksausdrücke  wie 
il  holte  des  chässes  (er  schielt)  und  ü  louche  de  la  Jambe  (er  hinkt) 
können  hiermit  verglichen  werden. 

d)  Auch  die  Namen  der  Verstandesthätigkeiten ,  sowie  der 
durch  die  geistige  Thätigkeit  geschaffenen  Abstractioneu  und  Re- 
lationen müssen  aus  Bezeichnungen  sinnlicher  Wahrnehmungen  ab- 
geleitet werden.  Dies  beweist  die  Etymologie  von  Wörtern  wie 
Anschauung,  Vorstellung,  Begriff,  Beziehung,  Urteil,  Schluss  etc.; 
Lat.  saepe  v.  saepio,  durare  v.  durus,  it.  spesso,  it.  presso  nahe. 
«///,  ayyvq  eigentlich  eng,  dann  dicht,  d.  h.  nahe.  Sp.  harto  genug 
von  farcire,  die  adjectivischen  Adverbien  eben,  gerade,  wohl,  schon 
(Adv.  zu  schön),  kaum  (eigentlich  kränklich),  vgl.  lat.  aegrc. 
Frz.  ne-pas  =  non  passum,  ne-point  =  non  punctum  etc.  Auch  die 
Hülfszeitwörter  liaben,  wie  M.  Müller  in  Selected  essays  Bd.  I. 
S.  365  nachweist,  einen  materiellen  Character.  So  bedeutet  habere 
ursprünglich:  fest  halten  (vgl.  habenaj ,  e/io  ist  sanskr.  sah  und 
bedeutet  zuerst  stark  sein,  fähig  sein,  können.  Frz.  ete  (status) 
führt  auf  stare  stehen  zurück,  das  deutsche  werden  auf  sanskrit  vrit, 
das  lateinisch  vert  >.  Sanskrit  as-mi,  das  griechische  iuiii,  hatte  wahr- 
scheinlich die  Bedeutung  von  athmen.  Besondere  Aufmerksamkeit  ver- 
dient hier,  wie  durch  Vertiüchtigung  des  sinnlichen  Inhaltes  das  Wort 
immer  geeigneter  zum  Ausdruck  der  feinsten  Beziehungen  wird. 

Ferner  sind  die  ursprünglichen  Verhältnisse  Verhältnisse  der 
Bewegung  und  zeigt  es  sich,  dass  die  Zeitverhältnisse  nach  Analogie 
des  Raumes,  diese  durch  die  Bewegung  gedacht  sind.  Auch  die 
causale  Beziehung  wird  vieltach  mit  der  lokalen  verknüpft.  So 
wird  z.  B.  die  Präposition  „vor''  zunächst  für  den  Ort,  demnächst 
für  die  Zeit  gebraucht;  ebenso  „nach"  von  nahen.  „Durch"  be- 
zeichnet Ausdehnung  durch  den  Raum,  vollständiges  Erfüllen 
der  Zeit  und  C'ausalität.  Spanisch:  lucgo  und  altf.  Ines  haben 
aus  lat.  loco-s  die  Bedeutung  sofort  entwickelt.  Altf.  ou  (wie  das 
lat.  ubi)  ist  auch  temporell  in  ou  que  sobald  als.  Vgl.  Frz.  sur- 
le-champ  sofort;  pendant  que  zeigt  auf  pendere  zurück.  Deutsch: 
„Denn"  ist  ursprünglich  „dann".  Die  Begriftswörter :  „Raum", 
„Zeit"  sind  abgeleitet  von  Verben,  welche  ein  sich  Dehnen,  Er- 
strecken, aussagen. 


Zum  Bedeidungstvandel  im  Französischen.  15 

Bedeutnngsübergänge  von  der  abstracteu  in  die  sinnliche 
Sphäre,  die  sich  nicht  selten  vortinden,  deuten  nur  darauf  hin,  dass 
im  Bewusstsein  derer,  die  in  Wirklichkeit  den  Sprachgebrauch  be- 
herrschen, abstracte  Namen  gewöhnlich  mit  sinnlichen  Vorstellungen 
verbunden  werden.  Beispiele  hierzu  sind:  Französiscli :  Wörter  wie 
ameuhlement ,  amiisement ,  assaisonnement ,  atiroupement ,  hätiment, 
cauüonnement ,  welche  sowohl  die  abstracte  Handlung  als  auch  das 
concrete  Resultat  derselben  bezeichnen,  ümoin  von  testimonium. 
altf,  empire  auch  Heer  (S.  Aiol  et  Mirabel).  Jeunesse  in  der  Be- 
deutung „Mädchen",  adion  Handlung  —  Aktie,  la  recrue  Nach- 
wuchs —  Rekrut,  altf.  prison  Gefangener,  altfr.  conissance  Fahne. 
Englisch:  justice  in  der  Bedeutung  ,, Richter".  Italienisch:  podestä 
,, Amtmann"  aus  potesias;  prigione  =  prigioniere.  Deutsch:  Handlung 
=  Vei-kaufslokal.  Vorstand  =  Vorsteher.  Fee  aus  fata.  Spiel  in 
Windspiel.  Hierher  gehört  auch:  die  Menschheit,  Jugend  u.  s.  w. 
für  die  Menschen,  die  jungen  Leute.  Die  Musik  für  „die  Musiker" 
die  Clientel  für  ,,die  Clienten". 

5.    Der  Deutlichkeitstrieb. 

Dieser  tritt  besonders  in  der  nach  sinnlicher  Anschaulichkeit 
strebenden  Volkssprache  hervor.  Wörter  wie  testa  (irdenes  Gefäss, 
Topf)  frz.  Ute;  bucca  (vollgestopfte  Backe)  bouche:  spatula  (Keule) 
epaule,  minare  (das  Vieh  antreiben)  mener  sind  durch  denselben  in 
eine  höhere  Sphäre  versetzt  worden  und  heute  noch  zeigt  derselbe 
seine  Wirksamkeit  im  Eindringen  einer  Menge  Wörter  des  Argot 
in  die  Litteratursprache,  wie  timge  Schwierigkeit,  decrotter  abschleifen, 
detacher  geben,  versetzen,  empoigner  scharf  kritisieren,  enfoncer  über- 
tölpeln etc.  Damit  hängt  auch  die  Bezeichnung  menschlicher  Fehler 
und  Schwächen  durch  Tiernamen  zusammen,  so  coquart  Geck  von  coq; 
dupe  Tölpel  von  huppe  Widehopf,  pigeon  Gimpel  etc. 

6.    Die  Ironie  (Gegensinn). 

Wie  Anwendung  derselben  Bedeutungsänderung  herbeiführen 
kann,  zeigen  Wörter  wie  bonhomme,  henet  (benedictus),  innocent,  und 
englisch  sillij  vom  altengl.  saelig. 

7.    Der  Euphemismus  und  die  Zote. 

Die  Scheu,  die  Dinge  beim  rechten  Namen  zu  nennen,  sowie 
die  Zote  bewirken  zahlreiche  Bedeutungsänderungen.  So  erhielt 
garce  das  im  Altfranzösischen  „Mädchen"  bedeutet  eine  schlimme 
Nebenbedeutung  und  dem  Wort  fiUe  ist  es  auch  nicht  besser  ergangen. 
Auch  poison  ursprünglich  potio,  Trank,  entspringt  aus  dem  Bedürfnis, 
einen  starken  Ausdruck  abzuschwächen. 


16  K.  Morgenroth. 

8.  Das  Vergessen  der  Bedeutungen. 
Es  hat  dies  wohl  seinen  häufigsten  Grund  in  der  Kultur- 
entwickelung, welche  das  Interesse  an  vielen  Vorstellungen  verblassen 
und  mit  der  Zeit  ganz  verschwinden  lässt.  Doch  lässt  sich  dasselbe 
aucli  mit  einer  Eigenschaft  der  Apperception  in  Verbindung  bringen, 
nämlich  mit  der  ihre  Thätigkeit  vorwiegend  auf  eine  Vorstellung 
zu  beschränken,  wie  sie  sich  schon  bei  der  Wortschöpfung  zeigt. 
Bei  der  Bedeutungsentwickelung  von  Wörtern  wie  connefable  (comes 
Stabuli),  marechal  (marescal),  cour  (cohors)  verschmelzen  Vorstellungs- 
reihen in  der  Weise,  dass  sie  um  einen  gemeinschaftlichen  Mittel- 
punkt treten,  zu  dem  sie  in  die  verschiedensten  Beziehungen  gesetzt 
werden.  Im  Ganzen  der  Entwickelung  werden  dann  die  dem  Zwecke 
des  Ganzen  nicht  mehr  entsprechenden  Vorstellungen  ausgeschaltet 
und  wegen  ihrer  Bedeutungslosigkeit  für  das  Ganze  völlig  vergessen. 
Auch  kann  im  Laufe  der  Kulturentwickelung  eine  mit  einem  Worte 
verknüpfte  Nebenvorstellung  so  in  den  Vordergrund  des  seelischen 
Interesses  gerückt  werden,  dass  die  frühere  Hauptvorstellung  dadurch 
völlig  verdrängt  wird,  wie  es  bei  paien  (paganus)  geschah. 

9.    Die  Gefühl-s Veränderungen. 

Wie  schon  erwähnt,  hängen  dieselben  sowohl  von  den  uns 
umgebenden  realen  Verhältnissen  als  auch  vom  Gang  der  Kultur 
ab  und  beeinflussen  dann  ihrerseits  durch  Steigerung  oder  Herab- 
setzung des  Gefühlswertes  die  Entwickelung  der  Wortbedeutungen. 
Wie  sehr  sicli  dadurch  die  Bedeutung  eines  Wortes  ändern  kann, 
mögen  folgende  Beispiele  zur  Anschauung  bringen:  senior  der  Altere 
ging  schon  früher  in  Folge  der  dem  Alter  erwiesenen  Achtung  und 
Ehrerbietung  über  in  die  Bedeutung :  Herr,  Gebieter.  Altf.  losengier 
Schmeichler  wird  zum  Betrüger,  Verleumder  durch  leicht  begreifliche 
Gefühlsassociation.  sycophante  Angeber  wird  zu  Halunke,  Schuft. 
Aus  captivus  wurde  clietif  elend.  Altfrz.  frairin  arm  geht  in 
die  Bedeutung  verächtlich  über.  Vgl.  angels.  earm,  verächtlich. 
vilain  (villanus)  Dorftewohner  sinkt  durch  die  Missachtung,  in 
der  er  im  Mittelalter  stand,  sogar  herab  zur  Bezeichnung  des 
Unsittlichen ,  Unmanierlichen ,  Hässlichen.  Vgl.  die  Bedeutung 
bourgeois  im  Bewusstsein  des  Arbeiters,  garce  junges  Mädchen, 
in  der  alten  Sprache,  wird  zum  Schmähwort.  Ebenso  erhält  ,,fiUe'' 
durch  Nebenbeziehungen,  die  den  Gefühlswert  herabsetzen,  einen 
schlimmen  Sinn.  (S.  Darmesteter,  Vie  des  niots  S.  166).  incsquin,  e 
erhebt  sich  und  sinkt  wieder,  indem  es  von  der  Bedeutung  elend 
zur  Vorstellung  „junger  Knabe,  junges  Mädchen'^  übergeht,  um 
wieder  zu  seiner  ersten  Bedeutung  zurükzusinken.  valet  junger 
Krieger  (sogar  Königssohn)  wird  zum  Diener,  Knecht.  Dagegen 
erhebt  sich  angels.  cniht  Knabe,  junger  Mann  zum  Ritter. 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  17 

Bemerkt  mag  auch  werden,  dass  eine  Schätzung  des  Gefühls 
im  Französischen  und  anderen  Sprachen  häufig  durch  ein  Suffix 
zum  Ausdruck  gelangt:  so  bedeutet  asse  (aceus)  Missfälliges,  z.  B. 
bestiasse,  auch  dtre  wirkt  verschlimmernd,  z.  B.  genüllätre,  wäh- 
rend mit  et,  ette,  ot,  otte  etwas  Getälliges  bezeichnet  wird.  S.  be- 
sonders das  Italienische  und  Spanische. 

Ebenso  kamen  die  Wörter  tete,  bouche,  jotie,  epatde,  mener 
nicht  allein  dui'ch  ein  Verblassen  und  Zurücktreten  der  sinnlichen 
Anschauung  zu  ihrer  gegenwärtigen  Bedeutung,  sondern  es  fand 
auch  ein  Steigen  des  Gefühlswertes  statt,  wodurch  die  in  roher, 
volksmässiger  Weise  aufgefassten  Bezeichnungen  in  eine  höhere 
Sphäre  versetzt  werden.  W^ie  sich  Gefühle  mit  den  sinnlichen  Vor- 
stellungen verknüpfen  und  so  eine  tiefgreifende  Bedeutungsänderung 
herbeiführen,  zeigt  sich  besonders  auf  dem  ethischen  Gebiet.  So 
weist  W.  Wundt  in  seiner  Ethik  nach,  dass  sich  an  die  Befriedigung 
tierischer  Triebe  zuerst  religiöse,  dann  ästhetische  und  ethische 
Motive  anknüpfen,  woraus  so  Normen  des  Handelns  entstehen,  deren 
sittliche  Bedeutung  erst  allmählich  mit  klarem  Bewusstsein  erfasst  wird. 
So  entwickelt  sich  mit  dem  Begriff  des  Essens  (urspr.  Verteilung)  auch 
der  der  Gerechtigkeit,  der  Ordnung  und  der  Unterordnung.  Von 
der  äusseren  Schätzung  findet  der  Übergang  in  die  Charactereigen- 
schaften  statt.  Den  Wandel  aus  dem  Objectiven  in  das  Subjective 
zeigt  auch  Ehre,  das  ursprünglich:  „Gabe"  bedeutet.  Vgl.  auch 
altf.  honneur  in  der  Bedeutung  von  ßef,  terre,  doinaine.  Schlimm 
(mittelh.  slimp)  ist  schief,  und  schlecht  ist  gerade.  Durch  die  Zwischen- 
bedeutungeu  des  Einfachen,  Schlichten,  Geringen  hat  das  Schlechte 
seinen  Übergang  in  malam  partem  erfahren.  Tücke  ist  ein  nicht 
verstandener  Plural  zu  dem  älteren  Worte  Tuck  und  dieses  be- 
zeichnet einen  rasch  und  unversehens  ausgeführten  Schlag.  Be- 
sondere Berücksichtigung  verdient  hier  der  sogenannte  latente  Be- 
deutungswechsel, bei  welchem  wohl  der  allgemeine  Charakter  eines 
Begriffs  erhalten  bleibt,  seine  Beziehungen  jedoch  und  der  damit 
verbundene  Gefühlswert  Veränderung  erfahren.  Ein  sprechendes  Bei- 
spiel hierfür  bietet  die  Allgemeinbezeichnung  der  Tugend  selbst  in 
allen  Sprachen.     Lat.  Caritas  frz.  charite,  tolerance. 

10.    Die  Verflechtungen  der  Wörter  in  der  Sprache. 

Viele  Bedeutungsänderungen  beruhen  auch  auf  Wortasso- 
ciationen,  also  auf  Bethätigungen  des  menschlichen  Willens  durch 
die  Sprache.  So  die  von  frz.  cadeau ,  welches  zur  Zeit  Ludwigs 
des  XIV.  die  Bedeutung  ,,Fest"  erhalten  hatte  und  durch  die  Phrase 
„donner  un  cadeau  aux  dames"  zu  seiner  heutigen  Bedeutung  kam. 
Von  copie,  das  sich  durch  die  Redensart  facere  copiam  erklärt. 
Altfrz.  ost  (Heer)  und  osteier  kommen  zu  ihrer  Bedeutung  durch  in 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV.  2 


18  K.  Morgenroth. 

liostem  ire,  womit  sich  die  Vorstellung  des  Heeres  verknüpfte,  mit 
dem  man  gegen  den  Feind  zieht.  Banger  geht  von  der  Bedeutung 
„Macht"  in  die  von  „Gefahr"  über  in  Folge  der  Redensart  etre  en 
danger  de  Vennemi,  womit  sich  die  Vorstellung  der  Gefahr  verband. 
Was  die  übrigen  Bedeutungen  betrifft,  welche  danger  entwickelt  hat, 
so  ,, Mangel"  in  der  Redensart  taut  sans  dangier  (S.  Aiol  et  Mirabel), 
Übermut  (S.  Aiol  et  Mirabel)  und  Schwierigkeit  in  faire  dangier  de 
faire  qc.  (ebends.),  so  sind  dieselben  jedenfalls  durch  Gefühlsanalogie 
zu  erklären,  welche  in  der  Sprache  ebensowohl  wie  in  der  Kunst 
eine  grosse  Rolle  spielt.  Ein  Beispiel  solcher  auf  Gefühlsanalogie 
beruhenden  Bedeutungsänderung  liegt  auch  vor  in  fallere  täuschen, 
betrügen,  verletzen  zu /a/Zo/r  nötig  haben,  brauchen.  Man  vergleiche 
nur  die  Begriffe:  „Täuschen,  im  Stiche  lassen,  fehlen".  A.  Tobler 
erklärte  hierüber  in  seinen  Vorlesungen  „Das  Täuschen  kann,  wie 
in  einem  trügerischen  Thun,  so  auch  in  einem  treulosen  Nichtthun 
dessen  bestehen,  was  ein  Andrer  erwartet".  Von  der  zweiten  Be- 
deutung leitet  sich  daher  die  fi*z.  von  „im  Stiche  lassen,  verlassen, 
preisgeben,  den  Dienst  versagen"  ab.  Li  nostre  den  i  unt  fait  felunie, 
Qai  en  hataille  hui  matin  U  faillirent  (S.  Lehmann).  Von  dieser 
Bedeutung  den  „Dienst  versagen"  leitet  sich  die  neue  Bedeutung 
ab :  den  Dienst  versagen  wegen  Abwesenheit  des  Gegenstandes, 
daher  abwesend  sein,  fehlen.  Von  da  liegt  der  heutige  Sinn  von 
falloir  nahe,  wie  wir  ja  auch  sagen:  es  fehlen  mir  Bücher  und  ich 
brauche  Bücher.  —  Die  negativen  Bedeutungen  von  rien,  personne, 
aiicun  entstehen  aus  ilu'er  häutigen  Verknüpfung  mit  der  Negation. 
Auch  pourtant,  das  bis  zum  16.  Jahrhundert  (s.  Littre)  pour  tout 
cela  und  nicht  neanmoins  bedeutet,  scheint  durch  häutige  Verbindung 
mit  der  Negation  zu  seinem  jetztigen  Gebrauch  gekommen  zu  sein. 
Vgl.  ital.  non  jjertanto.  Ferner  zeigen  Wörter  wie  brique  aus  hrique 
de  terre,  bas  aus  bas  de  chausses,  bonnet  aus  chapeau  de  bannet,  feutre 
aus  chapeau  de  feutre,  une  etude  aus  une  salle  d'etude,  un  sous-bande, 
un  Corps  ä  corps  (une  lutte  corps  ä  Corps)  wie  sich  durch  ihre 
syntaktische  Verbindung  die  Wörter  im  Satze  beeinflussen  und  so 
Bedeutungsänderungen  entstehen  (S.  Darmesteter  S.  124).  Hierher 
gehören  auch  die  Bedeutungsentwickelungen  vieler  Adjective,  die  zu 
Substantiven  werden,  wie  ramage,  general,  foie  (ticatum),  le  rapide, 
Vactive,  la  territoriale,  la  reale,  le  captif,  une  premiere,  spanisch 
hermano  (germauus)  etc. 

11.    Die  Verflechtung  von  Vorstellungen,  die  nicht  zum 

sprachlichen  Ausdruck  gelangen. 

Es  können  sich  auch  Vorstellungen,  ganze  Gedankenreihen  in 

einem   Worte   verdichten,    ohne   dass   die   Elemente    derselben   zum 

sprachlichen  Ausdruck  kommen.   Erkennen  lassen  dies  Wörter  wie  das 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  19 

spanische  escarahajos  Gekritzel,  escardbajear  beunruhigen,  italienisch 
calzante  passend.  Aus  dem  Französischen  gehören  liierher:  cela  me 
hotte  (ce  chapeau  me  botte),  cela  me  gante  (cette  robe  la  gante),  cela 
me  chausse.  Dieser  Vorgang  lässt  sich  mit  der  Ergänzung  der 
Beziehungen  vergleichen,  welche  in  der  Sprache  häufig  nicht  zum 
Ausdruck  gelangen.  Z.  B.  in  pommier,  figuier,  amandier,  encrier, 
colombier,  prisonnier,  geolier,  chevalier,  bouvier,  levrier,  voiturier, 
carossier,  cuirassier,  armurier  etc.  Ja  es  können  vollständige  Be- 
grüudungsprozesse  latent  bleiben  wie  sich  später  noch  in  dem  Beispiel 
von  se  passer  zeigen  wird. 

12.    Das  lautsymbolische  Gefühl. 

Da  es  dem  Sprachgefühl  angenehm  ist  mit  ähnlichen  Klängen 
auch  ähnliche  Vorstellungen  zu  verknüpfen,  so  wird  wohl  auch  bei 
manchen  Bedeutungswandlungen  eine  Gleichheit  der  Laute  seinen 
EinÜuss  ausgeübt  haben.  So  hat  im  Englischen  to  want  bedürfen 
die  Gleichheit  des  Anlautes  mit  to  ivisli  und  to  tvill  wahrscheinlich 
auch  die  Bedeutung  der  letzteren  herbeigeführt.  Ebenso  hat  im 
Chinesischen  yaö  bedürfen  die  Bedeutungen  von  yuen  wünschen  und 
yuk  wollen  aus  gleichem  Grunde  angenommen.  Griechisch  xüngog 
Eber,  gegenüber  lateinischem  caper,  altn.  hafr  Ziegenbock,  mag 
wohl  seine  Bedeutung  dem  Anklang  an  xönoug  Kot  verdanken,  wie 
v.  Gabelentz  vermutet. 

B.  Die  Kulturbedingungen. 

Alle  bisher  betrachteten  Erscheinungen  stehen  in  beinah  un- 
trennbarer Verbindung  mit  den  Kulturverhältnissen,  in  denen  sich 
die  jeweilige  geistige  Entwickelung  des  Menschengeschlechtes  wieder- 
spiegelt. Das  Geistige  in  seiner  Entfaltung  setzt  sich  immer  neue 
Ziele,  stiftet  stetig  neue  Beziehungen  und  verändert  so  Welt  und 
Bewusstsein.  Liebe,  Hass,  Gerechtigkeit,  Wahrheit,  Gnade,  Vei'- 
mögen  und  Eigentum,  diese  und  ähnliche  Wörter  erhalten  iliren 
Bedeutungsinhalt  erst  in  der  allmähligen  Entwickelung  des  Geistigen. 

Es  sind  deshalb  vor  Allem  die  wichtigsten  Interessensphären 
des  Geistes:  Religion,  Sitten,  Recht,  Kunst,  Gewerbe,  Handel, 
Wissenschaft,  politische  Institutionen,  Ackerbau,  Krieg  etc.  in  ihrer 
Fortentwickelung  und  in  ihrem  Einflüsse  auf  den  Wandel  der  Bedeu- 
tungen besonders  zu  berücksichtigen.  Besondere  Ausbildung  eines 
dieser  Kreise  wird  sich  in  der  einzelnen  Sprache  wiederspiegeln, 
indem  sie  den  Bedeutungswandel  beherrscht.  So  drücken  sich  die 
Römer  als  ein  Kriegsvolk  gern  aus  mit  brechen,  schlagen,  treten. 
Andrerseits  macht  ihr  ländliches  Leben  Bilder  beliebt  wie  die  des 
Benetzens  und  Fliessens,  z.  B.  manare    und  emanare    im  Sinne    von 

2* 


20  K.  Morgenrofh. 

entstehen,  entspringen  ans  etwas,  imhucre  benetzen.  Ebenso  die 
Tropen  des  Anzündens  und  Anslöschens  und  solche  wie  heneficiorum 
cunmJns,  magna  cxcmplorum  silva  etc. 

Bemerkenswert  ist,  dass  die  intellectuellen  und  moralischen 
Begriffe  der  altgerraanischen  Zeit  in  Beziehung  stehen  zu  Kampf  und 
Streit  (Vgl.  bald,  schnell,  Krieg.) 

So  wird  in  jeder  Sprache  der  Bedeutungswechsel  die  Geistesait 
eines  Volkes  erkennen  lassen  und  besondei's  im  metaphorischen 
Gebrauche  zeigen,  worauf  das  Denken  desselben  vorzugsweise 
gerichtet  ist.  Wollen  wir  aber  den  Grund  eines  einzelnen  Be- 
deutungsüberganges erklären,  so  müssen  wir  uns  das  Bewusstsein 
der  Gesellschaftsklasse,  unter  der  derselbe  entstand,  sowie  die  äusseren 
veranlassenden  Verhältnisse  zu  vergegenwärtigen  suchen.  Wir 
müssen  dem  besonderen  Falle  nachgehen,  der  die  Entstehung  einer 
neuen  Bedeutung  herbeiführt,  denn  alle  Wandlung  beruht  darauf,  dass, 
wie  H.  Paul  es  ausdrückt,  die  occasionelle  Bedeutung  in  die  usuelle 
übergeht.  Hierbei  wird  sich  dann  meist  ergeben,  dass  die  gewählte 
Association  auch  die  für  die  Sprache  zweckmässigste  gewesen  ist. 
Wenn  z.  B.  die  Begriffe  des  Verkaufens  und  Kaufens  aus 
einer  Verbalwurzel  hervorgehen,  so  liegt  die  Erklärung  in  dem  alten 
Tauschhandel  (Kauf  ahd.  r/w2(/'bedentet  ja  auch  ursprünglich  „Tausch"), 
bei  dem  der  Verkäufer  zugleich  Käufer  war  (S.  Schrader  zur  HandeU- 
gcsrhichte  und  Wanrcnl-nnde  S.  63.^  Lat.  hostis  urspr.  Fremder  gelit, 
da  beide  Begriife  auf  den  ältesten  Kulturstufen  einander  sehr  nah«- 
lagen,  in  die  Bedeutung  „Feind"  über.  Ebenso  erklärt  sich  aus  der 
Entwickelung  des  Rechtes  frz.  ressortir  (v.  sortiri)  wiedererhalten  — 
seine  Zuflucht  nehmen  zu  einer  Behörde,  woraus  sich  später  durch 
Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  die  Bedeutung  ^einer 
Behörde  unterstehen"  ergiebt.  S.  auch  italienisch:  ricoverarc  wieder- 
erlangen und  seine  Zuflucht  nehmen,  sincerarc  rechtfertigen  — 
überzeugen. 

Nur  aus  den  kulturellen  Verhältnissen  erklärt  sich  aucli,  wie 
eine  mit  einem  Worte  verknüpfte  Nebenvorstellung  in  den  Vorder- 
grund des  seelischen  Interesse  treten  und  die  frühere  Haupt  Vorstellung 
verdrängen  kann.  Beispiele  hierzu  sind:  trevc  (triuwa)  ist  Treue, 
Zuverlässigkeit,  Gelübde,  Versprechen;  treve  ist  das  Gelübde  für 
eine  Zeit  lang  Frieden  zu  halten ;  daher  durch  causale  Verknüpfung 
„Wafl^enstillstand".  Altfrz.  tanscr  „beschützen"  wird  zu  beschützen, 
indem  man  einen  andern  angreift,  endlich  durch  Verschiebung  „an- 
greifen". Compliment  eigentlich  Vollendung,  Eigänzung  —  Ergänzung 
des  moralischen  Benehmens  als  welche  das  äussere  aufgefasst  wird. 
Se  passer  „ich  gehe  über  etwas  hinweg*  konnnt  durch  den  Gedanken- 
gang „weil  ich  es  entbehren  kann  und  mich  mit  dem  Gegenwärtigen 
begnüge",  also  durch  einen  vollständigen  Begründungsprozess  zur  Be- 


Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  21 

deutiing:  „Ich  begnüge  mich  mit  dem  Gegenwärtigen. "  Auch  über- 
nimmt oft  eine  Nebenvorstellung  die  Bedeutung  eines  Wortes,  wenn 
sie  sich  in  den  Vordergrund  des  Bewusstseins  drängt  und  eine  ältere 
Vorstellung  im  Laufe  der  Kultur  wertlos  wird  oder  leicht  von  einem 
Synonym  übernommen  werden  kann.  Beispiele:  cagot  und  cafard 
ungläubig  gehen  in  die  Bedeutung  „scheinheilig"  über,  debonnaire 
von  edler  Art  erhält  die  Bedeutung  gütig.  In  paicn  (paganus) 
Heide  wird  die  mit  der  Vorstellung  des  Landbewohners  verknüpfte 
Nebeuvorstellung  der  Anhänglichkeit  an  alte  Religionsgebräuche  zur 
Ursache  des  Bedeutungswechsels,  clerc  —  Geistlicher,  Gelehrter  — 
Schreiber.  Die  Bedeutung  von  guerpir,  ursprünglich  werfen  (althochd. 
werfan)  ändert  sich  zu  „abtreten"  in  Folge  eines  altdeutschen 
Rechtsgebrauchs,  wonach  unter  dem  Werfen  eines  Halmes  in  den 
Busen  eines  Freundes  eine  Erbeinsetzung  (Abtretung)  verstanden 
wird.  Bataüle  (batualia)  bedeutet  im  Altfranzösischen  nicht  nur 
Schlacht,  sondern  Schlachtreihe  (corps  de  troupe),  Turmzimmer. 
Sacrifice  Thätigkeit  des  Opferns  —  altf.  auch  Opfertier.  Vgl.  deutsch 
„das  Opfer". 

Der  Eutwickelung  von  Handel  und  Verkehr  folgt  die  Be- 
deutungsentwickelung von  Wörtern  wie  griech.  '^arög  (urspr.  Be- 
deutung der  Tötende,  der  Verletzende,  Schädiger,  Feind),  lat.  hostis,  das 
neben  ,, Kriegsfeind"  in  der  ältesten  Latinität  auch  „Fremder"  heisst. 

Ebenso  zeigt  sich  dies  darin,  dass  die  Bedeutungen  Furt  und 
Strasse,  da  die  Anlage  der  letzteren  sich  nach  den  ersteren  richtet, 
häufig  ineinander  übergehen. 

Wie  der  Wechsel  der  Bedeutung  dem  der  Kultur  folgt,  zeigen 
sehr  anschaulich  Ausdrücke  für  Zelt  und  Haus,  Haus  und  Wagen, 
welche  häufig  in  ihrem  Ursprung  zusammenfallen.  Ebenso  erklärt 
sich  der  Bedeutungswechsel  von  Eiche — Fichte  dadurch,  dass  die 
Eichenwaldungen  im  alten  Europa  viel  häufiger  waren  als  im  neuen 
und  in  der  Regel  durch  Fichtenbestände  verdrängt  wurden.  (Siehe 
0.  Schrader  einige  deutsche  Baumnamen  etc.  in  Bd.  15  der  Beitrüge 
zur  Kunde  der  indogermanischen  Sprachen,  herausgegeben  von  Bezzen- 
berger).  Ferner  in  der  Verbindung  von  Festversammlung  mit  Jahr- 
markt: goth.  dulths,  ahd.  tuld  Fest,  Feier  hat  im  Süddeutschen  die 
Bedeutung  Jahrmarkt  angenommen.  Vgl.  noch  lat.  fcriae  mit  it. 
iiera,  sp.  ferio,  pg.  pr.  feira,  frz.  foire,  engl.  fair.  „Messe"  bedeutet 
neben  dem  kirchlichen  Akt  nun  auch  den  an  einem  kirchlichen 
Feiertag  in  der  Nähe  der  Kirche  abgehaltenen  Markt. 

Viele  Wörter,  welche  ursprünglich  durchreisen,  hinüberfahren, 
sich  wenden,  wandeln,  verkehren,  bedeuten,  entwickeln  die  Be- 
deutungen handeln,  tauschen,  kaufen.  Z.  B.  to  huy  kaufen,  goth. 
hugjan  ausbiegen,  umbiegen,  sich  wenden,  angels.  hi/cgan.  ntkw, 
Tiiko/Liai  sich  bewegen,    7i(oXäo/iiui  ich  verkehre,    i/nnuXdio   ich   kaufe 


22  K.  Morgenrotli. 

ein.  n(i)Xt(o  (noch  homerisch)  verkaufen.  (S.  Schrader  Ji)t(juistisch- 
historische  Forschungen  zur  Handelsgeschichte  und  Warenkunde  Jena 
1886.)  Der  Entwickelung  königlicher  Macht  folgen  im  Französischen 
Wörter  wie  cotir  von  cohors,  connetable  von  comes  stabidi,  marechal 
von  alth.  marascalc,  vüle  von  vüla. 

Wie  sehr  die  Vorstellungen  der  verschiedenen  Falkenarten 
mit  der  des  Fluges  im  Mittelalter  verknüpft  sein  mussten,  erscheint 
darin,  dass  die  Wortsj'mbole  für  dieselben  auch  auf  die  neuen  durch 
die  Luft  Geschosse  sendenden  Schusswaffen  übergingen;  z.  B.  mous- 
quef,  fauconneau,  sagro,  terzuolo,  welche  ursprünglich  Falkenarten  be- 
zeichnen. Ebenso  lässt  sich  der  Bedeutungsübergang  von  hohereau 
„ein  Falk  von  geringem  Wert",  in  die  von  „armer  Edelmann"  nur 
aus  der  Vorliebe  des  Mittelalters  für  die  Falkenjagd  erklären,  was 
auch  dazu  führte,  den  Falken  zur  Bezeichnung  des  Wertes  dienen  zu 
lassen. 

So  scheint  es  demnach  besonders  wichtig,  die  Entwickelung 
der  grossen  Kreise  menschlichen  Interesses:  „Religion,  Sitte,  Recht, 
Staat,  Künste,  Wissenschaften,  Gewerbe,  Handel,  Ackerbau,  Spiel 
und  Krieg"  zu  verfolgen ,  um  durch  dieselbe  die  Wandlungen  der 
Wortbedeutungen  zu  erklären.  Sie  muss  als  eigentliche  Aufgabe 
der  Bedeutungslehre  erfasst  werden,  welcher  gegenüber  alle  übrigen 
in  den  Hintergrund  treten.  Weit  entfernt  den  sogenannten  historischen 
Bedeutungswechsel  als  nur  aus  objectiven  Ursachen  entstanden  an- 
zusehen, ihn  zufällig  zu  nennen,  zu  vernachlässigen  und  dafür  im 
Psycliischen  den  Gesetzen  eines  regelmässig  wirkenden  Mechanismus 
nachzugehen,  sehe  ich  in  allem  Bedeutungswandel  nur  die  Entfaltung 
eines  Innern  nach  Gesetzen  der  Entwickelung,  in  deren  Dienst  alle 
Associationen,  Verdichtungen  und  Verschiebungen  der  Voi^stellungen 
stehen. 

Es  dürfte  sich  nun  aus  den  vorangehenden  Betrachtungen 
ergeben : 

1.  Dass  der  Bedeutungswechsel  sich  nicht  nach  me- 
chanischen Gesetzen  vollzieht,  sondern  wesentlich 
die  Entwickelung  eines  Geistigen  wiederspiegelt, 
das  sich  nach  ausserhalb  unseres  Bewusstseins  liegen- 
den Zwecken  richtet.  So  wenig  wie  den  Verlauf  der 
Geschichte,  können  wir  daher  die  Entwickelung  der 
Bedeutungen  eines  Wortes  voraussehen. 

2.  Der  Bedeutungswechsel  lässt  die  Entwickelung  des 
menschlichen  Bewusstseins  erkennen.  Er  zeigt  wie 
aus  sinnlichen  Wahrnehmungen  und  gemeinsamen 
Handlungen  das  Geistige  o  m  p  o  r  w  ä  c  h  s  t ,  w  e  1  c  h  e  s  d  a  n  n 
seinerseits  durch  seine  That,  die  Bildung  allgemeiner 
Vorstellungen    in    Sprachwurzeln    das    sinnlich    ge- 


'Zum  Bedeutungswandel  im  Französischen.  23 

gebene  Material  verwendbar  macht.  Ferner  wie  alle 
weitere  Entwickelung  sich  vollzieht  durch  mannig- 
faltige geistige  Prozesse,  besonders  durch  Speciali- 
sierung  und  Herstellung  vielseitiger  Beziehungen 
zur  Aussenwelt  und  wie  in  dieser  Arbeit  sich  auch 
die  Grefühlswelt  verändert. 

3.  Es  liegt  jedem  Bedeutungswechsel,  gerade  so  wie 
der  Bildung  der  ersten  Sprachwurzeln,  eine  That 
des  Willens  zu  Grunde,  der  fortwährend  neue  Be- 
ziehungen zu  schaffen  gedrängt  wird  und  dieselben 
im  Worte  zum  klaren  Bewusstsein  erhebt.  Seinem 
innersten  Wesen  nach  ist  der  Bedeutungswechsel  die 
Geschichte  der  Beziehungen,  die  der  Mensch  zwischen 
sich  und  der  Aussenwelt  stiftet. 

4.  Bei  Untersuchung  der  Bedeutungsentwickelungen 
in  den  einzelnen  Sprachen  muss  vor  Allem  die  ety- 
mologische Bedeutung  gesichert  we^en  und  von 
dieser  aus  sind  dann  die  Bedingungen  zu  unter- 
suchen, unter  welchen  die  verschiedenen  Wand- 
lungen stattfinden  konnten.  Hierbei  ist  der  zeit- 
weise Kulturzustand,  sowie  der  Gesellschaftskreis, 
unter  dem  eine  neue  Bedeutung  entstand,  besonders 
zu  berücksichtigen.  Ferner  wird  zu  untersuchen 
sein,  welchen  Einfluss  die  verschiedenen  Factoren 
der  Kultur  besonders  auf  den  metaphorischen  Ge- 
brauch der  Wörter  ausgeübt  haben. 

K.    MORGENROTH. 
(Wird  fortgesetzt.) 


üeber  die  neueren  französischen  Literatlirbestrebungen, 
besonders  die  Decadents. 


Wie  die  Sprache  selbst,  so  ändert  sicli  auch  der  literarische 
Geschmack  der  Völker  oder  gewisser  Kreise  in  mehr  oder  weniger 
kurzen  Zwischenräumen. 

Hatte  die  ältere  epische  Poesie  Frankreichs  in  ihrer  naiven 
Derbheit,  die  bei  aller  (xrossartigkeit  einzelner  Szenen  doch  oft  an 
üngeschlachtheit  streifte,  in  ihrer  kindlichen  Auffassung  vieler  Ver- 
hältnisse eine  gewisse  formelhafte  Ausdru cks weise ,  welche  den 
noch  rohen  Manieren  entsprach  i),  so  folgte  bald  den  Romanen  der 
Karlssage  die  formgewandtere,  zierlichere  Art  der  von  Chretien 
de  Troyes  bearbeiteten  Grals-  und  Artus-Sage  in  der  kürzeren  Form 
der  Schlagreime,  in  welcher  sich  die  stark  gekünstelte  Manier  der 
Ritterzeit  mehr  zur  Geltung  brachte 2).  Diese  weichlichere 
Richtung  klang  aus  in  dem  sentimentalen  allegorischen  Roman  de 
la  Hose  und  fand  ihre  letzte  Entwicklung  in  den  zahlreiclien 
Amadisromanen ,  welche  schliesslich  die  beissende  Satire  des  Don 
Quijote  heraufbeschwören  mussten. 

Zu  Rabelais  Zeit  wandte  man  sich  mehr  dem  echten 
Studium  der  Antike  zu,  während  die  früheren  antikisierenden  Romane 
wie  Benoit  de  St.  More's  Giierre  de  Troie  u.  A.  kaum  eine  Ahnung 
von  den  durch  sie  entsetzlich  entstellten  antiken  Stoffen  hatten  — 
und  noch  über  den  gelehrten  Rabelais  hinaus  bemühten  sich  die 
Dichter  der  Plejade  die  französische  Sprache  durch  künstlidie  Auf- 
pfropfung griechischer  und  lateinischer  Reiser  zu  bereichern,  wie 
sie  wenigstens  annahmen. 

Aber  auch  ihre  übermässige  Schwärmerei  für  griechische  und 
lateinische  Neubildungen  Hess  allmählich  nach  —  und  als  die  Franzosen 
auf  dem   klassischen  Boden  Italiens   nähere  Bekanntschaft   mit   der 


')  V.  Gaston  Paris  La  littiraturefrangaise  au  moyen  äge  2^  ed.  passim. 
^)  V.  Gaston  Paris  1.  c.  S.  78. 


Ueher  die  neueren  französischen  Literaturbestrebungen,         25 

Kunst  jenes  Landes  gemacht  hatten,  wurde  am  Hofe  Franz  des 
Ersten,  des  Freundes  von  Leonardo  da  Vinci,  und  Heinriclis  des 
Zweiten,  des  Gemahls  der  Katharina  von  Medici  die  Liebhaberei  für 
die  italienische  »"Sprache  so  gross,  dass  Henri  Etienne  sich  veranlasst 
sah,  seine  berühmte  Schrift:  Dialogues  frangois  italianizes  (1579)  zu 
veröffentlichen.') 

Im  17.  Jahrhundert,  wo  durch  die  Heiraten  mit  den  Prin- 
zessinnen aus  dem  Hause  Ostreich  spanische  Grandezza  und  steife 
Etikette  am  Hofe  Mode  wurden,  begann  man  sich  mit  der  spanischen 
Literatur  zu  beschäftigen,  deren  Hauptwerke,  wenn  auch  oft  in 
nicht  ganz  ungefälschter  und  falsch  verstandener  Form  in  Frank- 
reich, und  durch  die  damalige  weite  Verbreitung  der  französischen 
Sprache  auch  bei  den  übrigen  Völkern  bekannt  wurden. 

Don  Quijofe,  Don  Juan,  der  Cid,  der  wegen  seiner  Echtheit 
soviel  bestrittene  Gil  Blas  u.  A.  wurden  beliebt,  wenn  auch  frei- 
lich die  Pyrenäengrenze  der  Einführung  einer  grösseren  Zahl  spanischer 
Wörter  mehr,  als  im  Jahrhundert  vorher  der  Weg  über  die  Alpen 
hinderlich  war.  Konventionelle  Würde  machte  sich  jetzt  besonders 
in  der  dramatischen  Poesie  geltend,  wo  die  römischen  Helden  und 
die  Hauptpersonen  der  griechischen  Sage  nach  den  falsch  verstan- 
denen Regeln  des  Aristoteles  in  der  steifsten  Form  mit  einander 
verkehrten 2),  und  der  poetische  Stil  sich  mehr  als  in  irgend  einer 
anderen  Sprache  von  der  Prosa  entfernte.  Freilich  waren  Moliere 
und  Lafontaine  selbständiger  als  ilire  Vorgänger  und  die  meisten, 
welche  Boileaus  Poetik  unbedingt  als  Richtschnur  nahmen ;  aber  sie 
sind  wenigstens  in  den  Formen  ganz  den  Spuren  Corneilles  u.  A. 
gefolgt.  Mochte  nun  auch  Voltaire  in  seinen  unzähligen  in  der 
(fälschlich  nach  ihm  benannten,  zuerst  von  Louis  Besain  in  seinen 
Remarques  1652  empfohlenen)  Rechtschreibung  veröffentlichten  Werken 
gegen  die  alten  Ideen  auf  allen  Gebieten  ankämpfen  und  so  vieles 
niederreissen,  ohne  wieder  aufzubauen;  mochte  er  auch  besonders 
viel  auf  englische  Zustände  und  Vorstellungen  aufmerksam  machen 
und  dadurch  seinen  Landsleuten  ganz  neue  Gesichtspunkte  eröff- 
nen —  in  seinen  poetischen  Werken  lag  er  noch  ganz  in  den 
Banden  der  Klassizität  des  17.  Jahrhunderts.  Seine  alten  Helden, 
wie  auch  Maliomet  oder  Orosman  zeigen  noch  ganz  die  alte  Schablone, 
mag  aucli  manches  an  ihnen  mehr  an  das  Zeitalter  der  Aufklärung 
erinnern. 

Übrigens  ist  auch  bei  aller  Ruhmrederei    eines  Rivarol    u.  A. 
über  die  universaUte  der  französischen  Sprache  häutig  von  ehrlichen. 


^)  V.  A.  Loiseau,  Histoire  de  la  langue  francaise.    1881.    S.  434. 

'-)  Dieser  Darstellung  der  alten  Heroen  gegenüber  verliert  das  sonst 
so  wahre  Wort  Boileaus  (Epitre  IX.  43j  wesentlich:  Rien  rfcst  beim  que 
le  vrai,  le  crai  seid  est  aimable. 


26  K.  Sachs. 

nicht  in  Phrase  befangenen  Franzosen  zugegeben  ,  dass  sie  in 
vielen  Beziehungen  an  einer,  gr()sstenteils  selbstverschuldeten  Armut 
leidet.  So  sagt  z.  B.  d'Haussonville,  Revue  des  JDeux  Mondes 
15.  6.  1890,  S.  862:  La  charUc:  il  sußH  d'avoir  ä  faire  iisage  de  re 
mot  pour  sentir  combien  7iotre  belle  langiie  fran^aise,  si  claire,  si  simple, 
si  forte,  est  pauvre  cependant  par  certains  cötes.  Elle  prostitue  le  mot 
aimer  ä  exprimer  les  preferences  les  plus  vidgaires  au  Heu  de  le  conserver 
exclusivenient  pour  rendre  le  sentiment  le  plus  noble  du  coeiir.  JDe  meine 
eile  emploie  tndifferemment  le  mot  charite  au  sens  etymologique  et 
projond  de  l'amour  ou  au  sens  banal  de  Vaumöne.  Peu  s'en  faid  que 
cette  derniere  acception  ne  l'emporte  meme  dans  le  langage  nsucl. 

Wie  bedeutend  auch  der  Einfluss  der  glanzvollen,  phantasie- 
reichen Prosa  Jean  Jacques  und  der  überzeugungsvollen  Werke  der, 
deutschem  Geiste  näher  stehenden  Frau  v.  Stael  sein  mochte^)  — 
die  Poesie  bewegte  sich  nach  wie  vor  in  den  alten,  steifen  Formen, 
welche  durch  Jean  Baptiste  Rousseau  und  den  langweiligen  Delille 
nur  noch  enger  gezogen  und  immer  mehr  der  Prosa  entfremdet 
wurden.  Andre  Chenier,  der  einzige  wirklich  poetisch  begabte  Dichter 
jener  Tage  war  ganz  in  der  Antike  befangen,  wie  alle  die  grossen 
Schwärmer  der  ersten  Revolution.  Wenn  aber  auch  Berangei's 
Werke  zum  Teil  ganz  modern  waren  und  Lamartine  seine  kosmo- 
politischen, aber  unklaren  Vorstellungen  in  mehr  moderne  Form 
zu  kleiden  bemüht  war,  so  waren  doch  auch  sie  noch  ganz  befangen 
in  den  alten  Regeln  der  klassischen  Poesie,  von  der  Brunetiere  LeMouve- 
ment  litfcraire  du  l'Ji  siede,  [Revue  des  Deux  Moyides,  15.  10.  1889. 
S.  868)  sagt:  Lr  classicisme  est  mort  po^ir  s'ctre  lui-meme  immobilise 
dans  ses  regles  et  comme  ayikylose,  si  Je  puis  ainsi  dire,  devnnt  la 
rigide  etiroitesse  de  ses  propres  principes. 

Die  Romantiker  protestiren  zwar  heftig  gegen  iasvicuxjeu  der 
klassischen  Schule,  gegen  den  Zwang  der  sogenannten  aristotelischen 
Regeln,  und  Victor  Hugo-),  der  seinem  wunderlichen  Drama  Cromwell 
das  Manifest  dieser  neuen  Richtung  vorsetzte,  sagt:  //  n'y  a  ni 
regles  ni  modeles;  ou  plutöt  il  n'y  a  d'autres  regles  que  les  lois  generales 
de  la  nature.  Sie  proklamirten  als  ihr  Prinzip:  la  liberte  dans  Vart, 
und  als  Mittel  zur  En-eichung  derselben :  l'cxaltation  du  sentiment  du 
Möi,  le  passage  de  Vobjcctif  au  subjectif  le  cosmopolitisme,  le  sentiment 


')  Für  diese  Zeit  sind  charakteristisch  die  zwei  Äusserungen 
1.  von  H.  Taine,  Aiicien  Regime  S.  424:  la  nation  va  etre  rcgeucrce:  cette 
phrase  est  dwis  tous  les  ecrits  et  dans  toutes  les  bouchcs  —  um  1788  —  2.  les 
femmes  ont  use  vis-n-vis  de  la  conversation  de  toute  Vingratitude  qu'elles 
mettent  d'ordinaire  ä  quitter  une  mode  embellissantc,  mais  vieille,  pour  uve 
modc  di'savantageuse,  mais  nouvclle  (Goncourt,  Histoire  de  la  Societe  frav- 
(^aise  pendatit  la  Revolution  S.  2;  vgl.  Em.  Faguet  Dix-huitieme  siecle. 
£tudes  litteraires.    Paris  1890:  le  1S'_  siecle  n'a  ete  ni  chretien  ni  frangais.) 

^)  V.  Victor  Hugo  Crom  well  LX. 


lieber  die  netter en  französischen  Liter ahirhestrebungen.         27 

nouveau  de  la  nature,  aber  auch  la  cnriosite  du  passe ,  des  vieilles 
traditions,  Vintroduetion  dans  la  litterature  des  pröcedes  et  des  intentions 
de  la  peinture.  —  Beeinflusst  durch  die  verschiedenartigsten  fremden 
Anregungen^)  von  Shakespeare,  Scott,  Byron,  Goethe,  Hoffmann 
weisen  sie  auf  das  Groteske  als  ein  wesentliches  Element  der  Poesie 
(v.  Victor  Hugo,  Crotmvell  XXVIII) ;  Hugo  nennt  es  (XXXI)  un  point  de 
depart  d'oii  Von  s'eleve  vers  le  heau,  avec  mie  perception  plus  fraiche  et 
plus  excitee.  Grade  das  Hässliche  wird  als  wesentlicher  Gegen- 
stand der  künstlerischen  Darstellung  genannt:  le  heau  n'a  qn^un 
type,  le  laid  en  a  mille  (XXXIII),  wie  leider  Hugos  Gestalten  im 
Bug-Jargal,  Han  d''Islande,  L'homnie  qui  rit  und  unzählige  andere 
in  wenig  erfreulicher  Art  beweisen.  Mit  Recht  sagt  Brunetiere 
(1.  c.  895):  bei  Corneille  darf  der  Gegenstand  einer  guten  Tragödie 
nicht  unwahrscheinlich  sein,  bei  den  Romantikern  ist  der  unwahr- 
scheinlichste Stoff  der  schönste  für  einen  Roman  oder  ein  Di'ama. 

Mochten  sie  aber  auch  von  den  drei  Einheiten  nur  die  der 
Handlung  anerkennen  (CromwellLIX)  und  in  Bezug  auf  den  x\usdruck 
sich  freier  halten  als  ihre  Gegner  (wie  ja  das  im  Othello  wörtlich  von 
de  Vigny  übersetzte  Mouchoir  einen  gewaltigen  Sturm  von  Seiten  der 
Anhänger  der  Klassizität  erregte)  —  so  blieben  doch  in  der  metrischen 
Form  wie  in  vielen  anderen  Dingen  trotz  allerhand  Wandlungen 
und  absichtlichen  Sonderbarkeiten  (wie  in  den  Djinns)  auch  die 
Romantiker  noch  stark  an  den  alten  Grundsätzen  haften,  die  sie 
bis  auf  das  äusserste  zu  bekämpfen  vorgaben.  Alle  sind  sie  gleich 
in  dem  Bestreben,  Formvollendung  selbst  auf  Kosten  des  Gedankens 
als  höchstes  anzuerkennen  —  iind  wie  der  grösste  dieser  Richtung, 
der  trotz  alledem  die  Übrigen  weit  überragende  Phrasenmann  Victor 
Hugo  oder  der  hohen  poetischen  Schwung  mit  oft  tiefer  lyrischer 
Empfindung  vereinende  Alfred  de  Musset  oder  die  drei  nur  in  loserem 
Zusammenhange  mit  den  Romantikern  stehenden  Lamartine,  Delavigne 
und  de  Vigny,  sind  sie  alle  mehr  oder  weniger  im  Banne  der  be- 
wussten  Opposition  gegen  die  veralteten  Theorien  der  Klassiker, 
deren  Hauptvertreter  seit  Delille ,  Legouve  und  vor  allem  der 
lächerliche  Baour  -  Lormian  ihnen  den  Kampf  ziemlich  leicht 
machten. 

Während  aber  einige  andere  Dichter,  welche  nur  ihrem 
dichterischen  Triebe  ohne  polemische  Tendenz  folgten,  in  Berangers 
Spuren  wandelnd,  heitere  Gesellschaftslieder  oder  leichtere  anakre- 
ontische  Dichtungen  verfassten  wie  Desaugiers,  Nadaud,  Dupont,  —  und 
Marceline  Desbordes-Valmore  oder  Amable  Tastu  in  tiefempfundenen, 
nicht  auf  äusseren  Effekt  berechneten  Liedern  ihre  Gefühle  zum  Herzen 


')  V.  G.  Brandes  Die  fremden  Anregungen  des  französisclien  Boman- 
tismus.     (Gegenwart  1882,  Nr.  40.) 


28  K.  Sachs. 

gewinnenden  Ausdruck  brachten  —  glaubten  dieParnassiens  (gegen 
1860)  noch  weit  über  die  Romantiker  hinausgehen  zu  müssen,  die 
mit  ihrem  übersubtilen  l'art  ponr  Vart  in  noch  höherem  Masse  als 
manche  Romantiker  den  Hauptwert  auf  die  Form  legten.')  Die 
Entstehung  dieser  Schule  schildert  uns  Catulle  Mendes  in  La  Legende 
de  Parnasse  contemporain  (Bruxelles  1S84)  und  im  Temps  (15./ 11. 
1864  und  13./11.  1881)  wie  folgt:  I.ouis  Xavier  de  Ricard,  Redakteur 
und  Besitzer  des  Blattes  l'Art,  welcher  den  später  von  dieser  Schule 
anerkannten  (4rundsätzen  huldigte,  trat  mit  Mendes,  dem  Begründer 
der  Revue  fantaisiste,  mit  Glatigny,  Villiers  de  TIsle-Adam,  Merat 
und  Valade,  später  mit  Sully  Prudhomme,  Jose  Maria  de  Heredia, 
Armand  Silvestre  und  Leon  Dierx  in  Verbindung,  und  man  beschloss 
die  Gründung  eines  Blattes,  das  den  Titel  Parnasse  contemporain 
erhielt.  Im  Buchhändlergeschäfte  von  Lemerre  versammelten  sich 
die  Mitarbeiter  und  stilisierten  die  zum  Abdrucke  eingelieferten 
Gedichte.  18  Heftchen  erschienen  von  dem  Blatte,  dessen  Autoren 
Barbey  d'Aurevill}'^  scherzend  Parnasskns  taufte.  ]\Iendes  nennt  sie: 
JiuniantiqHes  de  la  troisiciiie  generafion,  titoins  fougucux,  moins  ejiris 
du  theätnd  que  Jcirrs  ancetres;  —  ds  entendaient  cn  coidinuer  le  cidte. 
Point  d'art  sans  forme,  cette  formule  etait  Jeur  Credo.  Hugo  etait  leur 
dieu.^)  Aber  auch  andere  galten  ihnen  als  Vorbilder,  wenn  auch  nur 
in  einzelnen  Punkten  —  so  besonders  der  Phantasiekünstler,  wie 
ihn  ein  neuerer  französischer  Kritiker  nennt,  Charles  Baudelaire 
(1821 — 67),  den  Brunetiere  als  maniaquc  ohscenc  bezeichnete,  vielleicht 
der  dichterisch  begabteste  unter  allen  Dichtern  seiner  Zeit^),  von  dem 
aber  sein  treuester  Freund  und  Gesinnungsgenosse  Theophile 
Gautier  (1811 — 72)  bei  aller  Bewunderung  des  Dichters  der  Fleurs 
du  mal,  der  Litanies  du  Satan,  der  Paradis  artißciels  nicht  umhin 
kann  zu  gestehen,  dass  spieen  et  ideal  seine  Devise  gewesen.  Wie  bei 
ihm  galten  langsilbige  Worte,  gekünstelte  Reime  auch  als  wesent- 
liches Erfordernis  bei  Theodore  de  Banville  (1823 — 91),  dem 
grossen  Stilvirtuosen  der  £cole  fantaisiste,  den  der  Figaro  wegen 
seiner  Cariatidcs  (1841),  Deidamia,  Diane  au  hois,  Nouveaux  camees 
parisiens,  als  maltre  de  Ja  forme  claire  et  de  Vimage  loyide  feierte. 
Er  nannte  selbst  eine  Gedichtsannnlung  Ödes  futiamtndcsques ,  weil 
die  Reime,  die  nach  ihm  ta  faculte  qui  constitue  le  poete.  dort  wahre 
Seiltänzersprünge    machen.     Der    Dichter    der   i^maiix    et    Camees, 


')  Vgl.  Tli.  de  Banville.  Mrx  Sonrenirs  1882;  Jules  Tellier,  Xos  poetes 
1888;  Lescure,  Fr.  Coppie  18S9;  <iidel  Histoire  de  la  Utteraturc  fratt^aise 
III.  320;  Maurice  Spronck,  IjCS  artistes  liiicraire.-^.  Etüde  sur  le  dix- 
neuvihvc  xiecle  (.\.  France,  La  vie  Utieraire  III.  181).  J.  Hurot,  Enquete 
sur  l'J^voliitioii  Utieraire.     Paris  1891. 

•-)  Vi,^l.  (iidel  l.  c.  in.  30.0. 

=»)  Vgl.  A.  France  l.  v.  III.  20;  Gidel  /.  c.  III.  248. 


Ucber  die  neueren  franzusisehen  Liferaturbestrebungen.         29 

Gautier,  machte  dem  Dicliter  der  Chants  d'un  Montagnard ,  der 
Melodies  Paiennes  und  der  Accnhnies,  einem  leidenschaftlichen  An- 
hänger V.  Hugo's,  Raoul  Lafayette,  seinen  Standpunkt  in  den 
charakteristischen  Worten  klar:  Kein  Vers  ohne  Reim  und  kein 
Reim  ohne  die  couronue  d'appui.  Man  muss  in  Fuge  und  Contra- 
punkt wie  zu  Hause  sein  und  den  Geist  geschmeidig  machen  durch 
die  Gymnastik  der  Wörter.  ...  In  der  Kunst  ist  das  Handwerk  fast 
Alles.  Inspiration  ist  ein  schönes  Ding,  aber  etwas  banal,  weil  so 
allgemein.^}  — 

Zu  den  eigentlichen  Parnassiens  gehören  der  wenig  innere 
Wärme  verratende  Victor  de  Laprade  (1812 — 83),  der  geistreiche, 
aber  der  Glut  der  Leidenschaft  entbehrende  Sully  Prudhomme 
(geb.  1839),  der  sinnige,  zarte  und  formenfeine  Franc^ois  Coppee 
(geb.  1842),  der  seine  Stoife  vielfach  aus  dem  reich  pulsierenden 
Leben  der  Gegenwart  nimmt  und  es  nicht  verschmäht,  Wörter  der 
gewöhnliclisten  Sprache  in  seinen  Versen  anzuwenden  (vgl.  Poesies, 
Paris  1874)^);  ferner  der  als  Chef  der  Parnassiens  oder  In/passibles 
bezeichnete  Charles  Marie  Leconte  de  Lisle  (geb.  1820),  dessen 
plastische  Verse  (in  den  Poemen  antiques  1853,  Poemes  barbares  1871, 
Poemes  tragiques  1884),  ohne  persönliches  Leben,  voll  archaistischer 
Wendungen,  und  zum  Teil  langweiliger  Malerei,  doch  reich  an 
formellen  Eigentümlichkeiten  sind,  wie  er  z.  B.  arabische  und 
griechische  Wörter,  die  er  zahlreich  anzuwenden  liebte,  stets  gegen 
die  bisher  allein  in  der  französischen  Sprache  naturgemäss  ent- 
wickelten Formen  nach  griechischem  oder  arabischem  Lautsysteme 
schreibt^). 

Zu  dieser  von  den  Neueren  besonders  angefeindeten  Schule 
zählen  noch  Jean  Aicard  (geb.  1848;  v.  Gidel  III,  S.  368)  Frederic 
Bataille  (geb.  1850;  v.  Gidel  III,  362);  Henri  Chantavoine  (geb. 
1850;  Gidel  111,361);  der  1846  geborene  Paul  Deroulede  (Gidel  III, 
363) ;  der  bedeutende  Genosse  Coppees  im  Cenacle ,  an  welchem  auch 
spätere  Decadents  teilnahmen,  Leon  Dierx  (geb.  1838.  Gidel  111,  356); 
desEssarts  (Gidel  III,  360) ;  FrauQois  Fabie  (geb.  1846;  Gidel  III, 
364);  der  Kritiker  Anatole  France,  eigentlich  Anatole  Thibaut ge- 


*)  Man  vergleiche  über  dieses  Hervorheben  des  Formalen  den  Auf- 
satz von  St.  Waetzoldt,  Paul  Verlaine  p.  171  der  Festschrift  für  den 
fünften  Neupliilologentag,  gehalten  im  Jahre  1892,  den  ich  leider  erst  zu 
Gesicht  bekam,  als  ich  meinen  Vortrag  gelialten  hatte. 

2)  Vgl.  Gidel  1.  c.  lü.  320,  327,  A.  France  1.  c  L  156,  H.  36, 
HI.  289,  Huret  1.  c.  312,  319,  Lescure,    Vie  de  Fr.  Coppee. 

3)  Vgl.  A.  France  I.  103,  Gidel  III.  328,  Huret  273. 

Man  vergleiche  dazu  die  noch  weiter  geltende  Einführung  von  sehr 
vielen  ganz  griechischen  Wörtern  in  dem  Romane  Bysance  von  Lombard 
(v.  Heller,  Zeitschrift  für  französische  Sprache  u.  Litt.  XIII'  p.  243). 


30  K.  Sachs. 

nannt,  (geb.  1844;  v.  Gidel  III,  363),  Albert  Giraud  (geb.  1860)  der 
Autor  von  Hors  du  Siede,  Dernieres  Fetcs  und  dem  von  Erich  Hart- 
leben übersetzten  Pierrot  Lunairc;  Georges  Gourdon  (geb.  1852, 
V.  Gidel  III,  369);  Vicomte  de  Guerne,  der  Verfasser  von 
Siecles  morts  {L'orient  antique  1890);  Edmond  Haraucourt,  (geb. 
1857);  der  Spanier  Jose  Maria  deHeredia  (geb.  1842;  v.  Huret  301, 
A.  France  I.  362,  III.  316),  der  parnassien  d'election;  Eugene  Manu  el 
(geb.  1823;  Gidel  III,  349);  Catulle  Mendes,  der  Baudelaire  tin  desiecle 
(geb.  1843;  GegenwaH  12.  1891.  19;  v.  Huret  286—289);  Achille 
Paysant  (v.  Gidel  III,  361);  der  Latinist  und  feinfühlige  Dichter 
Frederic  Plessis  (A.  France  I.  164,  III.  352);  Xavier  de  Ricard 
(geb.  1843;  A.  France  3.  311);  Maurice  Rollinat  (geb.  1853; 
V.  Gidel  III,  365);  Armand  Silvestre  (geb.  1838;  v.  Huret 
323);  der  ursprünglich  (1884)  zu  den  Symbolisten  gehörige  Laurent 
Tailhade  (geb.  1857),  nach  ßameau  (bei  Huret  l.  c.  443)  der  ein- 
zige der  innocents  rates,  die  sich  decadents  nennen,  der  wirklich  Talent 
hat.  1884  unternalim  er  mit  I.  Moreas,  Viguier  und  P.  Verlaine 
la  mystification  des  voi/elles  colorces,  de  l'mnour  thebain,  du  schopen- 
hauerisme  et  de  quelques  autres  balivenies,  les  quelles,  de2}uis,  firent 
Icur  cliemin  par  le  monde.  Er  leugnet  seine  jetzige  Zugehörigkeit 
zur  Schule.  In  seinem  Jardin  des  Eeves  und  Chasses  au  Fai/s  die 
mufle  will  A.  France  (Tenips  16.  9.  1891)  viele  gute  Eigenschaften 
von  Banville,  Leconte,  Coppee,  Sully  Prudhomne,  Heredia  u.  A.  linden. 
Ebenso  sind  Parnassier:  Robert  de  la  Villeherve  (geb.  1853), 
der  1849  geborene  Gabriel  Vicaire,  der  mit  Floupette  zusammen 
arbeitete  und  ein  Gedicht  J^niaux  bressans  (1884),  ein  anderes 
l'Heure  enchanfee,  einen  Einakter  Fleurs  d'avril,  dann  La  Legende 
de  S.  Nicolas  und  Ä  la  bonne  Franquctte  dichtete;  er  geht  viel  auf 
alte  französische  Volkspoesie  zurück  (v.  Huret  338,  372 — 77;  A.  France 
III.  153);  ferner  Villiers  de  l'Isle-Adam,  der  grosse  dilettaute  du 
mysticisme,  nach  Gourmont  der  evangeliste  du  reve  et  de  l'ironie, 
welcher  Contes  cruels,  V£Jve  future,  Axel,  BonJioniet,  Chez  les  passants 
1890  und  ein  Drama  le  Nouveau  Monde  hinterliess  und  am  reinsten 
an  dem  Glauben  an  das  Ding  an  sich  (l'etre  en  sol)  festlüelt,  aber 
zu  den  Symbolisten  hinneigte,  wie  sein  Verkehr  in  der  brasserie 
Fousset  (Faubourg  Monmartre)  beweist  (vgl.  Huret  128,  A.  France 
IIL  120,  Gidel  III,  356). 

Auch  Theuriet,  Madame  Blanchecotte,  Ratisbonne, 
Lepelletier,  Alexis  Martin,  wie  die  späteren  Symbolisten 
Verlaine  und  Charles  Gros  beteiligten  sich  in  den  ersten  Heften 
des  Parnasse. 

Gegen  diese  Schule  machten  in  einer  Gruppe,  die  sich  Les 
Vivants  nannte,  Front  4  Schriftsteller,  deren  Wege  später  sehr 
auseinandergingen:    Paul   Bourget,   Maurice  Bouchor,   Raoul 


lieber  die  neueren  französischen  lAteraturbestrebungen.  31 

Poncho  11^)  (Banvilles  Hauptschüler,  der  Verfasser  der  schnurrigen 
La  Muse  au  caharet)  und  Jean  Richepin  [Le  Cadet  und  das  Text- 
buch zu  Massenets  Oper  le  Mage  1891  sind  seine  neuesten  Produkte). 

Gleich  der  Kunstpoesie,  welche  im  Streben  nach  Originalität 
und  in  der  Opposition  gegen  das  Alte  die  verschiedenartigsten 
Wege  einschlug,  hat  auch  die  Volkspoesie  die  eigentümlichsten 
Phasen  durchgemacht,  die  sie  freilich  immer  mehr  von  der  waliren 
naiven,  ungekünstelten  Poesie  entfernte,  wie  sie  uns  Scheffler  in 
seinem  Werke:  die  französische  Volksdichtung  und  Sage  (Leipzig 
1884;  cf.  I,  174)  vorführt. 

Diese  aus  dem  unvertälschten  Borne  des  Volksbewusstseins  und 
Volksglaubens  hervorsprudelnde  Quelle  war  freilich  in  früheren 
Zeiten  von  den  Vertretern  der  Kunstdichtung  und  ihren  Kritikern 
verachtet,  wie  z.  B.,  um  anderer  zu  geschweigen,  die  abfälligen 
Urteile  von  Du  Bellay  (Illustration  de  la  Langue  frangoise  11,  4), 
von  Boileau,  Art  poetique  I,  117,  und  Laharpe  zeigen,  und  fast  nur 
Moliere  hatte  damals  Gefühl  für  dieselbe,  welche  erst  in  unserm 
Jalirhunderte,  und  nicht  in  Frankreich  allein,  aus  ihrem  Jahrhunderte 
langen  Schlummer  erweckt  werden  musste. 

Aber  auch  selbst  die  alten  Lieder,  welche  man  pont-neuf  nennt, 
die  im  Volkston  gehaltenenen  Dichtungen  von  Brioche,  Cormier, 
Dassoucy  u.  Anderen  oder  die  von  Leuten  aus  dem  Volke,  wie 
dem  früheren  Wagenschmierer  Adolphe  Vard,  dem  Gastwirte 
Paul  Harel  oder  Auguste  Maquet  aus  St.  Germain  ge- 
schriebenen Poesien  linden  bei  der  grossen  Menge  keinen  Beifall, 
welche  sich  in  den  verschiedensten  Kreisen  an  den  meist  recht 
jämmerlichen  chansonnettes  ergötzt,  deren  etwa  200000  nach  ober- 
flächlicher Schätzung  in  den  letzten  25  Jalu'en  entstanden  sind. 
Ein  diese,  meist  von  den  etwa  2000  Mitgliedern  der  1849  von 
Bourgel  und  Henrichs  gegründeten  Soclete  des  auteurs,  compositeurs 
et  editeurs  de  musicjue  edierten  Erzeugnisse  behandelnder  Aufsatz 
im  Journal  Amüsant  (No.  1787)  leitet  die  Besprechung  nach  einem 
kurzen  Rückblick  auf  Beranger,  Desaugiers  etc.  ein  mit  den  Worten: 
la  chanson  frangaise,  qui  promettait  d'etre  eternelle,  semble  aujourd'hui 
sur  son  declin  —  und  motiviert  dieses  Urteil  durch  Besprechung  einer 
grösseren  Zahl  der  Lieder  von  Clappisson,  Dorcier,  Herve, 
Paul  Henrion,  Braquieres,  Villebichot,  Marc  Chantagne, 
Xanrof,  von  Joseph  Keim,  dessen  Sire  de  Franc -Boisi/,  Le  Pied 
qui  s'mue,  Fallait  pas  qu'y  adle  u.  A.    schon    nahe    an   die    Grenze 


^)  1892  wurde  er  wegen  eines  im  Courrier  frangais  veröffentlchten 
Gedichtes  ,,Les  Vieux  messieurs,  piece  fort  risquee  et  d'nne  brutalite  de 
ton  qui  depassait  reellement  les  limites,  zu  14  Tagen  Getängnis  und 
lOUO  Francs  verurteilt,  aber  zu  24  Stunden  und  200  Fr.  begnadigt. 
(Gazette  des  Tribunaux,  Janvier  1892.) 


32  K.  Sachs. 

des  höheren  Blödsinns  streiften,  aber  doch  in  dieser  Beziehung  noch 
vom  Repertoir  der  M™*^  Therese  im  Aloazar  (La  (jardcnac  d'ours, 
le  Sapcur,  C'est  dans  le  nez  quc  {a  mc  chatouille)  und  der  Suzanne 
Lu  gier  im  Eldorado  übertroifen  wurden.  Die  Judic,  Theo,  Graindor, 
M}^^  Duparc,  von  welchen  Lieder  gesungen  wurden,  neben  denen 
La  Venus  aux  Carottcs,  hi  Femnic  ä  Barbe,  Uten  n'est  sacre  ponr 
un  sapeur,  Le  tcmps  des  Fioiaises  noch  bedeutende  Leistungen  waren. 

—  alle  werden  sie  übertroifen  durch  Yvette  Guill)ert^),  die  vom 
Feuilletonisten  Hugues  le  Roux  entdeckte  chanteiise  fin  de  siede  im 
Concert  parisien  der  Rue  Faubourg  S.  Denis,  welche  Max  Nordau  in 
einem  ilu'  gewidmeten  Artikel  (in  Nord  und  Süd  Fe])ruar  1892, 
p.  238),  freilich  nicht  nach  dem  Greschmack  des  ihn  schart  mit- 
nehmenden Figaro  (19.  3.  1892),  einen  weiblichen  Faun  nennt.  Ihre 
Lieder  Paris  d  Ja  Blaijue,  Sainte  Galette,  Belleville  3Ienihnontanf 
preisen  in  ungezwungenster  Form  die  Dirnen  und  ihre  Zuhälter. 
Ouvrard  mit  seinem  Bi  du  hoid  du  band;  A  droife,  au  fond;  VÄmanf 
d^ Amanda;  Paulus  mit  seinen  auf  das  Gebiet  der  Politik  hinüber 
spielenden  Liedern,   wie  das  Boulangerlied  En  rercnant  de  Ja  rerue 

—  das  ganze  ßepertoir  des  Chat-Noir,  für  welches  besonders  Mac- 
Nab  (Chansons  da  Chat-Noir  [Musique  nouvelle  par  C.  Baron.  lUu- 
strations  de  H.  Gerbault.  Paris,  Quentin,  1890]  im  MenestreD 
und  Jules  Jouy  (v.  A.  France  1.  c.  388)  schreiben  —  und  der  etwa 
20  grossen,  mit  vollem  Orchester  ausgestatteten,  und  der  50  kleineren 
Pariser  Tingeltangel,  genannt  Cafes  Concerts  —  alle  rechtfertigen  voll- 
ständig das  Urteil  eines  Kritikers:  ce  qui  est  certain,  c'est  qtte  Von  ncfait 
plus  de  bonnes  chansons,  lassen  aber  den  tiefen  Abgrund  erkennen,  wel- 
cher sie  von  einer  gesunden  Entwicklung  echten  Volkslebens  trennt.-) 

Ln  engsten  Zusammenhange  mit  diesem  unverkennbaren  .Sinken 
des  Gesclimacks,  und  ein  äusseres  Zeichen  desselben  ist  in  unserni 
Jahrhunderte  auch  das  Ueberhandnehmen  des  Argot  in  Kreisen, 
die  sich  früher  ängstlich  davor  gescheut  hatten,  Boileaus  Regel  (Art 
Poetique  IL  177)  zu  missachten:  du  moindre  sens  inipur  Ja  Jibcrte 
l'outra(jc,  si  la  pudeur  des  niots  n'en  adoucit  J'intafje. 

Die  Sprache  Vades,  das  von  Francisque  Michel,  Kigaud, 
Larcher,   Delvau  u.  A.    später    gesammelte  Argot    wurde    liesonders 


')  V.  über  die  (iiiilbcrt,  »jui  thante  des  choses  ä  faire  rougir  les 
singcs  Petit  Journal  pour  rirr  2'M)  und  246.  1891;  La  Me  Parisienne 
1.  8.  und  5.  9.  1891;  Figaro  22.  1.  1892. 

'^)  Zum  Gegensatz  vergleiche  man  die  Erzeugnisse  der  Dichter- 
vereinigung Ca  ve  au  (1.  gegründet  1729;  2.  175Ü;  3.  1806;  4.  1834.  Vgl. 
A.  France  III,  391,  H.  Avcnel,  Chansons  et  Chansonniers,  Paris.  1889)  oder 
der  Lice  chansonniere,  deren  Ehrenpräsident  Edouard  Huchin  1891  im 
89sten  Jahre  starb  —  mit  jenen  jämmerlichen  Produkten,  denen  sich  Olovis 
Hugues'  blödsinniges  Gedicht  „La  France  ä  Moscow  würdig  anschloss 
(v.  Vossischc  Zeitunc)  28.  10.  ISt^l). 


Ueber  die  neueren  französischen  lAteraturhestrebungen.         33 

seit  1848  in  weiteren  Kreisen  Mode  (vgl.  Baumgarten  A  travers  la 
France  nouvelle,  Kassel  1880,  S.  18,  id.  Die  komischen  3Iysterien  des 
franz.  Volkslehens  in  der  Provinz,  Coburg  1873.  IX.)  und  Balzac 
(La  derniere  Incarnation  de  Vautrin  Kap.  7)  lobt  es  und  empfiehlt 
seine  Aufnahme  enthusiastisch,  wogegen  J.  J.  Weiss,  La  liUerature  brutale 
(1858)  sagte:  ious  les phenomenes  se  resument  dans  unelente et singuliere 
corruption  des  moeurs  publiques,  dont  la  bourgeoisie  opidente  et  les 
classes  aisees  ne  paraissent  point  assez  craindre  de  se  rendre  respon- 
sibles.     Tout  ce  qui  est  ideal  est  aujourd'hui  meprise. 

Claude  (Memoires  de  Monsieur  Claude,  Clief  de  la  Police  de 
Sürete  sous  le  Second  Empire,  Paris  1881 — 83,  II.  208)  sagt:  la 
langue  verte  etait  de  mode  ä  la  cour  de  Napoleon  III  (wo  Eugenie  und 
die  Metternich  für  Lieder  der  M  ii^  Therese  schwärmten) ;  le  langage 
de  Bossuet  ne  se  parlait  plus  qu'ä  VAcademie  on  s'etait  refugie  ä 
V Opposition  (vgl.  Revue  des  Deux  3Iondes  1.  6.  1869,  S.  636;  1.  2. 
1887,  S.  699;  Petit  Journal  pour  rire  406.  415.  590;  Journal  Amü- 
sant 1078;  Paul  d'Abrest,  Gegemvart  1872).  —  So  nennt  Sardou 
(Familie  Benoiton)  das  iVrgot  das  Französisch  der  Zukunft,  und  auch 
Fr.  Michel  sagte:  das  Argot  wird  das  immer  mehr  in  Vergessenheit 
geratende  Französisch  ersetzen.  Und  während  Eondelet  berechtigt 
war,  ein  Buch  Be  la  decadence  de  la  poUtesse  frangaise  zu  schreiben, 
macht  sich  das  Argot  jetzt  selbst  in  den  Salons  breit,  wie  unter 
anderen  auch  Greville  (Lucy  Rodey,  S.  28)  beklagt.  (Vgl.  Fustier  im 
Supplement  zu  Delvau  Bictionnaire  de  la  langue  verte,  Paris  1883). 

Dass  es  aber  nicht  blos  in  der  Unterhaltung  gewisser  Kreise, 
in  Klubs  und  beim  Turf  einen  breiten  Boden  gewonnen,  sondern 
auch  gegen  Boileaus  Vorschrift  (Art  poetique  I.  29):  quoi  que  vous 
ecriviez,  evitez  la  bassesse  —  in  der  Litteratur  sich  immer  mehr  geltend 
macht,  ist  erstens  eine  natürliche  Konsequenz  der  sprachlichen  Ge- 
pflogenheiten der  Romantiker,  zweitens  aber  den  Bemühungen  der 
realistischen  oder  naturalistischen  Schule  zu  verdanken,  welche 
an  frühere  Spuren  ähnlicher  Richtung  in  Gil  Blas  und  Manon 
Lescaiit  anknüpfend,  nach  Balzac  (1790 — 1850),  Flaubert  (1821  — 
1880),  besonders  in  Madame  Bovary,  und  Goncourt  ihren  bewussten 
Kampf  gegen  die  idealistische  Richtung  (von  der  Princesse  de 
Cleves,  Nouvelle  Heloise,  Belphine,  Indiana  bis  Feuillet)  aufnahm.^) 
Der  wichtigste  Vertreter  dieser  Schule,  deren  Manifest  Zola  im 
Roman  Experimental  schrieb, 2)  welche  in  der  Jetine  France,  der  Revue 


^)  Eevue  des  Beux  Mondes  1.  2.  1891,  S.  693;  Balduin  Groller,  Wenn 
man  jung  ist.     Dresden  1891. 

^)  Man  vergleiche  auch  das  von  Guy  de  Maupassant  in  der  Vorrede 
zu  Pierre  et  Jean  aufgestellte  Programm,  wonach  der  Naturalismus  sich 
auf  die  Zustände  der  jetzigen  Zeit,  auf  die  Personen  der  eigenen  Nation, 
les  hommes  contemporains,  zu  beschränken  habe. 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV'.  3 


34  K.  Sachs. 

independante  und  der  von  Vast  -  Ricouard  begTÜndeten  Wochen- 
schrift Revue  reaUste  ihre  Ansichten  zur  Geltun^r  brinp:t,  ist  der 
hochbedeutende  Emile  Zola  (geb.  1840),  der,  da  ja  doch  auch  das 
Hässliche  real  ist,  mit  Vorliebe  bei  diesem  verweilt,  aber  doch  in 
lebenswahren  Scliilderungen  und  Charakteristik  Grossartiges  leistet, 
was  sogar  seine  schlimmsten  Gegner  anei'kennen.  Von  ihm,  den 
P.  Lindau  (Nord  und  Süd  15.  10.  1892.  S.  345)  den  Vertreter  der 
neuesten  Litteratur  der  bittersten  Enttäuschung,  des  berechtigten 
Schmerzes,  der  rauhesten  Wahrheit  nennt,  sagt  Jules  Lemaitre:  le 
naturaUsme,  c'cst  Zola  tont  seul.  Ed.  v.  Hartmann  {Magazin  für  Litteratur 
1892,  die  Zukuntt  der  deutschen  Litteratur)  erklärte  ihn 
für  einen  abstrakten  Idealisten  und  Romantiker,  der  sich  naturalistisch 
verkleidet  habe,  dessen  abstrakte  Idee  zu  einer  rein  negativen  Ten- 
denz abgeblasst  sei,  die  sich  von  dem  Pathos  des  moralischen  Ent- 
rüstungspesssimusmus  nähre  —  wogegen  Rod,  Alexis  und  Goncourt 
seine  Richtung  als  grossen  Fortschritt  preisen,  der  freilich  schon 
seit  Bacon,  Diderot,  Balzac,  Littre  (Huret  l.  c.  S.  104),  Flaubert 
(vgl.  A.  France  II.,  195)  begonnen  sei;  der  grosse  Mage  Peladan 
aber  verurteilt  ilm  als  si/nchronisme  du  suffrage  universel,  et  le  pro- 
tagonisme  antiesthetique  de  la  Canaille! 

Neben  Zola  sind  die  bedeutendsten  dieser  Richtung  Alphonse 
Daudet  (geb.  1840),  der  Autor  von  Fromont  Jeune,  Sapho,  Tartarin, 
Vlmmodel,  Numa  Roiunestan  etc.  (v.  Emil  Burger,  Zola,  Daudet  und 
andere  Naturalisten  FrankreicJis,  Dresden  1889;  Heller  l.  c.  p.  322);  Guy 
de  Maupassant,  der  in  La  Maison  Tellicr,  Les  Sogurs  liondoli, 
Une  Vie  wie  in  Bel-Ami  und  anderen  früheren  Werken  ganz  Realist 
war,  aber  seit  La  Main  Gauelie  etwas  und  in  Pierre  et  Jean  und 
Sur  Veau,  VLiutile  Beaute  und  Notre  Coeur  ganz  die  schlüpfrigen 
Pfade  verlassen  hat  (v.  A.  France  Vie  Litteraire  I.,  47;  Huret 
l.  c.  S.  187,  185).  Ferner  Jean  Richepin  (geb.  1849  in  Algier, 
V.  Gidel  III.  380)  wenigstens  in  seinen  Anlangen;  der  Niederländer 
Huysmans  (v.  Huret  176;  Zeitschrift  für  neufranzösische  Sprache  und 
Litteratur  XL  41,  Ary  Prins  Nieuwe  Geds  1.  6.  1886),  der 
aucli  bedeutende  Wandlungen  durchgemacht  hat,  wie  die  letzten 
seiner  Romane  beweisen,  besonders  A  rehours,  wo  er  nicht  mehr  im 
Geleise  der  Soeurs  Vatard,  En  Menage  und  En  Rade  blieb  (vgl. 
Huret  S.  43,  136);  die  unter  dem  Pseudonym  Gyp  sclireibende  aus- 
gelassene Schriftstellerin,  Grärin  Sybille  de  Martel,  welche  trotz 
ihres  starken  Realismus  jetzt  von  der  ihrer  ganzen  Art  homogenen 
Vie  Parisienne  sogar  mit  ilirem  letzten  Werke  Passionnette  in  die 
Revue  des  Beux  Mondes  Einlass  gefunden  hat  (1891;  vgl.  Gegen- 
tvart  12.  1891). 

Zu  ihnen  gehören  Paul  Alexis,  früher  der  eifrigste  Medaniste 
d.  h.  Anhänger  Zolas  und  Mitarbeiter  an  den  Soirees  de  Medan,  ge- 


lieber  die  neueren  französischen  Liferaturbestrebungen.         35 

uannt  nach  dem  Orte,  wo  Zola  wohnte  (v.  Hiiret  S.  188,  43  und  437), 
der  Verfasser  von  Madame  Jleuriot  (Huret  S.  192),  Sac-aii-dos,  £du- 
cation  amoureuse  nnd  Lä-bas ;  Bressore,  Henry  Ceard,  Mitarbeiter 
der  Soirees  de  Medan,  später  nicht  mehr  dazu  gehörig,  (v.  Huret  S.  436, 
43,  196),  Champsaur,  Chevette,  Petit  Claud,  Ernest  Depre, 
Fevre-Despoy,  Marc  Floreal,  Pierre  Griffard,  Paul  Ginisty, 
Gabriel  Lafaille,  Camille  Lemonnier  (Le Possede  1890),  Hugues 
Le  Roux  (Chez  les  ßlks  1889,  les  Anies  en  peine:  Les  Larrons;  Le 
chemin  du  crime;  Entre  hommes  etc.),  Livet,  Maizeroy,  (La  Peau 
1890,  sehr  anstössig,  Sensations  1889,  Les  Passionnees,  La  Belle, 
P'tit  Mi,  Coups  de  Coeur),  Maurice  Monte  gut,  Paer,  Jeau 
Reibrach  z.  B.  mit  la  Gamelle;  Hector  Scazon,  Stapleaux 
(Scandales  mondains,  Les  Vicieuses  1890  und  1891),  und  Vast- 
Ricouard,  die  siamesischen  Zwillinge  ä  la  Erckmann-Chatrian, 
welche  1879  (\ie  Bevue  realiste  redigirten;  ferner  ursprünglich  Leon 
Hennique  und  Edouard  Rod,  die  wir  später  noch  in  anderen 
Gebieten  treffen  werden. 

Heller  rechnete  zu  ihnen  auch  solche  Realisten,  die  nicht 
ausschliesslich  sittliche  und  geistige  Verkommenheit  schildern :  About, 
Claretie,  Erckmann-Chatrian,  Malot,  Ohnet,  Rabusson  und  Theuriet. 

Schon  der  Name  Realisten  deutet  ihre  Tendenz  an,  die 
Wii'klichkeit  zu  schildern,  wie  sie  das  Auge  des  Schriftstellers  an- 
schaut, sie  mehi"  oder  weniger  scharf  zu  beobachten  und  zu  zer- 
gliedern, und  ein  möglichst  photographisch  genaues  Bild  von  Natur- 
und  Geisteszuständen  zu  geben;  die  aber,  wie  Sarcey  bemerkt  „da 
die  Natur,  deren  Wiedergabe  Aufgabe  der  Kunst  ist,  auch  Hässlich- 
keiten  aufweist,  wie  das  menschliche  Gesicht  oft  Warzen  trägt,  sich 
ein  Vergnügen  daraus  machen,  gerade  als  höchste  Kunstentfaltung, 
die  Warzen  in  ihrer  vollsten  Hässlichkeit  darzustellen." 

Während  wir  oft  die  scharfe  psychologische  Entwicklung,  die 
feinste  Kleinmalerei  und  lebenswahre  Darstellung  bewundern,  widert 
uns  doch  häufig  die  allzu  krasse  realistische  Manier  in  der  Schilderung 
widerlicher  Zustände  und  Vorgänge,  das  vielfach  absichtlich  rohe, 
ja  zotige  Ausmalen  der  unsittlichsten  oder  unästhetischen  Begeben- 
heiten, das  Haschen  nach  physisch  und  sittlich  Hässlichem  an,  wie 
die  häufige  Anwendung  der  rohesten  Ausdrücke,  welche  die  plastische 
Darstellung  der  geschilderten  Verhältnisse  erhöhen  sollen^).  Gegen- 
über der  klassischen  Gespreiztheit  und  häufigen  Unnatur  zeigen 
viele  von  den  Realisten,  noch  viel  weiter  gehend  als  die  Romantiker, 
bestimmte   sprachliche 2)  Manieren   und  Unsitten,   die   sie   eben  so 

^)  Vgl.  A  France  I.  344:  an  oppose  la  realite  ä  V ideal,  comme  si 
l'ideal  n'etait  pas  la  seule  realite  qu'il  nous  soit  pennis  de  saisir. 

2)  Vgl.  Maupassant's  Preface  zn  Pierre  et  Jean  über  sein  dictionnaire 
bizarre  et  chinois;  Pontinartin  in  seinen  Kritiken  von  Zola. 

3* 


36  K.  Sachs. 

wolil  bewusst,  als  den  ihrem  Gegenstande  allein  konfoniien  Aus- 
druck ansehen,  wie  Zola  z.  B.  in  der  Vorrede  zu  seiner  Buchaus- 
gabe des  Dramas  VAssommoir  dasselbe  eine  hochmoralische  Tragödie 
der  Trunkenheit  zu  nennen  wagt.  So  begegnen  wir  z.  B.  in  Zola, 
Huysmans,  mehr  als  in  Goncourt  (La  Faustin,  La  Fille  jßlisa)  den 
fast  stereotypen  Wiederholungen  von  Wörtern  wie  buee,  ocleiir, 
jmanfeur,  suer,  pissat,  pis,  derriere  etc.,  neben  ganzen  Seiten  voll  von 
Argot,  die  man  mit  den  gewöhnlichen  Wörterbüchern  gar  nicht  ver- 
stehen kann  —  während  die  tollsten  Schilderungen  von  Dingen,  die 
man  sonst  nur  verschleiert,  oder  kaum  anzudeuten  wagt,  wie  die  be- 
rüchtigten Stellen  in  La  Terre:  Mais  xms  cVenfant! . . . ,  die  mit  dem 
Kalben  der  Kuh  in  engste  Beziehung  gebrachte  Entbindung  und  die 
wetteifernden  Versuche  der  zwei  Bauern  de  peier,  in  ihrer  nackten 
Zotigkeit,  die  ganz  unverhüllten  Beschreibungen  in  Goncourt's  o1)en 
genannten  Werken,  in  Richepins  La  Ghi,  Daudets  Saplw,  Huysmans^) 
Les  Soeurs  Vafard,  A  rebours  etc.,  Maupassant's  La  maison  Tellier  und 
Bei- Ami  an  Faublas,  Eetif,  de  Sade  und  die  ganze  in  Frankreich 
ja  leider  reiche,  aber  doch  sonst  nicht  sich  so  offen  hervorwagende 
pornographische  Litteratur  heranreichen.  Dabei  darf  nicht  geleugnet 
werden,  dass  vieles  davon  geistreich  geschrieben  ist  und  immerhin 
einen  bedeutenderen  Eindruck  macht  als  die  letztgenannten  Produkte, 
oder  Paul  de  Kocks  früher  so  beliebte  Romane^). 


*)  L'aniour,  ecocuranto.  et  banale  bestialite;  vgl.  die  Erklärung 
rattouchement  de  deux  epidermes  — . 

^)  Hauptwerke  über  den  Idealismus  und  Kritiken  Einzelner:  W. 
Reymond,  Etudes  sur  In  litterattire  du  second  empire  fraiujais  depuis  le 
coup  d'etat  du  deux  decembre.  Berlin  1861.  p.  26  .  .  .  Heller,  Zeitschrift 
für  nfrs.  Spr.  IV.  1.  9.  297.  1879.  X.  1888,  308—354,  und  XIII  S.  241 
bis  304:  Die  schöngeistige  Litteratur  des  Jahres  1S90.  H.  Brei  tinger. 
Aus  neueren  Literaturen.  Zürich  1879.  p.  84.:  Die  Entwicklung  des  Eealismus 
in  der  französischen  Dichtung  des  19.  Jahrhunderts.  L.  Pfau,  Emile 
Zola  in  Nord  und  Süd.  1880.  Baumgarten,  A  travers  la  France  nouvelle 
Kassel,  1880,  S.  28.  L.  Desprez,  V Evolution  naturaliste,  Paris,  Tresse, 
1884.  Secretan  in  Bibliotheque  populaire  de  la  Suisse  romande  (April 
1882);  Brunetiere,  m  Bevue  litteraire  passira  nml  Le  Eoman  naturaliste 
(2.  ed.  Paris  1890).  Le  pessiinisme  dans  le  roman  (Revue  des  deux 
Mondes  1.  9.  1885,  p.  215.  . .)  und  Le  Mouvemcnt  litteraire  au  19^  siede 
(id.  15.  10.  1889.  p.  867  .  .  .).  Sarcey,  Le  mot  et  la  chose.  Paris  1862 
chap.  XVIII,  p.  183.;  Ed.  Engel,  Psychologie  der  fr.  Litteratur  p.  296; 
Amyntor,  Zolaismus  (Magazin  für  Literatur  No.  22.  1884;  cf.  id.  No.  43); 
R.  v.  Gottschall,  Der  naturalistische  und  photographische  Roman  in 
Frankreich  {Literarische  Todtenklänge  und  Lebensfragen.  Berlin  1885. 
p.  207  ff.);  Alb.  Savine,  Xfs  evolutions  d'un  naturaliste.  Paris;  J.  Hart, 
Der  Zolaismus  in  Deutschland  (Gegenwart  40.  1886);  Zolling  in  der 
Gegentvart  passim;  Franco-Gallia  Yl,  1.  XII.  370;  ten  Brink,  Zola 
und  seine  Werke,  Autorisierte  Uebersetzung  von  H.  G.  Rahstede.  Braun- 
schweig 1887;  Fr.  Mauthner,  Kritische  Aufsätze.  Berlin  1887:  Von 
Keller  zu  Zola;  Illustrierte  Zeitung  2014.     (5.  11.   1887);    G.   Brandes, 


JJeber  die  neueren  französischen  Literaiurhestrebungen.         37 

Dh^  Petit  Journal pour  rire No.  70.  1888  sagt:  ^nile  Zola,  quand 
ü  construit  des  clidteaux  en  Espagne,  doit  toujours  commencer  par  les 
cabinets  d'aisance  —  der  Figaro  12.  9.  1891  fragt  entrüstet  bei 
der  Nacliriclit,  dass  Jean  Eeibracli,  un  trop  parfait  eleve  d'£mile  Zola 
einen  Roman  in  der  Revue  des  Deux  Mondes  veröffentlicht  hat:  oü 
allons-nous,  si  M.  Bidoz  ouvre  le  temple  aux  realistesf  Moritz 
Carriere  (Gegemvart  13,  1891^  „Ein  BeJcenntniss  der  Moderne"  sagt: 
Der  Realismus  gibt  neuerdings  in  Italien,  Frankreich,  Deutschland 
die  Parole  aus:  Wahrheit,  nicht  Schönheit!  Der  Gegensatz  beweist 
schon,  dass  er  das  Niedrige,  Widrige,  Ordinäre  oder  Absonderliche 
als  das  Wirkliche  nimmt,  als  ob  der  frische,  klare  Quell  minder 
wirklich  wäre,  wie  die  stinkende,  trübe  Gosse;  die  blühende  Rose, 
die  reife  Traube  minder  wirklich  als  der  Schierling.  Nicht  die  ein- 
zelneu Thatsachen,  sondern  die  Zusammenfassung,  die  Summe  von 
Wirklichkeiten  unter  der  Herrschaft  des  Gesetzes  ist  Wahrheit.  Der 
falsche  Naturalismus  stellt  das  Physische  dem  Seelischen  voran,  ja, 
er  setzt  es  an  die  Stelle  desselben  und  macht  das  Viehische  im 
Menschen  zum  Prinzip,  während  echter  Naturalismus  auch  das 
Geistige  anerkennt  und  die  Grösse,  Schönheit,  Folgerichtigkeit  im 
Universum  betont.  Im  3.  Teil  des  Faust,  p.  64,  lässt  sich  Faust 
folgendennassen  vernehmen : 

Standhaft  erprobet  im  Kloakenwerke 

des  Nasennerves  ungewolinte  Stärke 

der  neuen  Zeit  Savonarola,  Herr  Zola, 

und  ruft  der  Klassizistenzunft  zum  Trutz: 

das  wahrhaft  Ideale  ist  der  Schmutz. 

Gegen  die  Auswüchse  dieser  Richtung,  besonders  in  Zolas  La 

Terre  erhoben  sich  5  seiner  bisher  eifrigsten  Anhänger')  und  veröfitent- 

lichten  1887  nach  allerhand  höchst  komischen  Vorgängen,  die  Paul 

Bonuetain  selbst  bei  Huret  (S.  242)  beschrieben  hat,  das  Manifest  contre 


Dexitsclie  Rundschau  VII.  1.  1.  1888;  Max.  Harden,  Ein  neuer  Zola, 
Feuilleton  der  Frankfurter  Zeitung  1891;  Cherbuliez,  V Art  et  la  Natur e 
(Revue  des  Deux  Mondes  15.  8.  1891,  p.  726);  Bande  w,  Zola  und  der  JSSaturu- 
lismus  in  Franco-GalUa  2.  1889;  Quarterly  Review  July  1890.  S.  311;  vgl. 
Rembrandt  als  Erzieher,  p.  43;  Leo  Taxil,  la  corruption  fui-de-siecle  1891; 
Gr  0 1 1  e  r ,  Wenn  man  jung  ist  (Dresden  1891);  K 1  i  n  ck  s  i  e  k,  Zur  E)divicklungs- 
geschichte  des  Realismus  im  Roman  des  19.  Jahrhunderts.  Marburg,  Ehvert 
1891;  Le  Goffic,  Les  romanciers  d'aujourd'hui;  P.  Lindau  in  Nord  u. 
Süd  15.  3.  1892,  p.  318:  Über  die  Jüngsten  und  Neuesten  im  literarischen 
Frankreich;  Leo  Berg,  Der  Naturalismus.  Zur  Rsychologie  der 
modernen  Kunst.  München  1892. ;  Levy-Brühl,  le  roman  contemporain  et 
le  naturalisme  en  Allemagne  {Rente  des  Deux  blandes  15.  3.  1892); 
Tissot,  Les  Evolutions  de  la  critique  frangaise,  Paris  1890;  A.  France, 
H\iret,  Lemaitre  etc.  in  den  angeführten  Werken. 

1)  A.  France  IL  227,  III.  368.    Huret  241,  18,  248,  258,  254. 


38  K.  Sachs. 

les  ordres  de  la  Terre,  wie  A.  France  scherzend  sagt:  am  neunten 
Thennidor,  der  die  Tyrannei  Zolas  stüi'zte.  Es  waren  dies  neben 
Bonne tain,  dem  Redaktionssekretär  des  Figaro  Illustre  und  Autor 
von  V  Opium,  LucienDescaves  (geb.  186 1),  der  sich  durch  La  Caserne  : 
Miseres  du  Sabre  und  les  Sous-offs^)  bekannt  gemacht  hat,  Paul  Mar- 
gueritte  [Verfasser  u.  A.  von  Force  des  Choses,  Taus  quatre,  Pascal 
Gefosse,  Amants,  Confession  posthume,  einigen  kleineren  Erzählungen 
z.  B.  Bonne  Fortune,  (in  Vie  Populaire  18.  1892),  la  FilJe  de  Jacinte 
id.  32  und  Theaterstücken,  besonders  Pantomimen],  Gustave  Guiches 
(der  Celeste  Prudhomat,  VEnnemi,  La  Pudeur  de  Sodonie,  Vlmprevu 
und  1892  Philippe  Bestel  veröffentlichte)  und  I.  H.  Rosny  (geb.  1856), 
der  Autor  von  Nell-Horn,  Marc  Face,  le  Termite  (v.  A.  France  III, 
277,  Heller,  Zeitschrift  XIII,  S.  253),  le  Bilateral  (A.  France  III. 
279),  les  Xipehuz,  und  Daniel  Vahjraives,^)  bei  dessen  Besprechung 
in  der  Revue  des  jDeux  Mondes  1.  6.  1891,  S.  697  von  ihm  gesagt 
wird,  sein  Stil  zeige  viele  Barbarismen  und  affektierte  Ausdrücke,  sei 
aber  oft  neu  und  stets  persönlich  und  originell  [1892  erschien  noch 
Vamireh,  Roman  des  temps  primitifs].  Diese  Neorealistes  (vgl. 
Huret  207,  Echo  de  Paris  1891  März)  fordern  vom  Schriftsteller  nne 
comprehension  plus  profonde,  p?i^s  anali/tique  et  ^j??/s  juste  de  l'univers 
tont  entier,  acquise  par  la  science  et  par  la  philosophie  des  tetnps  mo- 
dernes; daneben  eine  ernste  Reaktion  gegen  die  besonders  von  sla- 
vischen  Autoren  gezeigte  Verleugnung  der  Zivilisation  und  des 
Fortschrittes,  wie  gegen  den  Pessimismus.  Indem  sie  als  ihr  Ideal 
„le  vrai  devenu  le  beaii"  erklären,  werfen  sie  Zola  vor,  dass  bei  ihm 
„V Observation  est  superficielle,  les  trucs  demodes,  la  narration  commune, 
et  depourvue  de  ca r acter i st iques,  la  note  orduriere  exacerbee  encore, 
descendue  ä  des  saletes  si  basses  quc,  par  instants,  on  se  croirait  devant 
un  recueil  de  scatoloffie.  Le  Maitre  est  descendu  au  fond  de  Vim- 
mondice"  (Huret  225,  A.  France  I.  226). 

Den  Neurealisten  schlössen  sich  an:  Jean  Ajalbert  (geb.  1863), 
der  als  ultra-decadent  in  dem  von  ilun  mit  Paul  Adam  gegründeten 
Blatte  le  Carcan,  dann  in  dem  von  ihm  mitbegründeten  Si/mboliste 
debütierte,  später  Cop])ees  Anhänger  und  zuletzt  in  Fn  Amour  (1890) 
Realist  wurde.  Er  bearbeitete  auch  die  Fille  J'jlisa  als  Drama.  — 
Ferner  Joseph  Caraguel  (geb.  1855)  aus  Narbunne,  der  zuerst 
das  Manifest  nicht  unterzeichnen  wollte,  dann  aber  le  BouV  MicW 
und  les  Badhozouls  im  Sinne  dieser  Schule  schrieb,  wie  er  sich  auch 
cvolutioniste  oder  positiviste  litteraire  nennt  (Huret  223).  Gustave 
Geffroy  (geb.  1855  in  der  Bretagne,  wohnt  in  Belleville)  ist  der 
Kritiker  der  Schule,  besonders  in  ^La  Justice^  (Huret  236,  261).  Auch 

')  Gegen  diese  Schilderungen  veröffentlichten  G.  Darien  und  E.  Dubus 
Les  vrais  soiis-ofs  1890. 

2)  A.  France  I.  226.  3.  277,  283,  Huret  230,  438. 


Ueber  die  neueren  französischen  Liter aturbestrebungen.         39 

Abel  Hermant  (geb.  1862),  der  erst  Naturalist,  dann  Psycholog  war, 
schrieb  Cavalier  Miserey,  Surintendante  und  Äniotir  de  Tete  (Huret 
S.  253)  nach  den  Grundsätzen  der  Neurealisteu  ebenso  wie  Je  au 
Jullien,  dessen  Stücke  la  Serenade,  Le  3Iaiire  u.  A.  auf  dem  Tlieätre 
libre  Aufsehen  erregten.  In  Art  et  Critique  erklärte  er  übrigens, 
dass  fornmles  und  theories  zu  nichts  helfen.  Endlich  Octave  Mir- 
beau  (geb.  1848  in  Trevieres,  Calvados),  der  nach  verschiedenen 
Autoritäten  einer  der  bedeutendsten  der  ganzen  Richtung  ist,  der 
Verfasser  von  Calvaire,  Vabhe  Jules  und  Sebastien  Bock  (Huret 
S.  207,  210,  212). 

Ebenfalls  Naturalisten,  doch  ohne  sich  einer  bestimmten  Schule 
anzuschliessen ,  sind  George  Beaume,  der  vor  allem  die  Bauern 
Languedoc's  getreu  schildert,  Jean  Blaize,  Robert  Godet,  der 
Autor  von  Le  Mal  d'aimer,  Amedee  Pigeon  und  Fran^ois  Sauvy. 

Wie  die  Fünf,  polemisierte  Pierre  Loti  (d.  i.  Kapitän- 
lieutnant  J.  Viaud)  bei  seiner  Aufnahme  in  die  Akademie  im  April 
1892^)  energisch  gegen  den  Naturalismus  Zolas,  obwohl  er  in  einem 
bald  nachher  an  diesen  geschriebenen  Briefe  sein  talent  genial  et  immense 
anerkannte,  aber  auch  gegen  die  anderen  neueren  Schulen,  unter 
welchen  er  zuerst  die  Psychologen  tadelt  „als  Gimpel,  die  sich 
diesen  wissenschaftlichen  Namen  beilegen,  auf  den  sie  nicht  das 
geringste  Anrecht  haben,  während  z.  B.  Feuillet's,  Racine's,  Shakes- 
peare's  Werke  auch  psychologisch  sind,  obschon  sie  keine  langen 
Abhandlungen  über  den  Seelenzustand  der  Personen  aufweisen". 
Zu  diesen  rechnet  Huret  ausser  Paul  Bourget  (geb.  1852)  die 
zwei  Kritiker  Anatole  France  (v.  Hermann  Bahr  in  Neue  Freie 
Presse  1891),  den  wir  auch  als  parnassien  kennen  gelernt  haben  (in 
Noces  corlnthiennes  und  Tha'is  (v.  Huret  44,  343  und  291,  ferner 
Äthenaeum  4.  7.  1891J  und  Jules  Lemaitre  (Huret  10),  ferner 
Edouard  Rod  (Huret  S.  15,  Hermann  Bahr  in  Gegenwart  5.  1892), 
Maurice  Barres  (Huret  S.  16),  Camille  de  Sainte-Croix  (Huret 
S.  24),  Paul  Hervieu  (Huret  S.  29;  er  schrieb  zuletzt  Flirt)  und 
Henri  Rabusson  (L'illusion  de  Florestan  1889,  Idi/lle  et  Lrame  de 
Sahn  etc.);  ferner  als  solche,  die  sich  Zola  häufig  sehr  genähert  haben: 
Maupassant,  Hennique,  Huysmans,  de  Maistre,  de  Vogue  und 
sogar  Pierre  Loti  selbst  (vgl.  Leon  Barracand  Un  Mofistre  1888; 
Vicomtesse  1890). 

Nun  aber  erhob  sich  schon  früher  gegen  die  Realisten,  deren 
einzelne  Gruppen  sich  analog  den  Lvpressionnistes,  Intentionnistcs 
oder  Tachistes,  in  Italien  Veristen  nennen  (v.  Breitinger  Siudien  und 
Wandertage,  Frauenfeld  1890,  S.  192  und  196),  die  allerneueste  Aus- 


^)  Vgl.    F.    Vanderem,    Je   mefait    de   Loti    in    Bevue   politiqiie    et 
litter  aire  16,  1892. 


40  K.  Sachs. 

geburt  der  steten  Sucht  nach  neueren  (?)  Prinzipien  und  Formen, 
die  der  Decadents  oder  der  Decad(ent)isme,  auf  welchen  man 
das  Wort  Cariberts  in  Gagatisme  litteraire  (Paris  1886)  nach  den 
verschiedensten  Beziehungen  anwenden  kann:  Je  ronian  (hier  auch 
la  poesie)  tend  ä  devenir  charcotique  (mit  Bezug  auf  den  grossen 
Pariser  Operateur  und  Sezierer  Charcot). 

Wenn  der  Wert  einer  Sache  nach  dem  Reklamegescln-ei, 
welches  dafür  gemacht  wird  und  dem  Selbstgefühle  ihrer  Verkünder 
zu  bemessen  wäre,  so  müsste  diese  jüngste  Schule  der  französischen 
Literatur  unbedingt  allen  andern  ihr  vorangegangenen  bei  weitem 
überlegen  sein.  Freilich  ist  das  in  Wirklichkeit  ebensowenig  der 
Fall,  wie  der  von  jenen  Männern  gemachte  Lärm  das  beabsichtigte 
Aufsehen  gemacht  hat  —  sagte  mir  doch  im  vorigen  Frühjalir  ein 
angesehener  Pariser,  den  ich  auf  dem  Wege  von  Marseille  nach 
Nizza  im  Gespräch  auf  diese  Schule  brachte,  sie  sei  selbst  in  Paris 
trotz  alledem  so  gut  wie  unbekannt  und  ohne  jeglichen  wirklichen 
Einfluss  auf  den  Geschmack  und  das  literarische  Leben  Franki'eichs 
(man  vgl.  in  dieser  Beziehung  viele  Stellen  in  Huret). 

Einige  der  begeistertsten  Anhänger  Baudelaires,  welche  diesen 
dichterisch  veranlagten,  aber  gleich  Schaune-Schaunard  sittlich  her- 
untergekommenen Autor^)  als  ihren  Vorläufer  proklamieren,  ecceures 
de  cette  litterature  senile,  sterile  et  terre-ä-terre  oü  s'ilhcstre  Zola,  et 
quifait  les  delices  du  bourgeois  sans  dnie  (v.  Baju,  L^Jßcole  decadente  S.  2.) 
protestierten  im  August  1885  im  Namen  aller,  welche  sich  für  die 
Künste  interessieren,  dagegen  „durch  einen  gewaltigen  Aufschrei,  der 
von  allen  Echos  in  den  zwei  Welten  vernommen  und  wiedergegeben 
wurde".  Baju  V£eole  decadente  p.  S.  sagt:  c'est  ä  VJ^cole  decadente 
qu'etait  reserve  l'honneur  de  hroyer  le  naiuralisme  et  de  creer  im  goid 
meüleur  qui  ne  füt  plus  en  contradictlon  directe  avec  le  progres 
moderne.  Was  diese  hochtrabenden  und  unklaren  Redensarten  be- 
zwecken, äussert  Baju  (p.  12)  in  folgendem:  La  litterature  decadente 
syntlietise  Vesprit  de  notre  epoque,  cest-a-dire  de  Velite  intellectuclle  de 
la  societe  moderne.  On  ne  saurait  faire  entrer  en  ligne  de  compte, 
quand  il  s'agit  d''Art,  la  midtitude,  qui  ne  pense  pas  et  qui  ne  peut  etre 
comptee  que  numeriquement.  Le  haut  public  intellectuel ,  le  seul  qui 
compte  et  dont  les  suffrages  sont  une  consecration,  celui-lä  en  a  bien 
assez  de  toutes  ces  emotions  factices,  de  ces  cxcitations  grossieres,  de  ces 
Conventions  banales  d'un  monde  imaginairc  que  les  derni'eres  littcratures 
mettaient  en  ceuvre  pour  la  Stimulation  des  sens.  II  est  las  de  tout 
le  fatras  romantiqiie  et  naturaliste  qui  fascine  quelquefois  V Imagination, 
mais  qui  est  impuissant  ä  faire  cesser  l'engourdissement  du  cceur.  Ce 
qu'il  veut,  cest  la  vie;  il  est  assoiffe   de  cette  vie   intense  teile  que  le 


0  V.  Bevue  des  Beux  Mondes  1.  7.  1887.  695. 


Ueber  die  neueren  französischen  Literaturbestrebungen.         41 

progres  l'a  faite;  .  .  .  la  litterature  decadente  se  propose  de  refleter 
Vimage  de  ce  monde  spleenetique.  Elle  ne  prend  que  ce  qui  interesse 
diredement  la  vie.  Pas  de  descriptions:  on  suppose  tout  connu  .  . . 
faire  sentir,  donner  au  coeur  la  Sensation  des  choses,  soit  par  des 
constructions  neuves,  soit  par  des  symboles  evoquant  l'idee  avec  plus 
d'intensite  par  la  comparaison.  Synthetiser  la  matiere,  mais  analyser 
le  coeur. 

Man  fühlt  sich  wahrlich  bei  diesem  Wortschwall,  der  übrigens 
noch  in  verhältnissmässig:  verständigem  Französisch  geschrieben  ist, 
versucht,  mit  dem  Schüler  im  Faust  zu  sagen:  Mir  wird  von  alle 
dem  so  dumm,  als  ging'  mir  ein  Mühlrad  im  Kopf  herum.  —  Grosse 
Phrasen  und  das  höchste  Selbstgefühl^)  —  und  Baju  gesteht  ja  auch 
(p.  3):  fen  parlerai  Sans  modestie  comme  sans  orgueil:  la  modestie 
est  Vapanage  des  fats  ou  bien  le  pire  des  orgueils,  Vorgueil  deguise.  .  .  . 
(Tai  la  conviction  d'avoir  collabore  ä  un  grand  mouvement  litteraire.  .  .  . 
Freilich,  wenn  es  auch  dem  grossen  Unternehmen  nicht  an  Reiz 
fehlte,  so  war  es  voll  bedeutender  Schwierigkeiten.  Weder  Mut 
noch  Initiative  fehlte  den  Begründern:  aber  es  fehlte  an  Geld. 

Den  Nameu  für  die  selbstbewusste  Schule,  welche  Gautier, 
Flaubert,  Goucourt  im  Sinne  von  raffinemcnt  litteraire  gebraucht 
hatten,  gaben  Pariser  Schriftsteller  und  besonders  Champsaur  ironisch 
der  neuen  Richtung  —  und  wie  der  Schimpfname  Crueux,  Itoue, 
Jncroyäble  etc.  von  den  also  bezeichneten  freudig  adoptiert  wurde,  so 
nannten  sich  auch  diese  fortan  nach  Verlaine's  Vorgange  les  Deca- 
dents.  Man  vergleiche  zu  dem  Namen  noch  das  Supplement  der 
Lanterne  22.  3.  1891,  wo  es  heisst:  J'ai  tout  vu,  tout  entendu,  tout 
pense,  tout  compris,  tout  pese,  tout  juge,  totd  senti,  tout  eprouve  —  et 
je  suis  horriblement  decadent)^).  Als  Parteilosungswort  brauchte  es 
zuerst  Maurice  Barres  in  den  TacJies  d'Encre  (Dezember  1884\ 
welcher  das  Zugeständnis  machte:  ni  le  travaiJle,  le  voulu  de  Mal- 
larme, ni  le  tad  et  Vinfinie  nuance  de  Voeuvre  de  Paul  Verlaine 
ne  possedent  le  imblic.  Mais  le  ßot  qui  les  porte  avance  chaque  jour. 
Ils  ont  appotie  leurs  inquietudes,  leurs  perversions  douloureuses  dans 
la  critique,  dans  Vetude  de  la  societe  contemporaine.  Ils  se  com- 
plaisent  dans  le  rare  et  poussent  Vaniour  de  Vunique  jusqii'au  culte 
du  decadent.     Schon  vorher  (im  Februar  1884)  hatte  das  Haupt  der 


1)  vgl.  Pierre  Veron  im  Charivari  3.  10.  1891  bei  der  Besprechung 
von  JuUien,  La  Mer:  jadis  chacun  se  contentait  d'ecrire  une  auvre  en  la 
faisant  aussi  eloquente,  aiissi  charmante,  aussi  interessante  que  possihle  sans 
avoir  pour  cela  la  pretoision  de  fonder  une  eglise  nouvelle.  Les  dieses 
ne  marchent  jjZ»s  de  ce  train  aujoiird'hui.  Tout  le  monde  se  croit  plus 
ou  moins  regenerateur  de  l'art.  Man  vergleiche  übrigens  Moliere:  et  je 
vous  soutiens,   moi,  que  mes  vers  sont  fort  bons. 

^)  Moreas  war  gegen  diese  Bezeichnung,  für  die  Andere  das  Wort 
deliquescent  aufbrachten. 


42  K.  Sachs. 

Verlainistes ,  der  relativ  bedeutendste  der  ganzen  Schule,  Paul 
Verlaine,  in  der  Vorrede  seiner  Foetes  niaudits  gesagt:  les  vers  de 
ces  chers  Maudits  .  .  sont  .  .  comme  du  bronze  tin  peu  de  decadence 
—  Lindau  nennt  sie  nach  Scheir'scher  Manier  „Niedergänfrler'-  oder 
„Verfallsler"  —  niais  qiCest-ce  que  decadence  reut  hien  dire  ai(fond? 
Auch  den  wunderlichen  Jules  Barbey  d'Aurevilly^),  den  Mann 
mit  Schnürleib  und  Spitzenjabot,  den  jugendlichen  Dandy  von  80  Jahren, 
dessen  Stil  gesucht,  oft  manierirt  und  dunkel,  dessen  Kritiken  bis- 
weilen gelungen,  aber  meist  von  trauriger  Einseitigkeit  und  lächer- 
lichem Dünkel  zeugen,  wie  sein  berüchtigter  Ausspruch  über  Goethe, 
den  er  einen  jämmerlichen  Zwerg  zu  nennen  wagte  —  auch  ihn,  zu 
dessen  wenigen  Freunden  in  späteren  Jahren  übrigens  auch  Coppee 
gehörte,  beansprucht  Baju  als  Vorläufer  der  Decadents,  le  psycho- 
logue  pirofoyid  dont  le  regard  si/nthetique  est  capahle  d'emhrasser  la 
nature  entiere.  .  .  LHndiff'erence  oti  le  dedain  des  plehes  pour  ce  yrand 
komme,  quelle  preuve  plus  eclatante  et  plns  süre  de  so7i  vasfe  genie! 
Der  in  diesen  Worten  ausgesprochene  alberne  Standpunkt  konnte  nur 
übertroffen  werden  durch  die  (p.  19)  folgenden  Worte,  in  welchen  es 
von  diesem  von  der  gesunden  Kritik  verurteilten  Autor  heisst:  II 
efft  hien  Vecrivabi  unique  de  ce  siecle.  Victor  Hugo,  qui  2^asse  pour- 
tant  pour  im  geant,  n'est  qtchm  nain  aupres  de  lui.  Barhey  seleve 
aiitant  au-dessus  de  V.  Hugo  que  cehci-ci  au-dessus  du  reste  de 
rhum,anite.  Trotz  dieser  an  die  Grenze  des  Wahnsinns  streifenden 
Ideen  hatte  nicht  nur  Daudet,  sondern  auch  Frangois  Coppee  Be- 
ziehungen zu  den  Decadents,  wie  wir  noch  in  seinen  Pocsies  (1874 — 
1878)  ein  Gedicht  von  ^'erlaine  „Vürail'^  linden. 

Wie  in  den  oben  angeführten  Sätzen,  zeigt  sich  bei  allen 
diesen  jungen  Leuten,  welche  das  ]\Iolieresclie  Wort:  les  anciens  s<mt 
les  anciens,  et  nous  somnies  les  gens  cV aujourd'hni  in  sehr  eigen- 
tümlicher Weise  zur  Geltung  bringen,  das  grenzenloseste  Selbst- 
gefühl (Leconte  nennt  sie  deshalb  moi'istes,  fous  fumisfes,  ces 
jeunes  gens)  und  eine  kindische  Geringschätzung  aller  Anderen^), 
eine  Verachtung  der  bisherigen  Leistungen  bedeutender  Männer, 
mit  der,  wie  Loti  sagt,  gewisse  kleine  junge  Leutchen  sprechen, 
die  sich  für  Schriftsteller  halten,   weil  sie  ein  paar  unverständliche 


')  1808—89;  v.  Daudet  Trente  Ans  de  Paris,  S.  18;  Barbey  rt'Aure- 
villy,  Les  Oeuvres  et  les  hommes.  Dix-neuri'eme  siecle.  Les  Foetes.  Paris 
1889;  Anntole  France,  la  Vic  litteraire  III.  38.  Tissot  La  critique  1.  c. 
139;  von  ihm  sind  z.B.  Foittees  detachees,  Frag))ie)its  siir  ks  fetmties  IS89, 
Ämaidee,  poeme  en  prose  1890. 

*)  Harauconrt  (Huret  334^  sagte:  le  synibolisuie  est  normal,  parce 
qu'il  rfesultc  de  ce  qui  Ta  precede.  peniiis,  engendre;  et  puis,  11  est  noriual 
comme  l'inijratitude. 


Ueher  die  neueren  französischen  Literaturbestrebungen.         43 

Wödsinnige  Sachen  in  Käseblättchen  veröffentlicht  haben,  die  den 
Gehirnerweichungen  des  Tages  gewidmet  sind.^) 

Zwar  heisst  es  viel  Geschrei  und  wenig  — ;  sie  verstehen,  wie 
Celiniene  im  Misantlirope  II.  5  sagt:  Vaii  de  ne  vous  rien  dire  avec 
de  grands  discours  —  dabei  sind  die  meisten  unfähig,  etwas  zu 
schaffen,  bleiben  oft  nur  bei  kindischem  Lallen  und  schwachen  Ver- 
suchen (^Zola  bei  Huret,  S.  173);  dazu  Einer  neidisch  auf  den  anderen, 
wie  eine  Schaar  von  Haifischen,  die,  weil  sie  die  Alten  nicht 
fressen  können,  sich  unter  einander  auffressen  (id.  p.  176);  es  sind 
des  mouvements  sans  diredion;  pelerins  sans  pelerinage  —  personne 
n''a  jamais  rencontre  deux  de  ces  pelerins  ensemble  sur  la  meme  route 
(Remacle  bei  Pluret  S.  103)  —  es  sind  tous  des  paons,  qiii  s'arrachent 
les  plumes  en  Jaisant  la  roue;  les  hoidangistes  de  la  litierature  (Barres 
bei  Huret  S.  23).  Daher  die  oft  verneinte  Frage,  ob  es  überhaupt 
eine  Schule  von  Symbolisten^)  oder  Decadenten  gebe.  So  sagt  Henri 
de  Regnier  (Huret,  S.  91):  VJßcole  symholiste  doit  etre  consideree 
comme  une  sorte  de  refuge  oü  s^abritent  provisoirement  tous  les 
nouveaux  venus  de  la  litterature  —  ähnlich  äusserten  sich  Morice, 
Caraguel  (Huret,  S.  220,  222,  224),  Hui/smans  (id.  180);  Verlaine 
fragte  verwundert,  ob  das  Wort  symholisme  eine  deutsche  Er- 
findung sei  und  cymhallsme  heissen  solle  (Huret  67).  Andere 
behaupten,    die  ganze    Sache  sei  von  A.  France  erfunden  (id.  288). 

Ebenso  wird  trotz  oder  wohl  wegen  des  Wortschwalles  der 
Autoren  weder  der  eigentliche  Zweck  der  Begründung  dieser  Schule, 
noch  die  feinere  Unterscheidung  der  einzelnen  ünterschulen  klar;  so 
wenn  Eemacle  (Huret,  S.  107)  sagt,  es  sei  la  recherche  de  Vincomiu 
par  le  connu,  du  non  liumain  par  Vhumain  —  und  so  sagte  Lemaitre, 
sie  wüssten  selbst  nicht,  was  sie  wollten  (vgl.  Huret  XII).  Bonnetain 
behauptet  sogar  (id.  247) :  ils  me  produisent  Veffet  des  femmes  grosses, 
discufant  du  sexe  du  foetus  qiCelles  ne  sont  pas  süres  de  menrr  ä 
terme.  Näheres  über  dieselben  erfahren  wir  ausser  durch  die  (oft 
zitierten)  Werke  von  A.  France  und  Huret  besonders  aus  Eene  Ghil, 
der,  später  ein  heftiger  Gegner,  zuerst  1886  den  Traite  du  Verbe 
mit  einem  Avant -dire  von  Mallarme  in  ihrem  Sinne  und  Stil 
schrieb  (von  ihm  sagt  A.  France  im  Temps  8.  10.  1891 ,  er  sei 
so    unklar,    dass   es   unmöglich,   ihn  zu   verstehen   und  zweifelhaft, 


')  Lindau  sagte  von  ihnen  (Nord  und  Süd  15.  3.  1892):  es  giebt  für 
sie  keine  bessere  Bezeichnung  als  die  von  Gerardi  erfundene  „Blödisten" 
—  sie  huldigen  dem  bekannten  Grundsatze :  es  inuss  Alles  verrungeniert  werden. 

2)  d.  b.  derer,  welche  in  der  suggestiven  Kraft  des  Wortes,  in  der 
Symbolik  der  Dinge  und  Töne  das  wesentlichste  Moment  der  Dichtung 
suchen;  s.  Waetzoldt  1.  c.  S.  175—177. 

^)  R.  Rossieres  Histoire  d'iine  ancienne  ecoJe  litteraire  (1490  bis 
1541)  in  der  Bevue  politicpie  et  litteraire  (16,  1891)  vergleicht  sie  mit 
Saint-Gelais  und  seinen  Anhängern. 


44  K.  Sachs. 

ob  er  mystificateur  ou  aliene  —  ähnlich  sprechen  sich  auch  Charles 
Morice  und  Jules  Tellier  über  ihn  aus.  Ferner  Anatole  Baju 
in  Le  Decadent  und  VJ^cole  decadente  (1887),  Mallanne  in  Notes  de 
mon  cornet,  Verlaine  in  Hommes  d'atijoHrd'hui.  Jules  Leraaitre 
Les  contemporains,  4»  Serie  (1889);  W.  G.  C.  Byvanck,  Un  Höllandais  ä 
Paris  en  1891.  .  .  .;  Georges  ßodenbach  A  propos  des  decadents  et 
des  symholistes  in  Revue  1.  4.  91;  Psichari,  Le  vers  frangais  et  les 
Poetcs  decadents  in  der  Revue  bleue  6.  6.  1891;  J.  Texte,  le  mysticisme 
littcraire  (Revue  des  Deux  Mondes  15.  11.  1890);  Charles  Tetard, 
la  Reforme  de  la  Poesie.  La  Poesie  frangüise  ce  qu'elle  est  .  .  .,  Paris, 
1890,  L.  Vanier.  —  Ihre  Organe  sind  (ausser  den  bald  eingegangenen 
Le  Carcan,  2  Nummern,  s.  Huret  273,  la  Conque,  V Uermitage,  Lutece) 
die  Revue  independante,  die  R.  contemporaiiie,  die  R.  moderniste  und 
die  R.  ivagnerienne ;  La  LJbre  Revue;  Entretiens  politiqucs  et  litteraires; 
der  Mercure  de  France  (von  Valette),  die  Plume  (von  Leon  Deschamps) 
La  Nouvelle  Rive  gauclic;  L'art  independant;  la  Jeune  France;  und 
besonders  der  1887  von  Baju  mit  Maurice  de  Plessys  begründete 
Decadent  (bis  1888),  die  nur  in  wenigen  Nummern  erschienene 
Decadence  son  Ghil.  der  gleichfalls  nicht  über  4  Nummern  hinaus- 
gekommene Sgmholiste^)  von  Gustave  Kahn  u.  A.,  und  die  von 
Leo  d'Orfor  gegründete,  von  Kahn  i'cdigierte  La  Vogue:  in  Belgien 
la  Wallonie  und  la  Jeune  Belgique. 

Verlegt  werden  die  Werke  der  sich  wieder  in  mehrere  Unter- 
abteilungen spaltenden  Decadents  oder  Deliquescents ,  auch  Raffines 
genannt,  wie  Mallarmistes,  Verlainistes,  Jlages,  Si/mbolistes,  Quiyi- 
tessents,  besonders  von  Leon  Vanier^),  editeur  des  Decadents  (Paris 
19  Quai  St.  Michel),  Alcan,  Lev}'  und  Tresse  et  Stock  (Palais  Eoyal, 
Eue  S.  Honore). 

In  Bezug  auf  den  Stil  gibt  der  Vei'fasser  eines  übrigens 
recht  nachlässig^)  und  ohne  Sachkenntnis  gearbeiteten  Petit 
Gloasaire  pour  servir  ä  VinteUigence  des  auteurs  decadents  et  sgtn- 
bolistes,  Jacqes  Plowert,  zu,  dass  der  Hauptvorwurf  gegen  die  Deca- 
dents gegen  die  Sonderbarkeit  der  von  ihnen  gebrauchten  Ausdrücke  ge- 
richtet sei,  welche  freilich  Verlaine  und  Mallarme  n  i  e  anwendeten.  Viele 
von   ihnen  sind  rein   latein,  wie   albe,   alcin,   amene,  prime,   ultime, 

')  Vgl.  Vart  sijmholiste,  plaquette  und  Ivs  premil'res  armef<  du  ><yin- 
bolisme,  beide  anonym  erschienen.  Den  Naiueii  erfand  Kreutzei'  (v.  Huret  4U0j. 

^)  Daher  sagt  Ajalbcrt  von  ihnen:  les  feroccs  de  chcz  Vanier 
(Huret  438);  man  sehe  über  ilin  A.  France  III.  194  —  dieser  machte  sich 
(III.  262)  über  die  tViiie  iiussere  Ausstattung  der  Werke  dieses  Verlages 
lustig,  die  nicht  iuuiier  zum  Inhalte  passt. 

^)  Unter  den  413  von  ihm  aufgeführten  Wörtt'rn  stehen  220  schon 
in  meinem  Lexikon,  nur  wenige  von  ihnen  mit  anderer  als  der  Decadent- 
Bodeutnng;  daneben  fehlen  57,  die  mir  beim  Lesen  einiger  Werke  dieser 
Schule  aufgestosscn  sind,  einige  von  diesen  stehen  sogar  in  von  Plowert 
zitierten  Texten;  pier  aber  hält  er  z.  B.  auch  für  ein  Deradent-Wort. 


lieber  die  neueren  französischen  Literaturhestrehungen.         45 

venuste  oder  nach  dem  Latein  gebildet  nnd  aus  dem  Altfranzösischen 
erneuert,  wie  abscons,  abstrus,  aetiminant  etc.,  wie  auch  sonst 
der  Archaismus  bei  ihnen  eine  grosse  Kolle  spielt  (v.  Huret 
S.  330,  Brunetiere  in  der  Revue  des  Deux  Mondes  1.  4.  1891. 
689.,  A  France  III.  35)  —  andere  sind  dem  Griechischen  oder  selbst 
Indischen  entlehnt;  alte  Wörter  wie  agnel,  aigtie,  ardre  etc.  erneuert. 
Häutig  sind  sehr  fragwürdige  Neubildungen  wie  allance,  luisance, 
tnirance,  navrance  oder  auf  ure  wie  moirure,  nacrure  versucht,  oder 
Wörter  in  vom  bisherigen  abweichenden  Bedeutungen  gebraucht. 
Noch  mehr  aber  als  diese  Wortformen  ist  ausser  vielen  absonder- 
lichen Metaphern  eine  von  allem  bisher  zu  recht  bestehenden 
Französisch  grundverschiedene  Satzstellung,  welche,  obwohl  Baju 
(p.  27)  sagt:  fainie  ä  rendre  justice  ä  Ja  presse  parisienne  qu'au 
fond  eile  nous  a  parfaitenient  compris  —  doch  jedenfalls  das  Ver- 
ständnis unendlich  erschwert.  Man  höre  z.  B.  Sätze  wie  den  fol- 
genden: Ou  (toute  issue  qu'il  veut  impitoijahle  laissant  du  Divin  la 
personnalite  sous  le  vers  infrangible  sourdre),  dur  investigateur  de  la 
Vie,  peut-etre  il  sativera  dans  la  sürete  des  symhöles  la  genese  et 
Vouvraison  des  ptibertes :  en  eux,  saisi  dans  ses  metamorphoses  les  plus 
douteuses  il  fera  le  nafurel  Desir  soupirer,  qui  dans  le  pollen  et 
Vovaire  tressaiUe:  duprime  trouble  au  mür  epanouissement  de  Vattente; 
poeme,  saint  et  tragique  autant  qu'apprets  de  Sacrißce,  de  Vliomme  vierge 
et  de  lafemme  non  blessee  (Ghil,  Traite  du  verbe  S.  25).  Wo  bleibt  da 
die  Wahrheit  des  berühmten  Satzes:  ce  qui  n'est  pas  clair  n'est  pas 
frangais,  oder  Boileaus  Regel  vom  bon  sens  {Art  Poetique  1.  28)  und 
Guirault  de  Borueille's  Vers:  non  a  chans  preiz  entier  quan  tuich 
non  so  parsonierf  (Restori,  Letteratura  provenzale,  Milano  1891, 
S.  67.)i) 

Auch  in  der  äusseren  Form  und  den  Arten  der  Litteratur, 
welche  sie  für  die  zu  bevorzugenden  halten,  unterscheiden  sich  die 
Decadents  von  denjenigen,  welche  sie  nicht  in  einer  evolution,  sondern 
durch  eine  revolution,  aus  welcher  sie  siegreich  hervorgegangen 
seien  —  als  veraltet  bekämpfen.  Baju  erklärt  sich  gegen  lange 
Gedichte,  gegen  poesie  descriptive,  für  das  Sonnet,  für  Romane,  die 
nur  die  Länge  einer  Novelle  erreichen,  vor  allem  wunderbarer 
Weise  gegen  das  Theater,  das  nur  für  ein  Volk  in  seiner  Kindlieit 


')  Man  sehe  noch  ausser  den  obenerwähnten  Werken:  Brunetiere 
Le  symholisme  contemporain  [Revue  des  Deux  blandes  1.  4.  1891.  681), 
A.  France  im  Teinps:  12.,  16.,  23.  September,  6.,  7.  October  1891; 
Bibliofheque  universelle  1888.  S  .301;  Bevue  politique  et  Utteraire  1891,  S.  14; 
Kodenbach,  La  poesie  nouvelle  ä  piropos  des  decadents  et  des  symbolistes ; 
La  Verite  siir  l'ecole  decadente  par  un  bourgeois  lettre;  ein  Gespräch  mit 
Verlaine  im  Figaro  4.  2.  1891  über  sie;  den  Kunstivart  IV.  20.  1890; 
Breitinger  Studien  120;  J.  Tellier  Les  ecrivains  d'aujourdlmi.  Kos poetes, 
Paris  1888. 


46  K.  Sachs. 

Reiz  haben  könne:  pour  nous  le  theätre  c'est  la  vie  ou  tont  au  moins 
le  drque,  ce  sont  les  catastrophes,  les  bicendies,  Vexecution  des  con- 
damnes,  leur  hrture  au  cours  d'assises,  erifin  tout  ce  qui  peut  faire 
vibrer  en  nous  les  cordes  usees  d'une  sensibilite  trop  affaiblie. 

Ueber  ihre  curieux  artifices  en  metrique,  die  in  stärkstem 
Gegensatze  gegen  Boileaus  Regeln  {Art  Poetique  I.  105)  stehen, 
äussert  sich  Huret  mehrfach  (v.  77.  89.  113.  260.  339,  besonders 
292 ;  s.  auch  Gidel  III,  393).  —  Mit  stolzer  Verachtung  behandeln  sie  die 
Kritik)  —  die  pariser  Presse,  meint  Baju  p.  26,  habe  sich  mit 
der  vulgarisation  de  Videe  decadente  beschäftigt,  besonders  aus  Furcht, 
la  douceur  des  rhythmes  decadents  könne  das  Volk  gewinnen,  während 
sie  selber  in  ihrer  vollständigen  Unabhängigkeit  vom  Publikum  das 
Bedürfnis  haben  die  öffentliche  Meinung  gänzlich  zu  ignorieren!  Die 
Presse  habe  freilich  die  decadents  von  Anfang  an  ernst  genommen 
und  nicht  ihre  Bestrebungen  für  eine  blosse  f um  ister  ie  gehalten. 
Sie  habe  sie  vollkommen  verstanden,  was  allerdings  schwierig  ist; 
freilich  z.  T.  sehr  scharf  beurteilt  wie  Edouard  Grance  im  Journal 
de  St.  Denis,  Sutter- Laumann  in  der  Justice,  Charles  Lariviere  in 
der  Reinte  Generale,  Charles  Fuster  in  der  Revue  litteraire  et  ariisiique 
de  Bordeaux,  Jules  Lemaitre  im  Figaro.  Andere,  von  denen  eine 
ganze  Zahl  (p.  28  f.)  namhaft  gemacht  wird  und  zu  denen  noch 
Brunetiere  in  der  Remie  des  JDeux  Mondes  1.  11.  1888  und  1.  4.  1891 
zu  zählen  ist,  haben  sicli  sympathischer  der  Richtung  gegenüber  ge- 
zeigt —  und  Baju  schliesst  diesen  Teil  seiner  Schrift  (p.  29)  mit 
dem  freilich  wenig  bedeutenden  Satze:  il  y  a  eu  unanimite  äreconnaUre 
que  riJcole  decadente  est  hien  une  ecole  nouvelle.  Von  grossem  Selbst- 
gefühl zeugt  endlich  noch  der  Ausspruch  (p.  30)  la  presse  etrangere 
s'est  atcssi  eniparee  du  hruit  fait  autour  de  nous,  mais  peu  de  jour- 
nalistes  etrangers  7ious  ont  compris.  Unter  diesen  spricht  ein  Kritiker 
in  der  GegenwaH  4  1891.  p.  63  von  dem  Farbendenken  und  der 
Farbenriecherei  der  Symbolisten  —  ein  anderer  in  der  Vossischen 
Zeitung  vom  22.  Juni  1890  sagt:  Alle  die  armseligen  Unfähigkeiten, 
die  durch  Reklaraegetöse  die  Aufmerksamkeit  zu  wecken  suchen, 
die  Symbolisten,  die  Decadents  .  .  und  wie  diese  geistlosen  Ulk- 
brüder sich  sonst  noch  nennen,  sehen  scheel  auf  das  neue  Gedicht 
(das  aus  V.  Hugos  Nachlass  neuerdings  veröffentliclite  Gedicht  Dieu). 
V.  Hugo  ist  ihnen  lästig.  Man  vergleicht  ihr  albernes  Gefasel  mit 
seinem  dröhnenden  Takte  und  erkennt,  dass  sie  alle  zusammen  nicht 
ein  Zehntel  der  Leere  ausfüllen,  die  sein  Verschwinden  in  der 
französischen  Dichtung  gelassen  hat.  —  Dass  aber  der  Deutsche 
nicht  härter  urteilt  als  französische  Kritiker,  mögen  einige  Be- 
sprechungeu  aus  Pariser  Journalen  erläutern.  Im  Journal  amüsant 
No.  1799  lesen  wir:  M^  Jean  Moreas,  assurent  les  afßdes,  est  un  poäe 
immense  parce  qii'il  desordonne   les   mots  conformemeni   ä  Vancienne 


lieber  die  neueren  französischen  lÄteraturbestrebungen.         47 

formule:  Teux  beaux,  marquisey)  Mais  c'est  surtout  V inintelligible 
qul  me  parait  faire  le  charme  die  nouveaic  dogme  poeiique.  Le  public 
est  toujours  enclin  ä  admirer  ce  qu'il  ne  comprend  pas.  In  der  Revue 
bleue  (4.  10.  1890)  äussert  sich  Ursus  folgendermassen :  Nos  jeunes 
fabricants  de  vers  de  onze  pieds  — ,  ces  ephebes  qui  excellent  dans 
la  cJiarade  symbolique  .  .  .  sont  une  vingtaine  qui  fönt  du  bruit 
comme  cent  mille  homnies  chaque  fois  que  Tun  deux  decouvre  un 
adjectif  nouveau.  .  .  Je  fais  semblant  d' admirer  des  sonnets  auxquels 
je  n'entends  goutte;  je  me  päme  quand  je  irouve  le  sujet  d^une 
phrase  ä  la  place  du  regime  et  vice  versa.  .  . 

Der  Figaro  vom  15.  3.  1891  nennt  sie  les  scatologues,  les  nom- 
brilistes,  die  das  arme  Vaterland  seine  schöne,  frohe  und  gesunde 
Natur  vergessen  lassen  möchten  —  und  die  Lanterne  (22.  3.  1891) 
sagt  von  den  CJiants  de  Meldovor  des  Grafen  Latreaumont,  es  seien 
etrangetes  barbares  et  diatribes  ordiirieres,  dans  un  frangais  oü  les 
metaphores  outrees  et  inadmissibles  fourmillent.  Renan  sagt  von 
ihnen:  ce  sont  des  cnfants  qui  se  sucent  le  pouce. 

Die  über  180  Autoren  dieser  Schule,  welchen  ein  schon  seit 
16  Jahren  ediertes  Journal  des  Abridis,  par  une  societe  de  ramollis 
frondeurs  (alle  Sonntage  in  Paris,  Rue  des  Martyrs  18  erscheinend) 
mit  seinem  stgle  abrutical  würdig  zur  Seite  steht  —  sind  in  alpha- 
betischer Ordnung:  Michel  Abadie,  der  Couplets  d'extase  schrieb; 
Paul  Adam  (geb.  1862),  der  Verfasser  von  Soi  (1886),  la  Glebe  (1887), 
Les  Volontes  merveilleuses :  £fre  (1888),  Les  Demotselles-Goubert  (mit 
Moreas),  Le  Hie  chez  Miranda  (mit  Moreas),  Les  Volentes  mer- 
veilleuses: En  decor  (1890),  Les  Volentes  merveilleuses:  VEssence  de 
Soleil  (1890)  und  zuletzt  Robes  rouges  (1891),  das  abweichend  von 
den  früheren  als  klar,  präcis  und  hübsch  gerühmt  wird;  Jean  Ajal- 
bert,  der  u.  a.  Fai/sages  de  femmes,  Sur  le  vif  und  En  amour 
schrieb  —  nach  Geffroy  ist  dieser  poete  impressionniste  ^expeti  dans 
le  jeu  des  rythmes  et  des  rimes,  un  esprit  gouailleur  et  melancoliquc 
—  im  Atlienaeum  4.  7.  1891  sagt  J.  Reiuach  mit  Bezugnahme  auf 
seine  Femmes  et  Faysages,  er  schreibe  timid,  though  candid  verses, 
er  zeige  a  stränge  mixture  of  subtle  realism  and  confused  symbolism ; 
Albert  Aurier  (geb.  1865),  Autor  von  Vieux  und  Mitarbeiter  vom 
Mercure  (v.  Huret  130,  213  und  Frauco  Gallia  5.  1892.  p.  78); 
Noel  d'Auray;  Baju^);  ein  schweizer  Graveur  Band;  Maurice 
Barres,  der  sich  psgchologiste  symbolique  nennt,  boulangistischer 
Abgeordneter  von  Nancy,  Conferencier  und  Verfasser  von  La 
Cultiire  du  moi,  Sous  Voeil  des  Barbares,  Un  Jiomme  libre, 
Le   Jardin    de   Berenice,    das    schon    die    4.    Auflage    erlebt    hat, 


^)  Moliere  Bourgeois  Gentühomme  U.  6. 

2)  V.  Gidel  in  397,  Huret  14,   16,  22,   315,  319,  404.     A.  France 

m.  XIV. 


48  K.  Sachs. 

Huit  jours  chez  Mr.  Renan,  Trois  sfations  de  psychotJierapie,  Sensations 
de  Paris:  le  Quartier  latin,  Cesmessieurs;  Cesdames.  Paris  Dalou  1888. 
Maurice  Beaubourg,  welcher  Contes  xwur  les  Assassins  heraus'j:ab; 
Beauclair,  der  Mitarbeiter  an  Flonipettes  Deliquescences,2)oemes  deca- 
dents  (1885),  und  Verfasser  von  Pantalon  de  Jf'««  Besnou  (1886), 
Une  heure  chez  M.  Barres  (1890),  La  F<rme  ä  Goron  (1888);  Übe! 
Vartiste ! (1881) iFaterne  Berrichon;GastonBertram;EmileBleniont 
(Huret  378) ;  Antony  B 1  o  n  d  e  1 ,  der  Verfasser  von  La  ciex>rivi;c  de  Pierre 
Camus  (d^Arras),  Le  Bonheur  d'aimer  und  Le  Mal  moderne;  Leon  Bloy 
mit  Le  desespere  und  Le  Pal;  Jules  Bois,  Sekretär  bei  der  £,toile 
de  Marseille,  Verfasser  von  Noces  de  Sathan,  II  ne  faid  pas  mourir, 
Priere,  welche  seinen  occultisme  mystique  verraten ;  Georges  B  o  n  n  a  m  o  u  r, 
von  dem  Fanny  Bora  und  liepresailles  erschienen;  Jules  Boubert; 
der  mystische  Spiritist  Maurice  Bouchor^)  (geb.  1855),  der  1891 
Michel  Sando  (v.  Vie  Parisienne  2.  1.  1892),  Les  CJiansons  joyeuses 
und  früher  u.  a.  Symboles  veröffentlichte,  Folklore  sammelte  und  zuletzt 
Mysteres  schiieb:  so  neben  der  legende  bihlique  en  vers:  Tobie  (1889) 
das  Mystere  de  Sainte  Cecile  1892;  1888  übersetzte  er  Shakespeares 
vSturm ;  Elemir  Bourges  schrieb  Le  Creptiscule  des  Bieux;  Andi-e 
de  Breville;  Louis  Pilate  de  Brinn'  Gaubast;  Henri  le  Brun; 
Louis  le  Cardonnel;  Frangois  Carny;  Jules  Gase  (Huret  S.  289); 
Cazals;  der  Kritiker  Francis  Chevassu  (Huret  22);  Georges  Clerc 
(H.  338);  Colliere,  welcher  MoH  de  Vespoir  schrieb  (H.  340);  der 
Bretone  Tristan  Corbiere,  welcher  von  sich  in  der  Vorrede  zu 
seinen  Amours  Jaunes  sagt:  il  veut  etre  indefini,  inenfologable,  pas 
etre  aime,  pas  etre  hai,  href  —  declasse  de  totites  les  latitudcs,  de  toutes 
les  moeurs,  und  in  seinem  eigenen  Fpitaphe  schreibt  (v.  Figaro  309, 1891): 

Melange  adultere  de  tout, 

de  la  fortune  et  pas  le  sou, 

de  Venergic  et  pas  de  force, 

la  liberte,  7nais  une  entorse. 

Du  ectur,  du  cosur!  De  l'äme,  non  — 

des  atnis,  j^ns  un  compagnon, 

de  Videe  et  pas  une  idee, 

de  Vamour  et  pas  une  aimee, 

la  paresse  et  pas  le  repos;  — 

Vertus  chez  lui  firent  defaut, 

äme  hlasee  inassouvie, 

viort,  pas  gucri  de  la  vie, 

gächeur  de  vie  hors  de  propos, 

le  Corps  ä  sec  et  la  tele  ivre, 

espcrant,  niant  Vavenir, 

il  mourut  en  s'attendant  vivre, 

et  vecut  s'atteiuiant  mourir.  — 


')  Huret  370,  388,  A.  France  U,  294,  III,  93,  294. 


Ueher  die  neueren  französischen  Liter aturbestrehungen.         49 

Darien,  Verfasser  von  Bas-les-cceurs  und  Biribi;  Rodolphe 
Darzens,  1865  in  Moskau  geboren,  der  Ja  Nuit,  eine  Gedicht- 
sammlung ä  la  Baudelaire  schrieb,  ferner  Psantier  de  Väme;  VAmante 
du  Christ;  Notes  siir  une  ville.  Nuits  ä  Paris;  Pages  en  prose; 
Strophes  artificielles.  Mit  Mendes:  Les  Beiles  du  monde  und  einen 
Roman  UTckö  Till  1891.  Nach  A.  France  hat  er  Anmut  und  vereint 
Lamartine  und  Mendes. 

Es  folgen  Charles  Devantiere;  Louis  Denise;  Achille 
Deia röche,  Schüler  von  Moreas;  Denfert;  Donnay  (Huret  338); 
Gaston  Dubrailly;  Edouard  Dubus;  der  Analyst  Edouard  Dujardin 
(geb.  1861),  der  von  1883 — 89  die  Revue  independante  ivagneriemie 
et  mallarmiste  redigierte  und  Versicidets  de  la  Comedie  de  Vamour, 
Les  Hantises,  Les  Lauriers  sont  coupes,  A  la  gloire  d'Antonia  und 
Pour  la  Vierge  du  roc  ardent  edierte;  Louis  Dumur,  Verfasser 
von  Albert  {livre  un  peu  genant  nach  A.  France  im  Temps  30.  9. 
1891),  ein  Gedicht  la  Neva,  gegen  welches  Saint -Antoine  in  der 
Revue  VErmilage  auftrat.  Er  sieht  die  betonten  Silben  für  lang  an, 
die  anderen  für  kurz,  und  schreibt  Verse  wie: 

Puissante,  magnifiqiie,  illusire,  grave,  noble  reine! 
0  Tsaristsa  de  glaccs  et  de  fastes!  Sonveraine!  — 
Matrone  hieratique  et  solennelle  et  veneree. 
Auguste  Dupout;  Duthosal;  Charles  Evendal;  Felix  Feneon,  der 
Les  Uomnt  es  d'auJomxVhui,  Les  Impressionistes  en  1886  und  L'art  moderne 
veröffentlichte;  Miguel  Fernandez;  Adore  Floupette,  der  Autor 
von  Les  Beliquescences  (1885);  Heiui  Fuzele,  Verfasser  von  Fleurs 
de  Caprices  (1891):  Gaudefroy;  Raoul  Geneste  (Huret  378); 
Auguste  Germain,  der  u.  a.  den  Roman  VAgite  ä  la  Bostoiewslä  edierte; 
Rene  Ghil^),  der  ausser  dem  oben  genannten  Traite  u.  a.  noch  La  Le- 
gende d'dmes  et  de  sangs  und  Legendes  de  reve  et  de  sang  schrieb.  Er 
begründete  die  Revue:  les  Berits  pour  Vari,  welche  5  Jahi'gänge  erlebte, 
für  seine  Schule,  die  er  l^cole  cvolutive  instrumentiste  oder  tromboniste 
nannte.  Die  meisten  seiner  Schüler  haben  noch  wenig  geschrieben, 
werden  aber  nichts  destoweniger  von  ihm  als  grosse  Talente  mit 
bedeutender  Zukunft  gepriesen.^) 

1)  Huret  91,  114. 

2)  Es  sind  dies:  Marcel  Bat illiat  (Huret  114),  dessen  Gedicht  i7/e 
taute  noch  nicht  erschienen  ist;  Mary  Berr,  Verfasserin  von  Föhnes  en 
prose;  Alex.  Bourson;  J.  Clozel;  Henri  Cor  bei;  Gustave  und  Jules 
Couturat,  die  ein  grosses  sozialistisches  Gedicht  schreiben  wollen,  bis 
jetzt  aber  erst  Songe  d'iine  nuit  d'hicer  geleistet  haben;  Edmond  Cros, 
der  ein  Gedicht  snr  les  Champs  et  le  Payscm  unter  der  Fedei-  I^at;  Charles 
Cros,  gest.  1888  (H.  402) ;  Leon  D  e  q  u  i  1 1  e  b  e  c  q ;  Pierre  D  e  v  e  1  u  y ,  der  nach 
seinem  P.iem  Flumen  an  einem  andern  über  die  Mission  der  Frau  arlieitet; 
Auguste  Gaud,  Verfasser  der  Novelle  Caboche-de-fer,  der  einen  sozioldgisclien 
Eoiuan  Gueule  rougc  und  ein  langes  Gediclit  Catachjsme  vorlj(  reitet ; 
Georges  K(h)nopff  in  Brüssel;  Albert  L  antoine,  der  Pier  res  d'Iris  edierte 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV'.  4 


50  K.  Sachs. 

Andre  Gide,  der  Gahiers  d' Andre  Walter  veröflfentlichte ; 
Delphin  de  Girard,  unter  welchem  Pseudonym  sich  ein  hoch- 
angesehener italienischer  Schriftsteller  verbirgt;  Reniy  de  Gour- 
mont  (geb.  1861),  Autor  des  Romans  Sixtine;  Seraphin  Stanislas 
de  Guaita,  welcher  u.  a.  Essais  de  science  maudite  und  Bosa  mystica 
schrieb,  ein  gedankenreicher  Mystiker;  Paul  Guigou  aus  Mar- 
seille; Haraucourt  (H.  259);  E.  Hennequin,  der  1888  30jährig 
starb  und  als  critique  scientißque  gelobt  wird,  wie  ihm  sogar  Doucet  in 
der  Academie  einen  ehrenden  Nachruf  widmete,  der  theoricien  de 
V Esthopsyclwlogie^) ;  Leon  H  e  n  n  i  q  u  e ,  erst  Naturalist,  dann  Symbolist ; 
er  schrieb  u.  a.  TJn  Caradere,  voll  hypnotistischer  Ideen,  Poeuf  und  ein 
auf  dem  Theätre  libre  aufgeführtes  Stück  la  Mort  du  duc  d'Enyhien 
und  1890  Amour  (v.  Heller,  Zeitschrift  XIII.  S.  291).  Er  gilt  für 
einen  ehrlichen  bescheidenen  Mann,  der  keine  Reklame  liebt;  er 
lebt  in  Ribemont  (Aisne);  George  Hepp;  F.  Herold  (Huret  344); 
Paul  Hervieu,  der  Analysen  ä  la  Dostoievsky,  Inconnue  und  FUH 
schrieb;  Emile  Hinzelin,  Verfasser  von  Andre  Ilarsy;  Gustave 
Kahn,  Redakteur,  Verfasser  der  schwer  verständlichen  Palais 
nomades,  der  in  Brüssel  herausgekommenen  Chansons  d'Amant  und  des 
Livre  d' Images'^) ;  Frau  Marie  Kryzinska,  deren  Bythtnes pittoresques 
einen  lyrisme  eleve,  et  le  beau  stile  enlumine  et  illumine  zeigen 
(Huret,  S.  69);  der  27  Jahre  alt  gestorbene,  aber  hervorragende 
Jules  Laforgue^),  dessen  Complaintes,  Imitation  de  Xotre-Damc-la- 
Lune,  Concile  feerique  und  Moralitcs  hycndaires  sehr  gelobt  werden, 
der  Herausgeber  der  Zeitschrift  Ja  Vogac;  der  Graf  Latreanmont; 
Bernard  Lazare^),  Parabolist,  der  in  den  Entretiens  politiques  et 
litteraires  allerlei  veröifentlichte ;  Jules  Leclerq,  Charles  Le  Goffic 
(Huret    S.   378);    Henri   Leprince;   Jules   Lermina^),    der   u.  A. 

und  eine  ethopie  hebräique  „Schelemo"  in  der  Arbeit  hat;  H.  Mayssonnier, 
der  Autor  von  Vers  l'occident  meilleur;  Stuart  Merrill,  1863  in  Long- 
Island  geboren,  der  Gammes  und  Fastes  geschrieben;  er  liebt  besonders 
die  Alliteration  z.  B.  la  blcme  knie  allumc  en  la  mare  qui  luit,  miroir  des 
gloires  d'or,  un  emoi  d'incendic  —  Paul  Page,  der  an  einem  sozialen 
Gedichte  les  Corruptions  arlieitet;  Jean  Pliilibert;  Paul  Redonnel, 
von  dem  7^/>H<«a/;T.s  verfasst  ist;  Jacijues  R  enaud,  Autor  von  Fi  Balouet, 
Sittengemälde  der  poitevinisclien  Landschaft;  Paul  Souchon;  Eugene 
Tliehault,  dessen  Gedieht  Analogies  erscheinen  soll;  Mario  Varvara, 
der  einen  Prosaroman  Un  Menage  verfasst  hat;  Frank  Vincent,  von 
dem  ein  langes  Gediclit  Cyde  evohdif  in  Sicht  ist  —  und  2  Ausländer, 
der  französisch  schreil)ende  Portugiese  Eugenio  de  Castro  und  der  Italiener 
Vittorio  Emmanuele  Lomhardi,  dessen  Glases  de  Vapres-midi  d'un  faune 
und  u  l'air  nuptial  erschienen  sind. 

')  Huret  43,  208—436;  A.  France  II.  142.;  Tissot,  la  Critique  236  .. . 

2)  Huret  S.  44,  400,  392—96. 

')  Huret  S.  136,  213,   275;  Bcvne  hehdomadaire  1892.     II.  297. 

*)  Huret  S.  45,  92,  140,  345. 

^)  A.  France  III.  264. 


lieber  die  neueren  französischen  Literaturhestrebungen.         51 

A  hrüler,  conte  astral  (1889)  und  Histoires  incroyäbles  schrieb; 
der  früh  g:estorbeue  Verlainist  Luden  Letinois,  den  Verlaine  in 
Amour  beklagte;  Eliphas  Levi  (Huret  S.  357);  Jean  Lombard 
(Huret  260);  Lorand;  Jacques  le  Lorrain;  Jean  Lorrain, 
(Pseudonym  für  P.  Duval),  Eedakteur  des  ^venement  und  Verfasser 
von  Griseries,  Tres  russe  (1886),  Dans  Voratoire  (1888),  Le  Sang 
des  dieux  (1882),  Les  Lepillier  (1881),  Songeuse,  u.  s.  w. ;  Noel 
Loumo,  unter  welchem  Namen  sich  der  Vicomte  Begouen  verbirgt, 
Autor  von  Vers  de  Couleur;  Mac-Nab,  der  Poemes  mobiles  und 
Foemes  incongrus  neben  den  Cliansons  du  Cliat  Noir  verbrach; 
Jacques  Madeleine  (Huret  S.  378);  Maurice  Maeterlinck,  ein 
1862  geborener  Genter  Advokat,  der  7  Monate  in  Paris  lebte  und 
viel  in  der  brasserie  Pousset  (Faubourg  Montmartre)  mit  Villiers 
und  anderen  Symbolisten  verkehrte.  Er  nennt  als  grundlegend  für 
seine  Richtung  des  Symbolismus  Goethes  Faust  (Theil  II)  und  sein 
Märchen  aller  Märchen,  d.  h.  das  Stück  7  in  den  Unterhaltungen 
deutscher  Ausgewanderter  (vgl.  Meyer  v.  Waldeck,  Goethe's  Brief- 
wechsel mit  Schiller  I.  92.)  Ausser  seinem  Einakter  Les  Aveugles: 
VIntruse  (1890),  den  der  „Verein  für  modernes  Leben"  in 
Wien  im  Mai  1892  in  der  Übersetzung  des  Malers  Baratan  nach 
einem  Vortrage  von  Hermann  Bahr  über  „Maeterlinck  und  seine 
Schule"  aufführte  —  veröffentlichte  er  Jalouse,  einen  Band  Verse 
Les  Serres  Chaudes  1889  und  La  Princesse  Maleine,  Drama  in 
5  Akten,  das  ilun  bei  seinen  Verehrern  den  Namen  des  neuen 
Shakespeare  eintrug  und  das  er  selbst  so  hoch  schätzt,  dass  er 
den  ihm  vom  Ministerium  angebotenen  Ehrenpreis  von  1000  Francs 
als  unwürdig  zurückwies.  Es  erschien  1892  in  englischer  Über- 
setzung von  Gerard  Harrey  zusammen  mit  The  Lntruder,  übertragen 
von  William  Wilson,  with  an  introduction  by  Hall  Caine,  London^). 
1892  edierte  er  noch  ein  Drama  Pelleas  et  Melisande  in  Brüssel. 

Wie  er  sind  einzelne  belgische  Autoren  Anhänger  der 
Decadents,  so  Albert  Giraud,  Georges  Eekhoud,  George  Eiskamp, 
A.  Fontainas,  Valere  Gille,  Iwan  Gilkin,  Th.  Hannon,  Georges 
Kenopff,  Van  Zerbergh(e),  Albert  Morkel,  Gregoire  Leroy,  Emile  Van 
Arenbergh,  Raymond  Nyst,  Fernand  Roussel,  Gregoire  Le  Roy, 
Fernand  Severin,  Emile  Verhaeren,  Waller  etc.  (v.  Parnasse  de  la 
Jeune  Belgique,  ceuvres  choisies  de  18  looetes  beiges  modernes,  Figaro 
3.  August  1892,  Huret  S.  282—392,  und  die  Revue  Literary  opinion, 
October  1891)  und  die  belgischen  Kritiker  Camille  Lemonnier,  und 
Georges  Rodenbach. 


^)  vgl.  über  ihn  L'Art  de  M.  3Iaeterlinck  von  Camille  Mauelair  in 
Essais    d'Art  libre   1.  Januar   1892,   Athenaeum   19.  3.  und  23.  4.  1892. 

4* 


52  K.  Sachs. 

Einer  der  bedeutendsten  Symbolisten  ist  Stephane  Mall  arme 
(geb.  1842),  von  dem  Bajn  (p.  24)  rühmt,  sein  Talent  sei  zu  all- 
gemein anerkannt  als  dass  es  nötig-  sei  ihn  noch  besonders  zu  loben,  der 
Verfasser  von  einer  Ekloge,  VAiires-midi  d'un  Faune  (1876),ie  Spectade 
interrompu,  Au  Par nasse,  Pages,  und  Übersetzer  der  Gedichte 
des  seinem  Wesen  höchst  sympathischen  Edgar  Poe,  den  auch 
Baudelaire  aus  gleichem  Grund  ins  Französische  übertragen  hatte 
(v.  Huret  S.  55—65). 

Wir  schliessen  hier  zunächst  die  absonderlichste  Abzweigung  der 
Schule  an:  DieMages,  welche  nach  Peladans  Zählung  (Huret  S.  39)  durch 
6  Autoren  repräsentiert  werden^):  Paul  Adam,  der  erst  Eealist  war 
und  CJiair  moJle  schrieb  (nach  Lindau  ulkt  er  in  der  vierten  Dimension 
herum  und  macht  sicli  nichts  daraus,  dass  er  nicht  verstanden  wird) 
und  Jules  Bois  werden  von  ihm  nicht  als  solche  anerkannt,  wohl 
aber  Barlet,  der  Abbe  Lacuria,  der  Marquis  de  Saint-Yves;  de 
Guaita  in  seiner  Rosa  mystica;  und  Papus,  der  bei  Huret  (p.  52) 
selbst  seine  widerlichen  Theorien  entwickelt  (eigentlich  Gerard 
Encausse  genannt).  Diesem  schloss  sich  auch  Albert  Ihouney  an, 
der  in  seiner  Eevue  r£toile  den  messianischen  Esoterismus  verkündet 
und  dessen  le  lioyaimie  de  Bleu,  wie  J^toile  sainte,  Lys  noirs,  und 
Livre  du  jugement  christlichen  Sozialismus  predigen;  er  hat  auch 
Zohar  paraphr;isiert. 

Ihr  Haupt  ist  der  wunderliche  Grossmeister  des  Rosenkreuzes, 
Josephin  Peladan,  der,  wie  neulich  das  Petit  Journal  pour  liire 
(1892,  S.  260)  witzelte,  auf  dem  Montmartre  den  jungen  Mädchen 
abends  ein  imposantes  Schauspiel  giebt ,  wenn  er  in  seiner  Ver- 
kleidung als  Sar  oder  Mage  durch  die  Strassen  zieht.  Nach  ihm 
ist  der  Magismus  „die  äusserste  Kultur,  die  Synthese,  die  alle 
Analysen  voraussetzt,  das  höchste  kombinierte  Ergebnis  der  mit  der 
Empirie  vereinigten  Hypothese,  das  Patriziat  der  Intelligenz,  und 
die  Krönung  der  Wissenschaft  mit  der  Kunst".  Das  mindeste,  was 
man  von  einem  Mage  fordern  muss,  ist:  Genie,  Charakter,  Unab- 
hängigkeit —  excusez  du  peu!  Er  findet  den  Patriotismus  etwas 
vulgär,  ist  aber  streng  katholisch,  liebt  das  dreizehnte  Jahrhundeit 
und  schimpft  auf  die  Pevolution.  Er  erkennt  nur  an:  l'art  poiir 
Videe  —  et  des  lors  falourdis  nies  romans  de  tonte  Ja  metaphyskpie 
que  suscite  le  stijet,  nicprisani  trop  le  jnihlic  pour  songer  uu  instant 
ä  son  plaisir,  et  Jhnininement  satisfait  de  rester  difficile  ä  lire  comnie 
ä  aborder.  Den  letzten  Punkt  erreicht  er  vollständig,  und  A.  France 
sagt  selbst,  er  verstehe  nicht,  was  es  heissen  solle,  wenn  der  Sar 
davon  spricht:  de  pentaciäer  Varcane  de  Vamour  snpreme;  doch  gibt 

*)  Lindau  (Nord,  und  Süd  15.  3.  1892)  sagt,  sie  seien  die  ehrlichst«  n 
von  Allen,  da  sie  erklären,  sie  seien  sich  selbst  darüber  im  Unklaven, 
was  sie  eigentlich  wollten  — 


lieber  die  neueren  französische)!,  Literaturbestrehungeu.         53 

er  zu:  il  a  beaucoup  de  talcnt.  Avec  d'eß'roi/ables  defauts  et  un 
tapagc  insupportäble  du  style,  il  est  ecrivain  de  race  et  maitre  de 
sa  plirase.  Seine  Gedichte  sind  des  feeries  sans  raison,  mais  pleines 
de  poesie,  wenn  auch  ohne  Naivität,  candeur  et  honhomie.^)  Er  ver- 
öffentlichte im  Ärtiste  „La  seconde  renaissance  frangaise  et  son 
Savonarole;  sein  Drama  le  Prince  de  Byzunce  ist  vom  Odeon-Theater 
zuriickgew^iesen,  und  dieselbe  Aussicht  stellt  er  selbst  als  wahr- 
scheinlich hin  für  ein  anderes  Drama  le  Sar  Merodacli  (c'est  tlieätrale- 
ment  ce  que  fai  le  moins  mal  realise),  worin  er  hergestellt  hat:  la 
XJsycliolologie  hero'ique,  des  entites  sceniques  atcssi  differentes  des  individtis 
desvivants  qu^unmasque  tragique grec  differe  d'unetete  ordinaire.  Einige 
seiner  anderen  Werke,  in  denen  er  auch  in  tollster  Wagnerschwärmerei 
behauptet:  avoir  resfitue  Vetcmolpee  ou  troisieme  mode  poetique  de  la 
littet'ature  ancienne  sind:  La  victoire  du  Mari,  avec  commemoration  de 
Jides  Barbey  d''Aureviny  (LJtJiojwe  VI  de  la  Lecadence  latine); 
V Initiation  sentimentale  (La  Lecadence  latine:  £thop)ee  III),  Androgine 
(V.  Franco-Gallia  YIII.  7);  Fils  des  Etoiles,  'wagnerie  caldeenne  mit 
Musik  von  Satie;  Le  Panthee  (1891),  roman  de  la  decadence  latine; 
A  ccsur  perdii  (La  Decadence  latine.  i^tltopet  IV)  —  er  hat  auch 
ein  Schriftchen:  Comment  an  devient  möge  im  Jahre  1892  ediert  (v. 
Athenaeum  2.  7.  1892). 

Es  folgen  Andre  Maurel  (mit  seinem  viel  getadelten  Werke 
Candeur);  der  Kritiker  Charles  Maurras  (geb.  1868  in  Martigues), 
nach  Paul  Eedonnel  „catholique  paien",  Sekretär  des  Felibre  Vire- 
Soulle,  Mitbegründer  der  neuen  £colc  romane  von  Moreas,  über  den, 
wie  über  den  provenzalischen  Dichter  Aubanel,  er  neben  seinen  Ge- 
dichten kritische  Arbeiten  verfasste;  Fernand  Mazade  aus  Alais, 
schrieb  als  Schüler  Verlaines  Lu  Sable  et  d'or;  Merky;  Oscar 
Metenier,  der  sein  Drama  En  famille  auf  dem  Theätre  libre  auf- 
führen liess.2) 


')  V.  Huret  39.  A.  France  III.  23;?  bis  241.  Figaro  13.  4.  1892 
und  Loti's  Rede  h.  o. 

-)  V.  Brazier,  Chroniques  des  petita  Theätres  de  Paris,  reimprimce 
avec  notice,  varinntes  et  notes  par  (t.  d'Heylli  (Paris  1883).  Dasselbe  unter 
Leitung  von  Antoine,  wie  2.  das  frülier  Theatre  mixte,  jetzt  Theätre  d'Art  ge- 
nannte, 3.  das  Tk.  d' application ,  4.  das  Th.  moderne  und  5.  das  von 
ßoinard,  dem  Eedakteur  eines  anarcliistisclien  Blattes  geplante  TIteätre 
socialiste,  das  im  September  1892  mit  einem  Liebe  und  Guillotine 
verquickenden  Drama  in  Versen  über  Danton:  „La  legende  roiige"  eröffnet 
weiden  sollte  —  bemühen  sich  alle  Clareties  wahren  Satz  JAigen  zu 
strafen:  uu  theätre  le  spectateur  n'a  pas  seidement  sa  propre  pudeur,  il  a 
aussi  la  pudeur  des  autres.  Das  erste,  über  dessen  Vorstellungen  eine 
komische  Schilderung  im  C4il  Blas  (17.  3.  1891)  zu  vergleichen  ist,  gab  im 
Jahre  1891  15  Stücke,  von  welchen  die  grössere  Zahl  die  schärfste  Kritik 
herausforderte  (s.  Bellaigue  in  der  Revue  des  Leux  Mondes  15.  3.  1S91, 
41  fi.    Figaro  21.  9.  1891  Sarccy  etc.):  so  von  Jean  Ajali)erf,   La  Fille 


54  K.  Sachs. 

In  der  Reihe  der  Symbolisten  folgt  der  Antor  von  De  V&oterisme 
dansVart,  E.  Michelet  (Huret  S.  338);  dann  einer  der  meistgenannten 
unter  ihnen  Jean  Moreas  (geb.  15.  5.  1856  in  Athen),  der  gegen 
Romantiker,  Naturalisten  und  Parnassier  eiferte,  1885  für  den 
Namen  Symboliste  eintrat  (Huret  S.  76),  aber  für  die  Integrität  seines 
Ideals  sich  von  Verlaine  und  Mallarme  trennte  und  1891  die  ^cole 
Romanitas  begründete:  le  besohl  se  faisant  sentir  d'une  nouveJle  ecole 
qui  af firme  que  notre  langue  se  nieurt  depuis  lejottr  oü,  ajyres  Racine, 
eile  s'est  ecartee  du  dialedc  vornan,  pere  du  dialede  frangais  (s.  Fi- 

jtlisa,  von  Georges  Ancey,  V&ole  des  Veufs  und  les  Liseparables ;  von 
Maurice  Boniface,  Tante  Lcontine;  von  Ceard;  von  Franko is  de  Curel, 
l'Envers  d'une  Sainte  {IS.  11.1891);  von  Henry  Fe  vre,  IHonneur;  von  de 
Goumont;  von  Hennique;  von  dem  bedeutendsten  dieser  Autoren  Jean 
JuUien  (v.  Alb.  Wolff  im  Figaro  1.  10.  1891,  Bepublique  Fran^aise 
5.  10.  1891;  Franco-Gallia  VHI.  2.  2.  1891)  Serenade,  VEcheance  und 
le  Maitre,  wäln-end  sein  letztes  Stück,  la  Mer,  im  Odeon  gegeben  wird; 
von  Georges  Lecomte  das  alberne  Drama  la  Meule;  von  Auguste 
Linert,  Conte  de  Noel,  mystere  moderne;  G.  de  Porto -Riebe;  von 
Marcel  Prevost.  l'abbe  Pierre  in  1  Act  (13.  11.  1891);  von  Sutter-Lau- 
mann  (gest.  1892).  Gaurs  Simples,  das  einen  ähnlichen  Stoff  wie  Tennysons 
Enocli  Arden,  aber  ganz  abweichend  behundek;  von  Adolphe  de  Tabu- 
rant,  Pere  Goriot  (20.  10.  1891);  von  Maurice  Vicaire  einen  Einakter  Un 
beau  soir  (13.  11.  1891);  von  Pierre  Wolff,  Jacques  Bouchard. 

Das  zweite  war  der  Hauptschauiilatz  der  homerischen  Kämpfe 
zwischen  Symbolisten  und  Naturalisten,  von  welchen  z.  B.  das  Journal 
La  Fin  de  Siecle  (28.  3.  1891)  berichtet.  Hier  wurde  ein  Stück  von 
Chirac  durch  die  Symbolisten  ausgezischt,  welche  ein  Drama  von  Ra- 
c bilde,  Madame  la  3Iort,  mit  gro.ssem  Beifall  begrüssten.  Es  kam  zu 
Ohrfeigen  und  Faustschlägen,  wobei  das  Journal,  das  auf  Seite  der  Rea- 
listen steht,  die  Frage  aufwirft:  Les  mystiques  symbolistes,  si  haittains, 
si  dedaigneux,  en  iheorie  du  moins,  sont-ils  donc  capables  de  nianifestations 
brnyanies  et  passionnees?  d'en  venir  anx  vulgaires  raclees,  pour  imposer 
leur  litterature?  Man  wird  hier  unwillkürlich  an  die  ähnlichen  Kämpfe 
zwischen  Klassikern  und  Romantikern  um  1830  erinnert.  Auch  der  Figaro 
(4.  3.  1890)  gal)  eine  komisclie  Scliilderung  dieser  Theaterzustände  im 
Stile  der  Decadents  unter  dem  Titel  l'Art  dans  l'arniir,  in  welcher  Piaton 
mit  folgenden  Worten  Bossuet  anredet:  si  ne  me  trompe  mon  regard, 
voici  Bossuet,  arec  lequel  permis  me  sera  d'i'changer  quelques  aper^us. 

Im  Theatrc  d'appUcation  wurden  unter  anderen  la  Passion,  De  ß 
en  aiguille,  Jean  Tremoutiers  und  l'Eufant  Jesus  gegeben;  Paul  De.«jardins 
hielt  dort  1891  z.  B.  eine  Causerie:  le  droit  au  Bealisme,  le  Theatrc  et  la 
litterature  lihre. 

Das  Theätre  moderne  führte  (15.  3.  1892~)  ein  grosses  Mysterium  le 
Christ  von  (irandmongin  auf,  da  diese  Gattung  jetzt  wieder  Mode  ge- 
worden und  sellist  im  lebensfrohen  modernen  Nizza  im  Frülijahr  1891 
viel  Beifall  fand. 

Endlich  das  Theätre  realisfe  (Rue  Rochechouart  42),  über  das  sich 
selbst  die  F»e  Parisienne  (24.  10.  1891)  sehr  scharf  aussprach,  brachte 
Le  Gueux,  la  Prostituee,  l'Amour  des  Humbles  und  zuletzt  l'Avortement, 
wegen  dessen  der  Direktor  de  Chirac  und  seine  Hauiitschauspielerin  am 
13.  1.  1892  vom  Zuchtpolizei-Gerichte  zu  längerer  Freiheitsstrafe  verur- 
teilt wurden. 


Ueber  die  neueren  französischen  lAteraturbestrebungen.  55 

garo  13.  9.  1891).  Er  wird  wegen  seiner  grenzenlosen  Eitelkeit  ge- 
tadelt (Huret  172.  180.  401)  und  während  hier  und  da  sein  Talent 
gerühmt  wird  (Huret  9.  19;  Athenaeum  4.  7.  1891),  und  Paul  Adam 
(Huret  44)  ihn  als  hyzantin  epris  des  orfevreries  du  vers  et  du  cliaioie- 
ment  des  vocables  preist,  verdammen  andere  seine  archaistische  Manier 
(Huret  9,  76;  Gidel  III  p.  398);  auch  seine  Aussprache  des  e  wie  e  wird 
getadelt.  Er  schrieb  Les  Syties,  Cantilenes  und  Le  Pelerin  passionne, 
ferner  mit  P.  Adam:  Les  Demo iselle  Goubert  und  Le  The  chez  Miranda. 
Aus  einem  Gedichte  des  zweiten  Werkes  möge  hier  eine  Probe  seiner 
dichterischen  Sprache  stehen,  aus  Agnes  et  Galathee:  Ciaire  etait  la 
face  de  Ja  Dame,  teile  la  fine  pointe  du  jour  ei  ses  yeux  etaient  cieux 
marins;  Ciaire  etait  la  face  de  la  Dame  et  de  parfmns  ointe.  Ciaire 
etait  la  face  de  la  Dame,  et  plus  que  purpurins  fruits,  franche  etait 
la  bouche  jointe  de  la  Dame ,  et  p)our  ses  crins  recercles,  ne  fussent 
les  entraves  d'ivoire,  eussent  encourtine  ses  reins.  C etait  (tu  dois 
bien  fen  Souvenir)  c''etait  la  plus  belle  dame  de  la  cite.  Cieux  noirs 
etaient  les  yeux  de  la  dame  et  lacs  que  rehaussa  la  sertissure  des 
neiges,  et  calice,  cependant  qii'il  eclöt,  etait  sa  bouche;  et  ni  la  blonde 
Isex,  ni  la  fausse  Cresside  ni  Helene,  pour  qui  tant  de  barons 
descendirent  dans  la  fosse,  ni  Florimel  la  fee,  et  ni  Vondine  armee 
de  son  trident,  ni  aucune  mortelle  ou  deesse  teile  beaute  en  sa  force 
ne  montrerent,  de  Vaurore  ä  Voccident.  (v.  Feneon,  Biographie  de  Moreas). 
Es  folgt  Albert  Mo  ekel,  der  Eedakteur  der  Wallonie^);  Gaston 
Morcillon;  der  Schweizer  Mathias  Morhardt,  der  Dichter  von 
Henor,  poesie  ideologique  mit  dem  Grundgedanken:  Vhomme  est  fait 
pour  etre  seid,  il  cree  son  univers  (v.  Tissot,  les  ikwlutions  .  .  S.  355); 
der  Mallarmist  Charles  Morice  (geb.  1861),  le  Cerveau  du  Symbolisme 
(Huret  93),  le  roi  des  esthetes,  der  seit  6  Jahren  in  Jetine  France, 
lievne  contemporaine,  Revue  independante,  Mercure  als  Ästhetiker  der 
Symbolisten  auftrat.  (A.  France,  der  ihn  zum  Teil  lobt,  tadelt  jedoch 
seinen  unklaren  Stil  II  207 :  non  plus  exprimer,  mais  suggerer,  c'est 
lä  toute  lapoetique  nouvclle.)  Er  nennt  den  Roman  (Huret  85)  die 
Fäulnis  des  Epos,  und  dieses  nichts  anders  als  das  litterarische  Lallen 
der  Völker,  als  sie  noch  in  den  Windeln  lagen.  Er  schrieb  besonders 
La  Litterature  de  tout  ä  Vheure  (Huret  S.  89)  und  einige  noch  nicht 
veröifentlichte  Verse  wie  Madeleine  aux  serpients,  Clieruhin,  die  von 
seinen  Freunden  fliessend  und  harmonisch  genannt  werden,  aber  den 
alten  offiziellen  Vers  festhalten  (Huret  S.  89). 

Wir  nennen  ferner  Mostrailles  (Pseudonym  für  Leo  Trezenik), 
welcher  Tetes  de  pipes  und  Toide  la  bile.  Le  Venin  1885  schrieb; 
den  schweizer  Bildhauer  Niederhaussen,  genannt  Rodo; 
J.  Noro;   Leo  d'Orfor;  Benjamin  Pifteau;  Maurice  du  Plessys 


')  V.  Athen eum  2.  7.  1892, 


56  K.  Sachs. 

(v.  Temps  8.  10.  1891),  den  Scliüler  von  Moreas  (Huret  S.  82); 
Plowert;  Francis  Poictevin  (Huret  S.  141),  den  Verfasser  von 
Songes,  Les  dernlers  songcs,  Seuls  etc.;  Pop;  Alfred  Poussin,  den 
Autor  der  mit  einer  Vorrede  von  Pichepin  edierten  Versiculets ;  Paul 
Pradel,  der  Grande  üoidotte  edirte;  Marcel  Prevost,  von  dem 
die  Ilcvue  des  Beux  Mondes  (1.  6.  1891)  unter  dem  Titel  Le  lioman 
de  VAvenir  einen  Roman  „La  Confcssion  d'tm  »lort"  besprach; 
Jean  Psichari,  einen  Griechen  von  Geburt,  Hellenist,  {[er  Ancaeus 
und  Palais  Nomades  veröifentlichte  (v.  A.  France  III.  352  und 
Itevue  des  Delix  Mondes  1.  4.  1890.  S.  689);  den  bretonischen  Dichter 
Quellien  (Huret  378);  Pierre  Q,uillard,  Mallarmist,  der  Gloire 
du  Verhe,  und  Mystere  de  la  Fdle  aux  mains  coitpees  schrieb ;  Maurice 
Quilllot,  der  (nach  Huret  21)  hold  V Entmine  mit  einem  interessanten 
Kapitel  Jes  Psi/eJioscs  edieren  wird;  ßachilde  (d.  i.  M™«"  A.  Valette), 
die  Verfasserin  der  Dramen  Madame  Adonis,  Monsieur  Venus  und 
von  la  Marquise  de  Sadc;  Hall,  den  Genossen  von  Trezenik,  mit 
dem  zusammen  er  unter  dem  Pseudonym  Mostrailles  schrieb; 
Ernest  Raynaud,  der  Verfasser  von  Cornes  de  Faune,  iiach 
Moreas  „sonnets  cxquis,  d'un  art  delicaf,  un  peuprecic^ix  et  foujours  char- 
mant —  von  Cymodocee,  le  Signe,  Chairs profanes,  Chaque,  le  Carnet  d'un 
Decadent,  und  einem  Roman  Beux  Menages,  Mitarbeiter  der  Lutece; 
Henri  de  Regnier  (geb.  1864),  Mallarmist,  der  Lendemains, 
Apaisement,  Poemes  anciens  et  romanesques  und  J^pisodes,  Sites 
und  Sonnets  edierte;  Adrien  Remaclo,  den  Begründer  der  Bevue 
contemporaine,  der  den  Roman  V Absente  und  das  Drama  Fetes  Galantes 
schrieb;  Jules  Renard,  den  Autor  von  Sourires  piinces;  Maurice 
Renault,  der  mehrere  Novellen  schrieb;  den  früh  verstorbenen 
Adolphe  Rette,  den  Verfasser  der  düsteren  Cloches  en  la  nuit,  der 
für  Swinburne  schwärmte;  Arthur  Rimbaud,  dessen  Premieres 
Communions  (1871)  und  les  llluniinafions  Baju  und  Kahn  sehr  lobten 
(Huret  S.  69,  402,  416;  über  ihn  v.  Verlaine  in  Poctcs  Maudits;  Roden- 
bach,  La  Poesie  Noucelle;  Ch.  il/orice,  la  IJtteraturc  de  iout  ä  Vheurc; 
Rodolphe  Darzens:  A.  liimhaud  in  der  licvue  Lidcpendantc  Januar, 
Februar  1889  und  Stephan  Waetzoklt  loc.  cit.  180);  fidouard  Rod  den 
schweizer  lutuitivisten,  der  von  Zola  abtiel,  dessen  einer  Roman  von 
der  Academie  gekrönt  wurde.  Jetzt  ist  er  Bussprediger  der  reinen 
Sitten,  der  zur  Einfachheit  und  Demut  ruft.  Man  rühmt  seinen 
Takt,  Feinhörigkeit  für  die  stillsten  Regungen  der  Seele,  tadelt  aber 
das  Uebermass  von  Reflexion  in  seinen  iltudcs  sur  le  19.  siede,  Le 
sens  de  la  rie  (v.  E.  Scherer  im  Temps  1890),  Xa  course  ä  la  moti, 
Les  trois  coeurs,  LjCs  idces  morales  du  temps  prcsent  (v.  Vie  Parisienne 
18.  7.  1891  u.  diese  Zeitschrift  XIV,  S.  75—83,  A.  France  ill.  266, 
Huret  S.  14,  11.  Bahr  in  der  Gegenwart  5.  5.  1892,  Bibliotheque 
Universelle,  Jan  vier  1892,  55 — 84);   George  Roden  bach  den  bedeu- 


lieber  die  neueren  französischen  Lüeraturbestrebungen.  57 

tendsten  unter  den  jungen  belgischen  Dichtern,  Verfasser  von  Tristesses, 
Jeunesse  Blanche,  Du  Silence,  L'Art  en  exil,  La  Her  elegante  etc.; 
M.  Rolliuat;  Emile  Eouard;  Albert  Saint-Paul  (Huret  S.  83), 
Anhänger  von  Koreas;  Camille  de  Sainte-Croix,  halb  Symbolist, 
halb  Psychologe,  der  in  seinen  Eomaneu  Maiivaise  Aventure  (histoire 
romanesque),  Contempler  (1887)  und  dem  von  ihm  redigierten  Montags- 
blatte Batallle  den  Mund  sehr  voll  nimmt ;  S  a  i  n  t  -  P  o  1  E  o  u  x ,  auch  Paul 
Pi-oux  oder  S.  P.  E.  le  Magnißque  genannt,  dem  zwar  A.  France 
Cxefühl  für  das  Schöne,  schönen  Geschmack  und  angenehme  Farben- 
gebung  nachrühmt,  der  aber  bei  riesigem  Selbstbewusstsein  (Huret 
S.  153)  oft  nahezu  an' höheren  Blödsinn  streift  (v.  die  lauge  Aus- 
eiuandersetziing  bei  Huret  S.  143  .  .,  Lindau  1.  c.  356);  er  liebt 
archaistische  Ausdrücke  wie  amhuler ,  compaing,  epistole,  impavide, 
tabide,  vctmte  etc.  Er  nennt  den  Dichter  den  Sage-homme  (Lindau, 
Hebammerich)  de  la  Beaute;  ob  ihm  diese  Kunst  gelungen  ist  in 
den  Versen: 

heraldique  et  svelte  avalanche 

oü  mäles  yenx  parent  d'aoeux 

certaine  demoiselle  blanche 

ayant  des  guepes  poiu-  cheveux? 

Wir  nennen  ferner  Albert  Samain,  von  dessen  zwei  Novellen 
über  Cleopati-e  A.  France  (Temps  12.  9.  1891)  sagt:  rjßggptienne 
est  tr'ip  nue  pour  ßgurer  ici;  Sapeck,  Pseudonym  von  Bataille  (Huret 
400);  Jehan  Sarrazin;  Schiroky;  Marc  Stephane,  den  Verfasser 
einer  nicht  prüden  Novelle  Ä  toide  volee  1891;  Laurent  Tailhade 
(v.  Huret,  S.  326  etc.);  Eaymond  de  la  Tailhede  aus  Moissac,  der 
nach  dem  Tode  seines  Freundes  drei  Gedichte  A  la  Memoire  de  Jides 
Tellier  schrieb,  und  eine  Ode  an  Jean  Moreas  —  noch  unediert  ist 
Triomplies  und  Choses  merveUleiises  qui  sont  au-delä  de  TJiide. 
Nach  Barres  ist  er  le  seid  vrai  magmßque  in  der  von  Saint-Pol  Eoux 
inaugurierten  Schule  des  magnificistne. 

Es  folgen  Thiernesse;  Louis  Tiercelin,  der  Verfasser  des 
Livre  Blaue  in  Versen  1892  und  anderes;  Trezeuik,  Pseudonjau 
von  Leon  Epinette,  der  mit  Milly  zusammen  HIstoires  nonnandes 
herausgab,  von  welchen  la  Vie  Parisicnne  (18.  7.  1891)  sagt:  eUes 
sont  normandes,  elles  ßeurent  le  cidre,  Autor  von  Gouadleuses,  En 
jouant  du  mirliton,  L'art  de  se faire  aimer,  Les  Hirsutes,  Proses  decadentes; 
(vgl.  Tissot  1.  c.  189);  Gabriel  Trarieux  (geb.  1874),  Verfasser 
des  Gedichtes  Dolor;  Alfred  Vallette;  Daniel  de  Venancourt, 
der  hübsche  Gedichte  an  Tailhade  schrieb  und  1891  les  Adolescences , 
eine  Sammlung,  in  welcher  besonders  das  Gedicht  la  petite  Eve  gelobt 
wird;  Emile  V  er  haaren,  ein  Flamländer,  Kvitov  yoxi.  Les  Fla/mands, 
les  Moines,  les  Soirs,  Les  Debdcles,  Contes  de  minuit. 


58  K.  Sachs. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einem  der  Koryphäen  der  ganzen  Be- 
wegung, Paul  Verlaine  (geb.  1841),  von  der  Vie  Parisienne  (26.3. 
1870),  die  ihn  freilich  anklagte  der  amitie-passion  zu  huldigen^), 
le  plus  moderne  de  nos  poetes  genannt.  A.  France  (III.  312)  be- 
schreibt ihn  folgendermassen :  ä  le  voir,  on  dirait  un  sorcier  de  village. 
II  a  Vair  ä  la  fois  farouclie  et  cälin,  sauvage  et  familier.  .  Le  cräne 
nu,  cuivre,  bossue  comme  un  antique  cliaudron,  Voeil  pc^/f,  oblique  et 
luisant,  la  face  canmse,  la  narine  cnßee,  ü  ressemble,  avec  sa  barbe 
courte,  ä  im  Socrafe  saus  phüosophie  et  sans  la  possession  de  soi-mcme. 
Ähnlich  schildert  ihn  Huret,  S.  66,  der  ihn  in  seinem  Cafe,  le  Fran^ois- 
Premier,  am  Boulevard  Saint  Michel  aufsuchte  (vgl.  St.  Waetzoldt, 
S.  168  2).  Sein  Leben  war  das  eines  richtigen  boheme;  er  hat  die 
verschiedensten  Wandlungen  durchgemacht,  war  erst  Beamter  der 
Präfektur,  und  parnassien  (A.  France  III.  310,  Hui'et  80),  schrieb 
1866  Poemes  saturniens,  1869  Fetes  galantes,  dann  1870  als  Bräutigam 
La  bonne  chanson,  1874  Romances  sans  Paroles;  dann  verschwand 
er  aus  dem  Gesichtskreise  selbst  seiner  Freunde  und  trat  erst  wieder 
nach  langereu  Jahren  als  reuiger  Verfcisser  des  frommen  Gedichtes 
Sagesse  auf  (1881).  Aber  auch  seine  mystischen  frommen  Verse,  von 
denen  A.  France  III.  316  einige  mitteilt,  und  auf  die  1885  Jadis  et 
Naguere,  1888  Amour  folgten,  wechselten  mit  den  wieder  ganz  aus- 
gelassenen in  ParaUelcment  ab,  die  1889  herauskamen.  Ausser  dieser 
edierte  er  noch  Bonheur,  Chansons  pour  Elle,  Liturgies  intimes,  ein 
einaktiges  Lustspiel,  Les  uns  et  les  autres  und  eine  Ar.thologie  album 
de  vers  et  de  prose,  und  arbeitet  an  Ödes  en  son  honneur,  Elegies  und 
Invedives.  A.  France  nennt  ihn  le  poete  le  pltis  singulier,  le  plus 
m,onstrueux  et  le  plus  mi/stique,  le  plus  complique  et  le  plus  simple, 
le  plus  trouble,  le  plus  fou,  mais  ä  coup  sür  le  plus  inspire  et  le  2>lus 
vrni  des  poetes  contemporains.  Seine  vers  libres  sind  wie  die  eines 
Musikers,  der  absichtlich  falsch  S])ielt,  aber  doch  mitunter  uns  durch 
sein  Spiel  packt,  jedenfalls  neu  uiul  sonderbar,  wie  z.  B.  in  Clair 
de  lune: 

Votre  Cime  est  un  paysage  choisi 

que  vont  charmant  masques  et  hergamasques 

jouant  du  luih  et  dansa7it  et  quasi 

tristes  saus  leurs  dcguisements  fantasques. 
Taut  en  ehantant  sur  Ic  mode  mincur, 

l'amour  rainqueur  et  la  vie  opportune, 

ils  n'ont  pas  Vair  de  croire  ä  leur  bonheur, 

et  leur  chanson  se  inele  au  clair  de  lune. 
Au  clair  calme  de  lune  triste  et  heau, 

qui  fait  rever  les  oiseaux  dans  les  arbres, 


»)  V.  Gidel,  III.  389,  W^tzoW  1.  c. 
2)  A.  France  III.  310  .  .  .,  Huret  62. 


Ueher  die  neueren  französischen  lAferaturbestrebungen.         59 

et  sangloter  d'extase  les  jets  d'eau, 

les  grands  jets  d'eau  sveltes  parmi  les  marbres. 

Seine  Charakteristik  möge  noch  Huret,  S.  66,  vervollständigen: 
Sous  son  ample  mac-farlane  ä  carreaux  noirs  et  gris,  rutilait  une 
stiperbe  cravate  de  soie  jaune  d''or,  soigneusement  nouce  et  fichee  sur 
un  cot  hlanc  et  droit.  II  n'est  pas  causeur:  c'est  Vartiste  de  pur 
instinct  qui  sort  ses  opinions  par  boutades  drues,  en  Images  concises, 
quelquefois  d^une  brutalite  voidue,  mais  tot(jours  temperees  par  un 
eclair  de  bonte  franche  et  de  charmante  bonhomie.  Jedenfalls  ist  er 
ein  grosser  Verskünstler  (v.Waetzoldt  I.e.  S.  168  und  193,  derS.  193  ein- 
gehend über  seine  Poetik  spricht).  Er  hat  sich  selbst  in  den  Poetes 
m,audits  (1888)  unter  dem  Anagramm  Pauvre  Lelian  geschildert  (v. 
Huret  p.  189).  In  Prosa  veröffentlichte  er  Poetes  mandits  (1884),  Louise 
Ledercq,  suivit  de:  Le  Poteau,  Pierre  Dnchatel  et  de  M^^  Aubin 
(1886),  Memoires  d'un  veuf  {1881),  lies  hopitaux,  Mes  prisons,  und 
26  litterarische  Biographien  in  den  Hommes  d'avjotird'hui.  Von  ihm 
handeln  noch  Ch.  Morice  P.  Verlaine  Paris  1887),  No.  214  der 
Hommes  d'' aujourdlmi ;  Baju  in  L'Ecole  decadente  p.  19;  Morice 
La  litferature  de  tout  ä  Vheure  232  etc.;  Ed.  Eod,  P.  Verlaine  et 
les  Decadents  in  der  Bibliotheque  Universelle  November  1888;  Byvanck 
in  Revue  politique  et  litteraire  13.  1892;  Adolf  Ernst,  Nouvelle  Revue 
15.  11.  1892.1) 

Es  folgen  Francis  Viele-Griffin,  von  englischer  Abkunft,  der 
Cueillcs  d'avril,  Äncaeus,  Cygnes,  Joies  und  Lyptique  (1891)  schrieb 
(v.  Huret,  S.  44.  308);  Charles  Vignier,  ein  Schweizer,  der  mit 
Moreas,  Barres  und  Taillade  die  Deliquescence  begründete,  ein 
höchst  selbstbewusster  Schwätzer,  was  uns  besonders  seine  Aus- 
lassung bei  Huret  (S.  97,  98)  zeigt;  eine  Probe  seiner  Alliterationswut 
ist  der  Vers  aus  seinem  Centon: 

dans  une  coupe  de  Thule 

Oll  vient  pälir  Vattrait  de  Vheure 

dort  le  senile  et  dolent  leurre 

de  Vultime  rire  adule; 
ferner  Henri  de  Villars,  Eugene  Vivier  (Hiiret,  S.  400)  und  Paul 
Vor  sin,  denen  sich  als  letzter  in  der  alphabetischen  Eeihenfolge 
einer  der  vielen  zur  Schule  gehörigen  Ausländer,  der  Pole  Teodor 
Wyzewa,  anschliesst,  welcher  in  der  Revue  bleue  va\A  der  Nouvelle 
Revue  allerliand  Aufsätze  über  deutsche,  norwegische  und  englische 
Litteratur  veröffentlichte,  dann  in  der  Revue  politique  et  litteraire 
(18.  1891)  Frederic  Nitzsche,  le  dernier  metaphysicien  und  {ih.  24)  Un 
romancier  naturaliste  aUemand,  eine  Studie  über  Fontane  herausgab , 


*)  Vgl.   auch  Baju  19,  21,  Gliil,  Ve^-be  19;  P.  Verlaine,  l'homme  de 
Voeuvre  und  Gegenwart  (40.   1881). 


60  K.  Sachs,  lieber  die  neueren  französischen  lAterahirbestrebungen. 

und  der  sogar  mit  einer  freilicli  zum  Teil  sehr  deutschfeindlichen, 
übrigens  in  nicht  decadent  französiscli  gescliriehenen  Abhandlung:  La 
Vie  et  les  3Icciirs  de  VAllemagne  d' aujourdlmi  in  der  Revue  des  Deux 
Mondes  (15.  3. 1891.  S.  375  etc.)  Aufnahme  fand.  Er  schrieb  ausserdem 
Les  Äris  du  feil;  Les  grands  peintres  de  VAllemagne  1890;  Les  grands 
peinfres  des  Flandres  et  de  la  Hollandc  1889;  Les  grands  peintres 
de  la  France  1889;  Les  grands  peintres  de  r Italic  1889  und  zuletzt 
Le  mouvement  socialiste  en  Europe,  les  lionimes  et  les  idces  (Paris 
1892)  und  Parabole  de  Baptime  de  Jesus  (v.  Gil  Blas  11.  8.  1892). 
Dass  diese  grosse  Zahl  von  meist  jungen  Autoren,  welche  alle 
Goethes  Worte  im  Faust  11  (Akt  2,  p.  92  Cotta): 

Gewiss!  das  Alter  ist  ein  kaltes  Fieber 

Im  Frost  von  grillenhafter  Not; 

Hat  einer  30  Jahr  vorüber, 

So  ist  er  schon  so  gut  wie  todt  — 
in  vollstem  Maasse  auf  sich  anwenden  möchten,  durchaus  unter  sich 
über  die  Prinzipien  und  die  Mittel,  sie  zur  Geltung  zu  bringen, 
nicht  einig  sind,  deutet  ausser  anderen  zitierten  Stellen  auch  Baju 
(p.  31)  in  den  Worten  an:  je  souhaite  ä  nos  jeunes  atiistes  de  faire 
letirs  rancimes  pcrsonnclles  au  bcnefice  de  VArt.  (Test  le  fori  de  la 
plupaH  d^entre  eux  de  s'entre-dechirer  ou  de  conspirer  le  silence  autour 
de  quelques-uns.  Qii'ils  sachent  que  celui  qui  est  vraiment  superieur 
ne  connait  pas  d'obstacles  et  ne  s'offense  de  rien.  II  vCy  a  que  les 
honimes  niediocres  pour  etre  offusqiies  de  ce  qui  les  entoure  et  qui 
s'imaginent  ne  pouvoir  briller  qtCen  faisant  7(n  grand  vide  autoto'  d'eux. 
Auch  Andere  haben  sich  in  ähnlichem  Sinne  geäussert,  undHarau- 
court  (v.  Huret  S.  537)  meint  deshalb,  die  ganze  literarische  Kundgebung 
sei  nicht  lebensfähig,  es  sei  nur  Modesache,  w'erde  aber  zu  Grunde  gehen, 
car,  en  tontes  choses  comme  en  toid  temps,  la  France  a  prouve  qu''dle 
aimait  ä  comprendre.  Elle  a  le  genic  net  et  precis,  Vesprit  droit 
et  le  parier  clair  —  und  ähnlich  sagt  auch  Charles  i\Iorice, 
(A.  France  II.  92),  er  habe  wenig  \'ertrauen  auf  ihre  Zukunft,  wenn 
er  auch  nicht  mit  Brunetiere  viele  von  ihnen  als  mattoides  ä  la 
Lambroso  erklärt,  sondern  noch  an  der  von  Mephisto  (Faust  II  2.  p.  93) 
ausgesprochenen  Ansicht  festhält: 

Wenn  sich  der  Most  auch  ganz  absurd  gebärdet, 
er  giebt  zuletzt  doch  noch  'nen  Wein. 

Brandenburg,  Juni   1892.  K.  Sachs. 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Talleyrand/^ 

„Habent  sua  fata  libelli",  wenn  irgendwo,  so  trifft  dieses 
Dichterwort  bei  den  Memoiren  Talleyrands  zu.  In  seinem  Testamente 
hatte  der  am  17.  Mai  1838  verstorbene  Diplomat  angeordnet,  dass 
seine  Aufzeiclmungen  30  Jahre  nacli  seinem  Tode  ersclieinen  sollten, 
aber  sechs  Jahre  vor  Ablauf  dieser  Frist  stirbt  seine  Erbin  und 
Rechtsnachfolgerin,  die  Herzogin  von  Dino.  Sie  hinterlässt  das 
wichtige  Vermächtnis  dem  ehemaligen  Sekretär  Talleyrands,  Adolphe 
de  Bacourt,  aber  auch  dieser  lebt  nur  bis  28.  April  1865.  Vor 
seinem  Tode  hat  er  eine  Kopie  der  Memoiren  angefertigt  und  er- 
läuternde Noten  dem  Manuskripte  beigefügt,  beide  liberlässt  er  dem 
Notar  Chätelani  und  dem  Advokaten  Paul  Andral,  indem  er  in 
seinem  Testamente  die  Veröffentlichung  noch  um  20  Jahre  hinausrückt. 
Aber  Chätelani  ist  bereits  todt  und  Andral  sterbenskrank,  als  der 
späte  Termin  herankommt.  Für  ihn  tritt  der  Herzog  von  Brogiie 
als  Herausgeber  ein  und  fügt  den  Noten  Andrals  noch  eine  Fülle 
von  Erläuterungen  hinzu. 

Man  hat  beim  Ersclieinen  des  ersten  Bandes  der  Memoiren 
von  einer  willkürlichen  Aenderung  und  theilweisen  Fälschung  des 
Manuskriptes  gesprochen,  die  Bacourt  begangen  haben  sollte,  man 
hat  seiner  Enttäuschung  darüber  Ausdruck  gegeben,  dass  Talleyrand 
so  wenig  Neues  mitteile  und  so  vieles  für  ihn  Unerwünschte  übergehe. 
Aber  der  erstere  Vorwurf  ist  nie  hinreichend  begründet  worden  und 
würde  auch  zu  den  Erklärungen  der  Herzogin  von  Dino  und  Bacourts, 
dass  das  Manuskript  ,,die  einzige  originale  Absclirift"  der  Memoiren 
sei,  schlecht  stimmen  (s.  Preface,  XIII  und  XIV),  der  andere  wird 
durch  Talleyrands  melu'fach  gegebene  Andeutung,  dass  er  manches, 
was  nicht  zur  Rechtfertigung  seines  politischen  Verhaltens  diene, 
absichtlich  unerörtert  lasse,  sehr  entkräftet.^)    Nicht  ein  vollständiges 


^)  Memoires  du  prince  de  Talleyrand ,  p.  avec  une  prefacc  et  de.s 
notes  p.  Le  Duc  de  Brogiie,  Paris.     Calmann  Levy,  T.  I.  -V.  1891—92. 

^)  Auf  den  Gedanken,  dass  die  Memoiren  intcrpolirt  und  somit 
teilweise  getälscht  sein  könnten,  wäre  man  nicht  gekommen,  wenn  nicht 
der  Publikation  eine  von  Bacourt  gemachte  Abschrift  zu  Gnuide  gelegen 
hätte.     B.  war  aber  durch  die  wenig  sorgsame   und   genaue  Herausgabe 


62  R.  MälirenlwUz. 

der  Corresponrienz  Mirabeaus  mit  Lamarck  (Corresp.  entre  le  comte  de  Mira- 
beau  et  le  comte  de  La  Marck,  Par.  1851J  etwas  verdächtig  geworden.  In  der 
That  geht  denn  auch  der  französische  Gelehrte,  welcher  die  volle  Echt- 
heit der  Memoiren  am  ehesten  und  nachdrücklichsten  bestritten  hat, 
Aulard  (s.  Eevue  bleue  14.  und  28.  März  1891,  Bevolut.  fran^aise, 
14.  April  1891)  von  dieser  nicht  abzuleugnenden  Thatsache  aus.  Aber 
die  Interpolationen,  welche  er  in  B's  Oopie  nachzuweisen  sucht,  würden 
sich  nur  als  solche  kennzeichnen,  M'enn  der  Copie  ein  druckreifes  Original- 
Manuscript  Talleyrands  zu  Grunde  gelegen  hätte.  Ein  solches  Manuskript 
ist  aber  weder  jetzt  vorhanden,  noch  als  früher  vorhanden  aufzuweisen. 
Dass  T.  selbst  seinem  Freunde,  Bamn  de  Vitrolles,  aus  „grossen  Heften" 
Stellen  seiner  Aufzeichnungen  vorgelesen  und  von  einer  „Beendigung''  der- 
selben gesprochen  hat  (Mem.  et  relat.  polit.  du  baron  de  Vitrolles  p.  p. 
E.  Forgues,  T.  III.  p.  444),  beweist  nur  die  endgiltige  Redaktion 
einzelner  Partien  der  Memoiren.  Wie  Pierre  Bertrand  {Bevue  ency- 
clopedique,  1.  August  1891,  p.  499 — 504,  und  Bevue  historique,  t.  XL VIII, 
1892,  p.  301 — 316),  gestützt  auf  die  Zeugnisse  der  Herzogin  von  Dino, 
sowie  der  Comtessen  de  Martel  und  de  Mirabeau,  der  Grossnichte  und 
der  Nichte  Bacourts,  ausführt,  habe  Talleyrand  nur  Notizen  auf  ver- 
einzelte Blätter  geworfen  und  nach  diesen  Bacourt  seine  Abschrift 
gemacht.  Das  schliesst  natürlich  die  Aufnahme  der  von  Tallej'rand 
für  die  Memoiren  gesammelten  Aktenstücke  nicht  aus  und  bei  ihrer 
Kopierung  sind  Bacourt  einzelne  Ungenauigkeiten  untergelaufen,  die  de 
Br  oglie  bereits  in  den  Anm.  seiner  Ausgabe  berichtigt  hat.  Sehr  zweifelhaft 
ist  auch  die  von  Funk-Brentano  {Nonvelle Becue  T.  XXX,  1.  Juni  1891) 
gemachte  Angabe,  dass  Talleyrands  eigenhändiges  Manuskript  von  der 
Herzogin  von  Dino  zum  Teil  verbrannt  sei,  denn  er  nennt  seinen  Gewährs- 
mann nicht  mit  Namen.  Jules  Flammermont  (Bevue  liistorique 
t.  XL VIII,  1892,  p.  72-80)  hat  diese  Mitrheilung  willkürlich  dahin 
erweitert,  dass  die  Dino  und  Bacourt  das  ganze  Manuskript  zerstört  hatten, 
um  einem  unerwünschten  Vergleich  desselben  mit  der  Abschrift  unmöglich 
zu  machen.  Sonst  bringt  Fl.  a.  a.  0.  nur  die  von  Aulard,  Funk-Brenrano 
und  einigen  Anderen  gegen  die  Echtheit  der  Jlemoiren  gemachten  Ein- 
wände vor.  Aus  einer  Notiz  des  Prof.  Alfr.  Stern  {Becue  historique, 
t.  XLVIII,  1892,  p.  299—300),  ergiebt  sich  allerdings,  dass  die  Schilde- 
rung eines  Konzerts  zu  Valanc^aj',  bei  dem  die  von  Napoleon  gefangen  ge- 
haltenen spanischen  Prinzen  zugegen  waren,  ursprünglich  in  den  Memoiren 
gestanden  hat,  aber  in  Bacourts  Kopie  verschwunden  ist.  Doch  kann 
Talleyrand  selbst  schon  diese  unwichtige  Episode  ausgeschieden  haben. 
Sehr  willkürlich  ist  E.  Bourgeois'  Annahme  (Bulletin  den  tracaux 
de  Vuniversite  de  Lyon,  Mai  1891),  dass  Bacourt  in  Talleyrands  Auf- 
trag das  Ganze  nach  den  von  seinem  Herrn  gesammelten  Materialien 
zusammengestellt  habe.  Auch  Flammermont  verwirft  diese  Hypothese. 
Wie  weit  Interpolationen  in  der  Kopie  Bacourts  anzunehmen  sind,  hat 
übrigens  Aulard  garnicht  beweiskräftig  festgestellt  (vgl.  A.  Sorel 
im  Temps  vom  27.  März  1891.)  Für  die  Annahme,  dass  jener 
Kopie  nicht  ein  vollständiges  Manuskript  ,  sondern  nur  zerstreute 
Aufzeichnungen  Talleyrand's  zu  Grunde  lagen,  spricht  die  Ungleichartig- 
keit  der  einzelnen  Abschnitte  und  die  allmähliche  sprungweise  Entstehung, 
für  welche  Talleyrand  selbst  als  Merkzeichen  die  Daten:  August  1816, 
Januar  1824,  November  1834,  angegeben  hat.  So  lange  das  Original- 
Manuskript  nicht  vorhanden  und  seine  frühere  Existenz  nicht  erwiesen 
ist,  lässt  sich  die  Frage  mit  voller  (iewissheit  auch  nicht  entscheiden, 
doch  sind  die  Zeugnisse  der  Talleyrand  und  Bacourt  nahestehenden 
Personen  nicht  durch  blosse  Vermutungen  zu  widerlegen. 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Talleyrand.  63 

und  parteiloses  Bild  des  langjährigen  Lebens  und  Wirkens  Talleyrands 
sollen  wir  in  den  Memoiren  suchen,  sondern  in  erster  Linie  eine 
Schutz-  und  Verteidigungsschrift  seiner  Handlungen,  über  welche 
die  Nachwelt  und  sein  eigenes  Gewissen  zu  urteilen  hätten  (s.  Pre- 
facc,  IV).  Mit  wohlberechneter  Ansicht  geht  Talleyrand  über  sein 
Verhältnis  zur  französischen  Eevolution,  das  dem  späteren  Vorkämpfer 
der  Legitimität  wenig  zur  Ehre  gereichte,  hinweg  und  erwähnt  auch 
sein  Leben  vor  1789  nur  in  kurzer,  summarischer  Darstellung.  Aber 
wir  erhalten  auch  auf  diesen  etwa  100  weitgedruckten  Seiten  ein 
ziemlich  treues,  ungefärbtes  Bild  des  alten  Frankreich  mit  seiner 
feinen  gesellschaftlichen  und  litterarischeu  Bildung  und  seinen  ver- 
derblichen politischen  und  finanziellen  Missständen.  Talleyrand  stellt 
sich  auf  die  Seite  des  Königtums,  nicht  nur  der  Eevolution,  sondern 
auch  der  Reform  gegenüber.  Ja  er  macht  nachträgliche  Vorschläge 
zur  Beschränkung  des  Wahlrechtes  bei  der  Berufung  der  Etats 
generaux,  die  jede  energische  Mitwirkung  des  Bürgerstandes 
von  vornherein  erstickt  und  jede  durchgreifende  Eeform  unmöglich 
gemacht  hätten.  Als  Talleyrand  diesen  Teil  seiner  Memoiren  schrieb 
(1815),  war  er  auf  dem  Wiener  Kongresse  als  erfolgreicher  Beschirmer 
der  Legitimität  aufgetreten,  hatte  den  Bourbonen  ihr  altes  Ansehen 
wieder  zu  verschaffen  und  den  treuen  Bundesgenossen  Frankreichs, 
den  König  von  Sachsen,  in  seiner  bedrohten  Existenz  zu  schützen 
gesucht.  Wie  nahe  liegt  die  Annahme,  dass  Talleyrand  seine  An- 
sichten über  politisches  Herkommen  und  revolutionäre  Neuerung  mit 
seiner  damaligen  Stellung  in  nachträgliche  Uebereinstimmung  ge- 
bracht habe?  Aber  so  naheliegend  diese  Auffassung  ist,  so  scheint 
sie  uns  doch  eine  ungerechte  und  grundfalsche  zu  sein.  Talleyrand 
war  in  den  Anschauungen  des  s.  g.  ancien  regime  mit  all'  ihren 
Schwächen  und  Vorzügen  auferzogen  worden,  zudem  verband  ihn 
schon  seine  kirchliche  Stellung  gerade  mit  den  Missständen  der  alten 
Staatsform,  an  deren  Zerstörung  die  Eevolution  mit  rücksichtsloser 
Gewalt  gearbeitet  hat.  Mag  seine  politische  Einsicht  auch  jenen 
Eeformen  nicht  abgeneigt  gewesen  sein ,  wie  sie  Turgot  anstrebte, 
so  hielt  er  doch  an  der  Prärogative  des  Königthums  und  des  welt- 
lichen, wie  geistlichen  Adels  fest  und  wollte  von  einem  Empor- 
kommen des  unterdrückten  dritten  Standes  nur  in  sehr  einge- 
schränktem Masse  etwas  wissen.  Daher  seine  milde  Beurteilung 
von  Männern  wie  Choiseul,  Calonne,  Brienne,  die  dem  alten,  bevor- 
rechteten Adel  angehörten  und  gut  bourbonisch  gesinnt  waren  und 
seine  scharfe  Abneigung  gegen  den  bürgerlichen,  mit  den  neuen 
Ideen  liebäugelnden  Necker.  Talleyrands  Teilnahme  an  den  um- 
stürzenden Beschlüssen  der  constituierenden  National -Versammlung, 
auch  an  denen,  welche  die  politische  Machtstellung  des  Clerus  und 
des   weltlichen  Adels   untergi-uben ,   spricht   nicht   dagegen.     Wollte 


64  B.  Mälirenlioltz. 

der  ehrgeizige,  schlaue  Mann  in  jenen  Wirren  eine  Rolle  spielen 
und  zu  den  Herrschenden,  nicht  zu  den  Verfolgten  gehören,  so  gab 
es  für  ihn  keine  andere  Politik,  und  felsenfeste  Ueberzeugungstreue 
auf  Kosten  des  eigenen  Wohles  wird  man  einem  Talleyrand  nicht 
zumuthen  dürfen.  Als  aber  die  Bewegung  höher  und  höher  stieg 
und  die  Grundlagen  der  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Ordnung 
hinwegschwemmte ,  brachte  er  seine  Person  in  Sicherheit,  indem  er 
sich  zum  Gesandten  in  London  ernennen  liess  und  später  die  neue 
Welt  als  Asyl  aufsuchte ,  wo  ihn  das  weite  Meer  von  seinem  zer- 
rütteten Vaterlande  trennte. 

Als  ein  abgefallener  Spross  der  Bourbonen ,  als  Verräther 
am  Königtume  und  am  Adel  gilt  ihm  Herzog  Louis  Philipp 
von  Orleans,  dessen  Intriguen  Talleyrand  einen  längeren  Abschnitt 
widmet.  Wenn  er  von  dessen  Miturheberschaft  an  den  Oktobei-- 
tumulten  in  Versailles  nichts  sagt,  so  hat  dies  nur  darin  seineu 
Grund,  dass  der  Autor  über  die  fameuses  journees  und  andere  Er- 
eignisse der  revolutionären  Bewegung  ein  tunlichstes  Stillschweigen 
beobachtet.  Eücksicht  auf  die  Dynastie  Orleans  lag  ihm  1815,  wo 
dieser  Teil  der  Memoiren  geschrieben  wurde,  ganz  fern. 

Das  Ende  der  Schreckenszeit  bringt  Talleyrand  nach  Paris 
zurück;  mit  dem  hervorragendsten  der  s.  g.  Direktoren,  mit  Bari'as, 
kommt  er  in  nähere  Beziehung.  So  ■wird  ihm  am  18.  Juli  1797  das 
Ministerium  des  Auswärtigen  übertragen,  zu  einer  Zeit,  wo  Bouaparte  als 
Sieger  über  Ostreich  den  Frieden  von  Campo-Formio  zu  schliessen  sich 
anschickte.  Nun  beginnt  auch  Talleyrands  Verbindung  mit  dem 
späteren  Kaiser  der  Franzosen,  in  dem  er  den  Wiedei'hersteller  der 
durch  die  Revolution  zerstörten  Ordnung  im  ^'oraus  erblickte.  Wenn 
er  späterhin  sagt,  er  habe  Napoleon  aufrichtig  geliebt  und  ihm  treu 
gedient,  so  ist  das  soweit  richtig,  als  es  bei  Talleyrands  Charakter 
richtig  sein  kann.  Wie  er  sich,  um  emporzukommen,  den  revolutionären 
Machtliabern  in  die  Hände  geworfen  und  selbst  den  Bund  mit  einem 
Danton  nicht  verschmäht  hatte  (in  den  Memoiren  ist  von  demselben 
natürlich  keine  Rede),  so  stellte  er  jetzt  sein  Schicksal  auf  Bonapartes 
Genie.  Selbst  das  gewaltsame  Vorgehen  B.'s  gegen  den  Herzog  von 
Enghien  machte  ihn  uiclit  irre,  wiewohl  er  sich  selbst  gegen  den  Vor- 
wurf der  Teilnahme  an  diesem  Verbrechen  ausführlich  und  mit  über- 
zeugender Kraft  zu  rechtfertigen  sucht.  Seine  ^'erteidigung  gegen 
den  Einwand,  warum  er  auch  nach  dem  offenen  Kampfe  Napoleons 
gegen  die  Bourbonen  trotz  seiner  legitimistischen  Gesinnung  im  Staats- 
dienste geblieben  sei,  ist  die,  er  habe  sein  Vaterland  in  einer  ernsten 
Lage  nicht  in  Stich  lassen  dürfen.  In  Wirklichkeit  hielt  er  bei 
Napoleon  aus,  bis  sein  treffender  Spürsinn  erkannte,  dass  der  Kaiser 
durch  sein  Streben  nach  einer  Weltmonarchie  sich  auf  abschüssigen 
Bahnen  verliere.  Das  geschah  nach  dem  Tilsiter  Frieden;  am  9.  August 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Tallei/rand.  65 

1807  quittierte  Talleyrand  deu  auswärtigen  Dienst.  Zu  bedauern 
bleibt  es,  dass  der  Autor  auch  über  die  10  Jalire,  in  welchen  er 
der  Leitung  der  Dinge  so  nahe  stand,  nichts  Neues  und  Vollständiges 
sagt.  Wir  erfahren  weder  über  Napoleons  Emporkommen,  noch 
über  die  Kämpfe  mit  England,  Ostreich  und  Preussen  etwas  Genaueres 
oder  Richtigeres.  Ja,  Talleyrand  flösst  uns  falsche  Vorstellungen  ein, 
wenn  er  Bonaparte  die  Absicht  unterschiebt,  er  habe  in  Ägypten  als 
Beschützer  der  Christen  auftreten  wollen  und  damals  noch  nicht  an 
den  Sturz  der  französischen  Regierung  und  an  die  Usurpation  der 
höchsten  Machtstellung  gedacht.  Der  Grund,  dass  B.  in  seiner 
Armee  selbst  den  republikanischen  Fanatismus  gegen  Thron  und 
Altar  zu  entflammen  suchte,  beweist  nicht  das  Gegenteil.  Die  Offiziere 
mit  denen  er  zu  rechnen  hatte,  waren  ehrgeizige  Streber,  welche 
die  Revolution  aus  dem  untersten  Range  emporgehoben  hatte,  die 
aber  ihrem  Feldherrn,  der  für  ihr  Avancement  und  ihre  Bereicherung 
so  treftlich  sorgte,  blindlings  folgten.  Mit  aufrichtigen  Vaterlands- 
freunden und  Republikanern,  wie  Moreau,  wusste  seine  überlegene 
Schlauheit  schon  fertig  zu  werden.  Seine  kühle,  völlig  selbsüchtige 
Berechnung  bei  dem  scheinbar  abenteuerlichen  Unternehmen  gegen 
den  Orient  war  die:  Wenn  das  Direktorium  nach  Innen  und  Aussen 
abgewirtschaftet  hat,  wird  Frankreich  dem  heimkehrenden,  sieg- 
reichen General  willig  die  dargebotene  Retterhand  nicht  ausschlagen. 
Der  Entschluss,  das  Direktorium  zu  stürzen,  stand  in  Bonapartes 
Seele  schon  fest,  als  er  nach  dem  Frieden  von  Campo-Formio  heim- 
kehrte. Die  unbefugte  Einmischung  der  fünf  Machthaber  in  die 
Kriegsführung  und  deren  offenes  Bestreben,  den  angeblichen  Kampf 
für  die  Völkerfreiheit  nur  zu  einem  Raub-  und  Ausbeutungssystem 
zu  machen,  hatte  seine  Abneigung  gegen  Männer,  die  von  militärischen 
Dingen  so  wenig  verstanden,  wie  von  den  politischen  Kombinationen, 
nur  noch  verschärft.  Mit  Spannung  folgte  er  im  fernen  Osten  allen 
Nachrichten  über  die  Unglückställe  im  Kriege  gegen  Ostreich  und 
Rassland  und  über  die  steigende  Zerrüttung  im  Innern.  Als  der 
rechte  Zeitpunkt  gekommen  war,  liess  er  seine  Armee  im  Stich 
und  landete  an  der  französischen  Küste.  Wie  ist  nun  die  Stellung 
Talleyrand's  gegenüber  Napoleon  ?  Im  Ganzen  geben  sie  seine  Memoiren 
richtig  an.  Er  billigt  alles,  was  der  Kaiser  zur  Unterdrückung  der 
revolutionären  Partei  und  zur  Wiederherstellung  der  öffentlichen 
Ordnung  gethan  hat,  er  sieht  auch  ein,  dass  damals  nur  ein  durch 
Revolution  emporgekommener  Mann,  wie  Bonaparte,  nicht  die  heim- 
kehrenden Bourbonen  Frankreich  beherrschen  konnten.  Er  verwirft 
auch  die  Eroberungspolitik  Napoleons  nicht  unbedingt,  aber  er  hält 
den  Anschluss  Frankreichs  au  Ostreich  für  notwendig.  Darum  er- 
scheint ihm  die  Schwächung  des  habsburgischen  Staates,  die  Russ- 
lands Ehrgeize  zu  Gute  kam,  als  ein  grober  Fehler,  auch  Preussens 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV.  0 


66  B.  Mahrenlioltz. 

Demüthigung,  welche  die  Zahl  der  Feinde  Frankreichs  vermehrte, 
billigt  er  keineswegs.  Als  Napoleon  zu  Tilsit  dem  Zaren  über  das 
gänzlich  niedergeworfene  Preussen  und  das  erschöpfte  Ostreich  hin- 
weg die  Hand  reichte,  gab  er  seine  Entlassung  ein.  Um  Frank- 
reichs, nicht  um  Preussens  willen,  bedauert  er  die  schimpfliche 
Demüthigung,  welche  der  Sieger  von  Friedland  der  preussischen 
Königsfamilie  und  insbesondere  der  edlen  Königin  Luise  bereitete. 
Die  feine,  gesellschaftliche  Bildung  des  Kavaliers  der  alten  Zeit 
empfindet  auch  eine  tiefe,  ungeheuchelte  Abneigung  gegen  die  rohen, 
brutalen  Manieren  des  corsischen  Emporkömmlings. 

Genauere  Nachricht,  als  über  die  Zeit,  wo  Talleyrand  besser  als  ein 
anderer  in  die  Geheimnisse  der  Politik  eingeweiht  war,  erhalten  wir 
über  die  spanischen  Händel  und  über  den  Zwist  Napoleons  mit  Papst 
Pius  VII.  Allerdings  wurde  er  nach  wie  vor  vom  Kaiser  um  Rat 
gefragt  und  mit  diplomatischen  Aufträgen  betraut,  aber  seine  aus- 
fühiiiche  Darstellung  der  Ruchlosigkeit  Bonapartes  gegen  die 
spanische  Königsfamilie  beruht  doch  in  der  Hauptsache  auf  dem 
Werke  des  Marquis  de  Pradt:  Memoires  historiqnes  siir  la  re- 
volution  d'Espagne,i3iS,  Talleyrand  auch  als  Quelle  (I,  373)  anführt.  Sein 
Standpunkt  gegenüber  den  neuen  Vergewaltigungen  Napoleons  ist 
offen  und  klar  ausgesprochen.  Die  Besitznahme  Spaniens  diente  den 
Interessen  des  schlimmsten  Feindes  der  französischen  Monarchie, 
Englands,  sie  war  daher  ein  unbegreiflicher  Fehler.  Sie  musste  den 
Abfall  der  spanischen  Kolonien  vom  Mutterlande  und  deren  An- 
schluss  an  die  englische  Handelspolitik  zur  Folge  haben,  schädigte 
somit  die  Lebensinteressen  Frankreichs.  Während  der  Kaiser  durcli 
sein  Kontinentalsystem  Englands  Welthandel  zu  zerstören  suchte, 
eröifnete  er  selbst  dem  Erbfeinde  neue  Absatzquellen.  Sonach  unter- 
liegt es  keinem  Zweifel,  dass  ein  schlauer  Staatsmann  Avie  Talley- 
rand das  spanische  Abenteuer  gemissbilligt  und  dessen  für  Frank- 
reich verderbliche  Folgen  vorausgesehen  hat,  aber  er  stellt  sein  Ein- 
treten für  die  legitime  Dynastie  anders  hin,  als  es  war.  In  Wirk- 
lichkeit hat  er  damals  Napoleon  gar  keine  offene  Opposition  gemacht, 
denn  sonst  hätte  er  jeden  Einfluss  verloren  und  für  seine  persönliche 
Sicherheit  fürchten  müssen,  vielmehr  liess  er  sich  das  wenig  ehren- 
volle Hüteramt  über  die  gefangenen  spanischen  Prinzen  aufbürden. 
Dass  er  das  letztere  mit  aller  zarten  Rücksicht  für  die  Angehörigen 
der  bourbonischen  Königsfamilie  geübt  und  die  gesellschaftliche 
Noblesse  eines  vornehmen  Herren  der  alten  Zeit  gezeigt  hat,  wollen 
wir  ihm  gern  glauben.  Werkzeug  Bonapartes  blieb  er  gleich- 
wohl. Eine  Art  Anerkennung  der  in  dieser  schimpflichen 
Sache  geleisteten  Dienste  war  es,  dass  Talleyrand  von  Napoleon 
mit  als  Berater  auf  den  Erfurter  Kongress  genommen  wurde, 
auf  dem  der  Bund   mit  Russland   enger  geknüpft  und  der  drohende 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Talleyrand.  67 

Zwist  wegen  der  russischen  Ansprüche  a^^f  die  türkischen  Donau- 
fürstenthümer  ausgeglichen  werden  sollte.  Hier  hat  Talleyrand 
nach  seiner  eigenen  Aussage  heimlich  den  Interessen  Napoleons 
entgegengearbeitet  und  thuulichst  jeder  weiteren  Schädigung-  Ostreichs 
vorzubeugen  gesucht.  Um  Ostreichs  willen,  warnte  er  den  Czaren 
vor  einer  unvorsichtigen  Hingabe  an  Napoleons  Absichten  und  ging 
mit  dem  anwesenden  Vertreter  Ostreichs  Hand  in  Hand.  Nicht 
Sympathie  für  Eussland  oder  die  Sorge  vor  Napoleons  masslosem 
Ehrgeize  trieb  ihn  dazu  an,  sondern  nur  der  Gedanke  an  Frankreich, 
das  nicht  der  letzten  Schutzwehr  gegen  den  moskowitischen  Er- 
oberungsdrang beraubt  werden  sollte.  Mit  innerer  Genugthuung 
kann  Talleyrand  erzählen ,  dass  Napoleon  auf  jenem  glänzenden 
Kongresse  nicht  sein  Ziel,  auch  Russland  zum  willfährigen  Werk- 
zeuge seiner  Weltbeherrschungspolitik  zu  machen,  eiTeicht  habe. 
Die  Streitfrage  mit  Russland  blieb  nur  vertagt,  der  geplante  Ehe- 
bund mit  einer  russischen  Prinzessin  kam  nicht  zu  Stunde,  vielmehr 
ward  schon  damals  die  Heirat  Napoleons  mit  der  östreichischen 
Erzherzogin  Marie  Luise  vorbereitet.  Talleyrands  schlaue  Rechen- 
kunst hatte  hier  einmal  über  Napoleons  Leidenschaft  triumphiert. 
Was  uns  der  Autor  im  Übrigen  von  den  Erfurter  Begebenheiten 
erzählt,  sind  längst  bekannte  Einzelheiten,  nur  über  die  Unten^edungen 
des  Kaisers  mit  Goethe  und  Wieland  erhalten  wir  einen  sehr  aus- 
führlichen, authentischen  und  sonstigen  Nachrichten  ergänzenden 
Bericht  (I,  426—428,  436—437,  442—446).  —  Sehr  eingehend,  auf 
90  Seiten,  berichtet  uns  Talleyrand  über  Napoleons  Zwist  mit  dem 
Papste,  den  er  als  einen  ebenso  grossen  Fehler  hinstellt,  wie  die 
spanischen  Händel,  denn  er  habe  dem  Kaiser  auch  die  Stütze  ent- 
zogen ,  welche  derselbe  in  dem  französischen  Klerus  und  der 
katholischen  Bevölkerung  Frankreichs  fand.  Hier  kramt  Talleyrand 
sein  kirchengeschichtliches  Wissen  reichlich  aus  und  nimmt  in  allen 
Hauptpunkten  die  Partei  des  Papstes  und  der  Kirche.  Es  ist  schwer 
zu  entscheiden,  wie  weit  seine  Sympathie  für  den  geknechteten  Papst 
und  die  vergewaltigte  Kirche  eine  aufrichtige  ist.  Damals,  als  er 
jene  Schilderungen  niederschrieb,  war  er  als  Vorkämpfer  der  mit 
der  Kirche  verbündeten  Legitimität  aufgetreten,  und  diese  Rücksicht 
auf  seine  Stellung  musste  seine  Auffassung  beeinflussen.  Aber 
andrerseits  hatte  doch  Talleyrand  nie  ganz  vergessen,  dass  er  selbst 
mit  Hilfe  seiner  geistlichen  Verbindungen  emporgekommen  war  und 
eine  angesehene  Stellung  innerhalb  der  Kirche  bekleidet  hatte.  Wie 
wenig  überzeugungsvoll  er  für  geistliche  Interressen  einzutreten 
wusste,  zeigt  allerdings  seine  Mitwirkung  bei  den  kirchenfeindlichen 
Beschlüssen  der  Konstituante,  aber  gewiss  war  es  nicht  seine 
Meinung,  dass  das  geistliche  Regiment  einer  alles  unterdrückenden 
Säbelherrschaft    weichen    sollte.     Napoleons  Zwist  mit  dem  Papste, 


68  R.  Mahrenholtz. 

der  in  der  Hauptsache  schon  alle  Forderungen  des  Kaisers  befriedigt 
und  nur  hinter  unwesentlichen  Formalitäten  sich  verschanzt  hatte, 
beurteilt  er  ebenso,  wie  die  spanische  Affaire,  vom  Standpunkte  des 
kühlen,  leidenschaftslosen  Politikers.  Das  Mitgefühl ,  welches  er  in 
so  auffälligei-  Weise  den  spanischen  Prinzen  und  dem  römischen 
Bischöfe  kundgibt,  ist  eine  wohlberechnete  Retouchierung,  die  seine 
spätere  Stellung  als  Vorkämpfer  für  Thron  und  Altar  nötig  machte. 
Sehr  unparteiisch  schildert  Talleyrand  den  Sturz  des  Kaiserreiches 
und  die  unmittelbar  vorgehenden  Fehler  Napoleons,  wie  die  harte 
Durchführung  des  Kontinentalsystems,  die  willkürlichen  ,,Reunionen" 
in  Deutschland  und  Italien,  den  Zug  gegen  Eussland.  Napoleon 
erscheint  ihm  mit  Recht  als  ein  vom  leidenschaftlichsten  Ehrgeize 
Verblendeter,  der  alle  Fürsten  und  Völker  sich  zu  erbitterten  Feinden 
machte,  die  materiellen  Interessen  Europas  durch  sein  Kuntineutal- 
system ,  seine  ewigen  Kriege  und  seine  rücksichtslose  liuanzielle 
Aussaugung  aller  eroberten  Provinzen  zerrüttete  und  auch  nach  der 
Niederlage  bei  Leipzig  die  Friedensvorschläge  der  Verbündeten, 
welche  ihm  seinen  Kaiserthron  und  Frankreich  die  Eroberungen  der 
Revolution  noch  teilweise  erhalten  hätten,  zurückwies.  Er  ver- 
schweigt auch  nicht,  wie  wenig  Aussichten  die  Bourboneu  bis  zur 
Einnahme  von  Paris  hatten,  wie  der  Czar  nur,  weil  jede  andere 
politische  Kombination  unmöglich  war  und  Talleyrand  selbst  die  Gunst 
der  Umstände  schlau  zu  benutzen  wusste,  sich  für  Ludwig  XVIII. 
entschied.  Als  echtem  Franzosen  erscheinen  ihm  die  überaus  günstigen 
Friedensbedingungen,  welche  dem  besiegten  Frankreich  gewährt  wurden, 
durchaus  berechtigt ;  den  Unwillen,  der  sich  darüber  bei  den  preussischen 
Offizieren  und  selbst  im  deutschen  Volke  regte,  kann  er  nicht  ver- 
stehen. Klug  aber  und  leidenschaftlos  wie  seine  Politik  wai\  billigt 
er  die  Reaktionsbestrebungen  der  französischen  und  spanischen 
Bourboneu,  die  Wiederauflebung  des  religiösen  Fanatismus  im  Süden 
Frankreichs  und  die  harte  Behandlung  der  Napoleonischen  Offiziere 
und  Soldaten  keineswegs.  Gegenüber  der  rachsüchtigen  Partei  des 
Grafen  von  Artois  und  der  heimkehrenden  Emigranten,  stellt  er  sich 
auf  die  Seite  der  konstitutionellen  Freiheit.  —  Mit  der  Wieder- 
herstellung I^udwigs  XVIII.  beginnt  eine  nur  kurze  Glanzzeit  für 
Talleyrand.  Als  Minister  des  Auswärtigen  hatte  er  den  Frieden 
zu  schliessen  und  später  übernahm  er  die  schwierige  Vertretung 
Frankreichs  auf  dem  Wiener  Kongress.  Von  jetzt  ab  haben  seine 
Memoiren  (Bd.  11,  S.  275 — 560  und  Bd.  lU — V)  einen  unbestreitbaren 
Wert.  Früher  war  die  Dai-stellung  eine  lückenhafte  und  nur  lue 
und  da  auf  Aktenstücke  gestützte,  die  Schilderungen  des  Wiener  und 
des  Londoner  Krongresses  dagegen  sind  in  der  Hauptsache  nur  die 
Wiedei'gabe  von  Talleyrands  diplomatischem  Briefwechsel  mit  ver- 
bindendem  Texte.     Talleyrand   leistete    auf  dem   Kongresse   seinem 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Talleyrand.  69 

Vaterlande  und  seinem  Köuif^e  die  grössteu  Dienste.  Die  nocli  be- 
stehende Koalition  der  vier  Mächte  wollte  das  unterworfene  Frankreich 
nicht  als  gieichbereclitigt  anerkennen  und  das  feindliche  Verhältnis, 
welches  gegen  Napoleon  gerichtet  war,  auch  gegen  die  Bourbonen 
fortbestehen  lassen.  Talleyrand,  der  das  Prinzip  der  Legitimität  als 
unangreifbaren  Schild  emporhielt  und  die  Sache  des  Usurpators  von 
der  des  rechtmässigen  Königs  zu  trennen  wusste,  brachte  es  dahin, 
dass  Frankreich  nicht  nur  als  gleichberechtigt,  sondern  auch  in 
manchen  Fragen  als  ausschlaggebend  auftrat.  So  rettete  Talleyrand, 
indem  er  die  Interessen  Ostreichs  und  Englands  denen  Preussens 
und  Russlands  gegenüberstellte,  die  Souveränität  Sachsens,  bewirkte 
die  Rückgabe  Neapels  und  Siziliens  an  die  Bourbonen  und  Hess 
in  wohlberechneter  Anbequemung  an  Englands  Wünsche  die 
Schöpfung  des  disparaten,  halb  katholischen,  halb  protestantischen 
Königreichs  der  Niederlande  zu,  dessen  Ungefährlichkeit  für 
Franki-eich  und  dessen  kurzen  Bestand  er  voraussah.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  Talleyrand  hier  seine  persönliche  Bedeutung  nicht 
übertreibt.  Die  Rettung  Sachsens  war  die  Folge  des  alten  Gegen- 
satzes zwischen  Habsburg  und  Hohenzollern,  dem  sich  Englands 
Politik  nur  in  eingeschränktem  Masse  dienstbar  machte,  und  der 
Unentschiedenheit  Kaiser  Alexanders,  wie  Hardenbergs.  Talleyrand 
hat  in  der  Hauptsache  nur  den  versöhnenden  Mittelsmann  beim 
König-  von  Sachsen  gespielt.  Neapel  ging  dem  Napoleoniden  Murat 
durch  seinen  unüberlegten  Krieg  gegen  Ostreich  verloren,  die  zu- 
nächst für  Frankreich  unerwünschte  Schöpfung  des  Königsreichs 
der  Niederlande  vermochte  Talleyrand  nicht  zu  hindern.  Indessen 
als  Beauftragter  einer  besiegten,  im  Innern  noch  nicht  konsolidierten 
Macht  hat  er  gethan,  was  er  irgend  konnte,  wie  es  denn  schon 
ein  wichtiger  Erfolg  für  die  Bourbonen  war,  dass  der  Erinnerungs- 
tag an  Ludwigs  XVI.  Hinrichtung  von  den  Diplomaten  des  Kon- 
gresses kirchlich  begangen  wurde.  Als  Napoleons  plötzliche  Rück- 
kehr von  Elba  den  Kongress  auflöste,  hielt  Talleyrand  die  dort 
verti'etenen  Mächte  wenigstens  so  lange  zusammen,  bis  alle  Beschlüsse 
unterzeichnet  waren.  Die  Gefahr,  w^elche  von  Napoleon  drohte, 
musste  Talleyrand  anfänglich  unterschätzen,  weil  er  die  Missgriffe 
der  bourbonischen  Regierung,  durch  welche  die  Sache  des  Exkaisers 
am  besten  gefördert  wurde,  in  der  Ferne  nicht  völlig  übersehen 
konnte ;  doch  als  er  mit  dem  vor  Napoleon  geflohenen  König  in 
dem  belgischen  Asyle  zusammentraf,  wurde  ihm  die  Sachlage  klar 
und  er  that  alles,  um  sein  ehemaliges  Dienstverhältniss  am  kaiser- 
lichen Hofe  vergessen  zu  machen.  Schon  1814  hatte  er  so  energisch 
gegen  Bonapartes  Interesse  gewirkt,  dass  man  ihm  die  leiclit  zu 
widerlegende  Anschuldigung  eines  Mordplaues  gegen  den  Gestürzten 
gemacht  hat,  auch  jetzt  zeigte  sich  sein  Eifer  für  die   bourbonische 


70  E.  Mahrenholtz. 

Sache.  In  der  Hauptsache  ginj?  sein  Streben,  die  bedrohte  Sache 
der  Legitimität  zu  retten,  auch  in  Erfüllun»-,  freilich  war  es  melir 
die  Furclit  vor  Napoleon,  als  die  Rücksicht  auf  Ludwij^-  XVIII., 
was  die  engiisch-preussische  Armee  zu  so  schnellem,  entscheidendem 
Vorgehen  bestimmte.  Aber  die  Friedensbedingungen  des  Jahres 
1815  waren  keine  so  unverdient  günstigen,  wie  die  von  1814,  ob- 
wohl Frankreich  so  gross  blieb,  wie  unter  Ludwig-  XIV.  und  die 
zeitweilige  Besetzung-  des  französischen  Bodens  durch  fremde  Truppen 
war  dem  erregbaren  Patriotismus  der  von  den  \Veltherrschafts- 
gedanken  Napoleons  noch  erfüllten  Franzosen  ein  Anblick  tiefer 
Demütigung.  Parteiisch,  wo  nationale  Antipathien  in  Frage  kommen, 
macht  Talleyrand,  der  den  Frieden  von  1814  als  selbstverständliche 
Rücksicht  auf  Ludwig  XVIII.  hingenommen  hatte,  den  Verbündeten 
einen  Vorwurf  daraus,  dass  sie  von  Frankreich  geringe  Opfer  an 
Geld  und  Land  verlangten  und  verargt  es  Preussen,  einen  Teil  der 
von  Napoleon  geraubten  Kontributionen  zurück  gefordert  zu  haben. 
Aber  Talleyrands  Stellung  selbst  war  erschüttert.  Die  Reaktion 
gegen  alles,  was  die  Revolution  verschuldet,  musste  sich  auch  gegen 
den  eidbrüchigen  Priester,  der  1790  dem  s.  g.  Versöhnungsfeste  die 
kirchliche  Weihe  gegeben  hatte,  richten.  Der  Einfluss  des  Czaren, 
dem  er  in  der  sächsischen  Frage  entgegengetreten  war,  wurde  ihm 
nachteilig,  mit  seinem  Verlangen  nach  einer  freisinnigen,  zeitgemässen 
Verfassung  an  Stelle  dei'  „octrojärten  Charte"  stiess  er  auch  bei 
Ludwig-  XVIII.  auf  Widerspruch.  So  musste  er  als  Minister  zurück- 
treten und  15  Jah]"e  fast  vergessen  in  der  Abgeschiedenheit  zu- 
bringen. Die  Julirevolution  (1830)  zog  den  noch  geistig  frischen 
Greis  von  Neuem  in  den  Vordergrund  der  diplomatischen  Kreise. 
Ohne  Priuzipientreue  schloss  sich  der  einstige  Verteidiger  der 
Bourbonen  dem  „Bürgerkönige"  Ludwig  Philipp  an.  Wie  1815  den 
Grundsatz  der  Legitimität,  so  verlocht  er  jetzt  den  der  konstititutionellen 
Freiheit.  Auf  dem  Londoner  Kongress,  der  das  Schicksal  des  auf- 
rührerischen Belgien  entscheiden  sollte,  hatte  er  einen  ähnlich  schweren 
Stand,  wie  auf  dem  Wiener  Kongresse.  Die  Stellung  der  französischen 
Regierung-  war  noch  eine  schwankende,  von  den  extremen  Parteien 
rechts  und  links  bedrohte,  sie  verstiess  zudem  gegen  das  Legitimitäts- 
prinzip der  heiligen  Allianz.  Mit  geschickter  Schwenkung  wusste 
nun  Talleyi'and  einen  Frontwechsel  vorzunehmen  und  sich  als  Ver- 
treter der  liberalen  Ideen  den  Beistand  des  englischen  Ministeriums 
und  Parlamentes  zu  sichern.  So  traten  die  Westmächte  (England 
und  Frankreich)  den  nicht  einigen  drei  Ostmächten  gegenüber,  die 
Selbständigkeit  des  mit  stattlichem  Landumfange  ausgerüsteten 
Belgiens  wurde  auch  von  dem  hochkonservativen  Czaren  anerkannt. 
Mit  Talleyrand  zusammen  wirkte  der  starre  Tory,  Lord  Wellington, 
der  Besieger  Frankreichs.     Die   gegen   den   französischen  Staat   ge- 


Die  Memoiren  des  Fürsten  Tallei/rand.  71 

richtete  Schöpfung  des  Königreichs  der  Niederlande  wurde  zerstört 
und  in  dem  mit  den  Orleans  verwandten  „König  der  Belgier" 
Frankreich  ein  freundnachbarlicher  Bundesgenosse  gewonnen.  So 
schloss  die  diplomatische  Karriere  Talleyrands  mit  einem  Triumphe 
seiner  schlauen,  zweckdienlichen  Berechnung  ab. 

Fassen  wir  unser  Urteil  über  den  Wert  der  Memoiren  zusammen. 
Weit  entfernt,  ein  vollstäiidiges  Bild  der  grossen  Umwälzungen  von 
1789 — 1830  zu  geben  oder  auch  nur  eine  umfassende  Biographie 
des  Helden  zu  entfalten,  bieten  sie  uns  doch  einen  klaren  Einblick 
in  das,  was  Talleyrand  unter  Napoleon,  Ludwig  XVIII.  und  Louis 
Philipp  gewesen  ist  und  gethan  hat.  So  sehr  sie  das  verschweigen 
und  beschönigen,  was  den  Charakter  Talleyrand's  selbst  in  un- 
günstiges Licht  setzen  kann,  so  deuten  sie  doch  die  gewissenlose 
Wandelbarkeit  dieses  diplomatischen  Proteus  genügend  an.  Eine 
wertvolle  Quelle  der  Zeitgeschichte  sind  sie  erst  von  1814  ab,  bis 
dahin  müssen  wir  sie  oft  aus  Talleyrands  eigener  Korrespondenz 
ergänzen  und  berichtigen.  Einen  schlau  kombinirenden,  im  Einzel- 
nen irrenden,  aber  den  Umschwung  der  Dinge  voraussehenden 
Politiker  zeigen  uns  jene  Aufzeichnungen,  wenn  sie  auch  hie  und 
da  post  eventnm  retouchiert  sein  mögen.  Wo  aber  Talleyrand  den 
unwandelbaren  Verfechter  der  Königstreue  und  den  Vorkämpfer  des 
Eechtes  spielt,  mögen  wir  dem  aalglatten,  geschmeidigen  Diplomaten 
misstrauen.  Mit  ungeschwächter  Geistesfrische  hat  er  noch  nach 
1832  den  letzten  Teil  seiner  Memoiren  niedergeschrieben  und  das 
Ganze  mit  geschicktester  Berechnung  der  oratorischen  Lichteffekte 
redigirt.  Zur  gerechteren  Würdigung  des  Mannes,  der  weniastens 
dem  Wohle  seines  Vaterlandes  in  allen  Wandlungen  der  Politik  nach- 
strebte, werden  diese  Aufzeichnungen  sicher  beitragen. 

ß.  Mahrenholtz. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur 

über  den  Krieg«  von  1870—1871. 


I.   Novellen. 

Die  Erreg-ungen  und  Erfahrungen  des  deutsch  -  franzijsischen 
Krieges  konnten  nicht  vorübergehen,  ohne  in  Frankreicli  wie  bei 
uns  eine  umfangreiche  Litteratur  zu  erzeugen.  Schon  wähi'end  des 
Krieges  brachten  die  französischen  Tages-,  Wochen-  und  Monats- 
blätter zahllose  Berichte,  Feldpostbriefe,  Mittheilungen  der  Kriegs- 
berichterstatter, aufklärende  Darstellungen,  theoretische  Betrachtungen 
u.  dgl.  Bald  nach  Abschluss  des  Krieges  wurden  dann  zahlreich 
die  während  desselben  erschienenen  Aufsätze  und  Mittheilungen  als 
Kriegserinnerungen,  Kriegsbilder,  Feldzugsgedanken  u.  dergl.  ge- 
sammelt. Zu  diesen  Sammlungen  traten  in  grosser  Menge  vorher  un- 
gedruckteTagebücher  von  einfachen  Liniensoldaten,  Mobil-  und  National- 
gardisten, Freischärlern,  Kriegsfreiwilligen,  Lazarethbeamten,  Aerzten, 
niederen  und  höheren  Oflizieren,  auch  von  Verwaltungsbeamten,  Ge- 
fangenen und  anderen.  Ferner  die  Veröffentlichung  von  amtlichen 
Aktenstücken  und  von  während  des  Krieges  in  den  besetzten  Landes- 
theilen  und  anderwärts  angestellten  Betrachtungen  und  Beobachtungen. 
Dieser  während  des  Feldzuges  entstandenen  Litteratur  schlössen  sich 
weiter  an  ausgeführte  Schilderungen  einzelner  Vorgänge;  Schriften, 
die  zur  Beurtheilung  oder  Rechtfertigung  bestimmter  Persönlichkeiten 
und  Verwaltungen,  zur  Aufhellung  der  erlittenen  Niederlagen  oder 
der  errungenen  Erfolge  dienen  sollten.  Endlich  erschienen  bald  auch 
zusammenfassende  Darstellungen  von  der  Thätigkeit  der  einzelnen 
Heere  oder  der  gesanunten  französischen  Heeresmacht,  die  einen  von 
bürgerlichen  Schriftstellern  für  einen  grösseren  Leserkreis,  die  andern 
von  Oflizieren  für  eine  fachkundige  Leserschaft  bestimmt.  Diese 
Litteratur  hat,  von  der  entsprechenden  deutschen  mit  beeinfiusst, 
bis  heute  einen  ununterbrochenen  Fortlauf  genommen.^) 


^)  Vgl.  die  allerdings  unvollständige  und  nur  bis  1885  reichende 
Bibliographie  von  Alb.  Schulz:  Bibliographie  de  la  guerre  franco-allemande 
(1870—1871).     Paris,    1886. 


74  E.  Koschwltz, 

Neben  dei-  geschichtlichen  entwickelte  sich  gleichzeitig  die 
novellistisclie  Kriegslitteratur.  Fabuliert  wurde  schon  während  des 
Krieges;  das  in  der  Feldzugszeit  begonnene  brauchte  also  auch  hier 
nur  fortgesetzt  zu  werden.  Geschichtliche  Vorgänge  und  in  sie 
hinein  verlegte  erdachte  Thaten  gaben  den  Grundstoft'  der  Er- 
zählungen ;  die  selbst  empfangenen  Kriegseindrücke,  die  in  Frankreich 
üblich  gewordene  Gesanimtauffassung  der  Kriegsereignisse  und  ihrer 
Ursachen ,  vielfach  insbesondere  der  Gedanke  an  spätere  Widerver- 
geltung  bestimmten  Ton  und  Tendenz ;  die  künstlerische  Ausführung 
blieb  von  den  Anlagen  der  Verfasser  oder  von  der  Beschaffenheit 
des  gesuchten  Leserkreises  abhängig.  Die  meisten  Erzählungen  ver- 
folgten zugleich  den  Endzweck:  Erwerbung  oder  Wachhaltung  des 
Patriotismus.  Die  Vaterlandsliebe  zeigt  sich  nicht  nur  in  den  Er- 
zählungen ,  die  durch  Vorführung  von  rühmlichen  Thaten  des 
Muthes,  der  Tapferkeit  und  der  Aufopferung  berichten  und  zu  ihrer 
Nachahmung  anspornen,  oder  die  gelungene  Rachehandlungen 
schildern  und  die  spätere  Widervergeltuug  in  Aussicht  stellen, 
sondern  auch  in  denen,  die  es  ausschliesslich  auf  Verspottung  des 
fast  immer  verzerrt  dargesteUten  Siegers  absehen  und  ihn  als  einen 
Gegenstand  berechtigten  Hasses  vorführen,  und  in  denen,  wo  die 
Satire  der  eignen  Verhältnisse,  die  Brandmarknug  feiger  Handlungen 
und  schlechter  Patrioten  zu  dem  Zwecke  vorgenommen  werden,  um 
vor  Nachahmung  abzuschrecken.  Neben  diesen  vorwiegenden  Er- 
zählungen spielen  diejenigen  eine  geringere  Rolle,  die  nur  im 
Allgemeinen  das  Treiben  des  Krieges  schildern ,  und  die  als 
tendenzlose  Stimmungsbilder  von  dem  Landesfeinde  ganz  absehen. 
Die  gehässigsten  und  rohesten  Darstellungen  findet  man  begreif- 
licherweise in  den  kunstlosen  Erzeugnissen  unbedeutender  Schrift- 
steller, die  durch  Ansclilagung  der  patriotisclien  Saite  sich  für  ihre 
geringwerthige  Waare  einen  Leserkreis  sichern  wollen  oder  die  für 
die  niederen  Volkskreise  schreiben;  die  absichtslosesten  und  walu-sten 
Darstellungen  in  den  Erzählungen  der  hervorragenderen  Schriftsteller, 
unter  denen  die  der  naturalistischen  Schule  angehörigen  durch  Treue 
und  Unparteilichkeit  ihrer  Schilderungen  die  erste  Stelle  einnehmen. 

A.    Helden-  und  UiiehcerziUiluugen. 

Die  Erzählungen,  worin  heroische  Einzelthaten  gefeiert  werden, 
stehen  der  Menge,  wenn  auch  nicht  der  Beschaffenheit  nach,  durchaus 
im  Vordergrunde.  Heldenkinder  werden  der  lieutigen  französischen 
Jugend  als  leuchtende  Beispiele  vorgeführt,  heldenhafte  Väter,  Greise, 
Mütter,  Jungfrauen  und  Jünglinge  dem  erwachseneu  Geschlechte. 
Häufig  sind  es  grinune  Rachethaten,  die  diese  verschiedenartigen 
Helden  verrichten;  die  dichterische  Gerechtigkeit  wird  dann  gewöhnlich 


Die  französische  Novellistik  und  Itomanlitteratur.    I.  75 

dadurch  hergestellt,  dass  den  der  Vernichtung  geweihten  Deutschen 
schwere  Vergehen  zugeschrieben  werden.  Der  Gerechte  muss  aller- 
dings oft  mit  dem  Ungerechten  leiden.  Bei  psychologisch  vertiefteren 
Erzählungen  wird  auch  die  natürliche  Wildheit  der  vorgeführten 
französischen  Charaktere  entschuldigend  angemerkt,  und  tritt  eine 
Sühne  auch  bei  ihnen  ein.  Bei  den  plumper  aufgebauten  wird  eine 
solche  Ergänzung  nicht  für  nöthig  erachtet;  es  genügt  ihren  Ver- 
fassern, zur  Erbauung  ihrer  Leser  die  gelungene  Hinmetzelung  einiger 
Deutscher  zu  berichten,  die,  wie  als  selbstverständlich  vorausgesetzt 
wird,  stets  solche  Scheusale  sind,  dass  ihre  Ausrottung  unter  allen 
Umständen  ein  Verdienst  um  das  französische  Mutter-Vaterland  (die 
mere-patrie)  ist. 

Wir  führen  denn,  ohne  hier  oder  in  den  übrigen  Abschnitten 
auf  Vollständigkeit  ausgehen  zu  wollen,  diese  Helden-  und  Eache- 
erzählungen  an  erster  Stelle  vor,  die  wir,  so  weit  als  thunlich,  nach 
der  Lebensstellung  ihrer  Hauptträger  anordnen.  Das  Hauptgewicht 
legen  wir  in  der  ganzen  folgenden  Arbeit  auf  Wiedergabe  des  In- 
halts, aus  dem  sich  die  Leser  psychologische  oder  kulturhistorische 
Folgerungen  nach  Belieben  ableiten  können.  Eine  aufreizende 
Absicht  liegt  uns  gänzlich  fern.  Höher  gebildete  Franzosen,  die 
Deutschland  kennen,  urtheilen  nicht  anders  als  wir  Deutsche  selbst 
über  den  überspannten  Chauvinismus  und  die  haarsträubenden  Albern- 
heiten, die  wir  in  manchen  der  vorzuführenden  Erzählungen  an- 
treffen werden.  Ferner  verlangt  die  Gereclitigkeit,  dass  wir  Deutsche 
uns  in  die  Lage  der  Besiegten  hineindenken:  die  uns  begegnenden 
Ausschreitungen  erscheinen  dann  in  milderem  Lichte.  Auch  unsre 
Franzosenerzählungen  entwerfen  oft  nichts  weniger  als  schmeichel- 
hafte Bilder  von  unsrem  Nachbarvolke,  und  wir  singen  noch  heute 
Lieder  aus  der  Zeit  der  Befreiungskriege,  die  von  unbändigem 
Durste  nach  Franzosenblut  beseelt  sind.  Ich  wählte  das  Thema, 
theils  weil  mich  der  Zufall  darauf  führte,  theils  wegen  des  hohen 
Interesses,  das  naturgemäss  für  uns  die  französische  Litteratur  über 
die  Kriegstage  von  1870 — 71  besitzt,  die  wir  grossentheils  noch 
aus  eigner  Anschauung  kennen. 

Wir  beginnen  mit  der  Jugend. 

Einem  ersten  Heldenknaben  begegnen  wir  in  Siebecker's 
Die  Nudeln  des  Fräulein  Mina^).  Das  Oberhaupt  einer  elsasser 
Familie,  der  bejahrte  Dorf  krämer  Müller,  hat  von  seinen  Angehörigen 
vor  Beginn  des  Feldzugs  nur  seine  erwachsene  hübsche  Tochter 
Mina  und  seinen  vierzehnjährigen  Sohn  Franz  übrig  behalten. 
AVie   alle   Knaben    des   Dorfes   ist    auch   Franz   durch    die   Kriegs- 


^)  Les  NoiuVles  de  M^h  Mina   in   des  Verfassers  Eecits   heroiques. 
Paris,  0.  J.  S.  Ift". 


76  E.  Koschwüz, 

erklärung  in  stürmische  Aufregung  versetzt.  Seine  kriegslustige, 
patriotische  Stimmung  wird  noch  gehoben  durch  die  gleiche  Ge- 
sinnung seiner  Schwester  und  durch  die  Einwirkung  eines  Loh- 
gerbers, eines  etwas  anrüchigen  Mitgliedes  der  Dorfgemeinde,  der 
nicht  begreifen  will,  wie  man  ungehindert  die  feindlichen  Späher 
durch  das  Land  ziehen  lassen  könne.  Dieser  Lohgerber,  der  selbst 
aus  dem  Hinterhalte  auf  deutsche  Reiter  schiesst  und  einen  derselben 
tötet,  bewaffnet  auch  den  Knaben  mit  einer  alten  Pistole  und  ver- 
anlasst ihn,  ebenfalls  nach  den  dui'cheilenden  deutschen  Reitern  zu 
schiessen,  von  denen  er  allerdings  niemand  trifft.  Die  deutschen 
Späher  entfliehen  in  rasender  Eile;  französische  Lanzenreiter  jagen 
hinter  ihnen  her.  Das  ganze  Dorf  feiert  nun  den  Gerber  und  seinen 
Zögling;  Vater  und  Schwester  sind  stolz  auf  den  Knaben.  Die 
Freude  dauert  an,  so  lange  französische  Truppen,  die  Abtheilung 
Douays,  die  Ortschaft  durchzogen,  und  alles  sich  sicher  und  sieges- 
gewiss  fühlte.  Da,  am  Geburtstage  Franzens,  wo  Mina  eben  ihm 
zu  Ehren  ein  Gericht  ihrer  berühmten  Nudeln  bereitet,  ertönt  in 
der  Ferne  anhaltender  Schlachtendonner.  Erst  erscheint  ein  Flücht- 
ling; bald  folgen  ihm  auf  dem  Rückzuge  und  in  traurigem  Zustande 
beündliche  französische  Truppenmasseu.  Das  Mahl  der  Familie 
Müller  wird  durch  diesen  Anblick  unterbrochen ;  die  Nudeln  bleiben 
unangerührt  auf  dem  Tische.  Birckle,  der  Lohgerber,  zieht  mit 
anderen  ab,  um  sich  einer  Freischar  anzuschliessen.  Der  Krämer 
rauss  um  seines  Geschäftes  willen  zurückbleiben.  Sein  Sohn  wird 
von  den  das  Dorf  besetzenden  Deutschen  als  unberechtigter  Angreifer 
erkannt  und  wegen  seiner  That  standrechtlich  erschossen.  Seine 
Schwester  wird  vor  Schreck  darüber  wahnsinnig  und  siecht  langsam 
an  der  Seite  ihres  Vaters  hin,  der  später  Güterverwalter  in  der  Nähe 
von  Paris  geworden  ist.  Unaufhörlich  entströmen  ihren  Lippen  die 
Worte:   „Zu  Tisch,  Franzle,  meine  Nudeln  werden  kalt." 

Etwas  weniger  kindlich  in  Stoff  und  Darstellung  ist  eine  zweite 
Erzählung  Siebecker's,  in  deren  Mittelpunkte  gleichfalls  ein  Helden- 
knabe steht:  Das  Neujahrsgeschenk  des  kleinen  Jakob. ^)  Die  Handlung 
spielt  hier  vor  Paris,  während  der  Belagerungszeit.  Am  28.  De- 
zember 1870  wird  einem  wachthabenden  Offizier  ein  wiederum 
vierzehnjähriger  Knabe  vorgefülirt,  der  wegen  seiner  elsässer 
Aussprache  für  einen  Spion  gehalten  worden  ist.  Er  will  bei  der 
Artillerie  eintreten,  um  Rache  an  den  Schwaben  (schicohs,  elsasser 
Schimpfwort  für  Altdeutsche)  zu  nehmen,  die  ihm  Vater  und  Bruder 
getötet  haben.  Gefragt ,  ob  er  nicht  Furcht  habe ,  antwortet 
er  achselzuckend:  ich  bin  ein  Elsasser.  Weil  sein  Bruder  an  fünf 
Kugelwunden    gestorben    ist,    will    er    fünf  Deutsche    töten.     Eine 


')  Les  Etrenncs  du  petit  Jacques,  a.  a.  0.  S.  149  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur .    I.  11 

Mutter  hat  er  lücht  mehr,  des  Schiessens  ist  er  kundig.  Unter 
diesen  Umständen  hegt  der  französische  Offizier  kein  Bedenken,  den 
Knaben  einer  Freischar  zur  Aufnahme  zu  überweisen.  Am  Sylvester- 
abend nimmt  er  auf  eignen  Wunsch  an  einem  Streifzuge  theil;  er 
überrascht  mit  einem  anderen  Freischärler  einen  deutschen  Doppel- 
posten und  erdolcht  den  einen  Soldaten,  während  sein  Gefährte  den 
zweiten  niedermacht.  Darauf  überrumpeln  die  beiden  noch  zwei 
weitere  Deutsche ;  der  kleine  Jakob  trifft  den  einen  derselben  schlafend 
an,  knebelt  ihn  mit  seinem  Halstuch,  bindet  ihm  die  Hände  mit 
einer  Peitsclienschnur,  noch  ehe  er  zu  sich  gekommen  ist,  und 
schleppt  ihn  als  Gefangenen  mit  sich  fort.  Er  findet  bald  auch  noch 
Gelegenheit,  einen  dritten  Deutsclien  durch  einen  Bajonettstoss  zu 
vernichten.  Die  Freischärler,  die  sich  zu  weit  vorgewagt,  werden 
indess  verfolgt ;  beimEückzug  streckt  der  Knabe  noch  einen  deutschen 
Feldwebel  durch  einen  Flintenschuss  nieder.  Den  gefangenen  Preussen 
vor  sich  hertreibend,  setzt  er  mit  seinem  Genossen  den  Rückzug 
weiter  fort.  Ein  ungeschickter  Mobilgardist  aber,  die  deutsche 
Uniform  erkennend,  schiesst  nach  dem  Gefangenen  und  trifft  dabei 
den  Knaben.  Jakob  stirbt  und  hat  nur  noch  Zeit,  seinen  Preussen 
aufzufordern,  er  möge  seinen  Kameraden  erzählen,  wie  er,  Jakob 
Keller,  tür  seinen  getöteten  Bruder  die  geplante  Eache  genommen 
habe. 

Die  Erzählung  zeigt  überraschende  Aehnlichkeit  mit  der 
eines  begabteren  Scluiftstellers ,  mit  Richepin's  Cliassepot  des 
Christkindes})  Statt  der  Sylvestergeschichte  haben  wir  hier  eine 
Weihnachtserzählung.  Französische  Freischärler  finden  im  besten 
Pachthofe  eines  verlassenen  Dorfes,  worin  die  Preussen  in  sclu-eck- 
licher  Weise  gehaust  haben,  einen  dreizehnjälirigen  Knaben  vor. 
Sein  Vater  hatte  einen  deutschen  Offizier  beschimpft  und  ihn,  als 
er  von  ihm  dafür  geohrfeigt  w^orden,  zu  erwürgen  versucht.  Zur 
Strafe  sind  Vater  und  Mutter  erschossen  worden.  Der  muthige 
Kleine  will  Rache  nehmen  und  bittet  innig,  in  die  Freischar  auf- 
genommen zu  werden.  Die  Franzosen  nehmen  den  Verlassenen  mit. 
Seinen  Schmerz  vergessend,  legt  der  Knabe  nach  französischem 
Weihnachtsbrauch  am  heiligen  Abende  seinen  Schuh  in  den  Kamin, 
damit  das  Christkind  ein  Geschenk  hineinlege.  Ein  Freischärler 
bescheert  ihm  an  Stelle  des  Christkindes  ein  Kepi,  eine  Patronen- 
tasche und  ein  kleines  Kavalleriechassepot.  Einige  Tage  darauf 
stösst  die  Truppe,  noch  immer  von  dem  Knaben  begleitet,  auf  eine 
preussische  Abtheilung.  Plötzlich  ruft  dieser:  „Da  ist  er,  da  ist  er, 
hinter  der  grossen  Eiche".  Er  hat  den  Ulaneuofiizier  erkannt,  der 
seine  Eltern  töten  liess.     Hastig  springt  er  auf  ihn  zu,  bricht  aber 


')  Le  chassepot  du  petit  Jesus  in  les  Morts  bizarres.    Paris.    S.  197  ff. 


78  E.  Koschioitz, 

von  einer  Revolverkugel  des  Offiziers  getroffen  zusammen.  Der  Ulan 
stürzt  bald  darauf  unter  sein  von  einem  Freischärler  verwundetes 
Pferd,  wird  gefangen  genommen,  vor  den  sterbenden  Knaben  ge- 
schleppt, und  dieser  findet  noch  soviel  Kraft,  um  den  Verhassteu 
niederzuschi essen.  „Der  Offizier  hatte  den  Kopf  zerschmettert,  und 
das  Kind  Avar  tot." 

Einen  noch  jüngeren  Heldenknaben  treffen  wir  an  in  dem  nur 
elfjährigen  Kleinen  Franz  Lacertie's*),  lem  einzigen  Sohne  eines 
Schmiedes  in  Niederbach  bei  Bitsch.  Der  blonde  Krauskopf,  ein 
frühzeitiger  Verehrer  der  neunjährigen  Etiennette,  spielte  gern  mit 
ihr  in  dem  benachbarten  prächtigen  Walde,  durcli  den  die  Heer- 
strasse nach  Deutschland  geht.  Ein  Seitenweg  führt  von  da  nach 
dem  Teufelsloch,  einer  Art  mit  Wasser  angefülltem  Abgrund,  dem 
Schrecken  der  Kinder  Niederbachs.  Die  Idylle  der  kindlichen  Freund- 
schaft und  des  Zusammenspielens  wird  durch  den  lierein gebrochenen 
Krieg  gestört.  Der  Vater  unsres  Franz  hat  zur  Flinte  greifen 
müssen;  er  fällt  auf  dem  Felde  der  Ehre.  Der  Schlag  war  für  die 
Mutter  so  schrecklich,  dass  sie,  ohnehin  von  schwächlicher  Gesundheit, 
nach  einigen  Tagen  Krankheit  ebenfalls  verschied.  Franz  hört  am 
Grabe  der  Mutter  die  patriotische  Leichenrede,  die  in  dem  Rufe: 
„Tod  dem  Feinde"  gipfelt.  Dieser  Ruf  findet  in  seinem  jungen  Herzen 
einen  lebhaften  Widerhall:  Rachepläne  keimen  in  seinem  Haupte. 
Eines  Tages  begegnet  er  im  Walde  zwei  kräftigen  preussischen  Land- 
wehrmännern, mit  dichtem  Schnurrbart,  rother  Nase,  kleinen  Augen, 
die  spielend  ihr  schweres  Gepäck  tragen.  Sie  fordern  den  Kleinen 
auf,  ihnen  den  Weg  nach  Niederbach  zu  zeigen.  Er  weigert  sich 
dessen;  sie  ziehen  infolge  dessen  den  Ladestock  aus  ihren  Flinten 
und  drohen  ihn  damit  zu  züchtigen.  Da  erhellt  plötzlich  ein  Frenden- 
strahl  sein  Gesicht;  er  verspricht  ihnen  alle  Wege  zu  zeigen,  die 
sie  wissen  wollen,  wird  liebenswürdig  und  heiter,  während  in  seinem 
Herzen  die  am  Grabe  der  Mutter  gesprochenen  Worte  „Tod  dem 
Feinde"  widertönen.  Die  beiden  grossen  Preussen  sind  von  dem 
unterhaltenden  kleinen  Führer  entzückt;  gutmüthiger  Natur  lachen 
sie  und  scherzen  sie  mit  ihm,  sie  nehmen  ihn  sogar  abwecliselnd  auf 
ihren  Rücken.  In  die  Nähe  des  Teufelsloches  angekommen,  fordert 
Franz  sie  zu  einem  Wettrennen  auf:  lachend  stürmen  sie  mit  ihm 
auf  dem  abschüssigen  Pfade  hinab,  nur  von  Etiennette,  die  iliren 
Spielgefälu'ten  sucht,  gesehen.  Sie  hörte  den  unheimlichen  Krach 
des  dünnen  Eises,  womit  das  Teufelsloch  bedeckt  ist,  zwei  dumpfe 
Flüche  und  das  Geräusch  mehrerer  scliwerer  Körper,  die  in  das 
schwarze  Wasser  sanken,    „Alle  drei  sind  verschlungen.    Das  Wasser 


*)  Le  petit   Franz  in   des   Verfassers   Nos  patriotes.     Paris  1886. 
S.  163  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Eomanlitteratur.    I.  79 

wird  wieder  ruhig  und  klar,  nur  der  Bruch  des  Eises  bildet  einen 
breiten  dunkeln  Fleck,   ein  schwarzes   im  Schnee  klaffendes  Loch." 

Die  bisher  vorgeführten  heroischen  Knaben  verdanken  ihre 
litterarische  Behandlung  ihrem  thätigen  Eingreifen  in  die  Schrecken 
des  Krieges.  Einen  mehr  leidenden  Heroismus  finden  wir  bei  dem 
fünfzehnjährigen  Knaben,  der  in  J.  Monte fs  Stummem^)  verherrlicht 
wird.  Sein  älterer  Bruder  ist  in  eine  Freischar  eingetreten  und  hat 
-das  gefährliche  Amt  übernommen,  Depeschen  durch  die  deutschen 
Linien  nach  Metz  und  zurück  zu  tragen.  Drei  Mal  hat  er  seinen 
Auftrag  glücklich  ausgeführt;  sein  alter  Vater  hat  es  aber  nicht 
unterlassen  können,  im  Kreise  seiner  Bekannten  die  Thaten  des 
Sohnes  zu  feiern.  So  haben  denn  auch  die  Preussen  davon  Wind 
bekom-men  und  überwachen  nun  aufmerksam  die  Hütte  des  Alten. 
Richtig  überraschen  sie  auch  den  Sohn,  wie  er  beim  Vater  auf 
Besuch  ist;  es  ist  ihm  unmöglich,  aus  dem  umstellten  Hause  zu  ent- 
rinnen. Da  fordert  er  seinen  jüngeren  Bruder,  Jean,  auf,  ein  ihm  über- 
gebenes  Packet  Papiere,  das  er  an  das  Hemd  angenäht  hatte,  zu  retten, 
indem  er  durch  die  Stalllucke  hinauskriecht  und  es  im  Felde  ver- 
gräbt. Dies  gelingt.  Der  Vater  und  der  ältere  Sohn,  den  die  zer- 
rissene Stelle  an  seinem  Hemde  verräth,  werden  als  Spion  und  Hehler 
gefangen  genommen;  auch  Jean  fällt  in  die  Hände  der  Deutschen, 
und  es  entgeht  ihnen  nicht,  dass  er  die  Papiere  verborgen.  Der 
deutsche  Ofüzier  fordert  den  Knaben  auf,  anzugeben,  wohin  er  sie 
gebracht;  wolle  er  nicht  sprechen,  so  werden  Vater  und  Bruder 
erschossen  werden.  Der  Alte  legt  dem  Knaben  aber  ans  Herz,  auch 
dann  nicht  zu  sprechen,  wenn  diese  Drohung  wirklich  ausgeführt 
würde.  Ehe  es  zur  Erschiessung  kommt,  lässt  der  Offizier  Jean 
noch  eine  halbe  Stunde  bei  den  seinen;  ohne  Erfolg.  Der  Knabe 
muss  zuschauen,  wie  Vater  und  Bruder  an  eine  Mauer  gestellt 
werden,  und  wie  man  auf  sie  anlegt.  Noch  einmal  fordert  ihn  der 
Offizier  auf,  zu  sprechen;  da  speit  ihm  der  Knabe  seine  Zunge,  die 
er  mit  seinen  Wolfszähnen  abgebissen,  an  die  Brust.  Vater  und 
Bruder  wei'den  nun  erschossen.  Den  Knaben  lindet  man  zu  Beginn 
der  Erzählung  als  stummen  Briefträger  wieder. 

Den  fünf  Heldenknaben  unsrer  Litteraturgattung  stehen  zwei 
Heldenmädchen  zur  Seite,  die  indess,  ihrem  Geschlechte  entsprechend, 
nicht  eigenhändig  an  der  Vertilgung  der  deutschen  Eindringlinge 
mitwirken. 

Das  eine  linden  wir  in  dem  Wcihnachtsahoid  des  Volks- 
schullehrers Arnaud^).     Ein  Grossvater  und  seine  Enkelin  Eugenie 


^)  Le  Muet  in  des  Verfassers  Contes  patrioiiques.    2e  ed.  Paris  1885, 
S.  27 ff. 

2)   JJne  ccilUe  de  Nocl,  Paris,  o.  J. 


80  E.  Koschwüz, 

erwarten  mit  ihrem  Knechte  den  älteren  Bruder  des  Mädchens,  einen 
Soldaten,  der  trotz  des  Kriegszustandes  einen  Weihnachtsurlaub  er- 
halten und  seinen  Besuch  zum  heiligen  Abend  angekündigt  hat. 
Da  er  nicht  kommt,  wird  ohne  ihn  nach  südfranzösischer  Sitte  das 
grosse  Weihnachtscheit  in  das  Kaminfeuer  geworfen,  und  der  Ahne 
ist  eben  im  Begriff,  den  Weihnachtstrunk,  ein  Glas  seines  besten 
Weines,  zum  Munde  zu  führen,  als  er  ein  heftiges  Geräusch  ver- 
nimmt. Fünf  preussische  Soldaten  dringen  in  das  Zimmer;  ihr 
Führer  entreisst  dem  Greise  das  Glas  und  will  es  austrinken,  aber 
ein  heftiger  Schlag  ins  Gesicht  hindert  ihn  daran.  Das  Glas  entfällt 
ihm,  sein  Antlitz  blutet:  die  kleine  Eugenie  hat  den  wuchtigen 
Hieb  geführt.  Der  Offizier,  von  seinem  ersten  Schreck  erholt,  be- 
gnügt sich  zur  Strafe  zu  fordern,  dass  ihm  und  seinen  Leuten  von 
Eugenie  in  eigner  Person  ein  reichliches  Mahl  aufgetragen  werde. 
Der  alte  Bauer  ist  über  dieses  Verlangen  tief  entrüstet,  erhebt  aber 
keinen  Widerspruch,  und  das  Mädchen  gehorcht.  Der  Knecht  schaut 
grimmig  zu,  wie  den  Sauerkrautvertilgern^)  ein  leckeres  Abendessen 
vorgesetzt  wird.  Die  ermüdeten  Preussen  machen  sich  mit  Heisshunger 
über  die  Speisen  her;  mit  Faustschlägen  auf  den  Tisch  verlangen  sie 
nach  Getränk.  Dem  herbeigebrachten  Weine  sprechen  sie  tüchtig  zu ; 
der  Offizier  trinkt,  seinem  Grade  entsprechend,  mehr  als  die  andern. 
Aber,  als  er  eben  mit  einem  Riesenmesser  in  den  Braten  einhaut,  ertönt 
ein  französisches  Hornsignal.  Die  Preussen  verstummen,  er])leichen, 
halten  sich  für  verloren.  Das  Mädchen  erbietet  sich,  „die  Mörder 
der  französischen  Soldaten"  zu  verbergen,  und  schliesst  sie  in  einen 
festen  Keller  ein.  Die  Preussen  vergessen  in  ihrer  Herzensangst, 
Waffen  und  Gepäck  mit  zu  nehmen.  Die  Franzosen  kommen  an: 
es  sind  ihrer  nur  zwei,  der  erwartete  Bruder  Georg  und  ein  von 
ihm  eingeladener  Freund,  ein  Hornist,  der  zufällig  auf  den  Gedanken 
kam,  ihre  Ankunft  durch  ein  Signal  anzumelden.  Die  Eingetrofienen 
setzen  vergnügt  das  Mahl  der  Deutschen  fort.  Tags  darauf  nehmen 
sie  die  fünf  Preussen  gefangen,  indem  sie  sie  einzeln  aus  dem  Keller 
herauslassen,  binden  und  knebeln.  An  Stelle  des  Mädchens  erhält 
der  Bruder   zur   Belohnung   für  den   Fang   ein   Kriegsehrenzeichen. 

Den  Charakter  einer  Jugendgescliichte  trägt,  wie  die  eben 
geschilderte,  so  auch  eine  zweite  Erzählung  desselben  Verfassers,  in 
der  ein  zwiHfjä liriges  Mädchen,  die  kleine  Johanna^),  die  Hauptrolle 
spielt.  Mit  ihrem  jüngeren  Brüderchen  kehrt  sie  von  der  Schule 
heim  nach  der  im  Walde  einsam  liegenden  Hütte  ihrer  Eltern,  eines 


*)  Mangeurs  de  chomroiitc  ist  in  unsror  Litteratur  eine  Liebling?- 
bc/eichnung  tlir  Deutsche.  Es  scliliesst  das  nicht  aus.  dass  in  Frankreich 
mindestens  ebenso  viel  Sauerkraut  verzehrt  wird,  wie  in  Deutschland. 

'-)  La  petite  Jeanne,  a.  a.  0.  S.  1  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.  81 

in  dürfti§:en  Verhältnissen  lebenden  Köhlerpuares.  Unterwegs  hören 
sie  einige  Schüsse.  Preussische  Soldaten  haben  ihren  Vater  ge- 
tötet, der  einen  der  ihren  mit  seiner  alten  Steinflinte  erschossen 
hatte;  die  Mutter  hat  sich  zwischen  die  Kugeln  und  ihren  Gatten 
geworfen  und  so  ebenfalls  das  Leben  eingebüsst.  Die  Kinder,  denen 
der  Offizier  dies  aus  Mitleid  anfangs  verheimlicht,  erfahren  von  ihm 
erst  am  folgenden  Tage,  was  geschehen.  Das  Mädchen  stellt  sich 
leicht  getröstet,  sinnt  aber  im  Herzen  auf  Rache.  Ihr  gleichmüthiges 
Aussehn,  das  sich  der  Preusse  als  eine  Folge  des  leichtsinnigen 
französichen  Charakters  auslegt ,  veranlasst  ihn ,  der  Kleinen 
20  Franken  zu  übergeben,  mit  dem  Auftrage,  Speisevorräthe  in  der 
benachbarten  Ortschaft  für  ihn  und  seine  sechs  Mann  einzukaufen. 
Spät  am  Nachmittage  kehrt  Johanna  mit  ihren  Einkäufen  zurück, 
von  denen  besonders  ein  fettes  Ivaninchen^)  und  vier  Flaschen 
Branntwein  das  Entzücken  des  Offiziers  erwecken.  Das  Mädchen 
bereitet  die  Speisen;  der  Kaninchenbraten  und  der  Schnaps  werden 
mit  Hurrah  entgegengenommen.  Ein  dicker  Baier,  von  dem  man 
nicht  erfährt,  wie  er  unter  die  Preussen  gerathen,  macht  den 
Mundschenk.  Den  Gläsern  wird  eifrig  zugesprochen.  Um  mit  dem 
Brüderchen  eut^vischen  zu  können,  trägt  Johanna  auch  dem  auf 
Wache  stehenden  Posten  eine  reichliche  Portion  Essen,  Apfelwein 
und  Branntwein  zu.  Die  Nacht  bricht  herein.  Johanna  hat,  während 
sie  zwecks  ilu'er  Einkäufe  in  dem  benachbarten  Dorfe  war,  dort  den 
Schulzen  für  ihren  Gedanken  gewonnen,  die  Preussen  mit  zwanzig 
entschlossenen  Männern  zu  überrumpeln  und  gefangen  zu  nehmen. 
Um  dies  zu  erleichtern,  war  sie  so  reichlich  mit  dem  geistigen  Ge- 
tränke versehen  worden,  das  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  die 
meiste  Anziehungskraft  selbst  auf  deutsche  Oftiziere  ausübt.  Die 
bewaffneten  Dörfler  schleichen  sich  im  Dunkel  der  Nacht  an  die 
„Räuberhöhle"  heran;  der  wackere  Schulze  erdolcht  eigenhändig  den 
schlaf  befangenen  Posten  und  dringt  mit  seinen  Leuten  in  das  Zinmier, 
wo  die  Preussen  „in  dem  schweren  und  bestialischen  Schlafe"  der 
Trunkenbolde  liegen.  Die  Waffen  werden  ihnen  weggenommen,  ehe 
sie  es  gewahren,  die  Unbewaffneten  nach  unbedeutendem  Wider- 
stände gefangen  fortgeführt.  Die  Köhlerkinder  marscliieren  voraus; 
den  bösen  Blicken  der  Preussen  antworten  sie  mit  einem  ki'äftigen: 
„Es  lebe  Frankreich". 

Die  arme  Johanna  wird  später  die  Gattin  des  Schulzensohnes, 
eines  der  reichsten  Gutsbesitzer  aus  der  ganzen  Gegend. 

Nicht  alle  Kinder,  denen  wir  in  unsern  Erzählungen  begegnen, 
sind  indess  so  gut  gerathen,  wie  die  bisher  vorgeführten.    So  finden 


')  Eine  französische  Lieblingsspeise,  deren  Beliebtlieit  hier  wie  öfters 
irrthümlich  auch  für  Deutschland  angenommen  wird. 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV.  6 


82  E.  Koschuyiiz, 

sich  zwei  missrathene,  verrätherische  Knaben  in  der  A.  Daudet  "sehen 
Erzählung:  Das  spionierende  Kind'^).  Ein  pariser  Knabe,  Sohn  eines 
Promenadenwärters,  lässt  sicli  durcli  einen  älteren  Gassenbuben  ver- 
führen, mit  ihm  Zeitungen  durch  die  franziisischen  Vorposten  hin- 
dnrclizuschmuggeln  und  an  deutsche  Oftiziere  zu  verkaufen.  Der 
ältere  Knabe  verräth  dabei  auch  den  unterwegs  gehörten  Plan  der 
französischen  Truppen,  einen  Angrift'  gegen  Le  Bourget  vorzunehmen. 
Durch  den  Verratli  wird  der  Anschlag  der  Franzosen  vereitelt,  sie 
selbst  gerathen  in  einen  Hinterlialt.  Dem  jüngeren  Knaben  hat 
unter  dem  vorwurfsvollen  Blicke  eines  deutschen  Offiziers  das  Ge- 
wissen zu  brennen  begonnen;  er  gestellt  sei)iem  Vater  seine  schwere 
Schuld.  Verzweifelt  über  die  Tliat  des  missrathenen  Sprösslings, 
greift  dieser  zur  Flinte  und  schliesst  sich  eben  ausziehenden  Mobil- 
gardisten an,  um  dm'ch  Theilnahme  an  den  Kämpfen  vor  Paris  das 
Vergehen  des  Sohnes  zu  sühnen.  Man  hat  ihn  seitdem  nicht  wieder 
gesehen. 

Wir  stossen  hier  auf  einen  heroischen  Vater,  den  das  Gefühl 
der  Scham  über  sein  Kind  in  den  Tod  trieb.  Gesuchte  Kache  für 
den  Verlust  des  ehrenvoll  im  Felde  gefallenen  Sohnes  ruft  einen 
sechzigjährigen  Helden  und  Greis  zu  den  Fahnen  in  De  Launay's 
Erzählung:  Ber  Premsenhelm'^).  Auf  seine  Veranlassung  hat  sein 
Sohn,  ein  siebzehnjähriger  Jüngling,  sich  in  das  Heer  einreihen 
lassen;  die  erste  Kugel  bei  Forbach  war  für  ihn.  Die  Mutter  macht 
dem  Alten  bittere  Vorwürfe;  er  kann  es  unter  dem  doppelten  Drucke 
zu  Hause  nicht  mehr  aushalten,  und,  ein  alter  Keitersmann,  sucht 
und  findet  er  Aufnahme  in  einem  tranzösischen  Kürassierregiment. 
Unermüdlich  nimmt  er  an  allen  Strapazen  tlieil.  Unter  dem  Vor- 
wande,  auf  die  Kaninchenjagd  zu  gehen,  zieht  er  auf  die  Mensclien- 
jagd  aus;  es  gelingt  ihm,  an  einen  preussisclien  Posten  heran- 
zusclüeichen,  ihn  zu  erdolchen  und  seinen  Helm  als  Trophäe  zurück- 
zubringen. Er  übergiebt  das  Siegeszeichen  seinem  Offizier  mit  der  Bitte, 
es  seiner  Alten  zu  senden.  Einige  Stunden  s])äter  kommt  es  zu  einem 
Ausfallgefeclit  vor  Paris,  das  den  gewölmlichen  unglücklichen  Verlauf 
nimmt.  Eine  Kugel  trifft  den  Greis;  er  stirbt  zufrieden.  Seine 
Alte  wird  sich  nun  das  Brummen  abgewölinen,  und  er  kommt  eher 
als  sie  zu  seinem  Sohne. 

Einen  gleichgesinnten  Heldenvater  begegnet  man  auch  in 
A.  Daudet 's  Schlechtem  Znaven^).  Die  Handlung  spielt  liier 
allerdings  nach  dem  Kriege  und  gehört  der  Litteratur  an,  die 
sich  bemüht,  die  Wiedererweckung  des  Deutschtliums  im  Elsass  zu 


')  L'enfant  espion  in  Contes  du  luudi.  Nouv.  ed.  Par.  1873.  S.  27ft'. 
^)  Le  Casquc  du  J^ru^sien  in  Cidottes  rougcs.  Paris  1883.  S.  247  ff. 
')  Le  Matifiais  Zouace  in  Contes  du  lundi,  S.  57  ff. 


Bie  französische  Nooellistik  und  RoinanlUteratur.   I.  83 

bekämpfen.  Doch  gestattet  der  Inhalt,  der  eine  Wirkung-  des 
deutsch -französischen  Feldzuges  schildert,  die  Novelle  unseren  Bei- 
spielen heroischer  Erzählungen  einzureihen. 

Der  grosse  Sclunied  Lory  in  Markirch  ist  ungehalten,  weil 
er  fünf  bis  sechs  Elsasser  gesehen  hat,  die  in  französischer  Uniform 
mit  Baiern  Arm  in  Arm  einhergehen,  Sie  haben  die  französische 
Fremdenlegion  verlassen,  um  für  Deutschland  zu  optieren.  Seine 
Frau  nimmt  sie  in  Schutz :  Algier  ist  so  weit,  und  ihr  Heimweh  war 
zu  gross.  Sie  wird  aber  dafür  von  ihrem  Gatten  heftig  angefahren. 
Diese  Überläufer  sind  Lumpen,  Renegaten,  Feiglinge.  Wenn  sein  Sohn 
eine  gleiche  Ehrlosigkeit  beginge,  so  würde  er,  Lory,  der  sieben 
Jahre  bei  den  französischen  Jägern  gedient,  ihm  seinen  Säbel  durch 
den  Leib  rennen.  Der  Sohn  ist  aber  zurückgekehrt.  Er  tritt  in  das 
elterliche  Haus,  nachdem  der  Vater  es  verlassen.  Die  Mutter  möchte 
ihm  schmollen,  vermag  es  aber  nicht,  als  er  ihr  von  seiner  Sehn- 
sucht nach  Hause  spricht,  von  der  weiten  Entfernung,  der  strengen 
Mannszucht  im  französischen  Heere,  von  der  Verliöhnung,  die  ihm 
dort  als  Elsässer  wegen  seiner  Aussprache  des  Französischen  zu 
theil  ward.  Als  der  Vater  zurückkehrt,  verbirgt  sie  den  Sohn 
hinter  den  Ofen.  Aber  sein  Kepi  ist  auf  dem  Tische  liegen  geblieben. 
Der  Alte  begreift,  was  geschehen;  mit  schrecklicher  Miene  fasst  er 
nach  seinem  Säbel;  doch  die  Mutter  wirft  sich  zwischen  Vater  und 
Sohn  und  behauptet,  um  diesen  zu  retten,  sie  habe  ihn  zum  Kommen 
veranlasst.  Der  Alte  giebt  nach.  Er  geht  aber  nicht  zu  Bett; 
die  ganze  Nacht  hört  man  ihn  hin-  und  hergehen,  weinen  und 
seufzen,  Schränke  öffnen  und  schliessen.  Am  andern  Morgen  nimmt 
er  dem  St)lme  die  Uniform  ab,  die  er  sorgfältig  zusammenpackt,  führt 
ihn  nach  der  Schmiede,  dem  Garten  und  sagt  ihm,  alles  dieses  solle 
ihm  angehören,  da  er  diese  Dinge  seiner  Ehre  vorgezogen.  Er 
reise  ab  und  werde  an  seiner  Stelle  die  fünf  Jahre  abdienen,  die 
Frankreich  zu  fordern  habe.  Ohne  von  seiner  Frau  Abscliied  zu 
nehmen,  verlässt  er  die  Heimstätte.  ,,ln  Sidi  bei  Abbes  gab  es 
bald  darauf  einen  füntuudfünfzigjährigen  Freiwilligen." 

Ein  rührendes  Bild  von  einem  alten  Krieger  und  seiner  helden- 
raüthigen  Enkelin  entwirft  derselbe  Daudet  in  seiner  Montagserzählung: 
IHe  BeXagerimy  von  Berlin^).  Der  Oberst  Jouve,  ein  Kürassier  aus 
dem  ersten  Kaiserreiche ,  Vater  eines  Stabsoftiziers ,  ist  bei  der 
Nachricht  von  der  Niederlage  bei  Weissenburg  vom  Schlage  getroffen 
worden.  Seine  Enkelin  ist  darüber  in  Verzweiflung.  Drei  Tage 
lang  bleibt  der  Kranke  fast  unbeweglich.  Da  kommt  die  falsche 
Siegeskunde   von   der   Schlacht  bei  Keichshofen.    Als   er   sie   mehr 


')  Le  siege  de  Berlin  in  Contes  du  lundi.  S.  46  ff. 

6* 


84  E.  Kosclm-itz, 

fühlt  als  hört,  rindet  er  die  Kraft,  dem  Arzte  ein  „Sieg"  entgegen- 
zustammeln.  Arzt  und  Enkelin  heschliessen ,  den  Kranken  in  Un- 
kenntniss  von  den  traurigen  Schicksalen  Frankreichs  zu  belassen, 
um  ihn  zu  retten.  Die  Aufgabe  war  anfangs  leicht,  da  der  arme 
Greis  schwatdiköptig  geworden  war  und  sich  wie  ein  Kind  täuschen 
Hess.  Aber  mit  der  zunehmenden  Gesundheit  werden  seine  Gedanken 
wieder  klarer.  Man  musste  ihn  über  die  Bewegungen  der  Heere 
auf  dem  Laufenden  erhalten,  Kriegsberichte  für  ihn  aufsetzen.  So 
lag  denn  die  Enkelin  Tag  und  Nacht  über  ihrer  Karte  von  Deutsch- 
land, um  mit  Fähnchen  den  Vormarsch  der  Franzosen  anzumerken. 
Der  Arzt  musste  dabei  helfen;  am  meisten  half  aber  der  alte  Oberst 
selbst,  dessen  Voraussetzungen  immer  eintrafen.  Nur  ging  es  ihm 
mit  den  Erfolgen  der  französischen  Waffen  immer  noch  zu  langsam. 
Zur  Zeit,  wo  die  Preussen  Paris  nahten,  begann  für  ihn  die  Be- 
lagerung von  Berlin.  Auch  während  der  Belagerung  von  Paris 
gelingt  es,  ihn  weiter  zu  täuschen.  Den  Kanonendonner  der  Forts 
konnte  er  nicht  hören;  von  seinem  Bette  aus  sah  er  nur  ein  Stück 
des  Triumphbogens  de  l'Etoile,  in  dessen  Nähe  er  wohnte.  Berlin 
wird  langsam  genommen.  Die  arme  Enkelin,  die  den  Vater  kriegs- 
gefangen in  Deutschland  weiss,  muss,  um  den  Greis  zu  unterhalten, 
Feldzugsbriefe  von  ihm  erdichten.  Wurde  der  Alte  ungeduldig, 
schnell  kam  ein  Brief  aus  Deutschland  an.  Die  Pariser  Belagerung 
schreitet  voran;  mit  unglaublicher  Mühe  gelingt  es,  bis  zum  letzten 
Augenblicke  Weissbrot  und  frisches  Fleisch  für  den  Kranken  auf- 
zutreiben. Während  die  Enkelin,  für  die  es  nicht  langte,  vor  Ent- 
behrung blass  und  mager  wird,  trägt  sie  ihm  die  guten  Dinge  auf, 
die  ihr  versagt  sind.  Während  sie  selbst  längst  Pferderieisch  ver- 
zehrt, erzählt  ilir  der  Alte  aus  seinen  Feldzugserinnerungen,  dass 
er  in  Russland  einmal  sogar  Pferdefleisch  essen  musste.  Das  Gehör 
des  Obereten  bessert  sich;  man  muss  einen  neuen  Sieg  erfinden,  um 
ihm  einen  vernommenen  Kanonendonner  begreiflich  zu  machen.  Am 
Tage  vor  dem  Einzug  der  Deutschen  überrascht  er  in  der  Unter- 
haltung von  Arzt  und  Enkelin  das  Wort  Einzug.  Er  glaubt,  es 
handle  sich  um  den  Siegeseinzug  der  Franzosen  in  ihre  Hauptstadt, 
den  man  ihm  verheimlichen  wollte,  um  ihn  mit  der  Rückkehr  seines 
Sohnes  zu  überraschen.  Er  rindet  am  1.  März  1871  so  viel  Kraft,  um 
veretohlen  sich  in  seine  Kürassieruniform  zu  kleiden:  in  ihr  setzt 
er  sich  auf  den  Balkon,  um  die  heimkelu-enden  Truppen  zu  begrüssen. 
Anfangs  verwundert  ihn  die  Stille  der  Strassen.  Dann  sieht  er  die 
Reihen  der  Soldaten  heranmarschiren,  hört  er  sie  den  Schubert'schen 
Siegesmarsch  am  Triumphbogen  anstinnnen.  Plötzlich  erkennt  er, 
dass  es  Deutsche  sind,  und  mit  den  Rufen  „Zu  den  Waffen!'^,  „Die 
Preussen!"  bricht  er  tot  zusammen. 

Weniger  anmuthend  als  diese,   leider  sehr  unwahrscheinliche 


Die  französische  NoveUistik  und  RomanUtteratur.    I.  85 

Erzählung  Daudefs  ist  Siebecker's  Schwabe)ischeune^),  als  deren 
Held  ein  blinder  und  gelähmter  alter  Gutspächter  in  Lothringen 
erscheint.  Seine  Tochter,  die  schöne  Therese,  war  von  einem  seiner 
Knechte,  einem  „Rothseppel"  beigenannten  Rheinpreussen ,  verführt 
worden,  und  hatte  sich,  als  dieser  bei  Ausbruch  des  Krieges  das 
Grut  verliess,  um  sich  in  der  Heimath  zum  Kriegsdienst  zu  stellen, 
aus  Verzweiflung  über  ihr  Verlassensein  das  Leben  genommen.  Bei 
der  Leiche  fand  der  Vater  einen  Brief  des  Treulosen,  der  darin 
nicht  nur  anmeldet,  dass  er  seiner  Fahnenpflicht  folge,  sondern  auch, 
dass  er  nun  wohl  anderes  zu  thun  haben  werde ,  als  zu  heiraten. 
Er  empfiehlt  der  Verlassenen,  sich  mit  einem  Einheimischen  zu  ver- 
malen: die  Thoren,  die  Mädchen  mit  einem  fremden  Kinde  heirateten, 
seien  unter  ihnen  nicht  selten.  Wenige  Tage  darauf  trifft  die  Nachiicht 
ein,  dass  auch  der  ältere  Sohn  des  Grutspächters  bei  Reichshofen  den 
Tod  gefunden  hat.  An  einem  Septembertage  erreicht  ein  von  Rothseppel 
geführter  Ulanentrupp  das  Dorf  des  Alten.  Der  Deutsche  wird  von 
seinem  früheren  Herrn  freundlich  aufgenommen,  mit  seinen  vierzehn 
Genossen  in  einer  Scheune  einquartirt  und  dort  auf  das  reichlichste 
mit  Speise  und  Wein  bewirthet.  Der  Pächter  stösst  sogar  mit  ihnen 
an  und  singt  auf  ihren  Wunsch  mit  ihnen  die  W^acht  am  Rhein. 
Als  er  sie  aber  verlassen,  verschliesst  er  fest  die  Thüre  der  Scheune, 
bewaffnet  sich  mit  einem  Chassepot  und  steckt,  nachdem  die  Deutschen 
eingeschlafen,  das  sie  beherbergende  Gebäude  in  Brand:  „Wahn- 
sinniges Geheul  stieg  mit  den  Flammen  zum  Himmel".  Von  Zeit  zu 
Zeit  drang  ein  Unglücklicher  aus  dem  Feuerherde  heraus.  Aber 
hinter  dem  gegenüberliegenden  Hügel  stehend,  schoss  der  Alte,  von 
der  Helle  des  unheimlichen  Feuers  begünstigt,  nach  ihm,  und  der 
Flüclitling  rollte  auf  die  Erde  nieder.  Nach  einer  halben  Stunde  blieb 
nur  ein  Haufen  Asche  übrig.  Dann  zündete  der  Pächter  eine  Laterne 
an  und  zählte  die  Erschossenen.  Es  waren  ihrer  fünf,  darunter 
Rothseppel.  Er  nahm  den  Toten  auf  den  Rücken,  trug  ihn  nach 
dem  Kirchhof  und  warf  ihn  auf  den  Grabhügel  seiner  Tochter  .  .  . 
Dann  hob  er  die  Flinte  in  die  Höhe,  rief  mit  schrecklicher  Stimme: 
„Es  lebe  Frankreich"  und  begab  sich  mit  seinem  zweiten,  vierzehn- 
jährigen Sohne  auf  die  Flucht,  die  glücklich  gelang. 

Die  Siebecker'sche  Erzählung  erinnert  lebhaft  an  ein  ähn- 
liches Nachtstück  aus  der  Feder  Guy  de  Maupassanfs:  Die 
wilde  Mutter'^).  Eine  etwas  verwilderte  Alte,  deren  Mann,  ein  Wild- 
dieb, von  den  Gendarmen  getödtet  worden  ist,  und  dex-en  dem 
gleichen  Gewerbe  obliegender  Sohn  als  Kriegsfreiwilliger  ins  Heer 
getreten  war,   bewohnte  allein   ein  einsames,   behagliches  Häuschen 


*)  La  grange  aux  Schwobs  in  Recits  heroiques,  S.  59  ff. 
^)  La  merc  sauvage  in  La  Lecture,  1881,  S.  63  fl. 


86  E.  Koschwüz, 

am  Waldes.sauiue,  Der  Winter  war  bereits  hereingebroclien.  Um  der 
Wölfe  willen  mit  der  Flinte  ihres  Sohnes  bewaffnet,  kam  die  Frau 
wöchentlich  nur  einmal  nach  dem  ziemlich  fernen  Dorfe,  zu  dem  ihr 
Haus  gehörte,  um  Brot  und  etwas  Fleisch  einzukaufen.  Eines  Taj^es 
erscheinen  die  Preussen.  Vier  kräftige  blonde  Burschen  fallen  der 
Alten  als  Einquartierung;-  zu.  Sie  sind  i;ej>en  sie  sehr  zuvorkommend. 
Des  Morgens  sah  man  sie  alle  vier  ihre  Wäsche  am  Brunnen  vor- 
nehmen, ihr  weisses  und  rosiges  NordländerHeisch  reichlich  mit 
Wasser  beplätschernd,  während  die  Alte  die  Suppe  kochte.  Dann 
sah  man  sie  die  Küche  scheuern,  Holz  spalten,  Kartoffeln  schälen, 
Wäsche  waschen,  kurz  wie  gute  Söhne  bei  der  Mutter  alle  Haus- 
arbeit verrichten.  Sie  hatte  sie  darum  recht  gern,  um  so  mehr,  als 
Bauern  ein  patriotischer  Hass  unbekannt  zu  sein  ptiegt.  Nur 
musste  sie  immerfort  an  den  eigenen  Sohn  denken.  Da  erhält  sie 
eines  Tages  einen  Brief  mit  der  Nachricht,  dass  derselbe,  durch  eine 
Kugel  mitten  durch  getroffen,  im  Felde  gefallen  ist.  Ihr  Sclimerz 
ist  stumm  und  quälend.  Wenn  sie  wenigstens  seinen  Leichnam 
besessen  hätte!  Die  vier  Preussen  kommen  inzwischen  aus  dem 
Dorfe  zurück,  entzückt  über  ein  wahrscheinlich  gestohlenes  Kaninchen, 
das  ihnen  die  Alte  zubereiten  soll.  Sie  versteckt  den  Brief  und 
geht  in  die  Küche  an  die  Arbeit;  aber  der  Anblick  des  toten  und 
blutenden  Kaninchens  lässt  sie  am  ganzen  Körper  erbeben.  Es 
erinnert  sie  an  den  Sohn,  wie  er  gleichfalls  blutend  und  zitternd 
von  der  feindliclien  Kugel  zu  Boden  gestreckt  wurde.  Sie  kann 
nichts  essen ;  stumm  l)lickt  sie  den  Preussen  bei  ihrer  Älahlzeit 
zu.  Dann  lässt  sie  sich  von  ihnen  ihre  Namen  auf  einen  Zettel 
schreiben,  den  sie  zu  dem  Unglücksbrief  legt ;  trägt,  dabei  von  ihren 
Gästen  unterstützt,  Heubunde  nach  dem  Bodenraum,  der  ihnen  zum 
Nachtlager  dient ,  um  wie  sie  sagt,  damit  der  Kälte  zu  wehren : 
zieht,  nachdem  die  Deutschen  sich  zur  Kühe  begeben,  die  Leiter 
zurück,  die  zu  der  Fallthüre  des  Hausbodens  führt,  und  füllt  die 
darunter  befindliche  Küche  ebenfalls  mit  Heu-  und  Strohbündeln,  die 
sie  in  Brand  steckt.  In  einigen  Sekunden  ist  die  Hütte  ein  einziges 
Feuer.  Lautes  Geschrei,  herzzerreissende  Schreckensrufe  ertönen 
aus  ihrem  obern  Theile.  Die  Fallthür  stürzt  herab,  das  Feuer 
schlägt  zu  dem  bald  darnach  einstürzenden  Strohdache  heraus; 
binnen  Kurzem  hört  man  nichts  mehr  als  das  Knistern  des  Feuers 
und  das  Krachen  der  fallenden  Balken.  Die  Sturmglocke  läutet 
in  der  Ferne.  Bauern  und  Preussen  eilen  herbei.  Ein  des 
Französischen  vollkommen  mächtiger  Offizier  befragt  die  Alte,  die 
stumm  und  zufrieden  auf  einem  Baumstumpf  sitzt.  Sie  erkläit  ruhig, 
dass  sie  das  Feuer  angelegt,  und  beschreibt,  als  man  sie  für  in- 
sinnig  hält,  alle  Einzellieiten,  überreicht  auch  dem  Offizier  das 
Namensverzeichnis  der  Deutschen.   Er  solle  den  Müttern  der  Getöteten 


I 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.  87 

schreiben,  dass  sie,  die  „Wilde"  ilire  Söline  vernichtet  liat.  Sie 
wird  darauf  von  zwölf  Soldaten  erschossen.  Der  Erzähler  nimmt 
einen  vom  Feuer  geschwärzten  kleinen  Stein  zum  Andenken  an 
dieses  Begebnis  mit  sich. 

Besser  fort  kommt  der  rächende  Held  in  der  ähnlichen  Er- 
zählung J.  Monte t 's:  Der  gute  Wein.^)  Man  hat  es  darin  mit 
einem  alten  Junggesellen  zu  tliun,  der  es  den  Siegern  nicht 
verzeihen  kann,  dass  sie  sein  mit  gTösster  Zärtlichkeit  in  Stand  ge- 
haltenes Häuschen  mit  schmutzigen  Stiefeln  betreten  und  ihn  selbst 
wie  einen  Dienstboten  behandeln.  Die  Handlung  spielt  in  der  Nähe 
von  Tours.  Bei  dem  von  Haus  aus  sehr  zaghaften  und  ängstlichen 
Helden  ist  eine  „geputzte  Horde"  von  etwa  sechs  höheren  deutschen 
Ofüzieren  einquartiert,  die  sich  beklagen,  dass  der  ihnen  vorgesetzte 
Wein  in  letzter  Zeit  so  schlecht  geworden  sei,  und  deshalb  bessern 
verlangen.  Der  Quartiergeber  besorgt  sich  zwei  Fässchen  guten 
Weines,  zugleich  abei-  auch  ein  Weinfass  voll  Pulver.  Die  drei 
Fässer  werden  gleichzeitig  in  seinen  Keller  geschafft.  Während  die 
missliebigen  Gäste  sich  an  dem  guten  Weine  beim  Abendmahle 
gütlich  thun,  geht  der  Wirth  in  den  Keller,  verbindet  eine  Zünd- 
schnur mit  dem  Pulverfass  und  zündet  sie  au.  Darauf  macht  er 
sich  davon,  die  Hände  in  den  Hosentaschen,  ein  Jagdlied  trällernd. 
Eine  Viertelstunde  später  springt  sein  Haus  mit  seinen  Insassen  in 
die  Luft.  Unser  Junggeselle  tritt  dann  in  das  französische  Heer 
ein  und  bringt  es  darin  trotz  seiner  Jahre  und  seiner  gewöhnlichen 
Hasenfüssigkeit  zum  Unteroftizier. 

Häufiger  sind  Frauen  Trägerinnen  von  patriotischen  Kriegs- 
erzählungen. Doch  wie  die  Heldenmädchen  greifen  auch  sie  für 
gewöhnlich  nicht  eigenhändig  zur  kriegerischen  Waffe,  um  ein 
Rachewerk  zu  verüben.  Ihre  gewöhnlichen  Waffen  sind  Worte, 
mit  denen  rohe  Angreifer  gezüchtigt,  und  französische  Männer 
zu  kühnen  Thaten  angespornt  werden.  Oefter  bestehen  ihre  Hand- 
lungen auch  in  Werken  der  Barmherzigkeit,  der  Aufopferung  und 
Entsagung.  Die  Liebe  zum  Vaterlande  besiegt  bei  ihnen  selbst 
die  heisseste  ihrer  Herzensleidenschaften. 

Eine  Heldenjungfrau,  eine  neue  Judith,  wii'd  uns  vorge- 
führt in  der  patriotischen  Novelle  Edgar  La  Selve's:  Eine 
Lothringer in^).  Den  Hintergrund  der  Erzählung  bildet  die  Schild»'- 
rung  der  Belagerung  und  Beschiessung  von  Longwy.  Aus  ihm 
hebt  sich  eine  rüstige  Kellnerin  ab,  die  sich  am  Tage  der  Bekannt- 
machung der  bevorstehenden  Belagerung  mit  einem  Steuer-Unter- 
beamten vermählen  sollte.     Der  Bräutigam  ist  unglücklich,    weil  in 


^)  Le  hon  vin  in  des  Verfassers  Contes  patriotiques,  S.  71  ff. 
^)  TJne  Lorraine.     Nouv.    ed.    Paris  1880. 


88  E.  Koschwitz, 

Folge  dieses  Ereignisses  die  Amtssäle  geschlossen  sind,  und  die  Ver- 
ehelichung aufgeschoben  werden  niuss;  die  Braut  aber  findet,  dass  die 
Zeit  zum  Heiraten  nicht  geeignet  ist  und  verlangt  von  ihrem  Ver- 
ehrer, dass  er  sich  das  Kreuz  der  Ehrenlegion  verdiene.  Der  arme 
Teufel,  dessen  Kriegseifer  nur  ein  massiger  zu  sein  scheint,  lässt 
sich  unter  die  Vertheidiger  der  Stadt  einreihen  und  wird  bei  einem 
Ausfallgefecht  erschossen.  Sein  Leichnam  ist  in  den  Händen  der 
Preussen  geblieben.  Die  Braut  beschliesst  ihn  zu  erwerben  und 
zu  bestatten  und  macht  sich  zu  diesem  Zwecke  in  das  feindliche 
Lager  auf,  in  das  sie  auch  Zutritt  erhält.  Der  die  Feldwache 
befehligende  Hauptmann  liefert  ihr  den  Körper  aus  und  lässt  ihn  aut 
ihren  Wunsch  ausserhalb  der  Vorposten  an  eine  von  ihr  bezeichnete 
Stelle  tragen;  zum  Danke  aber  begehrt  er  ihre  Liebe.  Sie  geht 
auf  dieses  Ansinnen  ein,  aber  ermordet  den  Frechen  während  der 
Liebesnacht  und  entflieht;  darauf  bestattet  sie  den  Leichnam  des 
Bräutigams,  bekleidet  sich  mit  der  Unitorm  eines  unter  ihrer  Pflege 
verstorbenen  französischen  Kürassiers,  dessen  Signalement  auf  sie 
passt,  und  tritt  unerkannt  als  Artillerist  in  die  Besatzung  von 
Longwy  ein.  So  findet  sie  bei  der  Verteidigung  einen  rühmlichen  Tod 
und  wird  erst  nach  demselben  erkannt. 

Der  Verfasser  hat  freiwillig  und  unfreiwillig  dafür  gesorgt, 
dass  in  seinem  tragisch -heroischen  Stoffe  auch  der  Humor  nicht 
fehle.  Die  Träger  der  Komik  sind  natürlich  bei  den  preussischen 
Belagerern,  und  zwar  in  den  Personen  des  Feldwebels  Ochsenbein 
und  des  Unteroffiziers  Kuhschwanz  zu  rinden,  die  der,  offenbar  auf 
seine  Sprachkenntnisse  stolze  Verfasser  in  ihrer  Sprache,  d.  h.  in 
einem  recht  unwahrscheinlichen  Deutsch  sprechen  lässt.  Als  sich 
die  des  Deutschen  kundige  Heldin  dem  ausgestellten  Posten  der 
deutschen  Feldwache  nähert,   entspinnt  sich  folgende  Unterhaltung: 

Posten:  „Wer  da?" 

Mädchen:   „Eine  Frau  die  den  Offizier  zu  sehen  wünscht." 

Posten:   „Tritt  vorwärts!" 

Das  Mädchen  naht,  von  Kopf  bis  zu  den  Füssen  bebend. 

Posten:   „Bist  Du  auch  ein  Weib?" 

Gleichzeitig  kost  er  mit  der  Bewegung  eines  Bären  die  Brust 
der  Kellnerin  und  ruft  aus: 

„Der  Teufel!  mau  hiesse  das  die  Spitzen  des  Erz -Gebirges 
meiner  heimatlichen  Berge." 

Der  Verfasser  gibt  dazu  die  Erklärung,  dass  der  deutsche 
„Barbar"  aus  Sachsen  stammt,  der  germanischen  Schweiz,  „einer 
ebenso,  wenn  nidit  mehr  gebirgigen  Gegend  als  der  Schwarzwald." 

Als  der  Hauptmann  abends  mit  dem  Mädchen  allein  geblieben 
ist,  fühi'en  Oohsciibein  und  Kuhschwauz  folgende  Unterhaltung: 

Ochsenbein  (leise  ins  Ohr  von  Kuhschwanz):   „Ich  glaube  der 


I>ie  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.  89 

Hauptmann  macht  sich  bereit  eine  gute  Nacht  zu  haben  .  .  .  Sie 
wird  ihm  nicht  theur  zu  stehen  kommen.  Ein  alter  Welscher  halb 
verfault,  den  ich,  Feldweibel  Ochsenbein,  lür  eine  Talgkerze  gegeben 
hatte,  aus  der  ich  mir  drei  gutte  yGagarismen"  machen  würde." 

Kuhschwanz  (vom  Vertrauen  seines  Vorgesetzten  hoch  geehrt): 
„Ihr  Schumpfen  ist  sehr  stark,  Sie  haben  Recht.  Wollen  Sie  die 
wollenen  Strümpfe,  die  ich  im  Hause  gefunden,  ich  trage  sie  erst 
seit  zwei  Monaten." 

Ochsenbein  (nimmt  das  brüderliche  Anerbieten  herablassend 
an  und  antwortet):  „Ich  muss  mich  schonen  für  das  blonde  Lischen, 
deren  Haare  weisser  sind  als  Flachs.  Wenn  sie  hier  wäre,  das 
zarte  Madchen,  so  würde  sie  sicher  für  ihren  grossen  Hans  ein 
„lait  de  poule"  (in  heissem  Wasser  mit  Zucker  geschlagenes  Eigelb) 
machen.  Ich  werde  ihr  eine  Uhr  bringen,  ich  habe  sie  ihr  in 
meinem  letzten  Briefe  versprochen." 

Kuhschwanz  (wie  der  Gendarm  im  Liede  immer  zustimmend): 
„Ohne  Zweifel,  Feldweibel." 

Damit  schliesst  die  interessante  Unterhaltung,  die  der  Ver- 
fasser in  deutscher  Sprache  zu  geben  versucht  hat,  offenbar  um 
ihre  Glaubwürdigkeit  über  jeden  Zweifel  zu  erheben. 

Sein  Werk  ist  von  der  Dichterakademie  Frankreichs  mit  einem 
Preise  gekrönt  worden.  Es  ist  identisch  mit  desselben  Verfassers: 
Der  Artillerist  von  Longwi/^),  worin  nur  einige  leichtere  Aenderungen 
vorgenommen  worden  sind. 

Von  La  Selve  wird  eine  zweite  Heldin  gefeiert  in  seiner  Er- 
zählung: La  Laüvetto  (die  Lerche)^),  die  wenn  möglich  noch  breit- 
spuriger angelegt  ist,  als  die  eben  geschilderte.  Der  Leser  muss 
hier  wie  oft  in  den  einschlägigen  für  die  Jugend  bestimmten  Er- 
zählungen geschichtliche  und  geographische  Erörterungen  mit  in 
Kaut  nehmen,  die  nichts  Neues  oder  Fesselndes  an  sich  haben  und 
auch  für  Franzosen  nur  mit  der  patriotischen  Absicht  des  Ver- 
fassers zu  entschuldigen  sind,  unter  seinen  Landsleuten  nützliche 
Landeskenntniss  zu  verbreiten.  Auch  drängt  sich  liier  die  Persön- 
lichkeit des  Verfassers  und  die  von  ihm  beabsichtigte  Verherrlichung 
seiner  engeren  Heimath  im  Perigordischen  mehr  als  gebührend  her- 
vor. Unter  der  Fülle  nebensächlicher  Dinge  wird  die  Haupterzählung 
fast  erdrückt.  Die  Lauvetto  ist  ein  Findling,  der  von  einem 
Müller  aufgenommen  und  mit  seinen  etwas  älterem  Sohne  auf- 
gezogen worden  ist.  Als  der  Krieg  beginnt,  und  der  Sohn  Jean 
eingezogen  wird,  kommt  es  bei  ihm  und  Lauvetto  zur  Erkenntniss 
und  zum  Geständniss  ihrer  gegenseitigen  Liebe.    Lauvetto  beschliesst, 


*)  L'artüleur  de  Longwy.     Paris.    1883. 
2)  Paris.    1882. 


90  E.  Koschwüz, 

als  Marketenderin  seines  Bataillons  mit  in's  Feld  zu  ziehen.  In 
der  That  i^elingt  es  ihr,  mit  Hülfe  Jeans  und  des  Majors,  der  für 
Lauvetto,  die  ihn  an  sein  eignes  verlorenes  Kind  erinnert,  eine 
innige  Sympathie  empfindet,  zunächst  in  einer  Soldatenwirthschaft 
beschäftigt  zu  werden  und  diese  dann  selbst  zu  übernehmen.  Sie 
zieht  mit  dem  fünfzigsten  Linienregiment,  dem  Jean  angehört,  in 
den  Kampf. 

Hierauf  lässt  der  Verfasser  eine  Schilderung  der  ersten  Feind- 
seligkeiten folgen.  Während  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  August 
stiegen  fünf  Ulanen  waghalsig  in  einer  Wirthschaft  am  Sierck  bei 
Diedenweiler  ab,  vertilgten  dort  eine  stattliche  Menge  von  Maassen 
und  ritten  dann  zum  Schrecken  des  Gastwirths  davon,  ohne  ihre 
Zeche  zu  bezahlen.  Am  24.  desselben  Monats  wagte  sich  eine 
Schwadron  Ulanen  in  die  Gegend  von  Schröckling,  auf  dem  Wege 
von  Diedenweiler  nach  Saarlouis,  wo  sich  eine  Steuerwache  befand. 
Der  befehligende  deutsche  Offizier  und  ein  Steuerbeamter  schiessen 
auf  einander;  der  Offizier  wird  verwundet.  Die  Dorfbewohner  eilen 
darauf  mit  Heugabeln  und  Sensen  bewaffnet  herbei  und  verjagen  die 
Ulanen.  Aber  gegen  Ende  der  folgenden  Nacht  kehren  die  Deutschen 
zurück.  Der  eine  Zollwächter  wird  mitten  durchs  Herz  geschossen; 
ein  Ulan  zerschmettert  ihm  ausserdem  mit  dem  Kolben  seiner  Muskete 
den  Kopf.  Ein  zweiter  Zollwächter  wird  zweimal  in  die  Brust  ge- 
stochen, erhält  eine  Kugel  in  den  rechten  Arm,  eine  zweite  in  die  linke 
Hand,  zwei  Säbelhiebe  auf  die  Beine,  bleibt  aber  trotzdem  am  Leben, 
und  stellt  sich  nur  tot,  um  die  Gegner  zu  täuschen.  Die  Ulanen 
stecken  darauf  das  Zollhaus  in  Brand.  Von  neu  hinzugekommenen 
Zollwächtern  werden  ihnen  zwei  Mann  und  zwei  Pferde  verwundet, 
aber  diese  Helfer  ergreifen  dann  die  Flucht  und  werden  vergebens 
verfolgt.  Es  wird  nun  ein  Wagen  requiriert.  Sein  Besitzer  muss  aus 
dem  Bett  heraus,  anschirren  und  die  ^'erwundeten  nach  Deutschland 
fahren.  Dort  wird  er  als  Gefangener  zurückuehalten.  Erst  nachdem 
man  nach  Berlin  um  Weisungen  telegraphiert,  wird  er  wieder  ent- 
lassen; sein  Wagen  aber  bleibt  zurück. 

Der  Verfasser  schliesst  daran  eine  Beschreibung  der  Schlacht 
bei  Weissenburg,  die  den  Vorzug  vor  allen  übrigen  habe,  genau 
die  Wahrheit  zu  berichten.  Danach  beabsichtigte  Douay  mit  seiner 
Division  die  Deutschen  zu  dem  Glauben  zu  bringen,  sie  haben  es 
mit  einer  grösseren  Heeresmacht  zu  thun;  er  wollte  dann  staffel- 
weise zurückgehen  und  den  Feind  zwischen  die  Truppen  des  ersten, 
von  Mac  Mahon  befehligten,  und  des  fünften,  von  Failly  ge- 
führten französischen  Corps  bringen,  zwischen  denen  die  Deutschen 
zermalmt  worden  wären.  Diese  Absicht  Douay's  wurde  aber  durch 
das  allzu  ungestüme  Vordringen  seiner  Soldaten  vereitelt.  Die  zu 
grosse  Tapferkeit   derselben   hatte   zur  Folge,    dass   ihm   nicht   ein 


J 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.  91 

Bataillon,  nicht  eine  Kompagnie  übrig  blieb.  Als  er  dies  sah,  ertheilte 
er  seinen  Adjutanten  Befehle,  die  sie  nach  allen  Richtungen  hin  zer- 
streuten. Allein  geblieben,  steigt  er  vom  Hügel  herab,  dem  Feind 
entgegen;  in  der  Schlucht  angekommen,  erschiesst  er  sein  Pferd, 
und  mit  dem  blossen  Degen  in  der  Faust,  klimmt  er  den  entgegen- 
gesetzten Berg  hinan.  Seine  Soldaten  wollen  ihn  von  dem  Wagnis 
abhalten;  vergebens,  unaufhaltsam  schreitet  er,  von  einigen  Getreuen 
gefolgt,  voran.  Plötzlich  aber  bleibt  er  stehen  und  schwankt.  Eine 
Marketenderin  eilt  auf  ihn  zu,  um  ihn  zu  stützen,  fällt  aber  selbst, 
durch  ein  Kugel  in  die  Brust  getroffen.  Es  ist  Lauvetto,  die  schwer 
verwundet  in  ein  Lazareth  gebracht  wird.     Douay  ist  tot. 

Der  Bräutigam  Lauvettos  wird  in  derselben  Schlacht  gefangen 
genommen  und  nach  Magdeburg  gebracht,  wo  einer  seiner  Kameraden 
die  Geliebte  in  einem  mitgetheilten  Gedichte  besingt.  Heimgekehrt 
kann  Jean  die  frühere  heitere  Stimmung  nicht  mehr  wieder  finden; 
es  drückt  ihn,  ohne  Nachrichten  von  Lauvetto  zu  sein,  von  der  er 
nur  gehört,  dass  sie  verwundet  war.  Da  ersclieint  unerwartet  eines 
Tages  sein  früherer  Major,  erzählt  ihm,  wie  er  Lauvetto  im  Lazareth 
angetroffen,  und  wie  sie  in  seinen  Armen  gestorben  sei;  er  hat  im 
letzten  Augenblicke  an  einem  Medaillon  in  ihr  seine  Tochter  erkannt, 
die  als  Kind  von  einer  gewissenlosen  Pflegerin  ausgesetzt  worden  war. 
Der  Major  bleibt  bei  der  Mülierfamilie,  mit  der  ihn  der  Schmerz  um 
dieselbe  Person  verbindet,  und  alle  weilen  nun  auf  dem  Grundstücke 
La  Selve's,  des  Verfassers,  der  nicht  umhin  konnte,  diese  ebenso 
rührende  wie  einfältige  und  natürlich  unwahre  Geschichte  seiner 
Schwester  zu  erzählen  und  auch  weiteren  Kreisen  bekannt  zu  geben. 

Ohne  Blutvergiessen  geht  es  ab  in  einer  weiteren  hierher 
gehörigen  Erzählung,  worin  eine  unternehmende  Grafentochter 
die  Hauptrolle  spielt:  in  Siebecker's  Bepeschenträger^).  Die 
Heldin ,  die  Tochter  eines  Voltairianers  und  einer  überfrommen 
Mutter,  hat  unter  der  Einwirkung  einer  bigotten  Erzieherin  be- 
schlossen in  ein  Kloster  zu  treten,  verpflichtet  sich  aber  ilirem 
Vater,  der  dies  für  eine  vorübergehende  Laune  ansieht,  damit  bis 
zum  Eintritt  in  ilire  Majorennität  zu  warten.  Um  sie  auf  andere 
Gedanken  zu  bringen,  hat  der  Graf  einen  in  das  Mädchen  bis  über 
die  Ohren  verliebten  Neffen  eingeladen;  allein  der  schüchterne  und 
gelehrte  Jüngling,  der  wie  ein  Schneider  zu  Pferde  sass  und  auf 
der  Jagd  die  Hunde  statt  des  Wildes  erschoss,  hat  nicht  vermocht, 
die  Umworbene  auf  andere  Gedanken  zu  bringen.  Der  Krieg  bricht 
aus.  Eine  Ulanenschwadron  besetzt  die  Ortschaft,  und  der  Major 
und  fünf  Offiziere  quartieren  sich  im  Erdgeschosse  des  gräflichen 
Schlosses  ein,   während  der  Besitzer  sich  mit  seiner  Tochter  in  die 


')  Le  porteur  de  depeches,  a.  a.  0.    S.  93  ft. 


92  E.  Koschmtz, 

oberen  Stockwerke  zurückzieht.  Die  Offiziere  haben  eben  ihr  Mittag- 
mahl eingenommen  nnd  sich  mit  Kaffee,  Likör  und  Cigarren  an 
einem  Tische  vor  der  Veranda  niedergelassen,  als  ihnen  ein  als  Bauer 
gekleideter,  militärisch  aussehender  Bursche  mit  gebundenen  Händen 
zugefülu't  wird.  Er  behauptet  von  den  Deutschen  zu  einer  Ochsen- 
lieferung requirirt  worden  zu  sein ;  den  Requisitionsschein  liabe  er 
weggeworfen ,  um  nicht  von  den  französischen  Freischärlern  als 
Spion  erschossen  zu  werden.  In  Wirklichkeit  ist  er  Unteroffizier 
bei  den  französischen  berittenen  Jägern  und  mit  einer  wichtigen 
Depesche  unterwegs,  die  er  auswendig  gelernt  und  verschluckt  hat. 
Als  Verdächtiger  wird  er  in  einen  Schlossthurm  gesperrt.  Die  Grafen- 
tochter befreit  ihn  aber  ohne  Vorwissen  ihres  Vaters,  indem  sie 
durch  eine  von  den  Deutschen  unbeachtete  Fallthür  von  oben  zu  ihm 
dringt  und  den  als  Pfarrer  Verkleideten  auf  ihrem  Ponywagen  aus 
dem  Bereiche  des  deutschen  Heeres  führt.  Als  sie  zurückkehrt,  sind 
infolge  in  der  Nähe  gehörten  Kanonendonners  auch  die  Deutschen  auf- 
gebrochen, ohne  weiter  an  ihren  Gefangenen  zu  denken.  Die  Rettung 
hat  dem  muthigen  Mädchen  den  von  ihr  befreiten,  wohl  erzogenen 
und  wohlhabenden  Jüngling  näher  geführt  als  das  Kloster,  und  so 
kann  denn  später  der  Graf  drei  niedliche  Enkel  auf  ihren  Ponys 
herumgaloppieren  sehen.  Der  zum  Hauptmann  beförderte  Schwieger- 
sohn hat  der  Kirche  ihre  Beute  glücklich  entrissen. 

Zwei  heroische  Frauen,  eine  Deutsche  und  eine  Französin, 
treten  neben  einander  auf  in  der  phantastisch  überspannten  Erzählung 
Richepin's:  Die  Ulanin,  in  der  dem  gläubigen  Sinn  selbst  der 
französischen  Leser  eine  recht  starke  Zumuthung  gestellt  wird^). 
Von  einer  Freischar  von  1200  Mann,  die  sich  dem  Bourbaki'schen 
Heere  angesclilossen  hatte,  sind  nur  22  Unglückliche  übrig  geblieben, 
die  sonnverbrannt,  abgemagert  und  zerlumpt  sich  nach  der  Schweiz 
flüchten  müssen.  Der  Hauptmann  der  gesprengten  Schar,  ein  ehe- 
maliger Zuavenunteroffizier ,  kann  es  dort  nicht  aushalten.  Der 
Gedanke,  dass  jenseits  der  Grenze  der  Kampf  weiter  wüthe,  lässt 
ihm  keine  Ruhe,  bis  er  vier  seiner  Getreuesten  bestimmt,  mit  ihm 
nach  Frankreich  zurück  zu  entweichen.  Es  gelingt  ihm,  nach 
BesauQon  und  dort  in  Besitz  von  sechs  Chassepotgewehren  zu  ge- 
langen. Seine  Frau,  die  schon  vorher  an  dem  Parteigängerkriege 
Theil  genommen,  gesellt  sich  zu  ihm  und  seinen  Genossen,  und  der 
Kleinkampt  kann  nun  von  neuem  beginnen.   Der  Hauptmann  überrascht 


^)  La  Uhlane,  in  Morts  bizarres,  S.  10  ff.  Als  Grundlage  scheint  dem 
Verfasser  das  Kriegsmärclien  vorgeschwebt  zu  haben,  wonach  Preussen 
einen  französischen  Offizier  in  Schloss  Pouilly  mit  Petroleum  Übergossen 
tmd  von  unten  herauf  lebendig  verbrannt  hätten.  Ueber  diese  Fabel  nnd 
den  richtigen  Thatbestand  vgl.  Hirth,  Tagebuch  des  deutsch-französischen 
Krieges,  Berhn  1871,  III,  5üü3£f. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.  93 

in  einem  verlassenen  Dorfe  eine  ülanenschildwache ,  die  er  nieder- 
macht; auf  dem  Pferde  des  Getöteten  entgeht  er  der  Verfolgung. 
Dafür  ergreifen  die  verstärkt  anrückenden  Ulanen  einen  ausgestellten 
Einzelposten  der  Freischärler.  Sie  misshandeln  und  knebeln  den 
bereits  Verwundeten;  schliesslich  sperren  sie  ihn  in  ein  Haus,  das 
sie  anstecken,  um  ihn  lebendig  darin  zu  verbrennen.  Der  Vorschlag 
dazu  ging  von  der  als  Ulan  gekleideten  Frau  des  vom  Hauptmann 
Erschossenen  aus,  die  den  verlorenen  Gatten  rächen  will.  Der  Frei- 
schärler, noch  im  letzten  Augenblick  von  seinen  Freunden  den  Flammen 
entrissen,  erliegt  seinen  zahlreichen  Wunden;  seine  Genossen,  besonders 
die  Hauptmannsfrau,  schwören  den  Deutschen,  vor  Allem  der  Ulanin, 
furchtbare  Rache.  Wirklich  gelingt  es  ihnen  bald  darauf,  fünf 
Ulanen,  darunter  die  Ulanin,  gefangen  zu  nehmen.  Die  Männer 
werden  erschossen,  die  Ulanin  wird  gefangen  gehalten.  „Sie  war 
finster  und  sagte  nichts  oder  sprach  von  ihrem  Manne,  den  der 
Hauptmann  getötet  hatte.  Sie  sah  diesen  fortwährend  mit  wilden 
Augen  an,  und  wir  fühlten,  dass  sie  ein  grausames  Rachebedüifniss 
quälte.  Dies  schien  uns  die  beste  Strafe  für  die  schreckliche  Qual, 
die  sie  unsern  Gefährten  hatte  erleiden  lassen".  Aber  eines  Nachts 
findet  sie  Gelegenheit,  den  sie  bewachenden  Hauptmann  zu  überfallen 
und  mit  seinem  eigenen  Bajonettsäbel  zu  erstechen.  Er  stirbt  in  den 
Armen  seiner  Frau,  und  diese  übernimmt  es  nun,  allein  an  der  ge- 
fesselten Feindin  Rache  zu  nehmen.  Sie  schickt  sich  an,  dieselbe 
lebend  zu  verbrennen.  Aber  der  Racheakt  kommt  nicht  zur  Aus- 
führung. Sie  erfährt  von  der  muthvoll  dem  Tode  entgegengehenden 
Ulanin,  dass  sie  Mutter  zweier  Kinder  ist;  sie  nimmt  ihr  ihre  Brief- 
tasche ab  und  findet  darin  die  Photographie  eines  Knaben  und 
eines  Mädchens  mit  den  guten  und  sanften  Gesichtern  der  deutschen 
Babys,  zwei  blonde  Haarlocken  und  einen  Kinderbrief  mit  der  Auf- 
schrift „Mütterchen".  Rührung  und  Mitleid  ergreifen  die  Französin; 
sie  befreit  die  verhasste  Feindin,  die  ihr  in  die  Arme  fällt,  und  tötet 
sich  schliesslich  selbst  an  der  Leiche  ihres  Mannes. 

Weniger  mildherzig  als  die  Französin  dieser  Erzählung  ist  die 
Heldin  der  Feval' sehen  Spionennovelle:  Frau  Joyeux^).  Die  leb- 
haft geschriebene,  aber  nichts  weniger  als  glaubhafte  Erzählung 
beginnt  mit  der  charakteristischen  Anrede :  „Lothringer,  Lump,  Ver- 
räther an  Gott  und  dem  Nächsten,  Schuft,  Taugenichts,  Schurke 
schlimmer  als  ein  Hund  .  .  .  aber  kein  Preusse;  Bürger,  kauft  mir 
meine  Wurst  ab,  ihr  werdet  sehen,  sie  ist  geschenkt"-),  mit  der  ein 


^)  Madame  Joyeux  in  L' Offrande.     Paris,  1873,  S.  31flf. 
^)  Französisch  mit  besserem  Klange :  Lorrain,  vilain,  traitre  ä  Dieu, 
ä  son  prochain ,  gredin ,  vaurien ,  coquin ,  pire  qu'un  chien  .  .  .  Mais  pas 
Prussien,  citoyens,  achetez  mon  boudin,  vous  verrez  bien,  (fest  pour  rienf 


94  E.  KoschuMz, 

Lothringer  Wurstmacher  auf  dem  Schinkenmarkte  von  Moulin  seine 
Kunden  begrüsst.  Veranlassung  gibt  ihm  dazu  das  tragische  Geschick 
seiner  Frau.  Eine  rosige  Bauerntochter  war  sie  die  Gattin  eines  der 
vielen  deutschen  Meyer  geworden,  die  vor  dem  Feldzuge  das  reiche 
Land  Lothringen  überschwemmten.  Der  Krieg  bricht  aus;  der  Gatte 
ihrer  älteren  Schwester  schliesst  sich  einer  Freischar  an;  ihr  eigener 
Gemahl,  ein  Spion,  tritt  wie  die  übrigen  Meyer  derselben  Ortschaft 
ohne  ihr  Wissen  ins  deutsche  Heer  ein.  Li  der  Schlacht  bei  Gravelotte 
ist  ihre  Schwester  durch  eine  feindliche  Kugel  getötet  worden.  Nach 
dem  Kampftage  erscheint  ihr  Gemahl  in  der  Uniform  eines  deutschen 
Kürassieroftiziers,  und  fast  gleichzeitig  ihr  Schwager  Franz,  schwer- 
verwundet den  alten  gleichfalls  verwundeten  Vater  auf  den  Schultern 
heimschleppend,  dem  aus  oifner  Schläfe  das  Blut  entströmt.  Fi-anz 
berichtet,  ohne  den  Erstgekommenen  zu  bemerken,  dass  ihr  Untergang 
durch  einen  mit  der  Gegend  wohl  bekannten  Kürassieroflizier  ver- 
anlasst worden  ist.  Er  erkennt  dann  den  Mann  seiner  Schwägerin  als 
den  Verräther;  bei  dem  Anblick  lässt  er  seine  Bürde  fallen  und  stürzt 
nieder  auf  den  Greis,  der  nicht  mehr  atlmiet.  Die  junge  Frau  er- 
schiesst  ihren  Mann  mit  seiner  eignen  Pistole:  er  fällt  zu  Boden 
mit  den  Worten:  „Ich  habe  recht  gethan;  Du  auch;  das  ist  der 
Krieg;  ich  liebe  Dich".  Die  nun  alleinstehende  Frau  ist  von  ihrem 
Unglück  so  tief  getrotten,  dass  sie  ihre  Angehörigen  schwerlich  lange 
überleben  wird;  der  patriotische  Wurstmacher  hat  ilir  seine  Hand 
gegeben,  um  später  die  Fürsorge  für  ihren  kleinen  Sohn  zu  über- 
nehmen. 

Noch  heldenhalter  erscheint  die  Trägerin  der  Erzählung  der 
Frau  M.  L.  Gagneur:  FAne  grosse  Patriotin^).  Eine  elsasser  Guts- 
besitzerswittwe  hat  zwanzig  Jahre  lang  ihr  Landgut  selbständig 
mit  gutem  Erfolge  bewirthschaftet  und  ihre  vier  unmündigen 
Kinder  auf  das  Beste  herangezogen.  Die  beiden  älteren  Sölme 
sind  Offiziere;  der  jüngere,  ein  Landwirth,  soll  die  Wirthschaft 
übernelimen;  ihre  Tochter  ist  mit  einem  jungen  würtembergischen 
Kaufiriann  verlobt.  Da  bricht  der  Krieg  aus.  Der  deutsche 
Bräutigam  nimmt  Abschied.  Gleich  in  den  ei-sten  Schlachten  fallen 
die  beiden  älteren  Wittwensöhne.  Dem  jüngsten,  Franz  (diesen 
Namen  scheinen  alle  elsasser  Patrioten-Knaben  und  -Jünglinge  führen 
zu  müssen),  der  schon  früher  ebenfalls  zur  Flinte  greifen  wollte,  und 
dem  sie  dies  vorher  verweigert,  gestattet  sie  zur  selben  Stunde,  wo 
sie  die  Trauerbotschaft  vernommen,  seinen  Willen  auszuführen.  Er 
tritt  in  eine  Freischar  ein.  Die  Wittwe  bleibt  allein  mit  ihrer 
Tochter  zurück.  Ein  „Bataillon"  schwarzer  Dragoner  (die  es  nicht 
giebt,  und)  die,  wie  es  scheint,   von  einem  Ulanenoffizier  befehligt 


1 


*)   Une  grande  patriote  in  L' Offrande,  S.  198 ff. 


Die  französische  Novellistih  und  Romanlitteratur.    I.  95 

werden,  wollen  in  ihrem  Hause  rasten.  Sie  werden  aber  von  der  Frei- 
schar  des  Sohnes  angegriffen  und  dadurch  von  dem  Hause  abgezogen. 
Während  der  folgenden  Nacht  zieht  Franz  mit  vierzig  Gefährten 
in  das  Gut  ein,  das  in  Vertheidigungszustand  versetzt  wird.  Die 
Dragoner  kehren  zurück  und  bestürmen  dasselbe.  Die  Belagerten 
können  sich  nicht  halten,  und  die  Wittwe  ermöglicht  ihnen  ein  Ent- 
kommen nur  dadurch,  dass  sie  mit  eigner  Hand  ihr  so  lange  gehegtes 
Landhaus  in  Brand  steckt.  Auch  dieses  Opfer  bleibt  nutzlos.  Die 
Freiscliärler  werden  ergriffen;  die  Wittwe  und  ihre  Tochter  linden 
sie  wieder ,  an  der  Landstrasse  in  Reihen  aufgehangen ,  mit  ab- 
geschnittenen Nasen  und  Oliren.  Eine  Anmerkung  behauptet  dazu, 
dass  diese  noch  an  den  Lebenden  vorgenommene  Verstümmlung  that- 
sächlich  im  Elsass  verübt  worden  sei.^)  Der  letzte  der  Gehangenen 
ist  Franz,  der  jüngste  Sohn  der  schwer  geprüften  Wittwe. 

Zwei  Jahre  sind  vergangen,  der  Elsass  ist  wieder  eine  deutsche 
Provinz  geworden.  ,Der  hassenswerthe  Eroberer  hat  den  Missbrauch 
der  Gewalt  auf  die  höchste  Spitze  getrieben,  indem  er  seine  neuen 
TJnterthanen  zwang,  sich  für  eine  der  beiden  Nationalitäten  zu  ent^ 
scheiden."  Die  Wittwe  ist  zwar  der  Meinung,  „es  müssen  Franzosen 
im  Elsass  bleiben,  damit  das  Land  wie  ein  Krebsgeschwür  an  der 
Seite  Preussens  liafte,  damit  am  Tage  der  Widervergeltung  alle 
Elsasser  sich  in  Waffen  gegen  den  Unterdrücker  erheben",  zieht 
aber  doch  für  ihre  Person  vor,  die  Heimat  zu  verlassen,  da  sie  ihren 
Hass  nicht  verbergen  könne.  Sie  ist  mit  den  Vorbereitungen  zur 
Abreise  beschäftigt,  als  der  deutsche  Bräutigam  ihrer  Tochter  sich 
bei  ihr  einstellt.  Er  fragt  nach  der  Geliebten,  der  er  die  Treue 
gewahrt.  Die  ihn  kalt  empfangende  Mutter  führt  ihn  in  eine  dunkle 
Zelle,  wo  er  drei  Metallsärge  erblickt.  Der  eine  umschliesst  die 
Braut,  die  an  der  Liebe  zu  dem  ihr  versagten  Landesfeiude  zu 
Grunde  gegangen  ist.  Die  Wittwe  versichert  dem  Betrübten,  dass 
sie  diesen  Ausgang  der  Vermählung  ihrer  Tochter  mit  einem  Deutsclien 
vorziehe;  nicht  einmal  die  Reste  der  ihrigen  sollen  im  Lande  zurück- 
bleiben. Der  Würtemberger,  durch  diesen  unversöhnlichen  Hass  tief 
betroffen,  versichert  ihr.  Preussen  gleich  ihr  zu  verabscheuen.  „Ich 
hasse",  sagt  er,  „Preussens  Erpressungen,  Eroberungen  und  Ver- 
brechen. Sind  wir  Würtemberger  nicht  auch  ein  geopfertes  Volk? 
Nicht  alle  Deutschen  sind  Preussen.  Es  gibt  in  Deutschland  eine 
zahlreiche  Partei,  bereit  das  verhasste  Joch  Preussens  abzuschütteln. 
Und  wenn  der  Tag  der  Gerechtigkeit  kommt,  der  schreckliche  Tag, 
wo  der  Elsass  sich  erhebt,  so  werde  ich  unter  den  Rächern  zu  finden 


-)  Das  amtliche  Rundschreiben  Bismarcks  vom  9.  Januar  1871  be- 
legt umgekehrt,  dass  derartige  Verstümmlungen  an  deutschen  Verwundeten 
von  Franzosen  vorgenommen  wurden.  S.  Hirtli,  III,  4579.  Vgl.  auch  ebd. 
m,  5024  ff. 


96  E.  Koschwitz, 

sein.  Ich  schwöre  es  bei  der  Asche  der  Geliebten."  Bei  diesen 
Worten  des  deutschen  Jünglings  fühlt  die  Wittwe  einen  Augenblick 
ihren  Hass  erweichen,  die  ersten  Thränen  seit  dem  eignen  Unglück, 
seit  dem  Unglück  Frankreichs  entbrechen  ihren  Augen.  Aber  dennoch 
mag  sie  in  die  entgegengestreckte  Hand  des  Preussen  hassenden 
Würtembergers  nicht  einschlagen.  Erst  an  dem  Tage  kann  sie  ihm 
die  Hand  wieder  reichen,  wo  der  Elsass  Frankreich  zurückgegeben 
sein  wird.  So  blieb  dem  Jüngling,  der  sein  Vaterland  verleugnet, 
selbst  dieser  kleine  Lohn  für  seine  verrätherische  Gesinnung  vei-sagt. 

Weiblicher  gedacht  und  dargestellt  sind  die  patriotischen 
Frauen  in  den  beiden  inhaltlich  einander  nahe  verwandten  Er- 
zählungen: Eine  Bache  von  Legouve  und  Die  Wittive  von  Lacertie. 
In  Legouve's  jRac/ie^)  haben  sich  zwei  preussische  Offiziere  bei  ihrer 
Strassburger  Wirthin  beklagt,  von  ihr  nicht  zu  ihren  Freundinnen- 
abenden eingeladen  zu  werden.  Am  folgenden  Tage  erhalten  sie  die 
vermisste  Einladung.  „Sie  kommen  um  acht  Uhr  an;  das  Gesellschafts- 
zimmer ist  ziemlich  dunkel,  und  bei  dem  Lichte  der  einzigen  es  er- 
hellenden Lampe  finden  sie  sechs  schwarz  gekleidete,  im  Hintergrunde 
sitzende  Frauen  vor.  Die  Herrin  des  Hauses  empfängt  sie ,  führt 
sie  zu  der  ersten  Dame  und  stellt  diese  mit  den  Worten  vor:  „Meine 
Tochter,  deren  Mann  während  der  Belagerung  getötet  wurde".  Die 
beiden  Preussen  erbleichen.  Sie  fülirt  sie  zu  der  zweiten  Dame: 
„Meine  Schwester,  die  ihren  Sohn  bei  Frosch weiler  verloren  hat". 
Die  beiden  Preussen  sind  bestürzt.  Sie  führt  sie  zu  der  dritten: 
„Frau  Spindler,  deren  Bruder  als  Freischärler  erschossen  wurde". 
Die  beiden  Preussen  zittern.  Sie  führt  sie  zu  der  vierten:  „Frau 
Brown,  deren  alte  Mutter  von  den  Ulanen  ermordet  wurde".  Die 
Preussen  weichen  zurück.  Sie  führt  sie  zu  der  fünften:  „Frau  Kuhl- 
mann, die  .  ."  Aber  die  beiden  Preussen  haben  nicht  die  Kraft, 
sie  enden  zu  lassen;  stotternd  und  verwirrt  ziehen  sie  sich  schleunigst 
zurück,  als  ob  sie  all  den  Trauerflor  auf  ihr  Haupt  fallen  fühlten. 
Sie  glichen  Nathan,  dem  Fluche  Joads  entweichend." 

Etwas  abgeschwächter  und  mit  störendem  theatralischen  Auf- 
putz erscheint  derselbe  Stoff  in  Lacertie's  Wittu-c'^).  Hier  ist  ein 
wohlgestalteter  und  wohlerzogener  Uhmenoftizier  bei  einer  jungen 
Wittwe  einquartiert ,  deren  Mann  bei  Chanipigny  gefallen  ist ,  und 
die  nun  mit  ihrer  Mutter  in  einem  Landhause  bei  Neuilly  den  Tod 
des  Geliebten  beklagt.  Der  deutsche  Offizier  verhält  sich  ruhig  und 
zuvorkommend,  bis  eines  Abends  ihn  fünf  Kameraden  besuchen  und 
mit  lautem  Lachen  und  geräusclivoUen  Unterhaltungen  bis  spät  in 
die   Nacht   hinein    die    Ruhe    der    Quartiergeberinnen    stören.      Am 


')  TJne  vengeance  in  L'Offrande,  S.  293. 
'')  La  Veuve  in  Nos  patriotes,  S.  183. 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteratur .    I.  97 

folgenden  Morgen  erklärt  die  Wittwe  ihrem  ungeladenen  Graste,  sie 
würde,  wenn  diese  Vorgänge  sich  wiederholen,  gezwungen  sein,  ihr 
eignes  Heim  zu  fliehen.  Der  Ulan  erwidert  mit  der  Bitte,  ihn  zu 
den  Abendunterhaltungen  des  häuslichen  Herdes  zuzulassen,  er  werde 
dann  gern  auf  die  störende  Unterhaltung  seiner  Kameraden  verzichten. 
Einige  Tage  später  erhält  er  die  begelirte  Einladung:  im  Salon  findet  er 
einen  Katafalk  und  dahinter  ein  Gemälde  des  Gefallenen  mit  Schleifen 
in  den  französischen  Farben  geziert  und  mit  der  Unterschrift:  „Ge- 
tötet durch  die  Preussen".  Dem  Ulanenofflzier  wird  erklärt,  man 
werde  gern  seine  Theilnahme  am  Gebet  für  die  Seele  des  Dahin- 
geschiedenen zulassen.  Er  zieht  aber  vor,  die  traurige  Umgebung 
und  selbst  das  Haus  der  Wittwe  vollständig  zu  verlassen.  Die  beiden 
Frauen  haben  ihn  niemals  wiedergesehen. 

Für  ilu-  hartes  Urtheil  über  eine  klagende  Soldatenmutter  findet 
grausame  Strafe  die  patriotische  Marketenderin  eines  Dragonerregiments 
in  De  Launay's  Erzählung  Niohe^).  Ein  fiebernder  Dragoner  hat 
ihr  sein  Leid  geklagt  und  ihr  den  Brief  seiner  Mutter  vorgelesen, 
worin  dieselbe  fragt,  ob  es  wahr  sei,  dass  es  abermals  Krieg  geben, 
dass  abermals  die  Männer  und  Kinder  zur  Schlächterei  geschickt 
werden  sollen.  Sie  habe  bereits  einen  Sohn  im  italienischen  Feldzug 
verloren,  solle  sie  nun  auch  noch  ihren  jüngsten  und  letzten  hin- 
geben? Der  Vater  sei  krank,  und  Besserung  nicht  zu  erwarten. 
Die  Schwestern  sind  noch  Kinder.  Was  solle  aus  ihr  werden?  Der 
Schulmeister,  der  Verwandte  jenseits  des  Eheines  besitze,  habe  ge- 
sagt, die  Deutschen,  die  den  Krieg  schon  seit  mehr  als  sechzig  Jahren 
vorbereitet  hätten,  behaupteten,  sie  würden  in  Frankreich  wie  in 
Butter  einziehen,  das  Land  verheeren,  und  es  werde  gar  kein  Frank- 
reich mehr  geben.  Dieser  Brief  empört  die  Marketenderin;  die  Mutter 
des  Dragoners  hätte  nach  ihr  besser  gethan,  ihr  Papier  und  die 
Briefmarke  zu  sparen.  Auch  sie  habe  einen  geliebten  Sohn;  wenn 
der  sich  zaghaft  erwiese,  dann  werde  sie  an  seiner  Seite  marschieren, 
um  ihm  seine  Pflicht  zu  lehren.  Bald  darauf  erscheint  dann  dieser 
Sohn,  freudig  darüber  erregt,  dass  der  Krieg  nun  endlich  erklärt  ist, 
und  glühend  vor  Vaterlandsliebe  stimmt  die  Marketenderin  mit  ihm 
den  Ruf  an:  „es  lebe  Frankreich",  in  den  eine  Menge  Dragoner  mit 
unsagbarer  Begeisterung  einstimmen. 

Die  menschenmordende  Schlacht  bei  Gravelotte  ist  geschlagen 
worden.  Das  Regiment  der  Marketenderin  hat  an  dem  Kavallerie- 
angriff gegen  die  Bredow"schen  Kürassiere  theilgenommen.  Des  Abends 
eilt  die  Marketenderin  im  Biwak  umher,  überall  ihren  Sohn  Franz, 
den  Trompeter,  suchend.    Niemand  weiss,  wo  er  geblieben.    Sie  trifi"t 


^)  Niohe  in  Culottes  rouges,  S.  197. 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV. 


98  E.  Koschwitz, 

den  Dragoner,  dessen  Mutter  sie  so  hart  verurtheilt;  mitleidig  will 
er  sie  trösten.  Er  begleitet  sie  in  der  düstern  Nacht  nach  der  Stelle 
des  Schlachtfeldes,  wo  der  Zusammenstoss  der  französischen  Dragoner 
und  der  deutsclien  Kürassiere  stattgefunden.  Verzweifelnd,  sinnlos, 
klagend  durcheilt  die  Marketenderin  das  Blutfeld,  mit  ihrer  Laterne 
die  vom  Tode  gebleichten  Gesichter  beleuchtend,  in  Blutlachen  tretend, 
um  neue  Gruppen  von  Leichnamen  zu  betrachten,  unempfindlich  für 
alles,  ohne  Herz  für  die  Klagen  der  Verwundeten.  Sie  kennt  nur 
ein  Ziel:  ihren  Sohn  wiederzufinden. 

Schon  schöpft  sie,  da  sie  ihn  nirgends  sieht,  wieder  einige 
Hoffnung,  und  gelobt  der  hl.  Jungfrau  eine  Stiftung,  wenn  der  Sohn 
noch  lebt.  Da  zieht  eine  Anhäufung  von  Stahl  und  Kupfer  in  einer 
Bodenfalte  ihre  Aufmerksamkeit  auf  sich;  zwei  Leichname  liegen 
dort  aufeinander;  der  Tod  hat  die  beiden  Streiter  mitten  im  Kampf 
zu  gleiclier  Zeit  erfasst;  ihre  Züge  tragen  noch  den  Ausdruck  der 
Wuth  und  des  Hasses.  „Der  oben  liegende  war  ein  (französischer) 
Dragoner.  Er  hatte  die  Finger  seiner  linken  Hand  tief  in  den  Hals 
seines  Gegners  gebohrt ;  seine  rechte  Hand,  von  der  eine  zerbrochene 
Säbelklinge  herabhing,  hielt  eine  biutbedeckte,  verbogene  Trompete. 
Der  unten  liegende  war  ein  deutscher  Kürassier;  seine  Beine  um- 
flochten die  des  Dragoners,  und  sein  linker  Arm  presste  ihn  auf  die 
Kante  seines  Panzers,  um  ihn  zu  zerbrechen  oder  zu  ersticken;  mit 
der  rechten  Hand  hatte  er  ihm  das  Auge  ausgerissen,  und  sein  Finger 
war  noch  in  der  Augenhöhle.  Seine  Schläfe  war  zerschmettert.  Der 
mit  ihm  ringende  Dragoner  hatte  ihm  mit  dem  Mundstück  seiner 
Trompete  das  Stirnbein  zerschlagen,  da  er  sich  seines  Säbels  nicht 
mehr  bedienen  konnte.  Der  Trompeter  war  von  einem  Säbelhiebe 
im  Rücken  durchhauen."  Mit  Mühe  zog  die  Marketenderin  das 
starre  Haupt  des  Dragoners  an  sich,  beleuchtete  es  mit  der  Laterne, 
und  stiess  einen  lauten  Schrei  aus.  Der  getötete  Trompeter  war 
ihr  Sohn.  Ihre  Verzweiflung  war  herzzerreissend,  unermesslich ;  ihr 
Wehklagen  erfüllte  das  weite  Schlachtfeld.  Sie  stürzte  sich  auf  den 
Körper  des  Sohnes,  zu  ihm  sprechend,  noch  bezweifelnd,  dass  er 
wirklich  tot  sei;  dann  schmähte  sie  Gott  und  die  Mensclien  und 
verwünschte  die  Fruchtbarkeit  ihres  Schoosses.  Und  inmitten  der 
Verwünschungen  ihres  tragischen  Schmerzes  ertönte  unter  Thränen 
die  weichere  Klage  der  jammernden  Mutter:  Mein  armes  Kind!  mein 
armes  Kind!  Nur  mit  grosser  Anstrengung  konnte  man  die  beiden 
Feinde,  die  tötlicher  Hass  so  eng  verbunden  hatte,  trennen.  Man  lud 
den  Trompeter  auf  einen  Karreu,  und  die  unglückliche  von  tausend 
Schmerzen  gefolterte  Frau  folgte  ihm.  mit  ihren  Wehklagen  das 
Schweigen  der  Nacht  zerreissend  und  ihre  Seufzer  zum  Himmel 
sendend. 

Eine    noch    mehr    geprüfte    Frau    führt    Siebecker    vor    in 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.  99 

seiner  flüchtig  ausgeführten  Mater  dolorosa'^).  Sie  ist  die  Gattin 
eines  wohlhabenden  Dorfschulzen.  Ihr  ältester  Sohn,  ein  Kürassier- 
Hauptmann,  ist  in  der  Schlacht  bei  Wörth  gefallen,  eine  Wittwe 
und  zwei  Knaben  hinterlassend;  ihr  zweiter  Sohn,  fällt  als  Artillerie- 
Hauptmann  am  Spichernberge ;  seine  Gattin,  die  im  Begriff  stand, 
ihn  mit  einem  zweiten  Kinde  zu  beschenken,  kommt  infolge  der 
Todesbotschaft  zu  früh  nieder  und  stirbt  bei  der  Geburt.  Ihr  dintter 
Sohn  wird  als  Militärarzt  bei  Le  Maus  durch  einen  versprengten 
Granatensplitter  getötet.  Ihr  vierter  und  letzter  Sohn  hat  bei  Aus- 
bruch des  Krieges  seine  schweizer  landwirthschaftliche  Schule  ver- 
lassen, um  sich  einer  Freischar  anzuschliessen.  Er  wird  in  dem 
Gefeclite  bei  Nompatelize  verwundet  und  stirbt,  vom  Vater  heim- 
gebracht, in  den  Armen  der  Mutter,  die  nun  alle  ihre  Söhne  und 
eine  Schwiegertochter  verloren  hat.  Auch  die  andre  Schwieger- 
tochter welkt  hin  und  erlischt.  Die  schwer  geprüften  Eltern  bleiben 
im  deutsch  gewordenen  Elsass  zurück;  der  Vater  behält  auf  Bitten 
seiner  Landsleute  selbst  seine  Schulzenstelle  in  Frankenfeld.  Erst 
1880  legt  er  sie  nieder,  als  er  mit  4000  Mark  Busse  bestraft  wird, 
weil  er  seinen  ältesten  Enkel  dem  deutschen  Militärdienste  entzogen 
hatte.  Ein  Jahr  später  empfängt  er  die  Kunde,  dass  dieser  Enkel 
bei  einem  Gefechte  der  Fremdenlegion  gefallen  ist.  Entziehung, 
Strafe  und  Todesfall  wiederholen  sich  bei  dem  zweiten  Enkel,  der 
ebenfalls  in  die  Fremdenlegion  eintrat.  Auch  der  Schulze  stirbt, 
und  seine  nunmehr  achtzigjährige  Frau  bleibt  allein  zurück.  Sie 
lässt  trotz  allem,  was  geschehen,  auch  ihren  letzten  Enkel  in  die 
französische  Fremdenlegion  eintreten.  —  Der  Verfasser  dieser  über- 
traurigen Erzählung  verzichtet  auf  alle  schildernden  Einzelheiten; 
sie  liest  sich  daher  wie  ein  Totenverzeicliniss,  das  des  Ueberblickes 
halber  auch  wirklich  wiederholungsweise  gegeben  ist  und  durcli  seine 
Absichtlichkeit  alle  Wirkung  aufhebt. 

Liebe  des  braven  Mannes  ehrt  ein  tolosaner  Mädchen,  das 
einem  neuen,  allerdings  sehr  unwahrscheinlichen  Mutius  Scävola  die 
Hand  reicht,  in  J.  Bernard's  Pascalou^).  Dieser  Pascalou  oder 
Pascal  ist  der  natürliche  Sohn  eines  Pariser  Ministerialbeamten,  der 
die  Mutter,  ein  Fabrikmädchen,  verführt  und  dann  verlassen  hat, 
ohne  sich  um  das  Schicksal  seines  Sprösslings  irgendwie  zu  kümmern. 
Die  Mutter  ist  an  Herzeleid  gestorben ;  die  Grossmutter  hat  sich  des 
Kleinen  angenommen  und  ihn  zu  einem  wackern  Jüngling  heran- 
gezogen. Seine  guten  Eigenschaften  und  seine  prächtige  Gestalt 
haben  ihm  die  stille  Neigung  Mariens,  der  Tochter  wohlhabender 
Eltern,   erworben,   der  ein  besser  gestellter  Advokatengehilfe  zum 


*)  in  Becits  heroiques,  S.  273  fl. 

^)  Pascalou  in  Qui  vive?  France!  S.  25  fF. 


100  E.  Koschwitz, 

Gatten  bestimmt  ist.  Der  Krieg  wird  erklärt.  „Im  Süden  Frank- 
reichs war  infolge  der  nervösen  und  reizbaren  Gemüthsait  seiner 
Bewohner  die  Erregung  grösser  als  irgendwo  sonst.  Die  ganze 
Bevölkerung  von  Toulouse  war  sofort  auf  den  Beinen;  man  be- 
gleitete die  nach  der  Grenze  ziehenden  Soldaten  mit  dem  Gesänge 
der  Marseillaise,  und  in  der  alten  Stadt  erschallte  wie  überall  der 
berüchtigte  Ruf:  Nach  Berlin!  nach  Berlin!  wo  leider  nur  unsre 
Gefangenen,  gedemüthigt,  entwaffnet  und  besiegt  einziehen  sollten". 
Pascal  und  sein  Nebenbuhler  werden  zur  Artillerie  der  Mobilgarde 
eingezogen.  Da  erhält  ersterer  von  seinem  Vater,  der  sich  hier 
zum  ersten  Mal  an  ihn  erinnert,  ein  Telegramm,  das  ihm  empfiehlt, 
sich  schleunigst  bei  den  algerischen  Zuaven  einreihen  zu  lassen, 
die  Afrika  während  der  Kriegszeit  nicht  verlassen  würden.  Die 
Grossmutter  lässt  sich ,  ehe  sie  es  Pascal  zeigt ,  dasselbe  durch 
den  Advokatengehilfen  vorlesen;  dieser,  ein  Feigling,  benutzt  den 
darin  ertheilten  Rath  für  sich,  während  Pascal  unter  Billigung 
seiner  Grossmutter  ihn  ablehnt.  Er  wird  bald  darauf  nach  Beifort 
geschickt,  an  dessen  Vertheidigung  er  theilnimmt.  Bei  einem  Aus- 
fallgefecht nimmt  Pascal  die  Fahne  auf,  deren  erster  Träger  ge- 
fallen war,  und  stürmt  mit  ihr  auf  eine  Barrikade,  wo  er  sie 
aufpflanzen  will.  Aber  zehn  Finger,  stark  wie  Zangen,  fassen 
ihn  an  der  linken  Hand  und  wollen  ihn  auf  die  andere  Seite  hinab- 
ziehen. Die  dort  befindlichen  Preussen  hätten  ihn  leicht  erschiessen 
können,  aber  dann  wäre  die  Fahne  auf  die  französische  Seite  ge- 
fallen; sie  wollten  sie  mit  dem  Träger  haben.  Ein  zu  Hilfe  eilender 
Mobilgardist  ruft  Pascal  zu,  die  Fahne  loszulassen,  aber  dieser  hört 
nicht  auf  den  verständigen  Rath,  er  hält  sie  fest  und  fordert  den 
Gefährten  auf,  ihm  mit  einem  Beil  die  festgehaltene  Hand  abzu- 
schlagen. Die  Feinde  sollen  sie,  nicht  aber  die  Fahne  in  ihre  Gewalt 
bekommen.  Zitternd  gehorcht  der  Mobilgardist  seinem  Wunsche. 
Pascalou,  so  befreit,  kann  dem  Kommandanten  die  Fahne  selbst 
überreichen.  Das  Kreuz  der  Ehrenlegion  belohnt  die  tapfere  That 
noch  am  selben  Tage.  Nach  dem  Friedensschluss  kehrt  unter  den 
ersten  sein  Nebenbuhler,  der  Advokateiigehilfe,  aus  Algier  heim. 
Er  bewirbt  sich  um  Marie,  wird  aber  abgewiesen.  Pascal,  der 
geheilt  mit  der  Belforter  Artillerie  zurückkehrt  und  in  seiner  Rechten 
die  Fahne  trägt,  findet  die  alte  Grossmutter  verschieden,  die  den 
Schmerz  der  langen  Trennung  nicht  überwinden  konnte,  wird  aber 
trotz  seiner  Verstümmlung  für  seine  Tapferkeit  mit  Mariens  Hand 
belohnt. 

In  andern  Erzählungen  sind  Frauen,  die  durch  die  deutschen 
Krieger  eine  unwürdige  Behandlung  finden,  wenigstens  der  Anlass 
zu  Ruhmes-  oder  Rachethaten  ihrer  Gatten  oder  Verehrer.  Ein  erstes 
Beispiel  dieser  Gattung  ist  die  Schauererzählung  Assollanf.s:  Die 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         101 

Heimkehr^).  Ein  Kind  tritt  als  Erzähler  auf.  Seinen  Vater,  einen 
wohlhabenden  Strassburger  Brauer,  konnte  nach  den  ersten  für  Frank- 
reich unglücklichen  Schlachten  nichts  mehr  zu  Hause  halten;  er 
verliess  seine  Frau  und  seine  beiden  Kinder,  ein  Mädchen  und  den 
erzählenden  Knaben,  um  mit  fünf  seiner  Arbeiter  in  die  Berge  „auf 
die  Deutschenjagd "  zu  ziehen.  Einige  Tage  nachher  umlagerten  „die 
Preussen,  die  Badenser  und  all  das  Bettelvolk,  das  ehemals  in  Strass- 
burg  Almosen  und  Arbeit  suchte,"  diese  Stadt.  Die  Sclirecken  der 
Beschiessung  nehmen  ihren  Anfang.  Die  Brauersfrau  sucht  mit  ihren 
Kindern  in  den  Kasematten  eine  Zufluchtsstätte;  aber  das  kranke 
Töchterchen  verlangt  nach  Bewegung  im  Freien.  Man  wählt  dazu 
die  Zeit,  wo  die  Deutschen  beim  Essen  sind  („denn  die  Schwaben 
müssen  immer  auf  einmal  essen,  damit  die  Anwesenden  nicht  den 
Antheil  der  Abwesenden  aufzehren");  kaum  haben  Mutter  und  Kind 
drei  Scliritte  zurückgelegt,  als  auch  schon  wieder  das  Feuer  der 
Deutschen  beginnt.  Eine  platzende  Bombe  tötet  das  Mädchen,  ohne 
den  sie  Begleitenden  Schaden  zuzufügen. 

Die  Deutschen  ziehen  in  die  Stadt  ein.  In  das  wohlerhaltene 
Haus  des  Brauers  werden  ein  Hauptmann,  ein  Lieutenant  und  dreissig 
Mann  einquartirt.  Der  Hauptmann,  ein  grosser  dicker  Westfale, 
„roth  wie  ein  Schinken",  verlangte  für  sich  und  den  zweiten  Oftizier 
vierzig  Zigarren,  zehn  Flaschen  Wein,  sechs  Gänge  Fleisch,  drei 
Gemüse  und  eine  süsse  Speise  für  jede  ihrer  vier  täglichen  Mahl- 
zeiten. Luden  sie  Gäste  ein,  so  musste  auch  für  diese  gesorgt  werden. 
Als  die  Frau  erklärte,  nicht  die  nöthigen  Weinvorräthe  zu  besitzen, 
giebt  sich  der  Hauptmann  als  ihr  ehemaliger  Dienstbote  zu  erkennen; 
er  hat  selbst  die  Flaschen  im  Keller  aufgestellt.  „Es  hiess  also  ge- 
horchen und  alle  diese  Vielfrasse  vollstopfen,  die  sich  auf  den  Möbeln 
herumwälzten,  mit  ihren  betaigten  grossen  Stiefeln  alles  beschmutzten, 
Wein  und  Bier  im  Uebermass  vertilgten,  überall  rauchten  und  herum- 
spieen und  vor  den  Frauen  unanständige  Dinge  sagten".  Eines  Tages 
sieht  der  Hauptmann  die  goldene  Taschenuhr  der  Brauerin;  er  bittet 
sie  darum  als  Andenken;  sie  wirft  sie  mit  den  Worten  zum  Fenster 
hinaus,  er  möge  sie  auf  der  Strasse  suchen.  Der  Hauptmann  holt 
sie  auch  von  da  und  schickt  sie  mit  den  Stutzuhreu  des  Salons  und 
des  Schlafzimmers  nach  Deutscliland.  Der  Lieutenant  muss  sich  mit 
einer  alten  silbernen  Taschenuhr  des  Brauers  und  der  seines  Söhn- 
chens begnügen,  ärgerlich,  nicht  auch  eine  Stutzuhr  erhalten  zu  haben. 

Der  Frieden  wird  geschlossen.  Der  Brauer  kehrt  heim,  mit 
einem  Ehrenzeichen  für  kühne  Thaten  versehen.  Er  erfährt  von 
seiner  Frau  den  Verlust  seines  Töchterchens;  im  gleichen  Augenblick 
hört  er  den   westfälischen   Hauptmann,    den   der  Verfasser  in   uu- 


')  Le  Betour  in  L'Offrande,  S.  11 7  ff. 


102  E.  Koschivitz, 

verfälschtem  elsasser  Französich  reden  lässt,  wie  er  für  sich  imd  von 
ihm  geladene  Graste  vom  besten  Weine  fordert  und  sinj^t: 

Fife  le  lin! 

Fife  ce  chis  tivin! 

Che  veux  chisqu'ä  la  tin 

Qu'il  ekaie  ma  tie. 
Der  Heimgekehrte  wird  von  dem  Hauptmann  zum  Mahle  ein- 
o:eladen.  Der  Brauer  zieht  aber  aus  seiner  Tasche  einen  Revolver 
und  erschiesst  ihn;  dann  löscht  er  schnell  die  Lichte  aus  und  schliesst 
die  Thüre.  Im  Finstern  aufs  Gerathewohl  schiessend,  tötet  er  noch 
zwei  andere  deutsche  Ofiiziere.  Als  die  herbeigeeilte  Wache  die 
Thür  öffnet,  findet  sie  fünf  Tote  und  zwei  Verwundete;  denn  in  der 
Finsterniss  haben  die  Deutschen  sich  gegenseitig  getötet.  Auch  der 
Brauer  ist  tötlich  verletzt  und  stirbt,  indem  er  wie  Hanülkar  seinem 
Sohne  einprägt,  nie  zu  vergessen,  was  die  Deutschen  an  ihm  gethau. 
Auf  höherer  Stufe  als  diese  Schaudererzähluug  steht  Zola's 
Novelle:  Der  Angriff  auf  die  Mühle^).  Eine  zu  Vertheidigungs- 
zwecken  günstig  gelegene  Wassermühle  wird  von  einer  kleinen  Ab- 
theilung französischer  Soldaten  besetzt.  In  ihr  befindet  sich  ein 
idyllisches  Liebespaar:  ein  etwas  verwilderter,  aber  gutherziger 
Bursche,  ein  Belgier,  und  die  hübsche  Müllerstochter,  deren  Hoch- 
zeit am  nächsten  Tage  stattfinden  soll.  Preussische  Soldaten  greifen 
die  Mühle  an.  Die  Braut  wird  dabei  leicht  verwundet.  Darüber 
wuthentbrannt  nimmt  auch  der  Belgier  ein  Grewehr  zur  Hand  und, 
ein  trefflicher  Schütze,  tötet  er  mit  sicherem  Schusse  einen  Preussen 
nach  dem  andern;  auch  dann  noch,  als  nach  tapferem  Widerstände 
die  französischen  Soldaten  sich  in  den  nahen  Wald  geflüclitet  haben. 
Der  preussische  Kommandant  will  dem  auf  der  That  Ertappten  trotz 
seiner  unberechtigten  Thciluahme  am  Kampfe  und  trotz  des  Un- 
willens der  deutschen  Mannschaft  das  Leben  belassen,  wenn  er  ihm 
einen  Weg  durch  den  Wald  zeigt.  Dem  sich  Weigernden  gewährt 
er  eine  Nacht  Bedenkzeit.  Mit  Hilfe  der  Braut  gelingt  es  aber  dem 
Belgier  in  der  Dunkelheit  durch  das  Fenster  zu  entweichen ;  den  am 
Wege  befindlichen  Posten  sticht  er  hinterrücks  nieder.  Der  preussische 
Befehlshaber  erkennt  den  Sachverhalt;  er  gibt  der  Braut  anheim, 
den  entflohenen  Bräutigam  binnen  zwei  Stunden  herbeizuschaffen 
oder  den  Vater  zu  verlieren.  Der  Belgier  stellt  sich  indessen  frei- 
willig ein,  nachdem  er  von  der  der  Geliebten  gestellten  schreck- 
lichen Wahl  erfahren.  Nochmals  schlägt  er  das  Anerbieten  aus,  die 
Preussen  gegen  trewährung  seines  Lebens  durch  den  Wald  zu  führen, 
und  er  wird  nunmehr  staudrechtlich  erschossen.  Inzwischen  sind 
französische  Truppen   herangerückt;    es   ist  jetzt  an   den  Preussen, 


*)  L' Attaque  du  Moulin  in  Soirces  de  Medan.    10.  Ausg.  1880,  S.  Iff. 


Die  französische  NoveUistik  und  Romanlitteratur.    1.         103 

die  Mühle  zu  vertlieidigen.  Sie  unterliegen  der  Uebermacht  und 
verlieren  sämmtlich  das  Leben.  Auch  der  alte  Müller  findet  durch 
eine  verirrte  Kugel  den  Tod.  Der  triumphierende  Führer  der  französi- 
schen Schar  begrüsst  die  an  den  Leichen  der  Geliebten  knieende 
Braut  mit  dem  Rufe:  Sieg,  Sieg! 

In  der  Erzählung  De  Launay's:  Bas  ist  der  Kriegt)  steht 
eine  junge  Gräfin  im  Mittelpunkte,  die  ein  Landschloss  vor  Paris 
bewohnt  und  nach  einem  Kampfe  das  Schlachtfeld  aufsucht,  um  zu 
sehen,  ob  sich  Gelegenheit  zu  einem  Werke  der  Barmherzigkeit  fände. 
Sie  bemerkt  unter  den  Leichen  einen  jungen  bretonischen  Mobil- 
gardisten, der,  von  einem  Granatsplitter  schrecklich  verwundet,  noch 
leicht  athmet.  Sie  lässt  ihn  auf  ihr  Schloss  fahren  und  pflegt  den 
Armen  mit  solcher  Aufopferung,  dass  er  allmählich  den  Weg  der 
Besserung  betritt.  Als  er  nach  langem  Fieber  und  Delirium  und 
darauf  folgendem  schweren  Schlafe  zum  ersten  Male  zu  sich  kommt, 
bemerkt  er  mit  Staunen  die  Pracht  des  Zimmers,  in  dem  er  sich  be- 
findet, und  die  Schönheit  seiner  aristokratischen  Pflegerin.  Er  glaubt 
sich  in  ein  Feeeuschloss  versetzt  und  vermag  nur  langsam  sich  an 
den  Gedanken  zu  gewöhnen,  dass  alles  Wirklichkeit  sei.  Sein  Dank 
ist  wortlos,  aber  ohne  Grenzen:  sein  Leben  ist  seiner  Retterin  ge- 
weiht. Ein  deutsches  Regiment  besetzt  das  Dorf,  worin  sich  das 
Schloss  der  Gräfin  befindet :  die  Quartiermacher  bestimmen  die 
schönsten  Zimmer  der  Gräfin  tür  den  Befehlshaber.  Dieser  aber,  der 
der  Wirthin  mit  plumper  und  frecher  Artigkeit  begegnet,  will  sich 
mit  den  Räumen  des  Erdgeschosses  begnügen.  Die  Schlossherrin 
lehnt  sein  von  dreisten  Andeutungen  begleitetes  Anerbieten,  das 
obere  Stockwerk  für  sich  zu  behalten,  mit  kaltem  Stolze  ab  und 
zieht  es  vor,  mit  ihrem  Kranken  in  den  Gartenpavillon  zu  übersiedeln. 
Sie  erfährt  bei  der  Gelegenheit,  dass  ihr  Gatte  als  Gefangener  in 
Deutschland  weilt,  und  dass  der  Genesende  nach  seiner  Heilung 
ebenfalls  in  Gefangenschaft  abgeführt  werden  soll.  Der  Bretone 
muss  unter  Bewachung  im  Schlosse  zurückbleiben.  Die  Gräfin  sucht 
ihn  zur  Flucht  zu  bewegen;  schwer  entschliesst  er  sich,  von  der 
verehrten  Pflegerin  zu  scheiden,  die  seines  Schutzes  bedürfen  könnte. 
Einige  Tage  später,  nach  einem  neuen  Erfolge  der  deutschen  Waft'en, 
soll  ein  grosses  Fest  im  Schlosse  gefeiert  werden,  das  wieder  zu  be- 
wohnen die  Gräfin  inzwischen  genöthigt  worden  ist.  Der  Regiments- 
inhaber ladet  die  in  der  Umgegend  liegenden  Offiziere  dahin  ein. 
Das  Schloss  wird  mit  deutschen  Fahnen  geschmückt,  die  Keller 
werden  geleert,  und  die  Offiziere  im  Herrenhause,  die  Mannschaft 
im  Gartenhause  bewirthet.  Indessen  ist  der  verwundete  Bretone 
mit  Hilfe  der  Gräfin  entflohen  und   hat   den  Befehlshaber  einer  aus 


')  C'est  la  guerre  in  Culottes  rouges,  S.  299  ff. 


104  E.  Eoschwitz, 

Seesoldaten  gebildeten  französischen  Hauptwache  zu  einem  Ueberfalle 
der  Deutschen  bewogen.     Die  Orgie  der  deutschen  Oftiziere  ist  auf 
ihren  Gipfel  gestiegen.     Alle  vaterländischen  Trinksprüche  sind  aus- 
gebracht worden,  und  die  durch  pantragruelische  Trinkopfer  überreizte 
Begeisterung  hat  die  Gehirne  in  Siedehitze   gebracht.     ^Man  trank 
auf  die  deutsclie  Weltherrschaft,  auf  die  völlige  und  endgültige  Ver- 
nichtung Frankreichs,  auf  den  Einzug  in  Paris  und  die  Plünderung 
der  hochmüthigen  Stadt".     ^Die  Soldaten  im  Gartenhause,  von  der 
Mannszucht  in  Schranken  gehalten,  stopften  sich  stillschweigend  voll 
und  berauschten  sich  schwer;  die  meisten  verloren  das  Gleichgewicht 
und    schnarchten    auf   den   Tischen.      Hin   und    wieder    schwankten 
einige  von  ihnen  zu  den  ausgestellten  Wachen,   um  mit  der  Gross- 
muth   der  Trunkenen   auch   diesen   durch  Spendung  von  Wein   und 
Branntwein  an  der  Freude  Theil  zu  gewähren."    Ein  Artillerieoftizier 
ladet,  um  das  Vergnügen  zu  erhöhen,  die  Gäste  nach  seiner  benach- 
barten Batterie,   um  sie   dadurch   zu  ergötzen,    dass  er  mit   seinen 
weittragenden  Geschützen  einige   pariser  Häuser  in  Brand  stecken 
lässt.      Zuletzt    kommt    der    Kommandant    auf   den    Gedanken,    die 
stolze   Hausherrin   bändigen   zu   wollen.     Er  ladet   seine   Gäste   zu 
Zeugen  seiner  Eroberungskunst  ein,   und  es  linden  sich  auch  einige 
Oftiziere,  die  mit  ihm  in  das  Zimmer  der  Besitzerin  hinautstolpern.  Die 
empörte  Gräfin  droht,    sich  mit  einem   bereit  gehaltenen  Dolche  zu 
erstechen,  falls  ihr  der  Deutsche  zu  nahe  komme ;  er  versichert  ihr, 
niir  ihre  Fingerspitzen  küssen  zu  wollen,  naht  sich  ihr  achtungsvoll, 
entreisst  ihr  dann  aber  plötzlich  den  Dolch  und  umschlingt  sie,  ihr 
Haupt    seinen   Lippen    nähernd.      „In    dem    Augenblicke    glitt    ein 
Schatten  vorüber,  eine  menschliche  Gestalt  sprang  herbei,  ein  Blitzen 
von  Stahl,  ein  erstickter  Schrei,  und  der  Kommandant  ist  mit  einem 
Bajonettstich  an  die  Mauer  geheftet."     Der  junge  Bretone   liat  ihn 
getötet.     Wie  „Dämonen    und  Tiger"    fallen   nun   die   französisclien 
Seeleute  über  die  deutschen  Oftiziere  her;    „ihre  Beile  spalteten  die 
Schädel,  ihre  Säbel  durchbohrten  die  Brüste,  ein  Blutstrom  tioss  die 
Stufen  hinab;    der  Mord  ging  mit  solcher  Geschwindigkeit  vor  sich, 
dass  kein  Opfer  Zeit  fand,   um  Hilfe   zu  rufen".     Die  Grätin  ist  in 
Ohnmacht    gefallen,    vier   Matrosen    tragen    sie    hinweg;    auch    der 
junge  Bretone,  der  sich  kaum  schleppen  kann,  wird  wie  eine  Feder 
von  einem  Seemann  davon  getragen.     Indessen  haben  die  deutschen 
Soldaten  im  Pavillon   entdeckt,   was  vorgegangen;  die  Verfolgung 
beginnt,  der  Seemann  mit  dem  Bretonen  wird  erschossen,  der  Bretone 
fällt   in   die   Hände   der   Deutschen,   die    übrigen    entkommen.     Mit 
dem    Rufe:    Es    lebe    Frankreich!    sinkt    der    knabenhafte    Jüngling 
unter    den    Kugeln    der    ihn    erscliiessenden    Preussen    zusammen. 
Das   Schloss   mit   seinem    Zubehör    wurde    mit    Petroleum   begossen 
und  verbrannt. 


Die  französische  Novellisük  and  Romanliäeratur.    I.         105 

Auch  in  P.  Alexis'  Nach  der  Schlacht^)  rettet  eine  Edelfrau 
einen  bretonischen  .Soldaten,  den  sie  verwundet  auf  dem  Schlacht- 
felde aufündet.  Aber  die  plumpe  de  Launay'sche  Darstellung 
deutscher  Soldaten  und  Offiziere  bleibt  hier  ohne  Entsprechung,  und 
die  Heldin  endet  bedauernswerther  Weise  nach  dem  Muster  des 
Weibes  von  Ephesus.  Der  Verfasser  liat  sich  viel  Mühe  gegeben, 
den  alten  Stoff  neu  zu  beleben,  und  sucht  mit  allen  Mitteln,  das 
Vorgetragene  psychologisch  wahr  erscheinen  zu  lassen.  Der  ver- 
wundete Bretone  ist  ein  Geistlicher,  der  das  Priestergewand  mit  dem 
Waffenrock  vertauscht  hat;  er  wird  von  der  gleichfalls  bretonischen 
Edelfrau  gefunden,  als  sie  auf  einem  Bduernwageu  den  Leichnam 
ihres  gefallenen  Gemahls  in  weissem  Sarge  nach  der  nächsten  freien 
Bahnstrecke  zu  führen  im  Begriif  ist.  Der  Verfasser  giebt  sich  nicht 
die  Mühe  zu  erklären,  warum  sie  dieses  Werk  ohne  jegliche  Be- 
gleitung von  Dienerschaft  unternimmt.  Mit  einigem  Widerstreben 
hilft  sie  dem  Verwundeten  auf  den  Wagen,  wo  er  sich  auf  Stroh 
neben  dem  Sarge  austreckt.  Auf  dem  Kutschersitze,  einem  einfachen 
Brette,  gedenkt  die  in  den  stillen  Abend  hineinfahrende  Baronin 
ihrer  Vergangenheit:  ihrer  einsamen  Jugend  auf  dem  elterlichen 
Schlosse,  der  herzlosen  Plackereien,  denen  sie  von  ihrem  Vetter  und 
späteren  Gatten  ausgesetzt  wurde,  ihrer  Jugendträume,  des  Er- 
wachens ihrer  Sinne,  als  sie  in  der  Schlossbibliothek  eine  versteckte 
Abtheilung  von  schlüpfrigen  Büchern  entdeckt  und  durchgelesen 
hat,  ihrer  Enttäuschung,  als  sie  die  Gattin  des  ihr  von  Kindheit 
an  zugewiesenen  älteren  Vetters  ward,  der  mürrisch  seine  Tage 
in  der  Bretagne  verbringt,  nachdem  er  in  Paris  ein  ausge- 
lassenes Genussleben  geführt  hat.  Durch  seinen  plötzlichen,  ihm 
selbstverständlich  erscheinenden  Entschluss,  dem  Vaterlande  als 
Krieger  zu  dienen,  ist  er  in  ilirer  Achtung  gestiegen:  sie  beginnt 
ihn  aufrichtig  zurück  zu  ersehnen.  Auch  in  dem  verw^undeten  Kleriker 
ei'weckt  die  Nähe  einer  Frau,  deren  schönes  Gesicht  er  flüchtig  ge- 
sehen, allerlei  Gedanken.  In  seiner  Kindheit  hat  er  gern  die  reife 
Tochter  einer  Freundin  seiner  Eltern  umarmt  und  geküsst;  als  zehn- 
jähriger Knabe  betrachtete  er  mit  Vorliebe  ein  ihm  gegenüber- 
wohnendes Mädchen;  die  Erinnerung  an  dasselbe  hat  ihn  in  seiner 
Seminarzeit  rein  erhalten ,  und  keuschen  Leibes  ist  er  in  den 
Priesterstand  getreten.  Im  Beichtstuhl  lernte  er  alle  Schwächen  des 
Weibes  kennen;  ihm  blieb  unbewusst.  dass  in  Ausübung  dieses  geist- 
lichen Amtes  das  Weib  ihn  anzog  und  ihm  seinen  Beruf  werth 
machte.  Trotz  seiner  Reinheit  ist  er  beim  Erzbischof  von  Kennes 
angeschwärzt  und  seiner  Stelle  entsetzt  worden.  Als  er  vom  Un- 
glück  des  Vaterlandes  vernahm,   hat   er  sich   als  Kriegsfreiwilliger 


*)  Apres  la  Bataüle  in  Soirees  de  Medan,  S.  257 ff. 


106  E.  Koschwitz, 

gestellt.  Nachdem  er,  mit  dem  Rücken  an  den  Sarg  des  Edel- 
mannes gelehnt,  sich  ausgeruht,  und  sich  der  Schmerz  seines  ver- 
wundeten Fusses  besänftigt  hat,  beginnt  er  eine  Unterhaltung,  die 
von  der  Wagenlenkerin  aber  kurz  abgelehnt  wird.  Nachher 
thut  der  Baronin  ihre  barsche  Abweisung  leid.  Sie  fasst  Mitleid 
mit  dem  Soldaten,  zumal  sie  ihn  jung  und  weinend  sieht;  sie  gibt 
ihm  zu  essen  und  zu  trinken,  ja,  sich  erinnernd,  dass  sie  daran 
gedacht,  dem  Beispiel  ihres  Gatten  zu  folgen  und  als  Kranken- 
pflegerin ins  Feld  zu  ziehen,  lässt  sie  es  sich  nicht  nehmen,  ihm  den 
Fuss  zu  verbinden,  so  sehr  er  sich  dagegen  sträubt,  weil  er  sich  der 
Hässlichkeit  seiner  Wunde  schämt.  Ihr  Verbandzeug  findet  auf  dem 
Sarge  des  Verschiedenen  Platz.  Unendliche  Wonne  erfüllt  den  ge- 
pflegten Kleriker.  Auf  seine  Bitte  vertauscht  darauf  die  Edelfrau 
mit  ihm  den  Platz;  er  will  den  Wagen  an  ihrer  Stelle  lenken.  Sie 
setzt  sich  in  seine  Nähe,  denkt  des  kalten  Empfanges,  der  sie  zu 
Hanse  erwartet,  und  fragt  ihren  Begleiter  nach  seinen  Verhältnissen. 
Allmählich  verstummt  das  Gespräch.  Die  Baronin  streckt  sich  hin, 
den  Kopf  auf  dem  Sai'ge  ruhend.  Der  Verwundete  meint,  sie  schlafe; 
er  wagt  es,  sich  neben  ihr  hinzulegen,  und  lässt  dem  Pferde  freien 
Lauf.  Es  ist  finstere  Nacht.  Beide  sind  in  Wirklichkeit  munter; 
plötzlich  liegen  sie  einander  in  den  Armen,  ihre  Lippen  suchen  und 
finden  sich,  und  sie  schmiegen  sich  jliebend  eng  an  einander.  Das 
Pferd  setzt  langsam  seinen  Weg  weiter  fort,  ohne  über  den  blut- 
rothen  Schein  zu  erschrecken,  den  fünf  brennende  Dörfer  von  sich 
werfen. 

„Als  der  Krieg  zu  Ende,  trat  der  junge  Geistliche  bei  seinem 
Bischof  wieder  in  Gunst.  Er  hatte  sich  auf  dem  Schlachtfelde  so 
brav  bewährt!  Er  hinkte  noch  immer!  Die  Edelfrau  hat  sich  mit 
einem  Wechselagenten  wieder  vermählt.'" 

Ein  natürlicheres  Kriegsgemälde  wird  entrollt  in  Aderer's:  Die 
Hochzeit  des  Lieutenants^).  Ein  Bataillon  des  17.  französischen  Linien- 
regiments vertheidigt  während  der  Sedanschlacht  den  Pachtliof  der  Viree 
vor  La  Chapelle.  Zwei  bairische  Infanterieregimenter  rücken  gegen 
diesen  Posten  unaufhaltsam  und  mit  bewunderungswürdiger  Tapferkeit 
vor.  Plötzlich  erscheinen  Feinde  auch  an  der  rechten  Flanke  der  Fran- 
zosen. Der  Lieutenant  Roger,  der  eben  erst  die  Cadettenschule  zu  Saint- 
Cyr  verlassen  hat,  um  zum  Heere  zu  stossen,  wird  mit  einer  Com- 
pagnie  zur  Deckung  des  Rückzugs  dem  von  der  Seite  heranstürmen- 
den Feinde  entgegengestellt.  Es  gelingt  ihm,  denselben  aufzuhalten, 
bis  sich  das  Bataillon  nach  Chapelle  zurückgezogen  hat;  er  wird 
aber  dabei  verwundet  und  von  seinem  getreuen  Burschen  aus  dem 
Gefecht  getragen.     Auch   La   Chapelle   kann   nicht   auf  die   Dauer 


*)  Le  Mariage  du  lietitenant.     Paris  1884.     S.  1 — 72. 


Die  französisclie  NoveUistik  und  Romanlitteratur .    I.         107 

gehalten  werden;    es  bleibt  nur  die  Flucht  nach  Belgien  frei.     Der 
selbst  verwundete  Bursche  belastet  sich  abermals  mit  seinem  Lieutenant 
und  bringt  ihn  bis  ganz  nahe  an  die  Grenze;  er  sieht  noch,  wie  ein 
andrer  französicher  Soldat,  den  er  darum  gebeten,  Roger  glücklich 
nach  Belgien  rettet;  er  selbst  bleibt  zurück  und  fällt  den  verfolgen- 
den Ulanen  zum  Opfer;  einer  derselben  durchsticht  ihn  mit  der  Lanze. 
Roger   findet    in   Bouillon   bei   einem   menschenfreundlichen   Steuer- 
einnehmer  Aufnahme    und    Pflege.     Der   Gesundende    erweckt    und 
emptindet  Neigung  zu  Jeanne,  der  stattlichen  Nichte  seines  Wirthes, 
einer  Französin,  die  mit  ihrem  Vater  Mauger  aus  der  Umgebung  von 
Metz  den  Kriegsgefahren  entwichen  ist.     Roger,   wieder  hergestellt, 
kann  den  Gedanken   nicht  ertragen,    unthätig  zu  bleiben,    während 
im  Vaterlande  der  Krieg  weiter  wüthet.     Da  auch  Mauger  und  seine 
Tochter   zur  Entgegennahme   einer  Erbschaft   nach  Toulouse  reisen 
wollen,  schliesst  er  sich  ihnen  mit  ihrer  Einwilligung  an.    Der  Steuer- 
einnehmer besorgt  falsche  Reisepässe,  in  denen  alle  drei  als  Belgier, 
und   der   Lieutenant  als  der  Gatte  Jeanne's   ausgegeben   wird.     Es 
gelingt   glücklich,    die  von   den   preussischen  Gendarmen   bewachte 
Grenze  zu  überschreiten,    nicht   ohne   dass  die  Geduld  des  feurigen 
Lieutenants   auf  eine  harte  Probe  gestellt  wird.     Der  wachhabende 
preussische  Sergeant,   der   eben   mit   einer  langen  Pfeife   im  Munde 
durch  seine  Brille  eine  Karte  der  Umgegend  von  Paris  studirt  hat, 
erlaubt  sich   nämlich,    nachdem   er  in   fliesseudem  Französisch  nach 
dem  Passierscheine   gefragt,    ein   unzartes  Wortspiel   mit  Hilfe   des 
Wortes  neutre,  dass  er  auf  Roger  und  die  Geliebte  anwendet.     Nach- 
dem man  einem  Sachsen  für  zwanzig  Franken  Wagen  und  Pferd  ab- 
gekauft,   geht   die  Fahrt  glücklich  weiter  von  Statten,   bis  man  in 
Dijon  ankommt,  wo  sich  nach  Süden  zu  die  letzten  deutschen  Truppen 
befinden.     Unterwegs   stiess   man   auf  die  wohl   geordneten  Säulen 
des   von   dem   eingenommenen   Metz   abziehenden   deutschen  Heeres. 
Im  Speisezimmer  des  Dijoner  Gasthofes,   in   dem  die  Reisenden  ab- 
steigen,  finden  sie  die  Haupttafel  von  bairischeu  Offizieren  besetzt, 
die   so   eifrig  zechen,    dass  kaum  vier  Kellner   ausreichen,    um  ihre 
Gläser   mit   den   edlen  Weinen,    die    sie   trinken,    gefüllt  zu  halten. 
Die  eintretende  Jeanne  erweckt  die  Bewunderung  einiger  der  jüngeren 
Offiziere,  und  einer  der  vorlautesten,  Konrad,  kann  ein  vernehmliches 
Jolle   Frangaise!    nicht    unterdrücken.     Unbekümmert    um    die    un- 
geduldigen  Geberden   Rogers   behält   er    das   schöne   Mädchen   fort- 
während im  Auge,   und,   um  eine  Unterhaltung  anzuknüpfen,    ladet 
er  in   gutem  Französisch   ihren  Vater  zu  einem  Trunk  Champagner 
ein.     Als  der  dadurch  gereizte  Roger  sich  als  belgischer  Offizier  zu 
erkennen   giebt,    bricht   die   bairische   Tafelrunde    in   Lachen    aus. 
Konrad  fragt   ihn  spöttisch,   ob  etwa  sein  Spazierstock  sein  Degen 
sei,  und  fordert  Jeanne  auf,  ihren  (Pseudo-)gatten  zum  Schweigen  zu 


108  E.  Koscliwüz, 

bringen.  Roger  schlägt  dem  Frechen  seinen  Stock  ins  Gesicht.  Es 
kommt  zum  Zweikampf,  in  dem  der  Franzose  seinen  Gegner  schwer 
verwundet.  Der  kommandirende  General  räth  den  drei  Franzosen, 
noch  des  Nachts  von  Dijon  abzureisen,  damit  nicht  neue  Heraus- 
forderungen eintreten.  Sie  folgen  dem  höflich  ertheilten  und  gut 
gemeinten  Rathe.  Roger,  der  sich  nicht  für  einen  belgischen  Kriegs- 
gefangenen hält,  tritt  von  Neuem  in  Dienst,  und  wird  sofort  zum 
Hauptmann  befördert.  Vor  der  Trennung  von  Jeanne  und  Mauger 
kommt  es  zu  der  bis  dahin  zurückgehaltenen  Liebeserklärung  und 
Verlobung.  Roger  entgeht  glücklich  allen  Gefahren  des  Feldzuges 
im  Südosten  Frankreichs  und  wird  der  Gatte  der  geliebten  Jeanne, 
die  ihm  am  Schluss  der  Erzählung  auch  bereits  mit  einem  kleinen 
Patrioten  beschenkt  hat. 

Verhältnissmässig  selten  stösst  man  in  der  uns  beschäftigenden 
Litteratur  auf  Erzählungen,  worin  heroische  oder  Rache -Thaten 
von  Männern  im  kräftigen  Alter  ohne  weiblichen  Einfluss  ver- 
richtet werden. 

Das  rührende  Ende  eines  französischen  Fahnenträgers  berichtet 
A.Daudet  in  einer  seiner  Montagserzählungen.  ^)  Ein  französisches 
Regiment  ist  auf  der  Böschung  einer  Eisenbahn  dem  Feuer  eines 
ganzen  preussischen  Kriegsheeres  ausgesetzt  gewesen.  Zwei  und 
zwanzig  Mal  ist  die  in  Fetzen  zerrissene  Fahne  mit  ihrem  Träger 
gesunken;  ein  alter  Sergeant  ergreift  sie  als  Dreiundzwanzigster. 
Er  bleibt  von  allen  feindlichen  Geschossen  verschont  und  am  Abend 
des  Schlachttages  ernennt  ihn  der  Oberst  endgiltig  zum  Fähndrich, 
womit  er  ihn  zum  Glücklichsten  aller  Sterblichen  macht.  Der  so 
Beförderte  trägt  mit  stolzem  Selbstbewusstsein  die  Regimentsfahne 
in  die  mörderischsten  Schlachten,  ohne  Schaden  zu  leiden.  Er  wird 
schliesslich  mit  Bazaines  Heere  in  Metz  eingeschlossen;  die  geliebte 
Fahne  wird  in  der  Wohnung  des  Obersten  niedergelegt.  Als  es  zur 
Uebergabe  kommt,  denkt  der  Sergeant  nur  an  sie.  Er  will  sie  unter 
allen  Umständen  retten.  Er  dringt  nach  dem  Zeughaus,  wohin  man 
sie  gebracht,  und  findet  dort  auch  die  andern  Fahnenträger,  fünfzig 
oder  sechzig  an  der  Zahl,  alle  schmerzerfüllt,  stillschweigend,  wie 
bei  einem  Begräbniss.  Die  1^'ahnen  liegen  in  einem  Winkel  auf 
einander  gehäuft;  ein  Verwaltniigsoftizier  nimmt  sie  einzeln  entgegen, 
den  Fahnenträgern  Empfangsscheine  ausstellend;  zwei  preussische 
Offiziere  überwachen  unbewc-lich  und  steif  die  Uebergabe.  Die 
Reihe  kommt  auch  an  unseni  Sergeanten.  Die  Fahne  ist  vor  ihm. 
Er  glaubt  sich  noch  einmal  in  das  Schlachtengewühl  versetzt,  sieht 
einen  nach  den  anderen  seiner  Vorgänger  fallen;  das  Blut  steigt 
ihm  zu  Kopf,  trunken,  sinnlos  stürzt  er  auf  den  preussischen  Offizier, 


')  Lc  porte-drapeau  in  Caiites  du  Itindi,  S.  123  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         109 

entreisst  ihm  die  Fahne,  sucht  sie  noch  einmal  hoch,  recht  hoch  zu 
heben  —  aber  sie  entsinkt  ihm  und  er  selbst  stürzt  vor  Aufregung 
tot  zu  Boden. 

Neben  einem  wirklichen  Helden  tritt  in  Audebrand's  Ehernem 
Herzen^)  eines  jener  Geschöpfe  auf,  die,  ein  Erzeugniss  der  modernen 
Zweifelsucht,  nichts  für  heilig  halten,  alles  besudeln,  die  nur  das 
eigene  Ich  verehren  und  sich  von  allen  Mühen  und  Strapazen  sorg- 
fältig fern  zu  halten  streben.  Der  Anfang  der  Erzählung  führt  in 
das  Jahr  1867,  die  Zeit  der  ersten  Weltausstellung.  Alles  ist  in 
Frankreich  von  diesem  Schauspiel  berauscht,  nur  ein  junger  Artillerie- 
hauptmann nicht,  der,  aus  Afrika  auf  Urlaub  gekommen,  das  Komödien- 
hafte des  Unternehmens  erkennt  und  an  der  von  Preussen  aus- 
gestellten Krupp'schen  Riesenkanone  lebhaft  Anstoss  nimmt.  Was 
er  an  den  pariser  Frauen  und  im  Hause  eines  wohlhabenden  Vetters 
beobachtet,  drückt  ihn  noch  mehr  nieder.  Bei  diesem  wird  ihm  ein 
Groom  vorgestellt,  den  der  Vetter  auf  der  Strasse  aufgelesen  und 
aus  einem  Gassenjungen  zu  seinem  Leibpagen  erhoben  hat.  Er 
sieht,  wie  dieser  Musterknabe  den  Blumenstrauss  eines  Gastes  mit 
einem  Briefchen  der  Herrin  des  Hauses  überbringt  und  so  für  die  ihm 
erwiesene  Wohlthat  damit  dankt,  dass  er  in  dem  Hause  seines  Herrn 
den  Ehebruch  unterstützt.  Von  dem  pariser  Treiben  angeekelt, 
kehrt  unser  Held,  ohne  das  Ende  seines  Urlaubs  abzuwarten,  nach 
Afrika  zurück.  Er  betheiligt  sich  dort  an  der  Unterdrückung  eines 
Aufstandes,  wobei  ihm  der  rechte  Arm  von  einer  Kugel  zerschmettert 
wird,  nimmt  seinen  Abschied  und  zieht  sich  in  ein  Landhaus  bei 
Rethel  in  den  Ardenuen  zurück.  Ein  Heirathsversuch  scheitert;  er 
entdeckt  noch  rechtzeitig,  dass  die  von  ihm  Auserkorene  insgeheim 
für  einen  blondbärtigen  Laffen  schwärmt.  Der  unglückliche  Krieg 
beginnt.  Unser  Hauptmann  tritt  zuerst  in  eine  Freischar  im  Ardenner- 
walde  ein  und  stösst  dann,  als  er  sieht,  dass  aller  Einzelheroismus 
nutzlos  ist,  zum  Chanzy'schen  Heere  bei  Orleans.  Nach  dem  Tretfen 
bei  Coulmiers  wird  er  zum  Obersten  ernannt.  Aber  er  ist  dreimal 
verwundet  worden.  Er  wird  in  einer  Herberge  verpflegt;  der  Sclmierz 
darüber,  Frankreich  nutzlos  verbluten  zu  sehen,  quält  ihn  mehr  als 
seine  Wunden,  die  die  grösste  Ruhe  erheischen,  wenn  er  genesen 
will.  Unweit  von  ihm  unterhalten  sich  einige  Männer  köstlich  über 
die  Redereien  eines  geflüchteten  Parisers,  der  sich  für  einen  Kranken- 
pfleger ausgiebt,  aber  augenscheinlich  lieber  Vorträge  hält,  als  für 
sein  Vaterland  thätig  ist.  Sein  Glas  zu  den  Lippen  erhebend,  be- 
hauptet er,  es  gebe  nur  Verräther  im  Heere.  Erzürnt  darüber,  will 
der  Oberst  aufstehen  und  dem  Frechen  Stillschweigen  auferlegen, 
aber  es  gelingt  dem  Arzte  noch  rechtzeitig,  ihn  zurückzuhalten  und 


')  Coeur  de  broiize  in  Qui  vive?  France!   S.  3. 


110  E.  Koschwüz, 

zu  beruhigen.  Einige  Minuten  später  erscheint  ein  junger  Kürassier- 
offizier, barhäuptig,  von  Pulver  geschwärzt,  die  Stirn  mit  einer 
blutigen  Binde  bedeckt.  Er  trägt  eine  wichtige  Depesche,  von  der 
aller  Heil  abhängt;  um  ohne  Verspätung  anzukommen,  erbittet  und 
erhält  er  von  dem  Gastwirth  das  letzte,  schlechte  Pferd  desselben, 
da  das  seine  vor  Ermüdung  gestürzt  ist.  Der  dies  sehende  pariser 
Bube  hat  dafür  nur  die  Betrachtung:  Wieder  einer,  der  sich  rettet. 
An  der  Stimme  erkennt  diesmal  der  Oberst  den  ehemaligen  Groom 
seines  Vetters;  er  kann  sich  nun  vor  Zorn  und  Unwillen  nicht  mehr 
halten,  der  Arzt  ist  nicht  mehr  anwesend:  er  erhebt  sich,  stellt  den 
Elenden  zur  Eede,  und  als  dieser  den  Muth  hat,  das  Wort  capitulard 
in  den  Mund  zu  nehmen,  schiesst  er  ihn  mit  seinem  Revolver  nieder. 
Mit  zerschmettertem  Gehirn  stürzt  der  Getroffene  zur  Erde;  seine 
Genossen  enteilen  heulend  vor  Furcht.  Drei  Stunden  später,  bei 
hereinbrechender  Nacht,  wirft  sich  der  Oberst,  um  eine  Infanterie- 
truppe herauszuhauen,  mit  dem  Säbel  in  der  Faust  dem  Führer  der 
deutschen  Vorhut  entgegen;  er  findet  dabei  seinen  Tod,  aber  die 
Trümmer  des  kleinen  französischen  Heeres  werden  durch  seine  That 
gerettet. 

Weniger  ansprechend  ist  die  Daudet'sche  Erzählung:  Der 
Preusse  Belisaire's'^).  Der  pariser  Schreinermeister  Belisaire  macht 
auf  Wunsch  seiner  Frau  nach  beendeter  Belagerung  mit  seinem 
Söhnchen  einen  Ausflug  nach  einem  ihm  in  Villeneuve  la  Garenne 
gehörigen  Häuschen.  Mit  Unwillen  sieht  er  unterwegs  die  vielen 
Pickelhauben;  noch  mehr  wächst  sein  Zorn,  als  er  Villeneuve  ver- 
heert und  ausgeplündert  findet.  Auch  sein  Häuschen  ist  ganz  aus- 
geleert. Es  giebt  darin  nichts  mehr  als  Strohbündel;  das  letzte 
Bein  seines  grossen  Lehnsessels  flackert  im  Kamine.  Alles  roch 
nach  Preussen,  aber  er  sieht  keinen.  Da  scheint  sich  ihm  im  Keller 
etwas  zu  regen.  Er  steigt  ohne  das  Kind  Iiinunter  und  sieht 
einen  Preussen  auf  sich  zukommen,  der  ihn  mit  einem  Haufen  Flüchen 
anredet.  Beim  ersten  Wort  der  Erwiderung  zieht  der  Soldat  seinen 
Säbel;  da  steigt  dem  Schreinermeister  die  Galle  auf.  er  fasst  den 
Hobelstock  und  schlägt  darauf  l(»s.  Der  Preusse  bricht  beim  ersten 
Schlage  tot  zusammen.  Nach  der  That  kommt  Belisaire  das  Zittern 
an;  erst  der  Gedanke  an  sein  ihn  rufendes  Kind  gibt  ihm  wieder 
frischen  Muth.  Er  versteckt  den  Leichnam  unter  der  Hobelbank, 
deckt  ihn  mit  Spähnen  zu  und  macht  sich  eilends  davon.  In  Saint 
Denis  überlegt  er:  die  Preussen  werden,  wenn  sie  den  Toten  finden, 
sein  Häuschen  anstecken  und  seinen  Nachbar  Jacquot  zur  Verant- 
wortung ziehen.  Er  schickt  das  Kind  nach  Hause,  kehrt  zurück  und 
findet  den  Preussen,  wo  er  ihn  gelassen;  eine  Ratte  zernagt  bereits 


')  Le  Prussien  de  Bilisaire  in  Contei<  du  Lundi.  S.  85flf. 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.         111 

seineu  Helm.  Der  Zapfenstreicli  ertönt;  Soldaten  rufen  nach  dem 
Verschwundenen.  Der  Schreiner  birgt  sich  im  Keller,  den  Säbel  des 
Getöteten  in  der  Faust,  auf  sein  Ende  gefasst.  Das  Rufen  hört 
aber  auf;  die  Einquartirten  beginnen  über  ihm  zu  schnarchen.  Es 
ist  finstere  Nacht.  Nun  ladet  sich  Belisaire  den  Toten  auf  die 
Schulter  und  schleppt  ihn  fort.  Unterwegs  glaubt  er  jemand  hinter 
sich  zu  hören:  es  ist  der  aufgehende  Mond.  Er  kommt  zur  Seine; 
sie  ist  ganz  flach,  er  muss  ins  Wasser.  Dort  wirft  er  den  Leichnam 
ab  und  stösst  ihn  von  sich ;  der  Körper  geräth  endlich  in  Bewegung. 
Als  der  Schreiner  über  die  Brücke  von  Villeneuve  heimgeht,  sieht 
er  etwas  Schwarzes  wie  einen  Fischkasten  im  Wasser  scliwimmen: 
es  war  der  getötete  Preusse. 

Daudet  gibt  diese  Begebenheit  als  wahr  und  von  ihm  in  einer 
Schenke  des  Pariser  Arbeiterviertels  von  Montmartre  von  dem  Sclireiner 
selbst  gehört,  den  er  in  der  Sprache  des  Volkes  seine  grauenhafte 
Erzählung  vortragen  lässt. 

Ein  Freischärlerstreich  mit  geschichtlicher  Grundlage  bildet 
den  Inhalt  von  Siebecker's  EierJiändler^).  Am  11.  November  Vor- 
mittags hörte  man  in  dem  Städtchen  Chatillon  an  der  Seine  einen 
höllischen  Galopp.  Alle  Fenster  öffnen  sich;  vier  bairische  Dragoner 
durchrasen  den  Ort.  Der  Schreck  der  Bewohner  wächst,  als  an  den 
folgenden  Tagen,  bis  zum  16.,  Regimenter  auf  Regimenter  die  Stadt 
durchziehen,  und  als  schliesslich  dem  Bürgermeister  befohlen  wird, 
Quartier  für  600  Infanteristen  und  150  Reiter  bereit  zu  halten. 
Chatillon  soll  dauernd  besetzt  werden.  Die  angemeldeten  Truppen 
lassen  sich  am  17.  nieder.  Der  Gasthof  zur  Cote  d'or  wird  mit  Offizieren 
gefüllt;  die  Soldaten  nehmen  Bürgerquartier;  der  Kommandeur, 
Major  V.  Alvensleben,  quartirt  sich  bei  dem  reichsten  Bürger  der 
Stadt,  HeiTn  Barrachin,  am  äussersten  Ende  der  Ortschaft  ein. 
Zur  Ernährung  all  dieser  Leute  brauchte  man  Lebensmittel  aus  der 
ganzen  Umgebung.  So  hielt  denn  am  18.  November  vor  dem  Gast- 
hofe ein  kleiner  Bauernwagen,  geführt  von  einem  etwa  vierzigjährigen 
Bauern  und  einem  ziemlich  hübschen,  aber  selir  frech  dreinschauenden, 
etwa  zwanzigjährigen  Mädchen.  Der  GasthotTsesitzer  kauft  dem  Bauern 
Eier  ab  und  erzählt  ihm  die  Verhältnisse  der  Besatzung.  Wälu-end 
dessen  scherzen  die  deutschen  Otfiziere  mit  der  Bauerndirne ,  und 
einer,  der  etwas  Französisch  radbrecht,  bittet  sie  um  ihren  Besuch, 
den  er  auch  für  den  andern  Morgen  zugesagt  erhält,  zum  Aerger 
der  zuschauenden  Frauen,  die  über  die  Schamlosigkeit  des  Mädchens 
empört  sind.  Der  Bauer  mit  seiner  Nichte  macht  die  Runde  duixh 
die  andern  Gasthöfe  und  Wlrthschafteu ;  schliesslich  treten  sie  in  ein 
Kaifeeliaus,  der  Souspräfektur  gegenüber,  wo  Landwehroftiziere  mit 


Le  Marchand  d'ceufs  in  Beciis  heroiques,  S.  231  ff. 


112  E.  Koschivüz, 

ihnen  eine  Unterhaltung  beginnen,  sie  ausfragen  und  mehr  noch  sich 
ausfragen  lassen.  Einer  von  ihnen  theilt  dem  Bauern  mit,  dass  die 
Kasse  mit  10000  Mark  sich  im  G-asthofe  zur  Cote  d'or  betinde: 
„plus  d'archent  que  tu  n'en  as  chamais  vu".  Eine  Magd,  die  die 
bäuerlichen  Gäste  erblickt,  erbleicht  und  meldet  bestürzt  der  Be- 
sitzerin der  Wirthscliaft,  dass  sie  eben  ihren  Vetter,  einen  früheren 
Unteroffizier  und  jetzigen  Garibaldianer,  gesehen  habe.  Am  nächsten 
Morgen,  im  Frühnebel,  dringen  unter  Ricciotti  Garibaldi  Bewaffnete 
von  verschiedenen  Seiten  in  die  Stadt;  Flintenschüsse  ertönen  in 
einzelnen  Häusern,  Soldaten  stürzen  heraus,  um  die  Offiziere  zu  be- 
nachrichtigen; sie  werden  aber  gefangen  genommen  oder  getötet. 
Man  klopft  leise  an  die  Hausthüren;  Männer  treten  ein,  gleiten  in 
die  Zimmer  und  metzeln  die  Deutschen  nieder,  die  Widerstand  leisten 
wollen.  Im  Gasthof  zur  Cote  d'or  erkennt  ein  Kellner  erschreckt 
in  einem  Freischarenoffizier  den  Bauern  vom  vorigen  Tage;  dieser 
fragt  nach  dem  Zimmer  mit  der  Kasse.  Man  schlägt  sich  auf  der 
Treppe  und  im  Flur,  endlich  überrascht  man  in  dem  Kassenzimmer 
einen  Offizier  in  Hemdsärmeln.  Der  ehemalige  Bauer  ruft  ihm  zu,  er 
käme  die  Kasse  zu  holen;  ein  Revolverschuss  antwortet  ihm,  ohne  zu 
treffen.  B.  Logniot,  so  heisst  der  Freischärler,  nagelt  den  Deutschen 
mit  einem  Säbelstosse  an  die  Wand.  Es  fallen  ihm  und  seinen  Genossen 
70000  Franken  und  elf  gefangene  Offiziere  zur  Beute.  Inzwischen 
schleiclit  sich  ein  junger  Sergeant  aus  der  Freischar  der  Vogesen  mit 
einem  Gefährten  in  das  Haus  des  deutschen  Lieutenants,  der  am 
Tage  vorher  das  Bauernmädchen  zu  sich  geladen.  Er  dringt  plötz- 
lich in  dessen  Zimmer,  legt  auf  ihn  an  und  sagt  zu  ihm:  , Lieutenant, 
Sie  sagten  mir  gestern,  als  ich  eine  Frau  war,  sie  brannten  darauf,  sich 
mir  zu  übergeben;  ich  erinnere  Sie  an  Ihr  Versprechen''.  Ein  Schuss, 
vom  Burschen  des  Lieutenants  abgeschossen,  reisst  dem  Sergeanten 
das  Kt'pi  vom  Kopfe;  der  Deutsche  wird  dafür  von  dem  zweiten 
Freischärler  mit  dem  Bajonett  durchstochen;  dem  Lieutenant  wird, 
als  er  nach  einem  Revolver  greifen  will,  der  Kopf  zerechmettert. 
—  Man  schlug  sich  weiter  auf  den  Strassen,  schoss  aus  den  Fenstern: 
Ricciotti  Garibaldi  und  dei"  aus  Metz  entfioliinie  Hauptmann  Riu 
bringen,  geführt  von  B.  Logniot,  ihren  Handstreich  glücklich  zu 
Ende.  Der  Major  Alvensleben  erfährt  den  Ueberfall  zu  spät.  Er 
kleidet  sich  eilends  an,  schwingt  sich  auf  sein  Pferd  und  will  mit 
zwei  Adjutanten  entfliehen;  kaum  hat  er  einige  Schritte  zurück- 
gelegt, als  ihn  eine  Kugel  mitten  in  die  Stirne  trifft.  „Der  Tag 
war  schön  ....     Ruhm  Baptiste  Logniot!* 

Der  Verfasser  schliesst  mit  folgenden  Worten:  ^Unizlücklicher- 
weise  war  um  neun  Uhr  alles  beendet,  und  Ricciotti  verliess  Chatillon. 
Die  Deutschen  rächten  sich,  wie  sie  sich  zu  rächen  verstehen,  an 
einer  wehrlosen  Stadt".     Er  h;it  vergessen,  dass  er  zu  Anfang  seiner 


Die  französische  NoveUistik  und  Ronianlüferatur.    I.         113 

Ei-zählung  selbst  wenigstens  die  Honorationen  dieses  Städtchens  des 
Einverständnisses  mit  den  Freischärlern  zeiht,  und  dass  nach  seiner 
eigenen  Schilderung  die  Einwohner  den  Angreifern  hilfreiche  Hand 
leisteten*). 

In  legendenhafter  Einkleidung  schildert  die  Grätin  v.  Mirabeau 
einen  heroischen  Vaterlandsvertheidiger  so,  dass  über  der  Ein- 
kleidung der  Held  in  den  Hintergrund  tritt,  in  ihrer  kurzen  Er- 
zählung: Die  Legende  von  Ludre-).  Auf  einem  Spazierritt  im  Mosel- 
lande trifft  sie  unweit  des  Schlosses  der  Herren  von  Ludre  auf  eine 
Stelle,  wo  kleine  schwarze  Kreuze  bei  einer  Hecke  in  den  Rasen 
gesteckt  sind.  Ein  fast  hundertjähriger  Greis  erzählt  ihr,  dass  nach 
einer  unwahren  Sage  die  Kreuze  vom  Himmel  herabkamen,  als  eine 
Frau  von  Ludre  an  dieser  Stelle  ihren  Pfarrer  hatte  verbrennen 
lassen;  im  Wirklichkeit  habe  der  Schutzengel  der  Familie  von  Ludre 
die  Kreuze  aufgestellt.  Er  zeigt  der  Reiterin  zwei  neue  Löcher, 
die  er  ihr  als  schlimmes  Vorzeichen  erklärt;  die  beiden  erwachsenen 
Söhne  der  Familie  seien  in  Gefahr.  Ungläubig  reitet  die  Erzählerin 
von  dannen;  indess  zwei  Monate  später  ist  das  Moselthal  von  den 
deutschen  Siegern  überfluthet.  Freilich  sind  diese  selbst  in  Schreckens- 
stimmung: in  einem  Mischmasch  von  deutschen  und  ft-anzösischen 
Worten  drücken  sie  aus,  welch  grosse  Menge  der  ihren  sie  bei 
Reichshofen  verloren  haben.  Sie  rufen:  „Mac  Hon,  todhen!  morts! 
todhen!  morts!'"  Und  ihre  Wunden  zeigend,  wiederholen  sie:  „Mac 
Hon!  Mac  Hon!"  Die  beiden  Herren  von  Ludre  sind  im  Felde;  der 
eine  weilt  als  Offizier  in  Toul.  Obgleich  er  an  einer  Augenkrankheit 
leidet,  die  die  aufmerksamste  Pflege  erheischt,  ist  er  in  Kriegsdienst 
getreten,  und  hat  er  die  Leitung  eines  in  Toul  eingeschlossenen 
Bataillons  übernommen.  Der  andere  ist  im  Vertheidigungsheere  vor 
Paris.  Im  Frühling  1871  kommt  die  Erzählerin  wieder  nach  der  ge- 
schilderten Stelle:  die  kleinen  Kreuze  stehen  immer  noch  da;  aber 
kein  neues  ist  hinzugetreten.  Der  noch  gebrechlicher  gewordene 
Greis  erzählt  diesmal  ihr,  die  nun  auch  an  seine  Sage  zu  glauben 
scheint,  dass  der  eine  Ludre  heil  und  gesund  zurückgekehrt  ist :  der 
andere  hat,  wie  er  vorausgesehen,  sein  Augenlicht  verloren.  Im 
Traum  hat  der  Alte  einen  Schutzengel  bei  ihm  gesehen  und  diesen 
später  in  der  Wirklichkeit  als  die  Frau  des  wackeren  Offiziers 
wiedererkannt. 

Ein  wackerer  Patriot  ist  auch  Der  Sergeant  J.  Montet's^). 
Der  Held  wird  von  seinen  Kameraden  wegen  seiner  sieben  bis  acht 


*)  Deutsche  Schilderungen  des  Überfalles  von  Chatillon  s.  bei  Hirth, 
in,  3313  ft. 

2)  La  legende  de  Ludre  in  L'Offrande,  S.  91  ff. 
^)  Le  sergent  in  des  Verfassers  Contes  patriotiques,  S.  51  ff, 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  8 


114  E.  KoschuMz, 

Kriegsdenkmünzen  und  Ehrenzeichen  der  „Eisenkrämer"  genannt. 
Er  hat  den  Krimkrieg,  den  italienischen  und  den  Feldzug  nach 
Mexiko  mitgemacht.  Er  nimmt  aucli  an  der  Sedanschlacht  Theil, 
die  der  Verfasser  als  einen  „Verrath"  bezeichnet:  .,denn  es  ist 
Verrath ,  mit  einem  Federstriche  hundertfünfzigtausend  Mann  zu 
entwaffnen,  die  nur  zu  sterben  verlangen".  Mit  den  andern  Ge- 
fangenen wird  auch  der  Sergeant  aus  der  Stadt  herausgefülirt. 
Einige  Meter  ausserhalb  derselben  wird  der  Weg,  den  die  Gefangenen 
zn  nehmen  hatten,  von  einem  andern  geschnitten.  Dort  stand  eine 
glänzende  Gruppe  preussischer  Offiziere  in  grosser  Uniform;  in  ihrer 
Mitte,  zu  Pferde  wie  die  andern,  ein  General  von  mächtigem  Wuchs 
und  hochmüthigem  Aussehen.  Der  Sergeant  schaut  dieser  _anmassen- 
den  Gruppe"  ins  Gesicht;  das  Blut  steigt  ihm  in  die  Wangen,  er 
reisst  im  Vorbeigehen  alle  seine  Kreuze  und  Denkmünzen  von  der 
Brust  und  wirft  sie  nach  dem  Gesichte  des  Generals,  trifft  aber  nur 
seinen  Waffenrock.  Er  wird  sofort  von  der  Begleitungsmannschaft 
gepackt  und  umringt;  alles  erwartet  schweigend,  was  der  gekränkte 
Sieger  befehlen  würde.  Dieser  sagt  aber  nichts,  sondern  winkt  nur 
einem  Soldaten,  dem  Franzosen  seine  Dienstauszeichnungen  zurück- 
zugeben. Als  er  die  Zurücknahme  verweigert,  werden  sie  einem 
seiner  Kameraden  übergeben ,  der  sie  getreulich  bewahrt ,  auch 
dann  noch,  als  die  beiden  in  einer  Kasematte  an  der  Ostsee  unter- 
gebracht sind.  Erst  später  nimmt  der  Held  unserer  Erzählung  seine 
Denkmünzen  zurück,  um  Tags  darauf  mit  ilinen  zu  entw*eichen.  Er 
tritt,  glücklich  entronnen,  in  das  Heer  Faidherbe's  ein :  in  einem  der 
letzten  Kämpfe  des  französischen  Nordheeres  ereilte  ihn  der  Tod. 
Man  fand  alle  seine  Denkmünzen  auf  seiner  Brust.  Nur  das  Kreuz 
der  Ehrenlegion  fehlte;  eine  Kugel  hatte  es  ihm  ins  Herz  genagelt. 
Eine  wohl  nur  erfundene  heroische  That  schildert  Gervais, 
ein  ehemaliger  Oftizier,  in  seiner  Novelle  In  Gefangenschaft^).  An- 
lage und  Ausführung  derselben  sind  recht  mangelhaft.  Der  in  ihr 
als  Berichterstatter  auftretende  Sergeant  stellt  in  seinem  Munde  ganz 
unwahrscheinliche  moralische  und  geschichtliche  Betraclitungen  an, 
während  er  an  anderen  Stellen  in  schlichter  und  einfacher  Weise 
spricht.  Ausserdem  werden  dem  Erzähler  häutig  Gedanken  und 
Beobachtungen  untergelegt,  die  während  des  Krieges  dem  fran- 
zösischen Volke  ganz  fern  gelegen  haben,  ein  Fehler,  der  auch 
anderwärts  in  unserer  Kriegsnovellistik  auftritt.  Den  Kern  der  Er- 
zählung bildet  das  Opfer  des  Lebens,  das  ein  lediger  Unteroflizier 
einem  mit  ihm  in  Mainz  in  Gefangenschaft  befindlichen  Familien- 
vater bringt,  der  bei  einem  Fluchtversuch  einen  deutschen  Posten 
ermordet  hat.  und  an  dessen  Stelle  er  sich  freiwillig  und  unschuldig 


')  En  CapUoiie.     Paris,  o.  J.  S.  1,  fl. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitferatur.    I.         115 

erschiessen  lässt.  Das  Uebrige  ist  auf  Belehrung-  ausgehende  Schil- 
derung. Der  Sergeant  ist  bei  der  Uebergabe  von  Metz  in  Gefangen- 
schaft gerathen ;  in  Viehwagen  wurde  er  und  seine  schlecht  bekleideten 
und  ernährten  Genossen  nach  Mainz  und  dort  in  eine  Kaserne  ge- 
bracht, wo  sie  einer  engen  Ueberwachung  und  nicht  unbeträchtlicher 
Arbeit  unterworfen  wurden.  „Die  Deutschen",  heisst  es  S.  30  f., 
„haben  nichts  Eitterliches  an  sich;  Takt  und  Grossmut  sind  ihnen 
ungewohnte  Emplindungen ;  der  Besiegte  ist  ihnen  nicht,  was  er  uns 
ist;  wir  beklagen  ihn,  sie  verachten  ihn  .  .  .  Man  behandelte  die 
gefangenen  französischen  Truppen  wie  elendes  Vieh,  das  kaum  der 
Mülie  lohnt  zu  versorgen.  Dünkel.  Hochmut  bis  zu  völligem  Mangel 
an  Menschlichkeitsgefühl  waren  1870/71  für  die  deutschen  Behörden 
kennzeichnend."  Es  fehlt  indess  au  Angaben,  die  dies  beweisen;  denn 
die  angeführten  aufgebauschten  Schilderungen  der  Gefangenhaltung 
der  Franzosen  bei  Sedan  und  der  Ei^schiessung  einiger  Bewohner  von 
Bazeilles  berichten  eben,  so  weit  sie  wahr  sind,  unvermeidliche  Härten 
des  Krieges.  Was  sonst  aus  Mainz  erzählt  wird,  ist  ohne  jegliches 
Interesse.  Die  eingeflochtene  Heldenthat  ist  von  einem  der  Stuben- 
genossen des  Erzählers  ausgeführt  worden.  Der  Gerettete  hat  die 
Leiche  seines  Retters  nach  seiner  Heimat  bringen  lassen,  wo  dessen 
Andenken  von  der  gesamten  Familie  des  Befreiten  in  hohen  Ehren 
gehalten  wird. 

In  die  deutsche  Gefangenschaft  führt  auch,  aber  nur  episodisch, 
die  Erzählung  Fr.  Coppee's:  Verfehlte  Heiraten,^)  worin  ein  Haupt- 
mann kurz  erwähnt,  er  sei  als  Gefangener  nach  Pommern  gebracht 
und  bald  darauf  durch  ein  Kriegsgericht  zu  sechs  Monaten  Festung 
verurtheilt  worden,  weil  er  einen  deutschen  Hauptmann  angefahren 
habe,  der  sich  erlaubte,  gegen  einen  kriegsgefangenen  Soldaten  seiner 
Batterie  die  Hand  zu  erheben.  Kaum  aus  dem  Gefängniss  entlassen, 
noch  krank  und  vor  Fieber  zitternd,  hat  der  Franzose  den  deutschen 
Hauptmann  in  Magdeburg  aufgesucht,  ihn  öffentlich  in  einem  Bier- 
hause gefordert,  so  dass  ein  Ausweichen  nicht  möglich  war,  und  ihn 
im  Zweikampf  durch  einen  Degenstoss  in  die  rechte  Lunge  getötet. 
Diese  Heldenthat  macht  den  französischen  Hauptmann  in  Saint- 
Gennain ,  wohin  er  sich  zu  seiner  Erholung  begeben .  in  seiner 
Umgebung  interessant  und  führt  dann  zu  einem  der  beiden  Heirats- 
unternehmen, die  den  Hauptinhalt  der  Erzählung  bilden. 

Eine  vollständigere  Gefangenenerzählung,  die  allerdings  in  ihrem 
Hauptinhalt  über  die  Kriegszeit  hinaus  reicht,  bringt  Siebecker  in 
^^m^m  falschen  Zuaven  Jacob^).  Der  echte  Zuave  Jakob  hat  den  Marschall 
Canrobert  von  einer  Lähmung  geheilt.     Dies  bringt  einen  deutschen 


')  Mariages  manques  in  Contes  rapides,  Paris  1889.    S.  149  ff. 
^)  Le  faiix  zouave  Jacob  in  Recits  heroiques,  S.  289. 

8* 


116  E.  Koschivüs, 

Oberst,  einen  Polen,  der,  von  derselben  Krankheit  heimgesucht,  durch 
die  Ärzte  keine  Heilung  gefunden  hat,  auf  den  Gedanken,  diesen 
Zuaven  zu  sich  zu  bescheiden.  Sein  Telegramm  fällt  aber  in  die 
Hände  eines  anderen  Zuaven,  eines  ehemaligen  Sergent-Major,  der, 
seitdem  er  aus  der  deutschen  Kriegsgefangenschaft  zurückgekehrt  ist, 
sich  dem  Trünke  ergeben  hat,  an  dem  er  später  auch  zu  Grruude 
geht.  Er  sieht  dem  echten  Jakob  etwas  ähnlicli,  kennt  dessen  Heil- 
verfahren und  übernimmt  an  seiner  Stelle  die  Reise  nach  Deutsch- 
land, in  Begleitung  eines  elsasser  Kameraden,  der  den  Vorzug  be- 
sitzt, „Stroh  hacken",  das  soll  heissen,  deutsch  sprechen  zu  können. 
Die  Reise  erfolgt  auf  Kosten  des  Obersten.  Am  Bestimmungsorte 
angekommen,  werden  die  beiden  Franzosen  von  einem  Diener  mit  den 
Worten  empfangen:  „Die  Herren  kommen  vom  Frankreich"  und  mit 
der  weiteren  Anrede  „Ist  der  Herr  nicht  Herr  hochwohlgeboren, 
Doctor  Soifchacob?"  Sie  werden  darauf  in  einen  Gasthof  gefülirt, 
dort  wohl  bewirthet,  und  dann  von  der  Nichte  des  Oberster.,  einer 
langen  hageren  Frau  mit  ernstem  Gesicht,  empfangen.  Die  Wohnung 
des  Obersten  finden  sie  mit  Perlenrahmen,  Perlenleuchtern,  Photo- 
graphier  von  deutschen  Offizieren,  einen  Stich  von  Kosciusko,  wie  er 
auf  dem  Schlachtfelde  stirbt,  ferner  mit  wie  preussische  Soldaten  auf- 
gestellten Stühlen  ausgestattet,  vor  denen  sicli  kleine  Teppiche  be- 
finden. Das  Ganze  glich  der  Wohnung  einer  alten  Provinzialjungfer 
vom  Jahre  1840.  Zu  dem  der  Sprache  beraubten  Oberst  geführt,  hält 
ihm  der  Zuave  vor,  dass  er  ihm  während  seiner  Festungshaft  habe  zehn 
Stockschläge  reichen  lassen,  weil  er  einem  dicken  Landwehr-Feldwebel, 
der  ihm  auf  seinen  Gruss  nicht  dankte,  einen  Tritt  irgend  wohin  versetzt 
habe.  Er  will  nun  dem  zitternden  Alten  die  zehn  Hiebe  wiedergeben; 
sein  Freund  hält  ihn  indess  davon  ab:  die  Franzosen  müssten  iliren 
alten  ritterlichen  Ruf  bewahren.  So  kommt  der  Oberst  mit  der  Angst 
davon,  deren  Wirkungen  seiner  Umgebung  als  eine  Folge  der  Kur 
erscheinen.  Der  falsche  Jakob  beschäftigt  sich  dann  damit,  in  der 
deutschen  Stadt  verschiedene  Studenten  anzurempeln;  er  wird  dafür 
auf  die  Wache  geführt,  aber  sofort  wieder  entlassen,  als  man  hört, 
er  sei  der  „Hochwohlgeboren  Herr  Doctor  Soifchacob''.  Nachdem 
die  beiden  Franzosen  Tags  darauf  den  Dank  der  Nichte  erhalten, 
und  der  Zuave  durch  Bestreichungen  den  Oberst  noch  einmal  in 
Aufregung  gebracht  hat,  fahren  die  beiden  Biedermänner  nach  Frank- 
reich zurück.  Das  empfanaene  Honorar  übergab  der  ehemalige 
Sergent-Major  der  Gesellschaft  für  Elsass-Lothringen. 

lieber  die  Kriegszeit  hinaus  führt  auch  desselben  Verfassers 
Hass  in  TonkinJ)  Bei  einem  Fabrikarbeiter  zu  Phramond,  einem 
Dorfe  am  Fuss  des  Donon,    wohnte  vor  dem   Kriege   ein   hessischer 


')   Une  haiiie  au  Tonkin  in  Kecits  heroiques,  S.  217  ft. 


Die  französische  Novellisttk  und  Romanlitteraiur.    I.         117 

Arbeiter,  der  wie  zur  Familie  gehörig  betrachtet  wurde.  Bei  Beginn 
des  Krieges  wird  er  zur  Fahne  nach  Deutschland  einberufen  und  reist 
dahin  ab.  Sein  Wirth  und  dessen  Bruder  treten  dagegen  in  eine 
französische  Freischar  ein;  nur  der  Grossvater  und  die  Frauen  und 
Kinder  bleiben  zurück.  Die  Franzosen  haben  die  ersten  Schlachten 
verloren.  Eines  Tags  wird  der  vor  der  Hausthür  seine  Pfeife  rauchende 
Grossvater  von  einem  preussischen  Soldaten  begrüsst,  den  ersten,  den 
er  zu  sehen  bekommt :  es  ist  Paul ,  der  Hesse ,  der  mit  vierzehn 
anderen  Deutschen  sich  bei  ihm  einquartiert.  Paul  wird  als  des 
Landes  kundig  beauftragt,  eine  Depesche  nach  Lorquin  zu  bringen; 
er  nimmt  den  zwölfjährigen  Wirthssohn  und  dessen  gleichaltrigen 
Vetter  als  Geissein  mit,  für  den  Fall,  dass  er  Freischärlern  begegnet, 
belastet  aber  die  Knaben  unvorsichtiger  Weise  mit  seinem  Tornister 
und  Gewehr.  Die  Knaben  machen  unbeachtet  das  Gewehr  unbrauchbar, 
werfen  es  dann  mit  dem  Tornister  dem  Soldaten  in  die  Beine,  so 
dass  er  fällt,  und  enteilen  zu  einer  Muhme.  Tags  darauf  wird  zur 
Strafe  das  Haus  des  Grossvaters  bis  auf  die  Mauern  niedergebrannt. 
Die  Knaben  sind  herangewachsen,  entziehen  sich  dem  deutschen 
Militärdienst  wie  alle  jungen  Leute  des  Ortes,  und  der  Sohn  des 
Fabrikarbeiters  tritt  in  die  Fremdenlegion  ein.  In  ihr  macht  er  den 
Feldzug  in  Tonkin  mit.  Bei  einem  Treffen  sieht  er  einen  Kameraden 
von  Cliinesen  umgeben;  er  eilt  ihm  zu  Hilfe,  befreit  ihn,  aber  eine 
Kugel  zerschmettert  ihm  die  Schulter.  Im  Lazarett  kommt  er  neben 
den  Geretteten,  einen  alten  Soldaten,  zu  liegen,  und  erkennt  in  ihm 
den  Hessen  Paul.  Er  schwört  ihm  Rache,  trotz  der  seit  dem  Kriege 
verflossenen  Zeit.  Nach  der  Genesung  soll  ein  Zweikampf  auf  Leben 
und  Tod  zwischen  ihnen  statttinden.  Derselbe  wird  aber  überflüssig; 
denn  der  Hesse  , krepiert"  im  Hospital  am  Fieber. 

B.   Satirische  Schilderungen  französischer  Verhältnisse. 

Weniger  zahlreich  als  die  in  einer  Anzahl  Proben  vorgeführten 
heroischen  Erzählungen,  in  denen  wir  einer  sehr  gemischten  Gesell- 
schaft französischer  Helden  und  Heldinnen  und  einer  stattlichen 
Sammlung  deutscher  Bösewichter  begegnet  sind,  wirkliche  litterarische 
Leistungen  aber  nur  wenige  angetroffen  haben,  sind  kürzere  Er- 
zählungen, in  denen  französische  Zustände  oder  Charaktere  gegeisselt 
werden.  Bei  mancher  der  in  diese  Gattung  gehörigen  Novellen  ist 
die  Satire  eine  mehr  unbeabsichtigte;  so  insbesondere  in  den  Sclu'iften 
naturalistischer  Verfasser,  die  nur  die  nackte  Wahrheit  darstellen 
wollen.  Herbe  Wahi'heiten  lassen  sich  nicht  sagen,  ohne  dass 
ilmen  ein  satirischer  Beigeschmack  anhinge,  und  man  kann  nicht 
behaupten,  dass  bei  der  Stoffwahl  dieser  Ei'zählungen  die  satirische 
Wirkung  hätte  vermieden  werden  sollen.     Bei  anderen  Erzählungen 


118  E.  Koschmtz, 

liej?t  die  satirische  Tendenz  und  die  damit  verbundene  patriotische 
Absicht,  entdeckte  Schwächen  zu  bekämpfen,  offen  zu  Tage.  Ihrem 
litterarischen  Werte  nach  stehen  die  hier  anzufülu'enden  Erzählungen 
hoch  über  dem  Durchschnitt  der  unsern  ersten  Abschnitt  bildenden 
Heldenerzählungen. 

Drei  hierher  gehörige  Novellen  finden  sich  in  den  Medaner 
Abenden,  einer  Sammlung  naturalistischer  Kriegserzählungen,  der  wir 
schon  oben  (S.  102 f.)  den  Inlialt  von  Zola's  Angriff  auf  die  Mühle  und 
von  Alexis'  Nach  der  Schlacht  entnahmen. 

H.  Ceard's  Aderlass^)  beginnt  mit  Schilderung  der  aufgeregten 
Stimmung  der  Pariser  nach  der  Erstürmung  von  Le  Bourget  durch  die 
Deutschen,  am  30.  Oktober.  Die  Bewegung  erreicht  auch  den  komman- 
dierenden General  (Trochu,  der  nicht  mit  Namen  genannt  wird).  Polizei- 
berichte haben  ihm  mitgetheilt,  dass  in  den  Arbeitervierteln  der  Auf- 
stand droht.  Er  hat  deshalb  seine  Stabsoffiziere  um  sich  versammelt.  Sie 
sind  gleich  ihm  der  Meinung,  dass  alles  geschehen  ist,  was  geschehen 
konnte,  und  dass  einige  Worte  genügen  würden,  das  Volk  zu  be- 
ruhigen. Eine  neue  Proklamation  wird  beschlossen,  und  während  sie 
abgefasst  wird,  hört  man  draussen  die  Kehrvei'se  der  Marseillaise 
singen.  Der  General  verliest  die  schnell  entworfene  Kundgebung, 
worin  er  die  weisen  Gründe  seines  Zögerns,  die  zahllosen  Schwierig- 
keiten des  Widerstandes  auseinandersetzt  und  von  Hoffnung,  schliess- 
lichem  Erfolge,  künftigem  Triumphe  spricht,  während  ein  ironisches 
Lächeln  seine  beschnurrbartete  Lippe  faltet.  Zerstreut  hören  die 
Stabsoffiziere  zu ;  ein  Spötter  unter  ihnen  skizziert  die  Scene.  Während 
einer  Pause  der  langen  Vorlesung  hört  man  draussen  vor  dem  Stabs- 
gebäude Kommandorufe,  Wagengerassel,  das  Gestampf  und  Geheul 
einer  ungeduldigen  Menge.  Das  Geschrei  wird  immer  gi'össer, 
ein  Kuf  der  Bitte  und  der  Drohung  übertönt  alle  übrigen:  „Der 
Durchbrucli,  der  Durchbruch!'' 

Ein  Stabsoffizier  tritt  auf  den  Balkon:  der  Ratluiausplatz  ist 
von  Nationalgarden  dicht  besetzt.  Die  Menge  hält  den  Offizier  für 
den  Oberstkommandierenden;  beleidigende  Rufe  und  ironischer  Beifall 
schallen  ihm  entgegen;  etw^asblass  zieht  er  sich  zurück;  der  gewaltige, 
wüthende  Drohruf:  Kapitularden,  Kapitularden,  tönt  ihm  nach.  „Die 
guten  Wallschnecken!"  sagt  er,  indem  er  das  Fenster  schliesst;  „man 
wird  ihnen  einen  Aderlass  beibringen  müssen,  sonst  haben  sie  keine 
Ruhe".  Das  Wort  findet  im  Kreise  der  Stabsoffiziere  lächelnden 
Beifall,  auch  der  Oberstkommandierende  nickt  beistimmend.  Noch 
ist  die  Verlesung  der  neuen  Kundgebung  nicht  beendet,  da  tritt  ein 
junges,  elegantes  Weib  in  den  Berathungssaal  und  begrüsst  vertraulich 
den  General  und  seine  -Koterie'-.    Es  ist  die  Maitresse  des  Komman- 


*)  La  Saignee,  a.  a.  0.,  S.  149  ff. 


Die  französische  NoveUistik  und  Bomanlittercdur .    I.         119 

danten.  Sie  nimmt  die  eben  ausgearbeitete  Kundgebung  in  die  Hand, 
durchliest  sie  mit  spöttischen  Betrachtungen,  und  wirft,  des  Lesens 
müde,  mit  einem: 

Et  patati  et  patata.  Et  cetera  pantoufle. 
das  Papier  in  die  Luft.  Die  Stabsoffiziere  schauen  verdutzt  drein. 
Der  General  findet  vor  innerem  Aufruhr  keine  Worte.  Als  aber 
seine  Maitresse  ihnen  allen  den  Vorwurf  an  den  Kopf  wirft,  dass 
sie  ihre  Kundgebung  nicht  ernst  nehmen,  und,  sich  ein  Kepi  auf- 
setzend, die  Vei-sammlung  für  geschlossen  erklärt,  erhebt  er  drohend 
die  Faust  gegen  sie.  Sie  weicht  aus  und  fordert  in  familiärer  Wendung 
die  anwesenden  Herren  auf,  den  Saal  zu  verlassen,  was  auch  ge- 
schieht. Es  kommt  nun  zur  Auseinandersetzung  zwischen  den  beiden 
Zurückgebliebenen.  Die  Frau,  M"'*'  Pahauen,  wirft  dem  General 
seine  Unentschlossenheit  vor;  zählt  alle  Mangelhaftigkeiten  der 
Vertheidigung  von  Paris  auf;  die  Kämpfer  ohne  Ordnung,  die  dem 
Zufall  anheim  gegebenen  Gefechte,  die  fehlenden  Munitionen,  die  zu 
kurzen  Brücken  u.  s.  w.;  und  nennt  ihm  endlich  die  Reihen  der 
Männer,  mit  denen  sie  ihn  betrogen,  um  seine  ihr  lächerlich  er- 
scheinende Eifersucht  noch  mehr  zu  reizen.  Gleichzeitig  dauert  der 
Lärm  vor  dem  Hause  fort;  man  hört  die  Rufe:  Nieder,  nieder,  Ent- 
lassung! Unter  dem  doppelten  Eindruck  der  ihn  treffenden  Vor- 
würfe gewinnt  der  General  endlich  die  nötliige  Entschlossenheit,  um 
die  Geliebte  zu  verjagen;  selbst  ihre  Drohung,  nach  Versailles  zu 
den  Preussen  zu  gehen,  ändert  seinen  Entschluss  nicht  mehi\  Als 
sie  fort  ist,  athmet  er  auf;  seine  Machtfülle  berauscht  ihn.  Indessen 
wird  vom  Platze  aus  in  den  Saal  geschossen.  Ruhig  schUesst  er 
das  Fenster,  und  der  Menge  die  Faust  weisend,  ruft  er  aus: 
A  nous  deux  maintenant ! 
Des  andern  Tags  ist  der  Aufstand  besiegt,  die  Führer  desselben 
sind  verhaftet,  die  Zeitungen  unterdrückt,  und  Frau  von  Pahauen 
wird  aus  den  französischen  Linien  herausgebracht.  Traurig  bleibt 
der  General  zurück;  er  kann  die  Sehnsucht  nach  der  Vertriebenen 
nicht  unterdrücken.  Er  ist  auch  nicht  der  einzige  Traurige.  Durch 
ihr  heiteres  Temperament  und  ihr  familiäres  Wesen  hat  die  vor- 
nehme, in  allen  Lastern  erfahrene  Kokette,  als  Krankenpfiegerin  und 
als  Begleiterin  des  Kommandanten  auf  allen  seinen  Besichtigungen, 
überall  zu  bezaubern  und  zu  begeistern  verstanden:  sie  fehlt  dem 
ganzen  Heere  ebenso  sehi',  wie  dem  obersten  Befehlshaber.  Ln 
Uebrigen  wird  sie  von  Ceard  genau  in  der  für  Frauen  ihres  Standes 
in  den  französischen  Romanen  hergebrachten  Weise  geschildert,  von 
der  weder  die  pariser  Autoren  noch  ihr  Leserkreis  übersättigt  werden 
zu  können  scheint.  Der  Kommandant  dagegen  tritt  auf  als  ein 
ehi'geiziger  Streber,  dem  es  an  Kenntnissen  und  Talent  nicht  fehlt, 
dem   aber   die   Entschlossenheit    und    die   Fähigkeit    gebricht,    sich 


120  E.  Koschwiiz, 

schnell  in  gegebene  Verhältnisse  zu  finden  und  aus  ilinen  Nutzen 
zu  ziehen. 

Frau  von  Pahauen  rindet  in  Versailles  nicht,  was  sie  dort 
suchte.  Sie  fällt  in  die  Hände  einer  gewissenlosen  Elsasserin.  die 
ehemals  das  Gewerbe  einer  Hebamme  nicht  allzu  ängstlich  aus- 
geübt hat,  und  die  nun  einen  Gasthof  mit  Schankwdrtlischaft  besitzt, 
nebenbei  aucJi  Kuppelgeschäfte  betreibt.  Den  Franzosen  macht  sie 
sich  durch  geheuchelte  patriotische  Redensarten  annelimbar,  die 
Deutschen  sind  ihr  lieb  und  w-erth  als  willkommene  Mietlier  ihrer 
theuren  Zimmer  und  als  gute  Abnehmer  ihrer  gefälschten  Spirituosen 
und  Weine.  Diese  ehrenwerthe  Frau  Worimann  wünscht  in  ihrem 
Herzen  nichts  sehnlicher,  als  eine  pariser  Belagerung  auf  Ewigkeit. 
Sie  plündert  ihre  neue  Mietherin  in  der  schamlosesten  Weise  aus. 
Aber  auch  sonst  ist  Frau  von  Pahauen  nicht  glücklich.  Freuden- 
mädchen waren  in  Versailles  nicht  selten,  und  ihre  pariser  Be- 
rühmtheit übte  auf  die  davon  nichts  ahnenden  deutschen  Offiziere 
keinerlei  Anziehung  aus.  Die  erwarteten  Huldigungen  bleiben  darum 
aus.  Sie  bemerkt  infolge  bei  ilir  eintretenden  Mangels  an  Ver- 
schönerungsmitteln sogar  mit  Schrecken,  dass  sie  zu  altern  beginnt. 
Allmählich  tritt  bei  ihr  auch  Geldmangel  ein;  die  Wirthin,  die  darauf 
gelauert,  will  sie  für  eine  bestimmte  Summe  einem  deutschen  hohem 
Offizier  verschacliern.  Dagegen  bäumt  sich  ihr  Stolz  auf:  sie,  deren 
Launen  sich  das  ganze  französische  Heer  beugte,  die  früher  für 
einen  Kuss  Familien  zu  Grunde  richtete  und  Bankiers  zum  Bankerott 
brachte,  soll  wie  eine  gewöhnliche  Dirne  für  einen  bestimmten  Preis 
ihr  Lächeln  an  einen  Landesfeind  verkaufen!  Niemals.  Dir  eigner 
Verfall  lässt  sie  zum  ersten  Mal  das  Unglück  ihres  Vaterlandes  mit 
empfinden,  ihr  Patriotismus  wird  mächtig  erregt,  und  zornig  sieht 
sie  Preussen  an  ihrem  Fenster  mit  Hurraliruf  vorbeimarscliieren. 
Mit  schmerzvollem  Entsetzen  hört  sie  von  neuen  deutschen  Siegen, 
sieht  sie  den  Beginn  der  Beschiessuug  von  Paris.  Sie  will  nun  unter 
allen  Umständen  nach  Paris  zurück.  Um  dies  zu  erreichen ,  geht 
sie  auf  den  Vorschlag  ihrer  Wirthin  ein,  unter  der  Bedingung,  dass 
ihr  deren  Schutzbefohlener  die  Rückkehr  nacli  I'aris  ermögliche. 
Ihr  Wunsch  wird  erfüllt. 

Während  dessen  ist  in  Paris  Mangel  an  Nahrungsmitteln  ein- 
getreten. Die  Fleischportionen  sind  immer  kleiner  geworden;  der 
Bäcker  wird  durch  den  Chemiker  vertreten;  Hunde,  Katzen  und 
Ratten,  mit  Widerwillen  gekauft,  ohne  Butter  zubereitet,  mit  Ekel 
verzehrt,  vermehren  die  Magenkrankheiten.  Es  gibt  keine  Milch 
mehr;  die  Kindersterblichkeit  macht  Riesenfortscliritte.  Die  Be- 
schiessung  und  die  Kälte  erhöhen  die  Leiden  der  pariser  Bevölkerung. 
Alle  Nachrichten  bleiben  aus.  Begeisterung  und  Hofihung  schwinden. 
Der   Kommandant    unterlässt    allmählich    seine   wortreichen   Kund- 


Die  französische  Novellisfik  und  Romanlitteratur.    I.         121 

gebungen.  Die  Nachrichten,  die  er  erhält,  sind  schlecht;  ein  durch 
die  feindlichen  Linien  gedrungener  Bote  berichtet  die  beklagens- 
werthesten  Einzelheiten.  Der  Gedanke  an  Uebergabe  beginnt  sich 
bei  ihm  einzuschmeicheln.  Er  will  sich  indess  aus  eigner  Anschauung 
überzeugen,  ob  nicht  dennoch  ein  heroischer  Durchbruch  ausführbar  ist. 
Vom  Triumphbogen  aus  schaut  er  nach  der  Umgebung,  melancholisch 
sich  an  die  verlorene  Geliebte  erinnernd,  die  ihn  für  das  Fehleu  von 
Euhm  trösten  würde,  zu  dem  er  sicli  verbannt  sieht.  Da  meldet 
ihm  ein  Telegramm,  dass  an  der  Sevre^brücke  ein  Parlamentär  für 
die  Frau  von  Pahauen  Einlass  begehrt.  Mit  Freuden  genehmigt  er 
denselben.  Er  stürzt  in  die  Arme  der  Vermissten,  die  er  in  das 
Generalstabsgebäude  hat  bringen  lassen;  aber  sie  bleibt  ernst  und 
kühl.  Sie  wirft  ihm  vor,  dass  er  noch  immer  keinen  Durchbruch 
durch  das  Belagerungsheer  unternommen;  sie  widerholt  das  Gerede, 
die  falschen  Nachrichten,  all  die  einfältigen  Erzählungen,  die  un- 
gereimten Ertindungen,  die  unwahrscheinlichen  Einzelheiten,  die  sie 
in  Versailles  gehört;  sie  hält  ihm  das  Elend  der  Pariser  vor,  sie 
fasst  ihn  beim  Ehrgeiz  und  weiss  wirklich  eine  Art  Siegesstimmung 
bei  ihm  zu  erwecken.  Er  entschliesst  sich  zu  einem  letzten  Versuch 
mit  allen  Mitteln,  auch  unter  Verwendung  der  Nationalgarde,  und 
er  gedenkt  dabei  der  Worte  seines  Stabsoffiziers:  „Diese  guten  Wall- 
schnecken; man  muss  ihnen  zur  Ader  lassen".  Er  sagt  der  Frau 
von  Pahauen  das  Unternehmen  zu.  Sie  springt  ihm  vor  Freuden 
an  den  Hals  und  bittet  nur  noch  um  einen  guten  Platz,  wo  sie  das 
alles  ohne  Gefahr  sehen  könne. 

„Acht  Tage  später  fand  der  Ausfall')  statt,  tappend  im  Nebel. 
Des  Abends,  nach  einem  Tage  des  Bangens  und  der  Erwartung, 
bei  dem  flüchtigen  Lichtschein  von  Streichhölzern  las  man  an  den 
Bürgermeistereien  die  genaue  Meldung  des  endgiltioen  Misserfolges, 
der  unvermeidlichen  Uebergabe.  Zugleich  verlangten  die  Anschläge 
Männer,  Pferde  und  Wagen,  um  die  Todten  und  Verwundeten  der 
Nationalgarde  dem  Kothe  zu  entreissen,  die  da  oben  in  den  Wäldern 
aus  allen  Adern  blutete." 

In  eine  niedrigere  Sphäre  führt  L.  Hennique  in  seiner  Affaire 
der  grossen  Numero  7^).  Die  Satire  ist  hier  noch  weniger  aus- 
gesprochen als  in  Ceard's  Erzählung;  aber  es  ist  nicht  möglich,  in 
der  Hennique'schen  Schilderung  die  absichtslose  Darstellung  einer 
Schattenseite  des  französischen  Soldatenlebens  zu  sehen. 

Der  Verfasser  führt  uns  in  eine  kleine,  verlorene  Garnison- 
stadt, deren  Besatzung  nicht  daran  glaubt,  je  mit  dem  Feinde  in 
Berührung  zu  kommen.     „Diese  immer  angemeldeten,  nie  sichtbaren 


')  Die  Schlacht  am  Mont  Valerien  vom  19.  Januar  1871. 

^)  L'affaire  du  grand  7  in  Soirees  de  Medan,  a.  a.  0.    S.  225. 


122  E.  Koschivitz, 

Preussen  werden  sich  schwerlich  luu  unser  Nest  und  seine  dreitausend 
Mann  Unbequemlichkeiten  machen".  Ein  Soldat,  dem  aus  der  Heimat 
Geld  zugetiossen,  ist  aus  der  Kaserne  entwisclit.  Abends  um  elf  Uhr 
kehrt  er  schwer  verwundet  in  seine  Stube  zurück;  seine  Zimmer- 
genossen lauschen  ihm,  ehe  er  stirbt,  nur  noch  die  Mittheilung  ab, 
dass  der  Wirth  der  grossen  Nummer  7,  eines  Bordells,  den  tötlichen 
Schlag  gegen  ihn  geführt.  Empört  greifen  sie  zu  den  Waffen;  die 
ganze  Kaserne,  die  Wachen  folgen  ihnen,  auch  die  Bewohner  einer 
anderen  Kaserne,  die  Artilleristen,  schliessen  sich  an;  die  ganze 
Grarnison  ist  in  Aufruhr.  Die  Numero  7  wird  bestürmt,  beschossen. 
Der  Bordellwirth  ist  entflohen;  an  seiner  Stelle  finden  die  Insassinnen 
seines  Hauses  sämtlich  ihren  Tod.  Auch  einen  Offizier,  der  bei  dem 
Lärm  herbeigeeilt  ist  und  seinem  Unwillen  Ausdruck  verleiht,  trifft 
die  Kugel  eines  Soldaten.  Die  übrigen  Offiziere  versammeln  sich  bei 
ihrem  Kommandanten,  um  zu  erfahren,  wie  dem  Aufstande  zu  be- 
gegnen sei.  Sein  Bescheid  lautet:  abwarten!  Er  entlässt  sie  mit 
sarkastischem  Lächeln  in  seinem  weissen  Schnurrbart  und  sagt: 
„Ihr  versteht  das  nicht!  Lassen  wir  eine  Woche  vergelien,  und  wir 
werden  sehen,  wer  die  Sache  bedauern  wird.  Diese  Kerle  sind 
dümmer  wie  Kinder  .  .  .  Sie  haben  ihr  Spielzeug  zerbrochen". 

Die  Hauptscene,  die  Ermordung  der  Freudenmädchen,  ist  nach- 
drücklich, mit  aller  Unbarmherzigkeit  eines  rohen  Naturalismus  aus- 
gemalt, und  es  lässt  sich  ihr  deutlich  das  Behagen  des  Verfassers 
an  Schilderung  eines  obscönen  Stoftes  anmerken. 

Eine  ebenso  zweifelhafte  Heldin  wie  in  Alexis'  Nach  der  Schlacht, 
welche  Erzählung  wir  auch  hier  hätten  einflechten  können,  findet 
sich  in  Guy  de  Maupassant's  Fettkugel^).  Die  Hauptrolle  spielt 
hier  ein  Mädchen  der  Halbwelt,  eine  gewöhnliche  Dirne,  die  aus  ilu-en 
etwas  fetten  Reizen  (daher  ihr  Beiname:  Fett-,  oder  genauer,  Talg- 
kugel) einen  Ervverbszweig  gemacht  hat.  Ihi-  Arbeitsfeld  ist  die 
normannische  Hauptstadt  Rouen.  Auch  dort  sind  die  Preussen  ein- 
gerückt. Die  biederen  Rouener  Freischärler  und  Nationalgarden 
sind  vor  ihrer  Ankunft  spurlos  vei'schwunden.  Manche  dunkle 
Rachehandlungen  werden  an  den  Eindringlingen  verübt,  doch  stellt 
sich  im  allgemeinen  zwischen  ihnen  und  den  Einwohnern  ein  leid- 
liches Verhältniss  heraus.  „In  vielen  Familien  speiste  der  ein- 
quartierte deutsche  Offizier  mit  am  Tische.  Er  war  „manchmal" 
gut  erzogen ,  beklagte  aus  Höflichkeit  Frankreich ,  und  verlieh 
seinem  Widerwillen  an  der  Theilnahme  am  Kriege  Ausdruck.  Man 
war  ihm  für  diese  Empfindung  dankbar;  ausserdem  konnte  man  den 
einen  oder  andern  Tag  seines  Schutzes  bedürfen.  Wenn  man  ihn 
schonte,  erhielt  man  vielleicht  ein  paar  Mann  weniger  zu  beköstigen. 


')  Boule  de  suif  in  Soirees  de  Medan,  S.  53  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteraiur.    I.         123 

Und  warum  jemand  verletzen,  von  dem  man  gänzlich  abliing?  So 
zu  handeln  wäre  weniger  Tapferkeit  als  unbesonnene  Verwegenheit 
gewesen.  —  Und  die  Verwegenheit  ist  kein  Fehler  der  Rouener 
Bürger  mehr,  wie  zur  Zeit  der  heroischen  Vertheidigungen  ihrer 
Stadt.  —  Man  sagte  sich  endlich,  dass  mau  wohl  in  seinem  Heim 
höflich  sein  konnte,  wenn  man  sich  nur  nicht  öffentlich  mit  dem 
fremden  Soldaten  vertraut  zeigte.  Ausserhalb  kannte  man  sich  nicht, 
aber  im  Hause  plauderte  man  gern,  und  der  Deutsche  blieb  jeden  Tag 
länger,  um  sich  am  gemeinsamen  Herde  zu  wärmen."  „Die  Stadt 
gewann  ihr  gewöhnliches  Ansehen  wieder.  Die  Franzosen  gingen 
wenig  aus,  dafür  wimmelten  die  preussischen  Soldaten  auf  den  Strassen 
umher.  Die  Offiziere,  die  blauen  Husaren,  die  ihre  grossen  Mord- 
werkzeuge anmassend  auf  dem  Pflaster  herumschleppten,  schienen 
übrigens  für  die  einfachen  Bürger  nicht  unendlich  viel  mehr  Gering- 
schätzung zu  hegen,  wie  die  Chasseuroffiziere ,  die  ein  Jahr  früher 
in  denselben  Kaffeehäusern  verkehrten."  „Da  endlich  die  Fremden 
keine  der  Schauerthaten  verübten,  die  das  Gerücht  ihnen  auf  ihrem 
Triumphmarsche  zugeschrieben  hatte",  so  wagte  sich  selbst  der  Handel 
wieder  hervor,  und  man  benutzte  namentlich  den  Einfluss  deutscher 
Offiziere,  um  sich  Erlaubnissscheine  zum  Reisen  zu  verschaffen. 

So  hatten  denn  auch  ein  französischer  Graf,  ein  reicher  Wein- 
händler und  ein  Baumwollenfabrikant,  mit  ihren  Gattinnen,  zwei 
Nonnen,  ein  Demokrat  und  unsre  Heldin  die  Erlaubniss  zur  Abreise 
erhalten.  Sie  fulu-en  gemeinsam  in  einem  schwerfälligen  Omnibus  von 
demselben  Gasthofe  ab.  Bei  dem  tiefen  Schnee  und  der  Ungefügig- 
keit  des  Fulirvverks  ging  die  Fahrt  nur  langsam  von  Statten.  Ausser 
„Fettkugel"  hat  niemand  daran  gedacht,  etwas  zum  Essen  mitzu- 
nehmen. Als  sie  daher  ihren  Mundvorrath  herausnimmt,  schauen  ihr 
die  andern  mit  sehnsüchtigen  Blicken  zu.  Sie  bietet  gutmüthig  von 
ihren  reichlichen  Speisen  an.  Die  Würde  verbietet  aber  ihren  Reise- 
gefährten von  ihr  etwas  anzunehmen;  indess  der  Hunger  unterdrückt 
allmählich  das  Würdegefühl,  und  nachdem  der  Demokrat  den  Anfang 
gemacht,  nehmen  Graf  und  Gräfin,  Nonnen,  Bürger  und  Bürgerfrauen 
die  dargebotenen  Speisen  dankbar  an.  Die  Gesellschaft  ist  endlich 
nach  vierzehnstündiger  Fahrt  in  Totes  angelangt  und  wird  von  dem 
im  Gasthaus  einquartirten  Besatzungskommandanten,  einem  jugend- 
lichen Husarenoffizier,  in  Empfang  genommen,  dem  die  Pässe  vor- 
zuweisen sind.  Aus  ihnen  ersieht  er  das  Gewerbe  der  „Fett- 
kugel". Er  beschliesst  sie  zu  einer  Ausübung  desselben  zu  veran- 
lassen, und  als  sie  dem  aus  Patriotismus  widersteht,  untersagt  er 
der  ganzen  Gesellschaft  so  lange  die  Weiterfahrt,  bis  das  Mädchen 
nachgegeben  habe.  Sie  wird  für  ihr  patriotisches  Verhalten  von 
ihren  Reisegenossen  auf  das  Wärmste  belobt.  Die  Männer  machen 
darauf  einen  Rundgang   durch   die  Ortschaft,    um  dabei   nach   dem 


124  E.  Koschwitz, 

Kutscher  zu  suchen.  Mit  Staunen  sehen  sie  einen  preussischen 
Soldaten  Kartoffeln  schälen ,  einen  zweiten  einen  Barbierladen 
waschen,  während  ein  dritter,  bärtig  bis  an  die  Augen,  ein  kleines 
weinendes  Kind  küsst  und  auf  seinen  Knieen  wiegt,  um  es  zu  be- 
ruhigen. Die  dicken  Bäuerinnen,  deren  Männer  im  französischen 
Heere  standen,  deuteten  ihren  gehorsamen  Besiegern  die  zu  leisten- 
den Arbeiten,  wie  Holzspalten,  Suppe  anrichten,  Kaffee  mahlen  durch 
Zeichen  an.  Einer  wusch  sogar  seiner  Wirthin,  einer  alten  Gross- 
mutter, die  Wäsche.  Den  Kutscher  ündet  man  in  dem  Dorfcafe 
brüderlich  mit  dem  Ofüzierburschen  bei  Tische  sitzend.  Allmählich 
wird  der  Gesellschaft  die  Zeit  in  Totes  lang.  Da  am  zweiten  und 
dritten  Tage  immer  noch  keine  Erlaubniss  zur  Fortsetzung  der 
Reise  erfolgt,  ändert  sich  ihre  Stimmung  vollständig.  Der  Graf 
unternimmt  es,  die  Heldin  zur  Nachgiebigkeit  umzustimmen;  die 
mitreisenden  Damen  zeigen  ihr  schmollende  Gesichter.  Aber  erst 
als  auch  die  frommen  Schwestern  von  den  Opfern  sprechen,  die  oft 
Heilige  zum  Wohle  der  Menschheit  gegen  bessere  Ueberzeugung 
gebracht,  lässt  sie  sich  bereden.  Wahrend  „Fettkugel"  bei  dem 
deutschen  Offiziere  weilt,  ergeht  sich  die  übrige  Gesellschuft  in  heiter 
belebten  Gesprächen;  zur  Feier  der  bevorstehenden  Erlösung  wird 
ein  besserer  Wein  getrunken,  und  des  Nachts  ergreift  die  Ehepaare 
eine  erregte  erotische  Stimmung.  Der  Abfahrt  steht  am  folgenden 
Tage  nichts  mehr  entgegen.  Diesmal  hat  aber  „  Fettkugel "  in  tiefer 
Niedergeschlagenheit  vergessen,  sich  mit  Nahrungsmitteln  zu  ver- 
sorgen, während  alle  übrigen  reichlich  mit  solchen  versehen  sind. 
So  sehnsüchtig  sie  auch  nach  dem  Essen  der  andern  schaut,  niemand 
gönnt  ihr  ein  freundliches  Wort,  niemand  denkt  daran,  ihr  durch 
eine  Gegengabe  seinen  Dank  abzustatten.  Weinend  und  hungernd 
muss  sie  bis  zur  Ankunft  in  Dieppe  ausharren. 

Die  Erzählung  liat  einen  ungewöhnlichen  Erfolg  gehabt.  Ein 
Maler,  Boutigny,  hat  die  Heldin  im  Augenblick,  wo  sie  verlegen  den 
von  Ronen  abfahrenden  Wagen  besteigen  soll,  um  mit  der  ge- 
schilderten Honoratiorengesellscliaft  abzureisen,  in  einem  Gemälde 
verherrlicht;  die  französische  Regierung  hat  dasselbe  angekauft  und 
dem  vom  Schauplatze  der  Handlung  etwas  abgelegenen  Museum  von 
Carcassone  überwiesen,  hoffentlich  nicht  zur  Belehrung  der  unreifen 
Jugend,  die,  wie  mich  der  Augenschein  überzeugte,  dieses  an  Nackt- 
heiten besonders  reiche  Museum  fast  ausschliesslicli  bevölkert. 

An  diese  naturalistischen  Erzählungen  lassen  sich  einige 
der  realistischen  Montagserzählungeu  A.  Daudet's  anreihen.  Die 
eine  derselben:   eine  Partie  Billard^),   geisselt  die  Gewissenlosigkeit 

*)  Une  partie  de  hillard,  a.  a  0.  S.  LS  ff.  Uebersetzt  von  Gerstmann. 
A.  Daudet,  S.  l3.Sff .  wo  S.  I30f.  dem  Kriegsjahre  und  seinem  Einflüsse  auf 
Daudet  ein  besonderer  Abschnitt  srewidmet  ist. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         125 

eines  höheren  französischen  Offiziers.  Zwei  Tage  hat  man  sich 
herumgeschlagen.  Die  armen  Soldaten  haben  die  Nacht  mit  dem 
Tornister  auf  dem  Rücken  unter  strömenden  Regen  verbracht;  man 
lässt  sie  drei  Stunden  lang  unthätig,  Gewehr  bei  Fuss,  in  den 
Lachen  der  Landstrassen,  im  Kote  der  aufgeweichten  Felder  stehen. 
Auf  das  tiefste  ermüdet,  mit  durchnässter  Kleidung,  drängen  sie 
sich  eng  aneinander,  um  sich  gegenseitig  zu  wärmen  und  sich  auf- 
recht zu  erhalten.  Manche  schlafen  stehend;  ihre  Ermattung  und 
ilire  Entbelirungen  lassen  sich  ihnen  auf  den  Gesichtern  ablesen. 
Ihre  nach  dem  Walde  gericliteten  Kanonen  scheinen  auf  etwas  zu 
warten;  die  versteckten  Kugelspritzen  schauen  starr  zum  Himmel 
auf;  alles  scheint  zum  Angriff  bereit.  Warum  wird  aber  nicht  an- 
gegriffen? Es  fehlt  an  Befehlen,  und  das  Hauptquartier  sendet  keine. 
Dasselbe  ist  aber  nicht  fern ;  es  liegt  in  einem  prachtvollen  Schlosse, 
an  dem  nichts  bemerken  lässt,  dass  es  von  seinen  Besitzern  verlassen 
ist.  Der  Regen,  der  da  unten  bei  den  Soldaten  einen  so  tiefen 
Schmutz  erzeugt,  fällt  hier  als  zierlicher  Guss  herab,  der  das  Roth 
der  Ziegeln,  das  Grün  der  Anlagen  nur  um  so  glänzender  hervor- 
treten lässt.  Die  Pferde  ruhen  im  Stalle,  Offizierburschen  stehen 
müssig  an  den  Küchenthüren  oder  rechen  gelassen  den  Sand  der 
Gartenwege.  Im  Speisesaale  heiTscht  laute  Unterhaltung,  erschallt 
fröhliches  Gelächter.  Der  Marschall  spielt  seine  Partie  Billard,  und 
deshalb  muss  das  Heer  auf  die  Befehle  warten.  Das  Billard  ist  die 
schwache  Seite  des  grossen  Kriegsmannes.  Er  ist  mit  ganzer  Seele 
dabei,  ernst  wie  auf  dem  Schlachtfelde;  die  Adjutanten  bewundern 
jeden  seiner  Stösse.  Sein  Partner  ist  ein  kleiner  geschniegelter 
Stabsoffizier,  ein  ausgezeichneter  Billardspieler,  der  sich  bemüht, 
nicht  zu  gewinnen,  aber  auch  nicht  zu  leicht  zu  verlieren:  ein 
Offizier,  der  eine  Zukunft  hat.  Wenn  er  seine  Partie  geschickt  zu 
Ende  führt,  langsam  vorspielend,  so  hat  er  für  seine  Beförderung 
mehr  gethan,  als  wenn  er  draussen  mit  den  andern  im  strömenden 
Regen  seine  schöne  Uniform  beschmutzte,  das  Gold  seiner  Achsel- 
schnüre um  ihren  Glanz  brächte,  Befehle  erwartend,  die  nicht  ein- 
treffen. Das  Spiel  ist  im  besten  Gange.  Plötzlich  steigt  die 
Flamme  eines  Kanonenschusses  zum  Himmel.  Alles  zittert,  man  sieht 
sich  unruhig  an.  Nur  der  Marschall  hat  nichts  gehört  und  nichts 
gesehen;  auf  sein  Billard  geneigt,  bedenkt  er  die  Wirkung  einer 
von  hinten  zu  nehmenden  Kugel,  seine  Hauptstärke.  Ein  neuer 
Blitz  und  noch  einer.  Die  Kanonenschüsse  folgen  immer  rascher 
auf  einander.  Die  Adjutanten  eilen  an  die  Fenster.  Sollten  die 
Preussen  angreifen?  „Mögen  sie  angreifen",  sagte  der  Marschall, 
seine  Kugel  aufsetzend;  „Sie  sind  daran,  Herr  Hauptmann.'-  Der 
Stab  bebt  vor  Bewunderiing.  Turenne  auf  einer  Lafette  schlafend, 
ist  nichts  gegen  diesen  Marschall,  der  während  eines  Gefechtes  so 


126  E.  Koschwitz, 

ruhig  bei  seinem  Billard  bleibt.  .  .  Der  Lärm  nimmt  zu.  Kanonen- 
donner mischt  sich  in  das  Knattern  der  Kugelspritzen  und  das 
Rollen  des  Rottenfeuers.  Der  Hintergrund  des  Parkes  ist  geröthet, 
die  Rosse,  Pulver  riechend,  bäumen  sich  im  Stalle.  Das  Haupt- 
quartier wird  lebendig;  Depesche  auf  Depesche  trifft  ein;  Eilboten 
reiten  mit  verhängten  Zügeln  heran,  man  fragt  nach  dem  Marschall. 
Er  ist  nicht  zu  sprechen.  Sein  Partner  hat  zerstreute  Augenblicke, 
er  gewinnt  fast  die  Partie.  Der  Marschall  wird  darüber  wüthend; 
Ueberraschung,  Unwille  malen  sich  auf  seinem  männlichen  Gesichte. 
Ein  kotbespritzter  Adjutant  sprengt  heran,  er  lässt  sich  nicht  zurück- 
halten und  dringt  auf  die  Freitreppe  vor.  Der  Marschall  wird 
darüber  rotli  vor  Wuth  wie  ein  Kampfhahn,  und  heisst  ihn  auf 
Befehle  warten.  Das  geschieht;  auch  die  Soldaten  warten,  während 
ihnen  der  Wind  den  Regen  ins  Gesicht  peitscht.  Ganze  Bataillone 
werden  niedergeschmettert,  während  andere  unthätig  bleiben,  Gewehr 
bei  Fuss:  sie  haben  keine  Befehle.  Da  man  zum  Sterben  keine 
Befehle  nöthig  hat,  fallen  die  Männer  zu  hunderten  hinter  den 
Büschen,  in  den  Gräben,  im  Angesicht  des  ruhigen  Schlosses.  Selbst 
die  Gefallenen  zerfleisclit  noch  der  Kugelregen,  aus  ihren  Wunden 
strömt  das  edle  Blut  Frankreichs.  .  .  Auch  da  oben  im  Schlosse  geht 
es  heiss  her,  der  Marschall  macht  Fortschritte,  der  kleine  Haupt- 
mann wehrt  sich  wie  ein  Löwe.  Das  Schlachtengewühl  nähert  sich; 
der  Marschall  spielt  nur  noch  um  eins.  Schon  fallen  die  Kugeln 
in  den  Park,  eine  berstet  über  dem  Teich.  Es  ist  der  letzte 
Schuss.  .  .  Stillschweigen  tritt  ein;  man  hört  nur  noch  das  Tröpfeln 
des  Regens  und  etwas  wie  das  Gestampfe  einer  eilenden  Herde.  .  . 
„Das  Heer  ist  in  voller  Flucht.  Der  Marschall  hat  sein  Spiel  ge- 
wonnen". 

Daudet's  humoristische  Vertheidignng  von  Tarascon^)  ist  von 
gleicher  Frische.  Bis  zur  Sedanschlacht  waren  die  Tarasconer  ruhig 
geblieben:  Für  die  stolzen  Söhne  der  Alpinen  starb  da  oben  (in  Nord- 
frankreich) nicht  das  Vaterland,  sondern  das  Kaiserreich  und  seine 
Soldaten.  Abei'  nach  dem  vierten  September  erwachte  Tarascon. 
Man  begann  mit  einer  Kundgebung  der  Liedertäfler.  Die  Musik  wird 
ja  im  Süden  mit  wahi-er  Wuth  gepflegt:  in  Tarascon  singen  alle 
Fenster;  alle  Balkone  werfen  dem  Vorübergehenden  Romanzen  an 
den  Kopf  In  jedem  Laden  seufzt  eine  Guitarre;  die  Pharmazeuten- 
lehrlinge bedienen  trillernd  ihre  Kunden.  Die  Liedertafel  zum  hl. 
Christo pli  hatte  den  Vorzug,  mit  ihrem  dreistimmigen  Chor:  „Lasst 
uns  Frankreich  retten",  zuerst  in  die  nationale  Bewegung  einzutreten. 
Damit  war  der  Anstoss  gegeben.  Nun  tönte  keine  Guitarre,  keine 
Barkarole  mehr;    die   spanische   Laute   wich   der  Marseillaise,    und 


*)  La  defense  de  Tarascon  in  Contes  du  lundi,  S.  7.3  ft. 


Die  französische  NovelUstiJc  und  Romanlitieratur.    I.         127 

zweimal  wöchentlich  drängte  man  sich  auf  dei'  Esplanade,  um  den 
Gymnasialchor  den  Chant  du  Bepart  anstimmen  zu  liören.  Aber  man 
ging  noch  weiter.  Nach  den  musikalischen  Kundgebungen  kamen 
die  historischen  Aufzüge  zum  Besten  der  Verwundeten.  Es  giebt 
nichts  anrauthigeres ,  als  diese  tapfere  tarasconer  Jugend  in  weiten 
und  engen  Stiefeln  mit  grossen  Hellebarden  und  Schmetterlingsnetzen 
galoppieren  zu  sehen.  Den  Glanzpunkt  bildete  ein  patriotisches 
Reiterfest:  „Franz  I.  in  der  Schlacht  beiPavia".  Patriotische  Thränen 
funkelten  in  den  Augen  aller  Zuschauer.  Die  Schauspieler,  die  Lieder, 
die  heisse  Sonne  der  Provence  und  die  frische  Luft  des  Rhonestromes 
berauschten  alle  Köpfe.  Die  Aufrufe  der  Regierung  brachten  die 
Begeisterung  auf  den  höchsten  Gipfelpunkt.  Die  Leute  redeten 
einander  nur  noch  mit  drohender  Geberde  an,  mit  auf  einander  ge- 
pressten  Zähneu,  die  Worte  wie  Kugeln  ausstossend.  Die  Unter- 
haltungen rochen  nach  Pulver.  Man  musste  die  Tarasconer  im 
Wirthshause  beim  Mittagmahle  hören:  „Was  machen  denn  die  Pariser 
und  ihr  verd  .  .  .  Trochu.  Niemals  brechen  sie  durch!  Ja,  wenn 
das  Tarascon  wäre!  .  .  trr!"  .  .  Und  während  Paris  sein  Haferbrot 
herunterwürgte,  vertilgten  die  tarasconer  Herren  schmackhaften 
Hühnerbraten  mit  edlem  Pabstwein  begossen,  und  leuchtend,  voll 
gestopft,  mit  Fleischtunke  bis  an  die  Ohren,  riefen  sie:  „Aber  macht 
doch  endlich  Euren  Durchbruch  !'^  . .  Inzwischen  rückten  die  „Barbaren" 
immer  weiter  nach  Süden  vor.  Schon  brachten  die  wohlriechenden 
Kräuter  des  Rhonethaies  die  Stuten  der  Ulanen  zu  freudigem  Wiehern. 
„Bereiten  wir  uns  zur  Vertheidigung  vor",  lautete  nun  die  Tarasconer 
Losung.  Im  Handumdrehen  war  die  Stadt  gepanzert,  mit  Verhauen 
und  Kasematten  versehen.  Jedes  Haus  wurde  eine  Festung.  Vor 
dem  Laden  des  Waffenschmiedes  befand  sich  ein  zwei  Meter  tiefer 
Laufgraben  mit  Brückenaufzug.  Am  beträchtlichsten  waren  die 
Vertheidigungsarbeiten  beim  Klub;  die  Theaterwirthschaft  war  un- 
einnehmbar, die  Esplanade  unterminirt!  Die  Barbaren  würden  es 
sich  wohl  überlegen,  Tarascon  anzugreifen.  Die  anfangs  gegründeten 
Freischaren  wandelten  sich  infolge  eines  Regierungsbefelils  in  ein 
Bataillon  ehrbarer  Nationalgarde  um,  unter  dem  Oberbefehl  des 
wackeren  General  Bravida,  eines  ehemaligen  Capitain  d'armes.  Eine 
neue  Verfügung  bewirkte  die  Zerlegung  der  Nationalgarde  in  eine 
Feld-  und  in  eine  sesshafte  Abtheiluug:  in  Feld- und  Gartenkaninchen, 
wie  der  Steuereinnehmer  Pegoulade  witzig  bemerkte.  Die  Feld- 
kaninchen spielten  anfangs  die  schönere  Rolle.  Während  die  Garten- 
kaninchen bescheiden  die  ausgestoplte  Eidechse  des  Museums  beliüteten, 
übten  sie  auf  der  Esplanade  unter  der  Bewunderung  der  Tarasco- 
nerinnen,  von  denen  dort  nicht  eine  fehlte.  Als  aber  die  Feldkaninchen 
auch  iiach  drei  Monaten  immer  noch  nicht  ausrückten,  Hess  die  Be- 
geisterung für  sie  nach.     Die  tapferen  Nationalgardisten  verlangten 


128  K  Koschwitz, 

nun  selbst  stürmisch  den  Ausmarsch.  Ihr  General  ging  zum  Bürger- 
meister; dieser  war  aber  ohne  Befehle;  er  geht  nach  Marseille  zum 
Präfekten;  durch  einen  glücklichen  Zufall  gelingt  es  ihm,  dort  den 
richtigen  zu  finden.  Er  trägt  ihm  den  dringenden  Wunsch  seiner 
Mannschaft  vor,  auszurücken;  dieser  aber  zeigt  ihm  lächelnd  die 
jammernden  Eingaben,  die  seine  Feldkaninchen  an  die  Präfektur  ge- 
richtet, um  zu  Hause  bleiben  zu  können.  Solche  Leute  kann  man 
nicht  ins  Feld  schicken.  Etwas  kleinmüthig  kehrt  Bravida  nach 
Hause  zurück.  Dort  hat  man  inzwischen  einen  Abschiedspunsch  ver- 
anstaltet. DerGreneral  mag  pi'otestieren  wie  er  will;  auf  den  Punsch 
ist  subskribiert  worden,  er  muss  getrunken  werden.  So  findet  denn 
die  Abschiedsfeier  in  den  Sälen  des  Rathhauses  statt,  und  bis  in  den 
hellen  Tag  hinein  ertönen  die  Trinksprüche,  patriotischen  Lieder  und 
Reden.  Jeder  wusste,  dass  die  Feldkaninchen  zu  Hause  blieben,  dies 
hinderte  aber  nicht,  dass  alles  schliesslich  bis  zu  Thränen  gerührt 
war;  und  alle  Welt  war  dabei  aufrichtig,  sogar  der  General!  .  .  . 
Mehr  melancholisch  als  satirisch  ist  Daudet's  Augenblicksbild: 
Bas  Konzert  der  achten  Kompagnie.^)  Seit  drei  Tagen  (30.  November 
bis  2.  Dezember)  schlug  sich  das  Heer  Ducrots  bei  Champigny,  und 
der  Nationalgarde  wurde  eingeredet,  sie  hätte  die  Reserve  zu 
bilden.  Alle  Bataillone  aus  den  Vierteln  von  Marals  und  St.  Antoine 
lagerten  in  Baracken  auf  der  Daumesnilstrasse.  Nichts  trauriger  als 
dieses  Lager  unter  Fabrikschornsteinen  und  leeren  Bauhöfen,  nichts 
eisiger,  schmutziger  als  diese  langen  Baracken  auf  dem  trocknen, 
harten  Dezemberboden,  mit  ihren  schlecht  schliessenden  Fenstern, 
immer  oifenen  Thüren  und  qualmenden  Lampen,  worin  man  weder  lesen, 
noch  schlafen,  noch  sitzen  kann.  Die  stumpfsinnige  Unthätigkeit 
in  der  Nähe  einer  Schlacht  hatte  etwas  schimpfliches,  entnervendes. 
Der  ganz  verfrorene  Erzähler  wird  in  die  Baracke  der  achten  Kompagnie 
eingeladen,  wo  ein  Konzert  veranstaltet  wird.  Sie  war  etwas  mehr 
erliellt  als  die  übrigen,  voller  Menschen;  auf  Bajonettspitzen  auf- 
gesteckte Lichter  warfen  iliren  Schein  auf  die  gewöhnlichen,  von 
Trunkenheit,  Kälte  und  Müdigkeit  verthierten  Arbeiterköpfe.  In 
einer  Ecke  schläft  die  Marketenderin  mit  offnem  ]\Iunde  auf  einer 
Bank  hinter  ihrem  mit  leeren  Flaschen  und  schmutzigen  Gläsern 
bedeckten  Tische  zusammengekauert.  Man  singt.  Liebhaber  steigen 
einer  nach  dem  andern  auf  die  improvisirte  Bühne,  und  deklamiren 
mit  jenen  schnarrenden,  rollenden  Stimmen,  die  man  gern  beim 
Klappern  des  Werkzeugs  hört,  die  aber  auf  der  Bühne  lächerlich 
und  abstossend  wirken.  Ein  denkender  Arbeiter,  ein  langbärtiger 
Maschinenbauer,  besingt  die  Leiden  des  Proletariers  mit  einer  Kehl- 
stimme,  in   der  die  Internationale   all   ihren   heiligen  Zorn   hinein- 


')  Le  coneert  de  la  huitieme  in  Contes  du  lundi,  S.  172  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         129 

gelegt  hat;  ein  andrer  singt  schläfrig  das  berühmte  Lied  von  der 
Kanaille :  C'est  la  Canaille  .  .  .  Eh  bien  .  .  .  fen  suis.  Zwischenein 
hört  man  das  Schnarchen  der  in  den  Winkeln  Schlafenden.  Plötzlich 
bringt  ein  weisser  Blitzstrahl  die  rothe  Flamme  der  Licliter  zum 
Bleichen,  und  ein  Knall,  dem  rasch  andre  folgen,  erschüttert  die 
Baracke.  Die  Schlacht  beginnt  von  Neuem.  Doch  was  ging  das 
die  Herren  Musikliebhaber  an?  Das  Konzert  nimmt  einen  noch  be- 
geisterteren Verlauf.  Ein  Sänger  verdrängt  den  andern.  Ein  dichten- 
der Tapezier,  eine  Berühmtheit  des  Viertels,  trägt  mit  einem  Sprach- 
fehler die  eigne  Dichtung  vor:  den  Selbstsüchtigen,  mit  dem  Kehr- 
vers: „Jeder  für  sich".  Draussen  singt  die  Kanone  ihren  tiefen 
Bass  zu  den  Trillern  der  Kugelspritze,  von  den  Verwundeten,  die 
vor  Kälte  im  Schnee  sterben,  von  dunklem  Tode,  der  durch  die 
Nacht  eilt;  in  der  Baracke  werden  ausgelassene  Schwanke  vor- 
getragen. Ein  alter  Lustigmacher  wird  mit  Bravo's  und  Da  Capo's 
überhäuft,  seine  zweideutigen  Scherze  erheitern  alle  Gesichter;  die 
von  Aller  Augen  verschlungene  Marketenderin  erwacht  und  wälzt 
sich  ebenfalls  vor  Lachen.  Der  Erzähler  verlässt  angeekelt  die 
Baracke.  Langsam  geht  er  an  die  Seine.  Auf  dem  Wasser  sieht 
er  ein  Kanonenboot  sich  abarbeiten,  um  stromaufwärts  zu  gelangen. 
Wüthend  schlägt  dasselbe  mit  seinen  Rädern  das  Wasser,  ohne  von 
der  Stelle  zu  kommen.  Endlich  ist  das  Hinderniss  beseitigt,  und 
mit  dem  Rufe  der  Schiffsleute:  „Es  lebe  Frankreich"  setzt  es  seine 
Fahrt  fort.  Welch  ein  Kontrast  mit  dem  Konzert  der  achten 
Kompagnie ! 

Zwei  der  hieher  gehörigen  Daudet'schen  Montagserzählungen 
liegen  mit  ihren  Stoffen  zwar  wieder  nach  dem  Feldzuge,  behandeln 
aber  die  Nachwirkungen  desselben,  so  dass  ihre  Aufnahme  in  unserer 
Aufzählung  keiner  Rechtfertigung  bedarf.  Die  eine,  Die  Fähre,^') 
nimmt  die  in  Frankreich  schon  während  des  Krieges  oft  beklagte 
selbstsüchtige  und  unpatriotische  Hart-  und  Engherzigkeit  der  fran- 
zösischen Bauern  zum  Vorwurf,  die  in  einem  Beispiel  grell  beleuchtet 
wird. 

An  Stelle  einer  zerstörten  Seinebrücke  ist  eine  Fähre  getreten, 
auf  der  man  Wagen  und  Pferde,  Menschen  und  Zugthiere  über  das 
Wasser  setzt:  Wagen,  Gespann  und  Vieh  in  der  Mitte,  die  Menschen 
zui-  Seite.  Fährmann  ist  ein  junger  Schiffer,  der  aber  aus  dem  Feld- 
zuge, den  er  als  Artillerist  mitmachte,  mit  Rheumatismen,  einem 
Bombensplitter  im  Schenkel  und  zerhacktem  Gesicht  zurückgekehrt 
ist.  Früh  Morgens  stellen  sich  zur  üeberfahrt  ein:  eine  Bäuerin  mit 
zwei  grossen  Körben  unter  den  Armen,  dann  eine  Frau,  die  mit 
sanfter,  thränenreicher  Stimme  einen  sonnverbrannten,  verwitterten 


y  Le  bac  in  Contes  du  limdi,  S.  110  ff. 
Ztschr.  f.  Irz.  Spr.  u.  Litt.  XV. 


130  E.  Koschwits, 

alten  Bauern  im  Sonntagsstaate  anfleht,  er  möge  mit  ihrem  Manne 
Mitleid  haben,  ihm  die  Pfändung  durch  den  Gerichtsvollzieher  er- 
sparen. Sie  findet  kein  Gehör.  Grimmig  erzählt  der  Bauer  der  auf 
der  Fähre  befindlichen  Landfrau,  dass  ihm  der  Mann  der  Bittenden 
vier  Miethszinsen  und  den  Wein  schuldig  sei.  Er  sei  ein  Dummkopf, 
der  mit  den  Preussen  hätte  vorzügliche  Geschäfte  machen  können, 
aber  dies  nicht  wollte.  Statt  ihnen  wie  die  andern  Gastwirthe  so 
viel  als  möglich  zu  verkaufen,  hat  er  seine  Wirthschaft  geschlossen 
und  sich  für  seine  Unverschämtheiten  ins  Gefängniss  stecken  lassen. 
Was  ging  ihn  denn  die  ganze  Soldatengeschichte  an!  Ihm  soll  es 
beigebracht  werden,  den  Patrioten  lierauszukehren.  Die  Bäuerin 
hört  ihm  zu,  wie  er  roth  vor  Entrüstung  seinem  Zorne  Ausdruck 
verleiht,  und  stimmt  ihm  bei.  Es  ist  unsinnig,  dem  Glücke  den  Rücken 
zu  kehren.  Der  Fährmann  glaubt  einige  Worte  zu  Gunsten  des 
Verurtheilten  sagen  zu  sollen,  muss  aber  nun  ebenfalls  die  Vorwürfe 
des  alten  Bauern  über  sich  ergehen  lassen.  Er  sei  ebenfalls  einer  von 
den  Patriotennarren ;  mit  fünf  Kindern  auf  dem  Halse  und  ohne  einen 
Groschen  habe  er  sicli  einfallen  lassen,  ohne  Noth  Kanonen  abzu- 
schiessen.  Wozu  habe  ihm  das  gedient?  Das  Gesicht  habe  er  zer- 
schlagen bekommen,  eine  gute  Stelle  verloren,  und  nun  müsse  er  wie 
ein  Zigeuner  in  der  Baracke  eines  Fährmanns  hausen,  wo  seine 
Kinder  allen  Winden  Preis  gegeben  sind.  Auch  er  sei  ein  Dumm- 
kopf. Uud  der  Fälu'mann  muss  blass  vor  Zorn  und  schweigend  seinen 
Ingrimm  an  dem  Ruder  auslassen;  eine  Antwort  könnte  ihn  um  seine 
Stelle  bringen,  denn  der  dicke  alte  Bauer  ist  eine  Autorität  im  Lande: 
er  gehört  dem  Gemeinderathe  an. 

Nach  dem  in  deutschen  Besitz  gelangten  Elsass  fülu't  die  letzte 
hier  zu  besprechende  Daudet'sche  Erzählung  Die  Vision  des  Colmarer 
Richters,^)  in  der  einen  Elsasser,  der  für  Deutschland  optiert  hat, 
eine  gespenstige  Rache  trifft.  Bevor  er  dem  Kaiser  Wilhelm  seinen 
Eid  geleistet,  war  der  Colmarer  Richter  Dollinger  der  glücklichste 
Mensch  von  der  Welt.  Mit  welchem  Vergnügen  hatte  er  sich  dreissig 
Jahre  laug  alltäglich  auf  dem  Gericlite  auf  seinen  weichen  runden 
gepolsterten  Ledersessel  niedergelassen,  um,  ein  würdiges  Mitglied 
der  angesessenen  Gerichtsbarkeit,  auf  ihm  sein  Schläfchen  zu  halten! 
Dieser  Ledersessel  war  sein  Verderben.  „Kaiser  Wilhelm  hatte  zu 
ihm  gesagt:  Bleiben  Sie  sitzen,  Dollingor,  und  Dollinger  war  sitzen 
geblieben".  Sonst  blieb  am  Kolmarer  Gerichte  alles  beim  Alten; 
aber  Dollinger  kann  nicht  mehr  ruhig  schlafen,  unruhige  Träume 
hindern  ihn  daran.  Er  sieht  sich  auf  einem  hohen  Berge  des  Elsass, 
ganz  allein,  im  Talar,  auf  seinem  Sessel.  Eine  rothe  Sonne  beleuchtet 
die  vor  ihm  liegenden  Thäler,  ein  unendlicher  Trauerzug  wandert 


')  La  msion  du  jiigc  de  Colmar  in  Contes  du  lundi,  S.  20  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.         131 

an  ihm  vorbei,  zum  Lande  liiuaus.  Auf  Ochsenwagen  rollen  vorbei : 
Mobilien,  Kleider,  Werkzeuge,  Hausgeräth,  der  Inhalt  ganzer  Häuser. 
Daliinter  drängt  sich  eine  schweigende  Menge  jeden  Alters.  Greise, 
den  altmodischen  Dreispitz  auf  dem|Kopfe,  Säuglinge,  gesunde  undkranke 
Männer  und  Frauen,  alles  zieht  stolz  auf  der  Landstrasse  an  ihm, 
dem  Colmarer  Eichter,  vorbei,  und  jeder  der  Vorübergehenden  wendet 
das  Gesicht  mit  Zorn  und  Widerwillen  von  ihm  ab.  Der  unglück- 
liche DoUinger  möchte  entfliehen,  aber  sein  Sessel  ist  in  den  Berg 
und  er  auf  seinen  Sessel  festgewachsen.  Er  begreift,  dass  er  wie 
am  Schandpfahl  sitzt.  Und  der  Zug  vor  ihm  geht  weiter,  Dorf  um 
Dorf  wandert  aus;  dann  folgen  die  Städte  mit  ihren  Handwerkern, 
Geistlichen  und  Beamten.  Auch  die  Seinen  sind  in  der  Menge, 
Frau  und  Kinder  gehen  mit  gesenktem  Haupte  an  ihm  vorüber. 
Sogar  sein  kleiner  vielgeliebter  Michel  scheint  Scham  vor  ihm  zu 
empfinden.  Nur  sein  alter  Präsident  bleibt  einen  Augenblick  vor 
ihm  stehen  und  fordert  ihn  leise  zum  Mitkommen  auf.  Aber  Dollinger 
kann  nicht  fort.  Der  ganze  Elsass  ist  ausgewandert,  und  er  bleibt 
allein  zurück,  an  seinen  Sessel  festgenagelt,  angesessen  und  unab- 
setzbar. Dann  wechselt  das  Bild.  Eibenbäume,  schwarze  Kreuze 
und  Gräber  erscheinen  vor  ihm,  eine  Menge  in  Trauer.  Es  ist  der 
Colmarer  Kirchhof  und  der  Begräbnisstag  des  Gerichtsrathes  Dollinger. 
Der  Tod  hat  ihn  von  seinem  Sessel  abgeschraubt.  Mit  herzdurch- 
bohrendem Gefühl  erblickt  er  seine  eigene  Beerdigung.  Unter  der 
ihr  beiwohnenden  Menge  sieht  er  keinen  Freund,  keinen  Verwandten, 
nur  Preussen.  Preussische  Soldaten  geben  ihm  das  Geleite,  preussische 
Beamte  leiten  die  Trauer  und  preussische  Reden  werden  an  der 
Gruft  gehalten,  in  die  man  die  so  kalte  preussische  Erde  wirft. 
Plötzlich  tritt  achtungsvoll  die  Menge  zur  Seite.  Bismarck  erscheint; 
Dollinger  fühlt  sich  hochgeehrt ;  aber  ein  unendliches  Gelächter  bricht 
aus:  Bismarck  legt  den  so  lange  fest  behaupteten  Ledersessel  auf 
das  Grab  des  Richters  mit  der  Inschrift: 

Dem  Richter  Dollinger. 
Der  Zierde  der  sesshaften  Gerichtsbarkeit. 
Zu  bleibender  Erinnerung. 
Wie  es  scheint,  ist  unter  dem  Einfluss  dieser  Daudet'schen  Vision 
Lacertie's  Renegat^)  entstanden,   der  in  Tendenz,    Stoff  und  Aus- 
führung mit  der  eben  wiedergegebenen  Phantasie  eng  übereinstimmt. 
Ein  Hagenauer  Leinwandhändler,  das  Musterbild  eines  engherzigen, 
kleinstädtischen   Geschäftspliilisters ,   dessen   Geschäft   aber  auf  das 
Beste   gedeiht,   hat  nach  Abschluss   des  Feldzuges   für  Deutschland 
gewählt.     Ihm  gelten  Franzosen  und  Deutsche  gleich,  sie  fallen  für 
ihn  beide  unter  die  höhere  Einheit  der  Kunden.    Dafür  wird  er  von 


^)  Le  Renegat  in  Nos  patriotes,  S.  197  ff. 

9* 


132  E.  Koschmtz, 

den  Altdeutschen,  dem  neuen  Bürgermeister  und  den  Offizieren  hoch- 
f^efeiert  und  ilim  eine  Bedeutung  beigelegt,  die  er  vor  dem  Kriege 
niemals  besessen.  Er  könnte  vollkommen  glücklich  sein,  wenn  er 
nicht  Abends  und  des  Nachts  fortwährend  von  gespenstischen  Er- 
scheinungen geängstigt  würde.  Bald  erscheint  ihm  beim  abendlichen 
Heimgang  am  Friedhof  ein  getöteter  französischer  Soldat  mit  zer- 
schmettertem Schädel ,  der  aber  ruhig ,  die  Hände  in  den  Taschen 
und  die  Pfeife  im  Munde,  herumspaziert  und  nur  vor  dem  Helden 
unsrer  Erzählung,  wenn  er  vorübergeht,  ausspeit.  Bald  sieht  er 
Abends  aus  dem  Wasser  der  Moder  die  französischen  Soldaten 
emporsteigen,  deren  Leichen  in  diesen  Fluss  geworfen  wurden,  alle 
verstümmelt  und  mit  seltsamem  Lächeln  auf  den  Lippen.  Sie  um- 
ringen ihn  fragend  und  ziehen  dann  einzeln  an  ihm  vorüber;  jeder 
von  ihnen  speit  im  Vorbeigehen  das  im  Munde  behaltene  Wasser 
der  Moder  vor  ihm  aus.  Ein  ander  Mal  erblickt  er  des  Nachts 
schwer  verwundete  französische  Offiziere  in  seinem  Zimmer,  die  ver- 
gnügt seinen  Champagner  heruntersäbeln.  Jedes  Mal,  wenn  sie  ein 
Glas  ausgetrunken  haben,  spritzen  sie  die  letzten  Tropfen  auf  sein 
Bett,  wo  sie  sich  in  Blut  verwandeln.  Oder  er  sieht  seinen  Vorraths- 
speicher  in  ein  Lazareth  verwandelt  und  seine  Mutter  als  Kranken- 
pflegerin thätig,  die  ihm  einen  durchdringenden  und  verächtlichen 
Blick  zuwirft.  So  geht  es  fort.  Der  arme,  tief  unglückliche  Kauf- 
mann gilt  schliesslich  als  nicht  recht  gescheut;  er  wird  von  der 
französisch  und  deutsch  gesinnten  Bevölkerung  Hagenau's  gleich 
gering  geschätzt;  seine  Kundschaft  verlässt  ihn,  und  sein  Laden 
wird  getauft:   „Zum  Renegaten !" 

Einige  jammervolle  Typen  führt  uns  auch  die  satirische 
Feder  F.  Veron's  im  zweiten  Theile  seiner  Kulissen  eines  grossen 
Drama' s  vor.  In  dem  Kreuze  Barhanzacs^)  findet  ein  südfran- 
zösischer Bramarbas  aus  der  Familie  der  von  Daudet  gegeisselten 
Tarasconer  seine  Schilderung.  Als  der  Krieg  erklärt  wurde,  be- 
wohnte er  Paris.  Wie  patriotisch  zeigte  er  sich  dort!  Cliauvin  in 
Person  hätte  nicht  besser  als  er  des  Abends  auf  den  Boulevards 
deklamiert:  „Sie  thun  mir  leid  mit  ihrem  Deutschland!  .  .  Und  ihre 
Landwehr!  .  .  Nationalgarden  dritter  Ordnung!  Wenn  man  mir 
erlaubte,  zehntausend  Freiwillige  von  meiner  Sorte  auszulieben,  da 
könnte  das  französische  Heer  ruhig  zu  Hause  bleiben;  ich  brächte 
ihren  Bismarck  in  einem  Käfige  nach  Paris!"  Und  er  stimmte  mit 
den  andern  au:  Mourir  pour  la  patrie! 

Weissenburg,  Reichshofen  waren  vorüber.  Eines  Morgens 
hört  man  das  Unglück  von  Sedan.     Barbanzac  ist  auf  dem  Pariser 


'1  La  croix  de  Barbanzac  in  CouUsses  d'un  grand  drame.    Nouv.  ed. 
Paris  1S82.     S.  307  fit. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         133 

Konkordienplatz  und  schreit  stärker  als  jemals:  „Paris  wird  ihr 
(jrab  sein!  .  .  Es  gilt  einem  Kampfe  auf  Tod  und  Leben  zwischen 
beiden  Völkern:  .  .  Schwören  wir,  uns  alle  unter  den  Trümmern 
unsres  letzten  Hauses  zu  be2:raben,  ehe  wir  uns  ergeben!"  Und  er 
sang  von  Neuem:  Mourir  pour  la  patrief 

Acht  Tage  später,  als  Maueranschläge  verkündeten,  dass  bald 
die  Verbindungen  von  Paris  mit  der  Provinz  abgeschnitten  sein 
würden ,  ergiesst  sich  ein  ungeheurer  Menschenstrom  nach  den 
Bahnhöfen.  Am  Lyoner  Bahnhofe  erblickt  man  einen  Mann,  der 
über  einen  wegen  des  allzu  grossen  Andrangs  geschlossenen  Zaun 
hatte  setzen  wollen  und  mit  seinem  Hosenboden  an  ihm  hängen 
geblieben  ist.  Mit  Hilfe  einer  Leiter  macht  man  den  Gefangenen 
frei :  er  drängt  Frauen,  Kinder  und  Greise  zur  Seite,  er  muss  unter 
allen  Umständen  fortreisen.  Es  ist  Barbanzac.  Ein  Bekannter 
interpellirt  ihn.  Er  erklärt  ihm,  soweit  die  Eile  es  ihm  gestattet, 
er  müsse  in  die  Provinz,  um,  wie  Paris,  so  auch  diese  in  Begeisterung 
zu  setzen.  Der  ganze  Süden  müsste  hinter  ihm  einher  marschiren. 
Seine  Frau  lasse  er  in  Paris  zurück. 

Einen  Monat  später  wird  an  der  Rhonemündung  mit  Bildung 
der  Mobilgarden  begonnen.  Barbanzac  hätte  seinem  Alter  nach  in 
sie  eintreten  müssen.  Sonderbarerweise  erhält  er  aber  gerade  zu 
dieser  Zeit  einen  Brief  aus  Tours,  der  ihm  zur  Pflicht  macht,  der 
Regierung  beizuspringen.  Aber  beim  ersten  Kampfe  werde  er  nicht 
fehlen.  Durch  Begünstigungen  findet  er  wirklich  in  Tours  Be- 
schäftigung beim  Kriegsministerium.  Er  erhält  den  Auftrag,  für 
Soldatenschüsseln  zu  sorgen,  und  soll  eben  eine  Lieferung  nach 
Orleans  hinschaffen.  Unterwegs  hört  er  aber  Kanonendonner.  Da 
springt  er  bei  der  nächsten  Station  vom  Zuge  ab,  noch  ehe  dieser 
angehalten.  Die  Soldatenschüsseln  mögen  sich  selber  weiter  helfen. 
Beim  Abspringen  verstaucht  er  sich  den  Fuss;  und  er  muss  nun 
bis  zum  Friedenschluss  auf  seinem  Lehnsessel  verbringen.  Solche 
Verstauchungen  wollen  manchmal  gar  nicht  heilen.  Wie  klagt  daher 
Barbanzac!  Bei  jedem  neuen  Schlage  hörte  man  ihn  rufen:  „Ach, 
wenn  ich  mich  nur  aufrecht  erhalten  könnte!  Diese  pappenen 
Generäle  verstehen  ihre  Sache  nicht!  Hätte  man  mich  doch  nützlich 
verwandt,  als  ich  noch  brauchbar  war,  statt  mich  in  ein  Amts- 
zimmer zu  stecken !  Armes  Frankreich,  wie  selten  sind  doch  Männer 
wie  ich!" 

Der  Kommüneaufstand  hat  begonnen.  Barbanzac  ist  nach  Paris 
zurückgekehrt.  Mau  wollte  ihn  in  ein  Bataillon  der  Föderirteu 
stecken;  er  verbarg  sich  aber  im  Keller  eines  Freundes,  bis  er  einen 
Pass  erobert  hatte.  In  Saint  Denis  streitet  er  mit  einem  Herrn  um 
den  letzten  Wagenplatz;  dieser  schlägt  die  Thür  zu,  und  Barbanzac 
werden  dabei  zwei  Finger  eingequetscht.     Er  kommt  mit  dem  Arm 


134  E.  Koschtvitz, 

in  einer  Binde  in  Versailles  an,  um  sich  dem  Stabe  vorzustellen. 
Er  hat,  so  brüstet  er  sich,  den  Widerstand  gegen  die  Kommune 
bei  der  Börse  bewerkstelligt  und  dabei  einen  Säbelliieb  auf  die  Hand 
erhalten.  Beim  Einzug  der  Truppen  nach  Paris  drückt  er  sich  zur  Seite. 
Während  er  in  den  rauchenden  Trümmern  des  Finanzministeriums 
nach  etwas  Be merke nswerthen  sucht,  fällt  ein  Balkenstück  bei  ihm 
hin  und  bringt  ihm  eine  Schramme  im  Gesicht  bei.  Des  Abends 
erzählt  er,  dies  sei  ihm  bei  den  Löscharbeiten  zugestosseu. 

„So  viel  Verdienst  muss  natürlich  seineu  Lohn  finden.  Letzte 
Woche  las  man  im  Amtsblatte  unter  den  Ernennungen  zu  Ofttzieren 
der  Ehrenlegion: 

Barbanzac.  Ausgezeichnete  Dienste  während  des  Krieges  und 
des  Aufstandes.     Vier  Verwundungen." 

Von  keiner  besseren  Beschaffenheit  sind  Veron's  beide  Wieder- 
geborenen,^) ein  Zwiegespräch  zwischen  Oheim  und  Neffen,  die  der 
vornehmen  Welt  angehören,  und  die  beide  bereits  Ende  August 
1870  Frankreich  verlassen  hatten,  um  allen  Unbequemlichkeiten  des 
Krieges  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Der  Oheim  hofft,  dass  der  Neffe 
sich  unter  dem  Eindruck  des  Unglücks,  das  Frankreich  getroffen, 
abgewöhnen  werde,  jährlich  20000  Franken  Schulden  zu  machen. 
Dieser  verspricht  es  ihm  gerne,  weil  ja  doch  ihm  niemand  mehr  borgen 
wolle.  Der  Neffe  fragt  dann  den  Oheim,  ob  er  noch  immer  Geld  zu 
8  Prozent  ausleihe;  er  erhält  die  Antwort,  er  sei  nicht  Thor  genug, 
sich  bei  den  schlechten  Zeiten  mit  weniger  als  12  Prozent  zu  be- 
gnügen. Die  Unterhaltung  geht  im  gleichen  Sinne  weiter:  auf  jeden 
Vorwurf  des  Oheims  antwortet  der  Neffe  mit  einer  Frage ;  das  End- 
ergebniss  ist  stets,  dass  beide  ungebessert  geblieben  sind.  Der  Neffe 
vergeudet  immer  noch  seine  Zeit  mit  Theaterbesuchen  und  mit  Frauen- 
zimmern; der  Oheim  bringt  noch  immer  seine  politischen  Ueber- 
zeugungen  dem  Ehrgeiz  und  dem  Geschäft  zum  Opfer  und  jagt  noch 
immer  nach  Ordensbändern.  Für  den  zu  erwartenden  nächsten  Krieg 
spekuliert  der  Oheim  bereits  auf  Uebernahme  von  Lieferungen, 
während  der  würdige  Neffe  daran  denkt,  sich  in  der  Schweiz  natura- 
lisieren zu  lassen,  um  dem  französischen  Kriegsdienste  aus  dem  Wege 
zu  gehen. 

Ein  Seitenstück  zu  den  beiden  Skizzen  bildet  die  Idi/lle^) 
derselben  Sammlung.  Der  Verfasser  macht  nach  beendetem  Feldzuge 
einen  Spaziergang  nach  Saint  Cloud,  dessen  Trümmer  den  Pariser 
Photographen  so  schöne  Einnahmen  verschaffen.  Er  trifft  den  Ort 
in  Festlichkeit.  Auf  dem  Platze,  wo  früher  die  Barrikade  stand, 
stehen  Wii'thschaften,  deren  Besitzer  sich  über  den  Ertrag  freuen, 


*)  Les  deux  regeneres  in  CouUsses  d'im  grand  drame,  S.  217  ff. 
2)  Idylle,  a.  a.  0.  S.  199. 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.         135 

den  ihnen  die  Einschiessung  des  Schlosses  durch  die  dahin  strömenden 
Besucher  bringt.  Im  Park  trifft  er  auf  die  Gäste  von  sechs  Hoch- 
zeiten. Das  sonst  von  ihnen  aufgesuchte  Boulogner  Wäldchen  ist 
aus  der  Mode  gekommen;  dort  hat  man  nur  Bäume  getötet.  Die 
Brautpaare  mit  ihrem  Gefolge  ziehen  nicht  etwa  zur  Kirmess,  sondern 
nach  den  Euinen,  auf  denen  sie  munter  scherzend  wie  Katzen  herum- 
hüpfen. Die  eine  Hochzeit  kommt  an  einem  Häuschen  vorüber,  von 
dem  nur  zwei  Mauerstücke  übrig  sind.  Eine  Alte  steht  weinend 
daneben.  Einer  der  Brautführer  fragt  sie  scherzend,  für  wie  viel 
sie  ihr  Grundstück  verkaufen  wolle,  und  erweckt  damit  das  Beifalls- 
gelächter  der  ganzen  Gesellschaft.  Während  die  Alte  vor  sich  hin- 
murmelt, dass  in  dem  Häuschen  ihre  Tochter  durch  eine  Kanonenkugel 
den  Tod  gefunden  hat,  stimmt  die  Hochzeitsgesellschaft  ein  lustiges 
Liedchen  an.  Sie  klimmt  dann  hinauf  zum  Bahnhof  von  Montretout. 
Kutscher  bieten  ihre  Wagen  an,  um  sie  nach  den  Gräbern  von 
Buzenval  oder  anderswohin  zu  fahren.  Alles  stimmt  für  Buzenval,  das 
sehr  hübsch  zu  sehen  sein  muss.  Man  unterhandelt  mit  den  Kutschern; 
einer  verlangt  mehr  als  die  andern.  Man  findet  ihn  zu  theuer,  er  aber 
beruft  sich  darauf,  dass  er  die  Stellen  kennt,  wo  die  Franzosen  hin- 
gemetzelt wurden,  ja  eine  Stelle,  wo  man  noch  Uniformknöpfe  und 
Tuchstücken  findet !  —  Der  Erzähler  hatte  nicht  den  Muth,  das  Ende 
zu  sehen. 

C.  Spotterzählungen  auf  Deutsche  und  Wiedervergeltungs- 

phautasien. 

In  den  an  erster  Stelle  vorgeführten  Heldenerzählungen  waren 
Zerrbilder  von  Deutschen  eingeüochten,  um  diese  Landesfeinde  als 
hassenswert  darzustellen  und  dadurch  die  an  ihnen  verübten  Eache- 
taten  zu  rechtfertigen,  oder  um  zu  späterer  Wiedervergeltung  an 
ihnen  aufzureizen.  Es  eignete  ihnen  darin  nur  eine  Nebenstellung, 
insofern  sie  dazu  dienen  mussten,  die  handelnden  französischen 
Helden  in  Bewegung  zu  setzen.  In  einer  kleineren  Anzahl  von  Er- 
zählungen wird  Deutschen  der  Vorzug  zu  teil,  als  Hauptträger  der 
Handlung  zu  erscheinen.  Es  sind  aber  keine  Heroen,  die  uns  hier 
vorgestellt,  und  keine  Euhmesthaten,  die  ihnen  zugeschrieben  werden. 
Entweder  rufen  schlechte  oder  thörichte  Unternehmungen  ein  strafen- 
des Geschick  über  sie  herbei,  oder  sie  müssen  auch  ohne  besondere 
Verschuldung  dafür  büssen,  dass  sie  zur  Waffe  gegen  Frankreich 
gegriffen  haben.  Selbst  ihre  aufrichtige  Liebe  zu  Französinnen 
findet  keinen  Lohn,  sondern  Strafe.  An  ihrem  Charakter  ist  wenig 
lobenswerthes  zu  finden,  auch  wenn  er  nicht  ganz  schlecht  ist ;  und 
was  ihnen  zustösst,  ist  nicht  nur  bedauerlich,  sondern  macht  sie 
auch  noch  lächerlich.    In  Bezuor  auf  die  Erfindung  des  Stoffes  haben 


136  E.  Koschwitz, 

sich  die  französischen  Verfasser  keine  allzugrosse  Mühe  i^enommen. 
Bestrafte  Spionage,  verunglüclvte  Heirathsunternehraungcn,  und  das 
zu  Tode  gerittene  französische  Kriegsmärchen  von  den  durch  Deutsche 
im  Kriege  gestohlenen  Stutzuhren  stehen  im  Vordergrunde.  Eine 
ruhige  und  wahre  Darstellung  deutschen  Lebens  und  Treibens  darf 
man  in  diesen  Tendenzerzählungen  natürlich  nicht  erwarten :  eine 
französische  Erzählung,  die  deutsche  Personen  oder  Zustände  ohne 
schreiende  Unkenntniss  schildert,  ist  überhaupt  in  der  französischen 
Litteratur  eine  Seltenheit. 

Satire  gegen  französische  und  deutsche  Verhältnisse  findet  sich 
vereint  in  A.  Assollant's  JJodor  Judassohn.^)  Der  Löwenantheil 
fällt  aber  dem  deutschen  Haupthelden  zu.  An  den  Franzosen  wird 
nur  ilire  Eitelkeit  und  ihre  Vertrauensseligkeit  getadelt,  und  ausser- 
dem tritt  in  einer  Nebenrolle  ein  französischer  Philosoph  auf,  der 
wie  ein  Korken  im  Wasser  immer  oben  schwimmt,  weil  er  mit 
schönen  Worten  und  Redensarten  zu  bestricken  und  stets  den  herr- 
schenden Richtungen  zu  schmeicheln  versteht.  Von  Charakter  ist 
bei  ihm  nichts  zu  finden.  Was  man  von  dem  Hauptträger  der  Er- 
zählung, dem  Dr.  Judassohn  zu  erwarten  hat,  lässt  schon  sein  Name 
erschliessen.  Es  ist  ein  aus  Glogau  gebürtiger  jenenser  Doctor  der 
Philosophie,  Berichterstatter  der  Ki"onf eider  Zeitung,  der  im  Auf- 
trage eines  ungenannten  Herrn  von  .  .  .  (später  wird  Bismarck  als 
Auftraggeber  nahe  gelegt)  in  Paris  Spionendienste  leistet,  von  einem 
deutschen  Bankier  dabei  gefördert.  Er  weiss  sich  durch  demüthiges 
Verhalten  und  stark  aufgetragene  Lobhudeleien  und  Bewunderungs- 
äusserungen bei  ein  paar  angesehenen  Schriftstellern  und  Gelehrten 
einzuführen,  die  ihren  Verehrer  dann  in  ihre  Kreise  bringen  und 
ihm  die  Thüreu  aller  einflussreichen  Männer  ötfnen.  Da  man  ihm, 
der  sich  als  einen  zum  Tode  verurtlieilten  ehemaligen  Aufständischen 
ausgiebt,  volles  Vertrauen  entgegenbringt  und  ihn  für  einen  harm- 
losen deutschen  Gelehrten  hält,  werden  in  seiner  Gegenwart  die 
wichtigsten  Staatsangelegenheiten  ohne  Rückhalt  besprochen.  Es 
gelingt  ihm  auch,  indem  er  nach  Othellos  Muster  durch  Erzählung 
abenteuerlicher  Heldenthaten ,  die  er  verrichtet,  das  romantische 
Köpfchen  der  hübschen  Tochter  eines  Professors  am  College  de  France 
verdreht,  die  Hand  dieses  reichen  Mädchens  für  sich  zu  erobern. 
Einige  Schwierigkeiten  macht  ihm  dabei  eine  heissblütige  junge 
Frankfurterin,  die  er  einst  verführt  und  die  sich  nun  fest  an  seine 
Sohlen  g(  heftet  hat  und  ihn  mit  Dolch  und  Revolver  bedroht,  wenn 
er  sie  verlassen  will.  Sie  ist  ihm  nach  Amerika  gefolgt,  wo  sein 
Bruder  einen  Schinkenhandel  betreibt,  und  nach  Paris,  wo  sie,  als 
seine  Schwester  ausgegeben,  bei  ihm  wohnt.    Sie  ist  ihm  dadurch  noch 


*)  Le  docteur  Judassohn.     Paris  1873.     S.  Ifif. 


Die  französische  Novellisük  und  Bomanlitteratur.    I.         137 

besonders  gefährlich,  dass  sie  um  sein  heimliches  Gewerbe  weiss. 
Allein  nach  einigen  heftigen  Auseinandersetzungen,  bei  denen  Liebe 
und  Hass  unvermittelt  zum  kräftigrsten  Ausdruck  gelangen,  und 
nachdem  es  zwischen  ihnen  beinahe  zu  Mord  und  Totschlag  ge- 
kommen, weiss  er  ihren  Willen  unter  den  seinen  zu  beugen. 
Er  droht  ihr,  sie  als  Irrsinnige  oder  als  Dirne  einsperren  zu  lassen, 
macht  sie  auf  den  gemeinsamen  Vortlieil  einer  Geldheirat  aufmerk- 
sam ,  verspricht ,  ihr  auch  nach  seiner  Vermählung  Liebe  und 
Treue  zu  bewahren,  und  so  giebt  sie  endlich  nach  und  lässt  seine 
Verheiratung  ungehindert  vor  sich  gehen.  Wirklich  blieb  er,  obgleich 
er  seine  Gattin  liebt  und  mit  ihr  mehrere  Kinder  zeugt,  aus  Be- 
rechnung und  alter  Anhänglichkeit  mit  ihr  in  engen  Beziehungen. 
Während  des  Krieges  und  der  Belagerung  von  Paris  weilt  er  in 
dieser  Stadt;  durch  Wohlthätigkeiten  und  Errichtung  und  Unter- 
stützung von  Lazarethen  erwirbt  er  sich  allgemeines  Vertrauen; 
mit  Hilfe  des  Geldes  seiner  Frau  und  glücklicher  Spekulationen, 
bei  denen  ihm  seine  zahlreichen  Verbindungen  zu  Statten  kamen, 
hat  er  es  schon  vorher  zum  angesehenen  Millionär  gebracht.  Als 
der  Krieg  zu  Ende,  wird  er  von  Frankreich  für  seine  Verdienste 
mit  dem  Kreuze  der  Ehrenlegion,  von  Preussen  mit  der  Ernennung 
zum  Baron  belohnt,  und  er  beschliesst  nun,  reich  und  unabhängig 
geworden,  sein  Spionagewerbe  aufzugeben  und  nur  noch  sich  und 
den  Seinen  zu  leben. 

So  wäre  Judassohn,  der  auch  die  Liebe  seiner  ahnungslosen  Frau 
besitzt,  nun  alles  auf  das  beste  geglückt.  Aber  von  AssoUant  wird  auch 
ein  strafender  Rächer  eingeführt.  Es  ist  der  Schwager  Judassohn's, 
ein  französischer  Offizier,  der,  nach  Mexiko  ausgewandert,  zu  Beginn 
des  Krieges  nach  Frankreich  zurückgekehrt  ist  und  eine  Freischar 
gebildet  hat,  mit  der  er  die  Sologne  unsicher  macht.  Er  überrascht 
dort  unter  anderm  einen  deutschen  Proviantzug.  Einer  seiner  Ge- 
treuen, Jaguar,  schiesst  in  einen  Muni tions wagen;  die  darauf  befind- 
lichen Patronen  explodiren  und  bringen  die  Begleitungsmannschaft 
in  Verwirrung.  Die  Freischärler  schiessen,  vom  Mondschein  be- 
günstigt, die  neben  dem  Wagen  Herziehenden  massenhaft  nieder; 
die  zurückkehrende  Vorhut,  Ulanen,  die  offenbar  mondblind  sind, 
weil  sie  ihre  Gegner  nicht  sehen,  werden  durch  zwischen  den 
Bäumen  ausgespannte  Seile  zurückgehalten;  es  kommt  keiner  von 
ihnen  auf  den  Gedanken,  sie  mit  ihren  scharfen  Säbeln  zu  durch- 
hauen. So  bleibt  ihnen  nur  die  Flucht.  Vom  Proviantzug  wird 
alles  weggenommen,  was  die  abgerissenen  und  hungrigen  Freischärler 
brauchen  können;  den  deutschen  Leichen  (Pardon  wird  nicht  ge- 
geben) werden  die  Taschen  ausgeräumt,  was  einen  Ertrag  von 
60000  Franken  für  die  französischen  Helden  ergiebt.  (Assollant 
scheint  keine  Ahnung  davon  zu  haben,  dass  er  seine  Landsleute  als 


138  E.  Koschtvüz, 

unverfälschte  Strassenräuber  malt.)  Auch  Martha,  die  Geliebte 
Judassohn's,  die  mit  einem  Auftrage  an  einen  deutschen  Grafen 
unterwegs  ist,  fällt  in  die  Hände  des  Freischarenführers.  Er  er- 
kennt in  ihr  trotz  ihres  falschen  Passes  die  angebliche  Schwester 
seines  Schwagers  und  erfährt  aus  dem  Taschenbuche,  das  er  der 
Verdächtigen  abnimmt,  was  für  eine  Eolle  sie  und  Judassohn  spielen. 
Er  lässt  sie  gefangen  wegführen;  dagegen  macht  er  mit  ihrem  als 
Kutscher  verkleideten  Begleiter,  einem  Obersten  von  Kraubitz,  Sohn 
des  Statthalters  von  Brandenburg,  kürzeren  Prozess.  Er  fragt  ihn 
zuerst  verbindlich,  ob  er  lieber  gehangen  oder  erschossen  werden 
wolle.  Nachdem  dieser  ihm  geantwortet,  dass  er,  in  die  Hände  von 
Banditen  und  Meuchelmördern  gefallen,  es  ihnen  vollständig  über- 
lasse, was  sie  mit  ihm  anfangen  wollten,  bietet  ihm  der  Franzose 
die  Erhaltung  des  Lebens  an,  wenn  er  seinen  Auftrag  verrathe. 
Da  Herr  von  Kraubitz  diesen  Rettungsvorschlag  ablehnt,  wird  er 
mit  fünf  Kugeln  erschossen;  mehr  können  aus  Mangel  an  Munition 
nicht  auf  ihn  verwendet  werden.  Nach  beendigtem  Kriege  sucht 
der  Offizier  seinen  Schwager  Judassohn  auf;  er  entführt  ihn  mit  Hilfe 
Jaguar's  von  einem  Bankett,  wo  er  eben  auf  das  höchste  gefeiert 
worden  war,  an  eine  einsame  Stelle  des  Boulogner  Wäldchens,  zwingt 
ihn  dort,  einen  Brief  zu  schreiben,  wonach  er  sich  freiwillig  das 
Leben  nehme,  und  dann  zu  einem  Zweikampf,  bei  dem  aber  nur 
die  eine  Pistole  mit  einer  Kugel  geladen  ist.  Durch  das  Loos  fällt 
Judassohn  die  ungeladene  zu;  er  wird  von  seinem  Schwager  todt 
niedergestreckt  und,  später  aufgefunden,  mit  Pomp  und  unter  all- 
gemeinem Beileid  begraben,  auch  von  den  Seinen  innig  betrauert. 
Der  Offizier  behält  sein  Geheiraniss  für  sich  und  kehrt  nach  dem 
geliebten  Mexiko  zurück. 

Zui-  Kennzeichnung  des  Gesammttons  der  Erzählung  diene  die 
kleine  Unterhaltung,  die  der  Schwager  Judassohn's  mit  seinem  jungen 
Nefff^n  (S.  137)  führt: 

„Hast  Du  viele  Preussen  niedergesäbelt,  Onkel?" 

„Ja,  viele." 

„Sind  sie  sehr  hässlich?" 

„Hässlicher  als  Raupen." 

„Und  sehr  böse?" 

„Böser  als  Nattern." 

„Ist  es  wahr,  dass  sie  sich  niemals  waschen?" 

„Doch,  einmal  alle  halben  Jahre." 

„Hast  Du  viele  Gefangene  gemacht,  Onkel?" 

,,Nein,  niemals." 

„Warum  nicht?" 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteraiur.    I.         139 

„Weil  sie  so  sclimutzig  sind,  dass  man  sie  nur  mit  der  Zange 
anfassen  kann.  Ich  habe  deshalb  darauf  verzichtet.  Man  hat  nicht 
immer  eine  Zange  zur  Hand." 

„Was  machtest  Du  denn  da  mit  ihnen?" 

„Ich  tödtete   sie,   das  giebt  einen  sehr  guten  Dung"  u.  s.  w. 

Assollant   lässt  seinem  Doktor  Judassohn  in  demselben  Bande 
noch  zwei  weitere  Erzählungen  folgen,   die   sich  bestreben,    die   in 
Frankreich  während  der  Kriegszeit  und  nachher  oft  behauptete  Er- 
bärmlichkeit des  deutschen  Charakters,  namentlich  die  Mischung  von 
Heuchelei    und   Spitzbüberei,    die   Verbindung    von    salbungsvollen, 
pharisäischen  Worten  mit  den  Thaten  abgefeimter  Lumpen,  die  hün- 
dische Unterwürtigkeit  des  gemeinen  Mannes  und  den  rohen  üeber- 
muth  der  Offiziere  und  Junker  bei  den  Deutschen  an  Beispielen  zu 
zeigen.    In  der  einen  Erzählung:  Der  Oberst  Happethaler^)  trägt  ein 
preussischer  Sergeant  ein  Stück  seiner  unrühmlichen  Biographie  vor. 
Bei  Trautenau,  am  3.  Juli  1866,  hatte  er  mit  seinen  Gefährten  ein 
Haus  anzustecken   begonnen,    als  dessen  Besitzer,    ein  Krämer,    die 
Flinte  in  der  Hand  mit  einigen    österreichischen   Soldaten    hervor- 
bricht und  die  Preussen  überrascht.     Der  Sergeant  befiehlt  seinen 
zwanzig  Mann,  durch  Umkehren  der  Grewehre  sich  scheinbar  zu  er- 
geben ;    als    der   feindliche    Offizier   mit  seinen  Leuten    ahnungslos 
naht,  befiehlt  er  plötzlich:  Mit  Gott  für  König  und  Vaterland,  Feuer! 
So  werden  die  Oesterreicher  überrascht  und   in  die  Flucht  gejagt. 
Der  Krämer  soll  erschossen  werden;    seine  Frau  und  Tochter  legen 
Fürbitte  für  ihn  ein  und  wollen  dem  hinzugekommenen  Oberst  Happe- 
thaler  alles  Geld  ihrer  Kasse  für  seine  Befreiung   ausliefern.     Der 
Oberst  nimmt   das  Geld  und  lässt   dann  den  Krämer  trotzdem   er- 
schiessen.     Die  Schlauheit  des  Sergeanten  hat  ihm  so  gefallen,  dass 
er  ihn  in  seine  Dienste  nimmt.     Nach  beendetem  Kriege   wird  der 
Oberst  mit  einer  geheimen  Mission  nach  Paris  betraut,  auf  der  ihn 
der  Sergeant,  der  früher  drei  Jahre  lang  in  Paris  als  Haarkünstler 
gelebt,  begleitet.     Vorher  nimmt  Herr  v.  Happethaler  von  Ulrike, 
seiner  Braut,  einer  Bankiertochter,  der  er  nicht  recht  traut,  einen 
rührenden  Abschied,  bei  dem  Treuschwüre,  erinnernde  Sternbilder  und 
Klopstock'sche  Verse  eine  grosse  Helle  spielen.    Die  ihm  ausgesetzte 
Geldentschädigung  ist  gering;  Bismarck  muss  erst  einen  energischen 
Druck  ausüben,  ehe  es  ihm  gelingt,  dem  geizigen  Preussenkönig  eine 
einigermassen  anständige  Summe  für  den  wichtigen  Zweck  zu  entreissen. 
Herr  und  Diener  gelangen  glücklich  in  dem  Seinebabel  an.    Obgleich 
letzterer  täglich  mit  Fusstritten  und  Stockprügeln  in  ausgiebigster 
Weise  versorgt  wird,  dient  er  trotzdem  seinem  Obersten  eifrig  „mit 
Gott  für  König  und  Vaterland".    Er  unterscheidet  sich  dadurch  ganz 


Le  colonel  Happethaler,  a.  a.  0.  S.  241  ff. 


140  E.  Koschimtz, 

wesentlich  von  einem  französischen  Stallknechte,  dem  Herr  v.  Happe- 
thaler  dieselbe  Behandlung  zutheil  werden  lassen  will,  der  aber,  minder 
geduldig,  seinerseits  zur  Reitpeitsche  greift  und  den  deutschen  Offizier 
damit  erbarmungslos  bearbeitet.  Auf  Wunsch  des  Obersten  tritt  der 
Sergeant  später  in  das  Haus  eines  fi'anzösischen  Generals  als  Diener 
ein,  und  beide  spionieren  nun  dort  gemeinsam  alles  aus,  was  ihnen 
für  die  deutsche  Heeresleitung  wissenswerth  erscheint.  „Nichts  ist 
ja  leichter,  als  die  Franzosen  hinter's  Licht  zu  führen.  Wenn  man 
ihnen  von  Zeit  zu  Zeit  versichert,  sie  seien  das  erste,  das  tapferste, 
geistreichste,  grossmüthigste,  reichste  und  mächtigste  Volk  der  Welt, 
und  das  Weltall  halte  die  Augen  fortwährend  auf  Paris  gerichtet, 
so  kann  man  von  ihnen  haben,  was  man  will."  Die  ihm  von  seinem 
Hauptzwecke  freigelassene  Zeit  verbringt  Herr  v.  Happethaler  mit 
Spielen  und  Kurschneiden,  was  ihm  aber  nicht  allzuviel  Unkosten 
verursachen  darf.  Seine  Liebeleien  mit  einer  berühmten  Modeschönheit, 
der  auch  die  Huldigungen  des  Generalsohnes  aelten,  führen  seine 
Entlarvung  herbei.  Eines  Tages,  als  er  bei  ihr  weilt,  kommt  der 
berechtigtere  Nebenbuhler  hinzu.  Von  Happethaler  wird  in  einen 
Schrank  gesteckt,  aber  sein  Taschenbuch,  das  ihn  als  Spion  ent- 
hüllt, fällt  in  die  Hände  des  Eifersüchtigen.  Es  gelingt  jedoch  dem 
Obersten  und  seinem  Getreuen,  noch  rechtzeitig  nach  Belgien  zu 
entschlüpfen. 

Heimsekehrt  und  wegen  seiner  Unvorsichtigkeit  ausser  Dienst 
gestellt,  vermählt  sich  v.  Happethaler  eiligst  mit  Ulrike.  Auch 
hierbei  ist  er  unglücklich,  denn  sein  Schwiegervater  hat,  ohne  ihm 
davon  Mittheilung  zu  machen,  inzwischen  sein  Vermögen  verloren, 
und  Ulrike  bleibt  ohne  die  an  ihr  am  meisten  begehrenswerthe 
Mitgitt.  Es  kommt  zu  gewaltigen  häuslichen  Auseinandersetzungen 
in  der  edelbürtigen  Familie,  wobei  auch  Prügel  freigebig  ausgetheilt 
werden.  Der  Krieg  von  1870  unterbricht  die  häusliche  Idylle.  Niemals 
zeigte  sich  die  Hand  Gottes  sichtbarer  zu  Gunsten  des  tugendhaften 
Preussenvolkes  als  in  ihm.  „Hatten  wir  einen  Feind  gegenüber, 
so  war  es  Failly  oder  Frossard;  lenkte  ein  Generalstabschef  das 
französische  Heer,  so  war  es  Leboeuf;  belagerte  man  Paris,  so  liess 
sich  Trochu  einschliessen  und  wollte  nicht  mehr  heraus;  als  das 
erste  Heer  vernichtet  war,  so  stellte  man  uns  nur  schlecht  bewaff- 
nete, schlecht  genährte  und  bekleidete  Truppen  gegenüber".  Der 
wieder  im  Dienst  befindliche  Freiherr  v.  Happethaler  benutzt  den 
Feldzug,  um  bei  den  Franzosen  so  viel  Schätze  als  möglich  zusammen- 
zurauben; wer  ihm  nicht  gutwillig  seine  Habe  auslieterte,  wurde 
erschossen,  sein  Haus  verbrannt.  So  bringt  er  etwa  150000  Franken 
in  Geld  zusammen;  ausserdem  konnte  er  24  Frauenuhren,  12  gohlene 
Armbänder,  28  Halsbänder,  9  kostbare  Pendeluhren,  200  Dutzend 
Tücher  u.   dgl.   m.   an  seine  theure  Ulrike  abschicken.     Auch  sein 


Die  französische  NovelUstik  und  Bomanliüeratur.   I.         141 

Diener  hat  so  viel  als  möglich  zusammengerafft;  aber  statt  seines 
Lohnes  bekommt  er  Fusstritte,  und  er  muss  seine  Erzählung  mit  der 
schwermüthigen  Betrachtung  schliessen:  „Was  ist  der  Euhm  ohne 
Bier  und  Sauerkraut?     Eitler  Dunst!" 

Die  dritte  AssoUant'sche  Erzählung:  Die  Beichte  eines  guten 
Baiern^),  ist  ganz  in  demselben  Tone  und  Geiste  gehalten.  Der 
gute  Baier  ist  ein  Schuster,  der  mit  fünfzehn  Jahren  mit  einem 
Gulden  Reisegeld  versehen  von  seinem  Vater,  der  in  München  dem 
gleichen  Gewerbe  obliegt,  ausgeschickt  wird,  um  in  Paris  sein  Glück 
zu  machen.  Er  bettelt  sich  aucli,  dank  der  Freigebigkeit  und 
Gutmüthigkeit  der  Franzosen,  bis  daliin  durch,  und  wird  aus  Mitleid 
von  einem  pariser  Schuhmacher,  der  ihm  Kost  und  Wohnung  ge- 
währt, in  die  Lehre  genommen.  Kaum  hat  er  es  zu  einiger  Fertig- 
keit gebracht,  als  er  undankbar  seinen  Meister  verlässt,  weil  ihm 
anderwärts  fünf  oder  sechs  Sous  täglich  mehr  geboten  werden.  Im 
Frühjahr  1866,  nach  abermals  vier  Jahren,  ist  er  einer  der  besten 
Arbeiter  auf  der  Montmartrestrasse  und  verdient  er  täglich  neun 
Franken  „mit  Hilfe  des  HErrn".  Die  Mitgesellen  wollen  ihn  zum 
Tanz  mit  hübschen  Mädchen  und  zum  Trinken  verleiten;  aber  er 
weist  diese  Verführungen  Satans  zurück.  Sein  Herz  ist  ausschliesslich 
erfüllt  von  der  dicken  und  fetten,  hochblonden  Lolotte,  einer  regens- 
burger  Fleischertochter,  die  als  Köchin  in  einer  wohlhabenden  pariser 
Familie  dient  und  ihm  auf  Kosten  der  Herrschaft  manchen  guten 
Bissen  und  Schluck  zusteckt.  Als  der  österreichische  Feldzug  aus- 
bricht, wird  er  zur  Fahne  einberufen;  aber  wie  er  nach  München 
kam,  war  alles  bereits  beendet.  Mit  dem  Segen  der  Eltern  und 
deren  Heirathserlaubniss  ausgestattet,  kehrt  er  nach  Paris  zurück, 
wo  ihn  Lolotte  mit  einem  reichen  Mahle  in  der  Küche  der  Herrschaft 
empfängt.  Schliesslich,  da  Lolotte  allmählich  zu  Jahren  kommt 
und  dank  der  gemachten  Scliwänzelpfennige  eine  recht  anständige 
Mitgift  zusammengebracht  hat,  vermählen  sich  die  beiden,  ohne  dass 
etwas  an  ihrem  Dienstverhältniss  geändert  wird.  Lolotte's  Heir- 
schaft  nimmt  an  der  Hochzeit  theil,  bringt  die  beiden  Kinder  des 
Paares,  um  die  Köchin  behalten  zu  können,  bei  einer  Landamme 
unter  und  will  ihnen  sogar  eine  grössere  Geldsumme  leihen,  damit 
sie  sich  selbstständig  machen  können.  Der  Krieg  von  1870  hindert 
die  Ausführung  dieses  Planes.  Hans,  der  Schuster,  wird  zur  buirischen 
Landwehr  eingezogen,  Lolotte  bleibt  in  ihrer  alten  Stelle  zurück. 
Während  des  Feldzuges  kommt  unser  Held  nach  dem  Elsass ;  er  hört 
dort  einen  Bauern  deutsch  sprechen,  und  da  er  aus  dem  Liede  weiss, 
dass  Deutschland  überall  ist,  so  weit  die  deutsche  Zunge  reicht,  bittet 
er  ihn   um   einen   frischen  Trunk   Bier:   sie   wollen   zusammen    auf 


V  La  Confession  d'tm  hon  Bavarois,  a.  a.  0.  S.  193, 


142  E.  Koschmtz, 

das  deutsche  Vaterland  trinken.  Der  Elsasser  will  Hans  jedoch  mit 
einer  Heugabel  umbringen,  erreicht  aber  nur  seinen  Rock,  und  wird 
dann  mit  Hilfe  der  herbeigeeilten  Kameraden  des  Schusters  durch 
fünf  Kugeln  und  neun  Bajonettstiche  umgebracht.  Seine  alte 
Frau  schreit  so  stark,  dass  ihr  die  Halsadern  springen.  Sie  wird 
auf  Befehl  des  Hauptmannes  von  Kröben  im  Hause  gelassen  und 
mit  ihm  verbrannt;  „denn  man  muss  diese  Verruchten,  diese  Aus- 
schweifenden, diese  Gottesfeinde  davon  abbringen,  auf  ehrbare 
Deutsche  zu  schiessen".  Der  Hauptmann  findet  dafür  später  seinen 
Lohn  durch  einen  französischen  Gefangenen,  den  er  wegen  seiner 
losen  Zunge  durchprügeln  liess,  und  der  dann  einem  Posten  das 
Gewehr  entreisst  und  ihn  damit  erschiesst.  Der  Franzose  wurde 
zwar  dafür  wieder  erschossen,  aber  dadurch  kam  von  Kröben  nicht 
wieder  zum  Leben.  Vor  Paris  führt  der  Schuhmacher  seine 
Kameraden  in  das  Landhaus  des  HeiTu  seiner  Frau.  Sie  plündern 
den  darin  befindlichen  Weinkeller  und  stecken  das  Haus  an. 
Den  besten  Wein  hatten  vorher  die  deutschen  Offiziere  für  sich  in 
Anspruch  genommen.  Dieser  Vorgang  war  das  Unglück  unseres 
Helden.  Ein  Gärtner,  der  ihn  kannte,  hat  ihn  dabei  gesehen  und 
dies  dem  Besitzer  gemeldet.  Zur  Strafe  wird  Lolotte  entlassen; 
sie  schleppt  sich  kümmerlich  durch,  aber  ihre  Kinder  sterben  aus 
Mangel  an  Nahrung.  Als  der  Frieden  geschlossen ,  sucht  der 
Schuhmacher  wieder  Arbeit  in  Paris;  aber  niemand  will  mehr  etwas 
von  ihm  wissen,  und  so  muss  er  denn  mit  seiner  Frau,  nun  ärmer 
als  Hiob,  nach  Deutschland  zurückkehren. 

Zwei  preussische  Offiziere  spielen  eine  beklagenswerthe  Eolle  in 
eines  Pseudonymen  Verfassers  Erzählung:  Guten  Katzen  gute  Mäuse.'^) 
Die  Handlung  findet  wälirend  der  dem  Kriege  folgenden  Okkupation 
statt.  Der  Lieutenant  Erick  von  Felkenlieim,  liöclistens  fünfund- 
zwanzig Jahre  alt,  eine  schöne  gennanische  Erscheinung  von  hoch- 
adligem Wesen,  ist  in  einer  Familie  einquartiert,  deren  Oberhaupt 
von  unzweifelhafter  Achtbarkeit  erscheint.  Der  Mutter  verleiht  ihr 
steifes  provinzielles  Wesen  einen  tugendhaften  Anstrich ;  das  ganze 
Haus  verräth  Wohlliabenheit.  Seine  höchste  Zierde  bildet  Louise 
von  Trecourt,  eine  niedliche,  rosige  Blondine,  schön  wie  der  Tag, 
wolüerzogen  und  rein  wie  ein  Engel.  Sie  entgegnet  den  feurigen 
Blicken  des  bald  bis  über  die  Ohren  in  sie  verliebten  Lieutenants 
mit  liebenswürdigem  Lächeln,  seinen  glühenden  Erklärungen  mit 
zarten  und  ungezwungenen  Bemerkungen.  Der  Hauptmann  Rudolf 
Reickenbach,  ein  gut  gehaltener  Vierziger,  wohnt  bei  Frau  von 
Champneuf,  die  ein  hübsches,    gut  ausgestattetes  Haus,  Pferd   und 


^)  A  hons  Chats   bons   rats   (Ratten)   in  Trois  ^ßtoiles,  Ällemandes, 
Paris  1886.     S.  225  if. 


Die  französische  Novellistik  und  RomanliUeratur.    I.         143 

Dienerschaft,  einen  2:uten  Tiscli  und  eine  reiche  Ausstattunc;  ihr 
eigen  nennt,  und  unzweifelhaft  ein  beträchtliches  Vermögen  besitzen 
muss.  Er  wurde  bei  ihr  vom  ersten  Tage  an  mit  grösster  Aufmerk- 
samkeit behandelt.  Die  Köchin  unterbreitete  ihm  die  Tafelkarte  zur 
Bestätigung,  die  Zimmerfrau  besorgte  seine  Wäsche,  die  Hausfrau 
legte  ilmi  die  besten  Bissen  vor  und  schenkte  ihm  die  edelsten  AVeine 
ein.  Dieses  angenehme  und  bequeme  Leben  lässt  ihn  die  etwas 
reife,  den  füufzigern  nahestehende  Wirthin  mit  vielem  Wohlwollen 
betrachten.  Sie  war  nicht  gerade  schön,  von  einer  bei  ihrem  Alter 
unerklärlichen  Schüchternheit,  und  lebte  in  vollständiger  Zurück- 
gezogenheit zwischen  ihrem  Vogelhaus  und  ihrer  Katze.  Sie  erschien 
aber  in  jeder  Hinsicht  geeignet,  mit  Waffen  und  Grepäck  requiriert 
zu  werden.  Unser  Hauptmann  richtet  denn  aucli  bald  an  sie  einige 
kühne  Worte  und  bringt  dadurch  ihre  gealterten  Wangen  zu  scham- 
haftem Erröten.  Durch  einige  neue  Angriffe  findet  er  siegreich  den 
Weg  zu  ihrem  Herzen.  Die  beiden  Ofliziere  beschliessen,  die  Aus- 
erwählten zu  ehelichen  und  entdecken  sicli  dem  Feldmarschall,  dessen 
Bedenken  sie  überwinden,  und  der  schliesslich  seine  Einwilligung 
zur  Verlobung  ertheilt.  Kaum  sind  die  deutschen  Truppen  abge- 
zogen, als  unsere  beiden  Verliebten  auch  schon  zurückkehren,  um 
die  Bräute  heimzuführen.  Empfindsam  und  brüderlich  gesinnt,  wollen 
sie  an  einem  Tage  Hochzeit  feiern.  Sie  können  beide  kaum  den 
Festtag  erwarten.  Der  eine  ist  von  der  Schönheit  der  Geliebten 
entzückt,  der  er  als  Hochzeitsgabe  einen  Granatschmuck,  einen  mit 
Türkisen  besetzten  Haarkamm  und  eine  Halskette  von  Feldkrystall 
verehrt.  Der  andere  wird  von  dem  Gedanken  belebt,  wieviel  schöne 
Sachen  ihm  angehören  sollen.  Da  seine  Braut  schon  so  viele  Schmuck- 
gegenstände besitzt,  wagt  er  ihr  nicht  das  geringste  Kleinod  anzu- 
bieten. Am  Tage  nach  der  Hochzeit  fordert  Hauptmann  Eeickenbach 
seine  ältliche  Gattin  auf,  zum  Zweck  der  Abreise  das  Einpacken  ihres 
Mobiliars  zu  beginnen.  Er  erfährt  dabei,  vor  Schrecken  starr,  dass 
sie  durch  ihre  Wiederverheirathung  desselben  sowie  ihres  gesammten 
Einkommens,  das  sie  ihrem  ersten  Gatten  verdankt,  verlustig  ge- 
gangen ist.  Eine  ehemalige  Modistin,  ist  sie  später  die  Frau  eines 
alten  reichen  Herren  gewesen,  der  ihr  die  Nutzniessung  seines  Ver- 
mögens mit  der  Bedingung  ausgesetzt  hatte,  sicli  niemals  wieder  zu 
verheirathen.  Eines  längeren  Glückes  erfreut  sich  Lieutenant  Erick 
von  Feikenheim.  Aber  als  er  zwei  Jahre  später  von  einem  Manöver 
heimkehrt,  ist  seine  Frau  verschwunden.  Erst  nach  einem  Jahre 
erfährt  er,  dass  sie  in  Paris  lebt  und  dort  ihr  Glück  gemaclit  hat: 
Wagen,  Pferde  uud  viele  Schmucksaclien  sind  ihr  Eigentum.  Wütend 
sucht  er  sie  auf,  aber  sie  lässt  ilin  niclit  erst  zu  Worte  konnnen. 
Sie  hat  sich  in  Deutschland  zu  sehr  gelangweilt;  in  Paris  lebe  sie 
unter   dem    Namen    einer   Gräfin    von  Trecourt:    ihr    gegenwärtiges 


144  E.  Koschtvitz, 

Treiben  ginge  ilm  also  nichts  an.  Er  droht  Rache  zu  nehmen  und 
erhält  zur  x\ntwort:  „Ach,  Sie  müssten  sich  dann  mit  so  vielen 
Leuten  schlagen."  Die  beiden  Helden  „haben  oft  bedauert,  den  weisen 
Rathschlägen  Sr.  Excellenz  des  Feldmarschalls  keine  Folge  gegeben 
zu  haben." 

In  naher  Geistesverwandtschaft  mit  der  eben  geschilderten  Er- 
zählung steht  die  einem  Leon  Cahn  gewidmete  Erzählung  Siebecke r's: 
Die  Rache  des  Rabbiners^).  Der  Premierlieutenaut  eines  in  Strass- 
burg  stehenden  Kavallerieregimentes,  Otto  von  Haeringshalf,  hat 
eben  in  einem  Bierhause  sein  aus  zwei  Knackwürsten,  einem  Maul- 
und  Füsssalat  und  drei  Schoppen  Münchener  Bier  bestehendes  Abend- 
brot verzehrt,  als  er  einen  Brief  von  seiner  „Hochwohledelgeborenen 
Frau  Graffiun"  Mutter  erhält.  Aus  ihm  ersieht  er,  dass  es  zu  Hause 
sehr  schlecht  steht.  Es  reicht  nicht  einmal  mehr  dafür,  seinen  vier 
Schwestern  neue  Anzüge  zu  beschaffen.  Der  Vater  hat  den  Fehler 
begangen,  nicht  alle  französischen  Möbeln  und  Uhren  zu  verkaufen, 
mit  denen  die  Zimmer  überfüllt  sind,  weil  sie  ihn  au  seine  Siege 
erinnern.  Der  Jude  Mayerle  hat  schon  zum  zehnten  Mal  eine  Ab- 
schlagszahlung auf  die  ihm  schuldigen  3000  Thaler  verlangt.  Der 
Sohn  könne  ihr  altes  Wendeugeschlecht^)  retten,  wenn  er  die  reiche 
Nichte  Mayerle's,  die  Sore  Kahn,  Tochter  eines  verstorbenen  Ochsen- 
händlers heirate,  die  in  Lobsann  bei  Sultz  bei  ihrem  Grossvater  Reb 
David  Kahn  wohne.  Einige  Tage  später  macht  sich  der  Lieutenant 
in  seiner  glänzendsten  Uniform,  das  Bein  gespreizt,  die  Hüfte  ein- 
geschnürt, mit  schleppendem  Säbel  und  fächerartig  ausgebreitetem 
rothen  Barte  nach  Lobsann  zu  dem  Rabbiner  David  auf.  Die  Juden 
feiern  eben  das  „Soukkoth"fest;  er  begiebt  sich  zu  ihnen  und  setzt 
dabei  die  Gesellschaft  in  nicht  geringe  Aufregung,  denn  er  ist  nicht 
nur  ein  Goi  (Christ),  sondern  auch  ein  „Rache'"  (Feind)  und  ein 
„Schwob"  (Deutscher).  David  liest  den  Empfehlungsbrief  Mayerle's, 
während  Sarah,  eine  jüdische  Schönheit,  Laubgewinde  mit  blau-weiss- 
rothen  Blättern  schmückt.  Der  Rabbiner  verspricht  dem  Lieutenant, 
Bescheid  nach  Strassburg  zu  senden,  nachdem  er  mit  seiner  Enkelin 
Rücksprache  genommen.  Nach  allerlei  Berathungen  in  Lobsann, 
an  denen  sich  die  Priester  aller  drei  Religionen  und  auch  noch  ein 
Voltärianer  betheiligen,  erhält  der  Bewerber  zur  Antwort:  die  schöne 
Sore  würde  über  den  Religionsunterschied  nur  dann  hinweggehen, 
wenn  sie  einen  Franzosen  heiratete.  Es  werde  dem  Herrn  Lieutenant 
anheimgestellt,  den  hemmenden  Unterschied  vei^schwinden  zu  lassen; 


')  La  revancfie  du  rabbin  in  Eecits  heroiques,  S.  831. 

''')  Eine  Anmerkung  sagt  wörtlich:  „Die  Preussen  wollen  keine 
Germanen  sein  und  rühmen  sich,  von  den  Wenden  oder  Vandalen  abzu- 
stammen." 


Die  französische  NovelUstik  und  Eomanlitteratur.    I.         145 

vielleicht  werde  das  Mädchen  dadurch  gerührt.  Auf  den  Zuspruch 
seiner  Mutter  entschliesst  sich  Herr  v.  Haeringshaff  zur  Beschneidung, 
mit  dem  Hintergedanken,  später  zur  Eeligion  seiner  Väter  zurück- 
zukehren. Das  Opfer  wird  aber  umsonst  gebracht:  die  schöne  Sore 
erklärt  nunmehr,  sie  heirate  keinen  Eenegaten.  Der  Getäusclite  ver- 
abreicht Mayerle  eine  strafende  Tracht  Prügel,  dieser  enterbt  seine 
Nichte,  und  Sore  heiratet  einen  französischen  Hauptmann. 

Noch  schlimmer  ergeht  es  dem  bairischen  Vaterlandsver- 
theidiger  Hermann  vSchmidt  in  P.  Veron's  Kehrseite  des  Ruhms.^) 
Im  Alter  von  fünf  und  zwanzig  Jahren,  eben  verheiratet,  Mitglied 
eines  freisinnigen  Vereins,  hört  er  mit  Staunen  von  dem  Bettel  der 
Spanier  um  einen  deutschen  Prinzen  und  von  der  intelligenten  fran- 
zösischen Staatskande,  die  mit  solchem  Glanz  eine  Kriegserklärung 
einleitete.  ,,Man  denke  sich  jemand  an  der  Gasttafel  sitzend,  beim 
Nachtisch.  Er  verzehrt  eben  Chokoladenkreme  und  denkt  nicht 
daran,  noch  ein  Stück  Hammelkeule  zu  essen.  Plötzlich  redet  ihn 
ein  Nachbar,  ihm  in  das  Weisse  der  Augen  sehend,  an:  Ich  verbiete 
Ihnen,  noch  einmal  Hammelkeule  zu  verlangen;  sonst  haben  Sie  es 
mit  mir  zu  thun.  Natürlich  ruft  der  so  Angeredete  sofort  nach  der 
Kellnerin",  um  sich  die  ihm  untersagte  Keule  zu  bestellen.  So  war 
man  in  Frankreich  verfahren,  und  so  kam  es  denn  auch,  dass 
H.  Schmidt  begeistert  gegen  das  Land  ins  Feld  zog,  das  Deutsch- 
land Vorschi'iften  machen  wollte.  Während  des  Krieges  hatte  er 
seinen  Antheil  an  den  Gefahren,  dem  Muthe,  den  Grausamkeiten; 
er  verfuhr  grade  so  wie  seine  Brüder  in  Pickelhauben.  Bei  einem 
Gefechte  zerschmetterte  ilim  eine  Kugel  das  Knie;  man  nahm  ihm 
das  Bein  ab  und  schickte  ihn  geheilt  nach  Hause.  Kaum  ange- 
kommen, staunt  er  über  die  Veränderungen  in  seinem  engeren  \'ater- 
lande.  Baiern  ist  unter  den  Lorbeeren  erstickt.  Er  geht  zu  seinem 
Notar,  um  sich  nach  dem  Stande  seines  Vermögens  zu  erkundigen, 
und  erfährt  dort,  dass  seine  Frau  es  grösstentheils  verzehrt  hat. 
Nach  Hause  zurückkehrend,  hört  er  zufällig,  wie  zwei  Bekannte  ihn 
beklagen,  weil  allem  Anscheine  nach  seine  Frau  ihn  immer  noch 
betröge.  Er  verjagt  die  wirklich  Ungetreue  und  ist  nun  allein  in 
seinem  Hause  mit  seinem  Elend.  Er  tröstet  sich  mit  dem  Gedanken 
an  ein  Kriegsandenken,  das  er  mitgebracht,  und  holt  eine  sorgfältig 
eingepackte  Pendeluhr  hervor:  0  Unglück,  er  hat  eine  mitgenommen, 
die  nicht  geht! 

Das  Thema  hat  unserm  Verfasser  so  sehr  gefallen,  dass  er 
auf  dasselbe  noch  ein  zweites  Mal  zurückkommt,  in  seiner  noch  etwas 
phantastischeren  Erzählung:  Die  Spieluhr^).  Ihr  Held,  Herr  v.  Chippen- 


*)  L'envers  de  la  gloire  in  Gotdisses  d'un  grand  drame,  S.  183. 
')  L^horloge  ä  musique  in  Coulisses,  etc.  S.  277  ft. 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  10 


146  E.  Koschwitz, 

berg  (v.  chiper),  hat  in  einem  französischen  Schlosse  eine  reizende 
Spieluhr  vorgefunden.  Ihr  Anblick  versetzt  ihn  in  Entzücken,  er 
sagt  sich  leise:  „Lieber  verlier  ich  meinen  Namen,  als  dass  sie  nicht 
mein  wird."  In  der  That  nimmt  die  Uhr  am  zweitnächsteu  Tage 
wohl  verpackt  ihren  Weg  nach  Baden.  Der  Krieg  ist  zu  Ende. 
Herr  v.  Chippenberg,  allen  Gefahren  entronnen,  kehrt  vergnügt  heim. 
Gleich  auf  dem  Bahnhofe,  wo  ihn  seine  Frau  empfängt,  fragt  er: 
„Du  hast  doch  die  Spieluhr  richtig  erhalten'?"  „Freilich,"  antwortet 
sie,  und  unser  Held  stösst  einen  Seufzer  der  Zufriedenheit  aus.  Nach 
der  Bewillkommnungsmahlzeit  wird  die  Uhr  aufgezogen,  und  die 
Familienunterhaltung  beginnt.  Ein  praktischer  Geist,  fragt  der  Haus- 
herr nach  dem  Stande  der  Geschälte  und  vernimmt  mit  Schrecken, 
dass  er  so  gut  wie  zu  Grunde  gerichtet  ist.  Im  selben  Augenblick 
spielt  die  Uhr : 

Dans  le  service  de  1' Antriebe, 

Le  militaire  n'est  pas  riebe. 
Als  Herr  v.  Chippenberg  am  folgenden  Tage  aufstehen  will, 
kann  er  sich  nicht  rühren.  Der  herbeigerufene  Arzt  fragt  ihn,  ob 
er  im  vergangenen  Winter  auf  Schnee  geschlafen,  sich  sonst  erkältet 
und  schlecht  genährt  habe,  und,  nachdem  diese  Fragen  bejaht  sind, 
stellt  er  das  Vorhandensein  eines  Gelenkrheumatismus  fest,  an  dem 
der  Kranke  sechs  Wochen  zu  liegen  haben  werde.  Wie  der  Arzt 
diese  Worte  beendete,  begann  die  Ulir  zu  spielen: 

Ah!  quel  plaisir  d'etre  Soldat! 
Die  Genesung  nimmt  längere  Zeit  in  Anspruch,  als  der  Arzt 
vorausgesetzt  hatte.  Als  Herr  v.  Cliippenberg  wieder  aufsteht,  ist 
er  mager,  gelb,  traurig  anzusehen.  Er  erholt  sich  indessen.  Da 
empfängt  er  eines  Tages,  als  er,  vor  dem  Fenster  sitzend,  sich  an 
einem  fröhlichen  Sonnenstrahl  ergötzt,  einen  anonymen  Brief  des 
Inhalts:  „Ein  Freund  benachrichtigt  Sie.  dass  Ihre  Frau  seit  Ihrer 
Abreise  etc.  etc.  Noch  jetzt  und  während  Ihrer  Krankheit  empfängt 
sie,  wälirend  Sie  im  Oberstock  schlafen,  in  dem  unten  gelegenen 
Gesellschaftszimmer  den  Besuch"  .  .  .  Der  Hauptmann  wird  karmoisin- 
roth,  grün,  gelb,  und  die  Uhr  spielt  dazu: 

Le  rendez-vous  de  riclie  compagnie. 
Am  selben  Abend  geht  Chippenberg  unter  dem  Vorwande  eines 
Uebermasses  von  Müdigkeit  zeitig  zu  Bette.  Aber  mit  leisem  Schritt 
steigt  er  wieder  hinab,  stellt  sich  auf  die  Lauer  und  sieht,  dass  .  .  . 
man  ihm  die  Wahrheit  geschrieben  hatte.  Plötzlich  erbleicht  er. 
Die  Spieluhr  hatte  einen  Kukuck  zum  Vorschein  kommen  lassen,  der 
grüssend  ruft:  coucou,  coiicou  (Anklang  au  cocu,  cocu).  Er  stirbt  an 
einem  Blutsturz  noch  in  derselben  Nacht.  Moral:  „Die  Uhren  haben, 
wie  alles  hienieden,  auch  ihre  Unbequemlichkeiten". 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    I.         147 

Derselbe  Grundgedanke ,  Rache  einer  gestohlenen  fran- 
zösischen Uhr  an  ihren  deutschen  Besitzern,  gab  Daudet  den  Stoff 
zu  seiner  TJlir  von  Bougival^).  Eine  niedliche  Uhr,  nicht  grösser 
als  das  Ei  einer  Turteltaube,  mit  lieblich  klingendem  Schlagwerk, 
aber  launenhaft  und  unrecht  gehend,  anders  zeigend  als  schlagend, 
ist  von  einem  bairischen  Soldaten  aus  Bougival  nach  München  ver- 
schickt worden,  und  prangt  dort  bald  darauf  am  Odeonplatz  im 
Schaufenster  eines  Händlers  mit  Seltenheiten:  Augustus  Cahn.  Sie 
erweckt  das  Staunen  aller  Münchener.  „Drei  Reihen  grosser  Pfeifen 
rauchten  vor  dem  Cahn'schen  Laden  von  früh  bis  abends,  und  das 
gute  Münchener  Volk  fragte  sich  mit  runden  Augen  und  verdutzten 
„Mein  Gott",  wozu  diese  sonderbare  Maschine  dienen  könnte."  Photo- 
graphieen  von  ihr  hingen  in  allen  Schaukästen ,  die  Zeitungen 
brachten  Abbildungen  von  ihr,  und  der  berühmte  Professor  Dr.  Otto 
V.  Schwanthaler  (eine  Persönlichkeit,  die  auch  in  des  Verfassers 
Tartarin  siir  les  Alpes  eine  Rolle  spielt) ,  schrieb  eine  600  Seiten 
lange,  humoristisch  -  philosophische  Abhandlung:  Paradoxa  über  die 
Stutzuliren.  Zu  ihrer  Ausarbeitung  kaufte  er  die  ühr  und  stellte 
sie  in  seiner  besten  Stube  auf,  wo  sie  mit  einer  grossen  Pendeluhr 
in  Wettbewerb  tritt,  die  bisher  das  Leben  und  Treiben  des  ganzen 
Hauses  mit  ihrem  Schlage  fest  und  sicher  geregelt  hatte.  Sie  bringt 
bald  alles  in  Unordnung;  die  alte  regelmässige  Tageseintheilung 
verschwindet;  die  Frau  Professor  und  ihre  drei  Hopfenstangen  von 
Töchtern  denken,  unbekümmert  um  Zeit  und  Maass,  nur  noch  an 
ihr  Vergnügen.  Die  früheren  ernsten  Abendgesellschaften  weichen 
Maskenbällen,  lebenden  Bildern,  Theateraufführungen  und  Spielver- 
gnügungen; Frau  von  Schwanthaler  ergeht  sich  in  auffälligen  An- 
zügen am  Isarufer,  und  die  Töchter  des  Hauses  nehmen  während 
dessen  von  kriegsgefangenen  Offizieren  Unterricht  in  der  französischen 
Sprache.  Schliesslich  verschwindet  eines  schönen  Tages  die  ganze 
Familie  nach  Amerika,  mit  ihr  die  schönsten  Tiziane  der  Münchener 
Pinakothek.  Nach  ihrer  Abreise  richtet  die  kleine  Uhr  von  Bougival 
in  München  noch  allerhand  andern  Unfug  an.  „Man  sah  der  Reihe 
nach  eine  Stiftsdame  einen  Barytonisten  entführen,  den  Dekan  der 
Akademie  eine  Tänzerin  lieirathen,  einen  Hofrath  beim  Spiele  be- 
trügen, ein  adliges  Frauenkloster  wegen  nächtlicher  Ruhestörung 
schliessen  u.  s.  w.  Zuletzt  wanderte  die  Uhr  in  das  königliche 
Schloss,  und  seitdem  sieht  man  auf  dem  stets  geöffneten  Stutzflügel 
des  Königs  Ludwig  keine  Wagner'schen  Noten  mehr,  sondern  „den 
Seehund  mit  dem  weissen  Bauche"  aufgeschlagen  liegen."  Der  Ver- 
fasser schliesst  mit  den  Worten :  „Das  wird  ihnen  die  Lust  be- 
nehmen, sich  unsi'er  Uhren  zu  bedienen!" 


La  penduie  de  Bougival  in  Contes  du  lundi,  S.  64  ff. 

10* 


148  JE.  Koschtoitz, 

In  anderer  Weise  wird  die  unerschöpfliche  Kriegsfabel  von  der 
deutschen  Gier  nach  Stutzuhren  ausgebeutet  in  Siebeclier's: 
Der  Gedanke  des  Andres  Sckirmeck^),  einer  Erzählung-,  die  sich  selbst 
als  durch  Daudet's  Uhi*  von  Bougival  angeregt  erkenntlich  macht. 
Ein  Strassburger  Photograph  ist  vor  dem  Kriege  mit  seinem  Geschäfte 
nicht  sonderlich  vorwärts  gekommen.  Während  der  Belagerung  war 
er  Artillerist.  Der  glückliche  Gedanke,  der  ihn  mit  einmal  trotz 
seiner  Wohnung  auf  der  unansehnlichen  Stephanigasse  in  Euf  bringen 
sollte,  kam  ihm  erst  nach  Beendigung  des  Krieges.  Während  er 
sich  kümmerlich  von  Knackwurst  und  Milchkaffee  nährte  und  an  ein 
Verlassen  Strassburgs  dachte,  stolpert  eines  Tages  ein  Soldat  in  sein 
einsames  Atelier,  dabei  die  pappenen  Vasen  und  die  Schlossterrassen 
umwerfend,  auf  denen  die  Wurstmacher  sich  so  gern  dai"stellen  lassen. 
Es  war  ein  sächsischer  Jäger  mit  bierfarbenem  Bocksbart  und  frechem 
Auge  unter  strohblondem  Haupthaar.  Nachdem  er  zwei  bis  dreimal 
fast  umgefallen  war,  richtet  er  sich  mühsam  wieder  auf  und  ruft: 
„Olli,  Magd!  Trutschi!  Ein  voll  Glass  Sclinaps!"  Gleichzeitig  schlägt 
die  Stutzuhr  des  Ateliers  irgend  eine  Stunde.  Der  Söldling  wendet 
sich  nach  ihr  hin  und  betrachtet  sie  mit  thierischer  Verwunderung.  Der 
Photograph  kann  nicht  umhin,  den  Ausdruck  in  seinem  Gesicht  zu 
bewundern,  der  ihn  an  einen  den  Hasen  witternden  Jagdhund  oder 
an  einen  Karten  sehenden  Spieler  erinnert.  Er  fragt  den  Sachsen, 
ob  er  sich  in  einer  Herberge  glaube,  und  droht  die  Wache  zu  rufen, 
damit  er  die  „Prügelstrafe"  (schlague)  erhalte.  Der  Sachse  erschrickt 
und  lässt  sich  willig  in  heroischer  Pose  zu  der  auf  einem  Nipptisch 
befindlichen  Uhr  stellen,  die  Hand  auf  ihrer  Glocke,  das  Gesicht  ihr 
zugewandt.  Der  Photograph  verspi"icht  ihm  die  Uhr,  wenn  er  recht 
ruhig  steht,  und  ein  unendliches  Gefühl  des  Glückes  prägt  sich  dem 
Gesichte  des  Duramerjahns  ein.  So  wird  der  Sachse  photographiert. 
Als  er  die  Stutzuhr  mitnehmen  will,  wird  er  mit  der  Bemerkung  abge- 
wiesen, er  würde  sie  in  seiner  Trunkenheit  wahrscheinlich  zerbrechen. 
Er  solle  sie  lieber  ein  ander  Mal  abholen.  Natürlich  vergisst  der 
Trunkenbold  auf  die  Sache.  Der  Photograph  aber  stellt  das  gelun- 
gene Ijichtbild  in  seinem  Schaukasten  aus.  Damit  beginnt  sein  Er- 
folg, sei  es,  dass  die  Photographie  des  Soldaten  oder  die  Stutzuhr 
dessen  letzte  Ursache  war.  Am  ersten  Tage  stellen  sich  ein  Kanonier 
und  ein  Infanterist  ein;  des  andern  Tags  kommen  deutsche  Soldaten 
zu  vieren.  Dann  tritt  ein  völliger  Durchmarsch  ein:  Husaren, 
Ulanen,  Kürassiere,  Artilleristen,  Infanteristen,  Gemeine  und  Unter- 
offiziere, Feldheer  und  Landwehr,  alles  wandert  an  dem  Aufnahme- 
glase des  Lichtmalers  vorbei.  Die  vier  ersten  Male  hatte  er  ver- 
gessen,   die   Stutzuhr    mit    aufzustellen;    sie    wurde   aber   alle   vier 


')  L'idee  d' Andres  Schirmeck  in  Reeits  heroiques,  S.  201  ff. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         149 

Mal  verlaniit.  Er  photographiert  sie  nun  mit  allen.  Das  Geschäft 
nimmt  einen  ungeahnten  Fortgang-.  Nach  einem  halben  Jahre  sind 
bereits  zwei  Gehilfen  nöthig.  Die  Regimenter  und  Armeekorps 
wechseln,  der  Zustrom  bleibt  unverändert.  Preussen,  Baiern,  Württem- 
berger, Sachsen,  Badenser,  Hessen,  Mecklenburger,  alles  wird  mit 
der  Uhr  photographiert.  Audi  als  die  alten  Feldzugssoldaten  heim- 
gekehrt sind,  geht  das  Geschäft  mit  den  jungen  bartlosen  Rekruten 
munter  fort.     Für  sie  war  es  die  Stutzuhr  der  Zukunft. 

Unglücklicherweise  erzählten  französische  Zeitungen  die  Ge- 
schichte von  den  gestohlenen  Uhren.  Die  germanische  Presse  gerieth 
darüber  in  Wuth,  namentlich  als  österreichische  Zeitungen  die 
Daudetsche  Uhr  von  Bougival  in  deutscher  Sprache  veröffentlicht 
hatten.  Der  hochmächtige  Graf  Wolframm  von  Goldenbarth,  Oberst 
eines  Husarenregimentes,  entdeckte  in  den  Hütten  seiner  alten 
Krieger  überall  deren  Photographie  mit  ein  und  derselben  Uhr.  Er 
berichtete  darüber  an  den  Minister.  Dieser  richtete  ein  Rundschreiben 
an  alle  Bürgermeister,  man  solle  nach  solchen  Photographien  nach- 
forschen. So  kam  die  Sache  zu  Tage.  Der  kaiserliche  Rath  benach- 
richtigte die  Bundesregierungen ;  es  stellt  sich  heraus,  dass  ganz  Deutsch- 
land durch  die  Bilder  des  Strassburger  Photographen  Andres  Schirmeck 
vergiftet  ist.  Eines  Abends  hört  dieser  im  Vorbeigehen  eine  Gruppe 
Artilleristen  erregt  von  einem  Schweine  von  Photographen  reden,  an 
dem  man  Rache  nehmen  müsse.  Dieses  Schwein  von  einem  Photographen 
kann  nur  er  selber  sein.  Mit  langen  Schritten  eilt  er  nach  Hause,  packt 
eilends  allen  Barvorrath  zusammen,  schickt  Frau  und  Kind  zu  einer 
Muhme  auf  die  Hennengasse  und  rückt  selber  aus  nach  Avricourt.  Am 
selben  Abend,  7^2  Uhr,  wurde  sein  Atelier  vollständig  ausgeplündert; 
ein  riesiger  Kürassier  trug  die  Stutzuhr  auf  den  Kleberplatz,  wo  sie 
fünf  Minuten  vor  dem  Zapfenstreich  von  der  trunkenen  Soldateska 
feierlich  in  Stücke  gehauen  wurde. 

Eine  andere  Art  spöttischer  Kriegserzählung  bietet  die  schon 
genannte  anonyme  Novellensammlung  Allemandes  in  der  Novelle: 
Die  DkiJconissin^).  Die  Heldin,  in  kastanienbrauner,  anspruchsloser 
Kleidung,  den  Oberkörper  in  einen  Mantelkragen  gehüllt,  das  Ge- 
sicht in  einem  grünen  Schleier  geborgen,  meldet  auf  dem  Bahnhofe 
von  Metz  bettudlichen  Französinnen  die  Ankunft  eines  verwundeten 
französischen  Hauptmannes  an.  Eine  der  Anwesenden  ist  seine 
Mutter.  Die  Diakonissin  spricht  ihr  Trost  zu  und  verheisst  ihr 
Rettung.  Sie  führt  sie  später  zu  dem  schwer  verletzten  Sohne  und 
veranstaltet  dessen  Uebertührung  nach  dem  elterlichen  Hause  unter 
Anwendung  aller  nur  denkbaren  Vorsicht,    ihre  aufmerksame  Sorgfalt 


')  La  Diaconesse,  a.  a.  0.,  S.  275  ff. 


150  E.  Koschwitz, 

erweckt  ihr  die  Theilnahme  der  betrübten  Mutter,  einer  Gräfin 
V.  Fonteville,  die  sich  leise  bei  dem  Verwundeten  erkundigt,  wer  die 
Deutsche  ist,  und  von  ihm  erfährt,  sie  sei  eine  Diakonissin  d.  i.  eine 
etwas  phantastische  barmherzige  Schwester.  Sie  ladet  die  Pflegerin 
zu  sich  in's  Haus.  Die  Einladung  wird  angenommen,  und  die 
Diakonissin  verspricht  zugleich  einen  deutschen  Arzt  herbeizuführen, 
der  erfahrener  sei,  als  die  einheimischen.  Eine  Stunde  später  ist 
der  Hauptmann  in  seinem  Bett  untergebracht;  die  Mutter  und  seine 
reizende  sechszehnjährige  Schwester  stehen  bei  ihm.  Der  Kranke 
wird,  diesmal  von  der  Schwester,  nochmals  ausgefragt,  was  eine 
Diakonissin  eigentlich  ist,  ob  sie  eine  Sekte  bilden,  die  ^'erwundete 
aus  Liebe  zu  Gott  oder  zu  ihnen  selbst  pflegen,  und  ob  seine  Wärterin 
jung  und  hübsch  ist.  Die  letzten  Fragen  werden  bejaht.  Des  Abends 
steUt  sich  die  Diakonissin  ein,  ein  prächtiges  Mädchen  von  höchstens 
fünfundzwanzig  Jahren  mit  dem  vollen  Glänze  einer  blonden  und 
frischen  Germanin,  von  entschiedenem,  aber  heiterem  Wesen.  Sie 
richtet  sich  ohne  weiteres  häuslich  ein  und  lässt  sich  unter  Ablehnung 
der  Zuliilfenahme  einer  barmherzigen  Schwester  und  mit  dem  An- 
erbieten, den  Verwundeten  allein  zu  verbinden  und  zu  verpflegen, 
in  dem  Zimmer  neben  dem  Kranken  ein  Bett  aufstellen.  Am  folgenden 
Tage  erscheint  auf  ihre  Veranlassung  der  ihr  sehi-  ergebene  Dr.  med. 
Grosben,  etwas  zu  dick,  zu  roth  und  überblond,  aber  nichtsdesto- 
weniger ein  sehr  hübscher  Manu ,  dem ,  da  die  Gräfin  vor  der  Ge- 
schicklichkeit der  deutschen  Aerzte  hohe  Achtung  besitzt,  die  Be- 
handlung des  Kranken  überlassen  wird.  Nach  Verbindung  des  Ver- 
wundeten, geht  die  Diakonissin  an  ihr  Tagewerk  in's  Hospital,  am 
ersten  und  an  den  folgenden  Tagen,  und  erst  des  Abends  erscheint  sie 
wieder  bei  ihrer  Wirthin.  Es  stellt  sich  zwischen  den  Frauen  bald 
ein  innigeres  Verhältniss  heraus;  die  Gräfin  und  ihre  junge  Tochter 
erfahren  voll  Theilnahme,  dass  die  Diakonissin,  Gebardine  v.  Mönich, 
im  Feldzuge  von  1866  ihren  Bräutigam  verloren  und  sich  seitdem  der 
Krankenpflege  gewidmet  hat.  Sie  hat  geschworen,  sich  ir'Miials  zu 
vermählen.  Die  Festigkeit  ihrer  Seele  und  ihre  unerschütterliche 
Standhaftigkeit  erwecken  die  aufrichtige  Bewunderung  der  Frau 
von  Fonteville;  ilu-e  Tochter  wirft  sich  gerührt  der  Fremden  an  den 
Hals  und  vergiesst  mit  ihr  Thränen  um  den  theuren  Verlorenen. 
Die  Französinnen  erzählen  allen  ihren  Bekannten  von  ilirer  Be- 
wunderung für  die  Klugheit,  den  Verstand  und  die  unermüdliche 
Thätigkeit  der  deutschen  Pflegerin.  Der  Kranke  macht  indessen 
rasche  Fortschritte  zur  Genesung.  Eines  Morgens  erwarten  die 
Frauen  vergebens  das  Erscheinen  der  Diakonissin  beim  ersten  Früh- 
stück; die  Gräfin  fordert  ihre  Tochter  auf,  der  vermuthlich  von 
ihrem  Tagewerk  schwer  Ermüdeten  die  Chokolade  auf  ihr  Zimmer 
zu   tragen,   leise,    um   sie   nicht  etwa  im  Schlafe   zu  stören.     Zwei 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlkteratiir.    I.         151 

Minuten  später  kommt  Fräulein  v.  Fonteville  zurück,  und  zwischen 
Mutter  und  Tochter  entspinnt  sich  folgendes  Gespräch: 

„Gräfin:  Nun,  war  sie  wach? 

Tochter:  Nein,  sie  schlief  wie  ein  Murmelthier;  aber  Moritz 
hat  sie  tüchtig  geschüttelt. 

Gräfin:  Wie,  Moritz  .  .  Du  hast  ihn  also  aufgesucht? 

Tochter:  Durchaus  nicht;  er  schlief  bei  ihr. 

Frau  von  Fonteville  fällt  bei  dieser  Antwort  die  Chokoladen- 
kanne  aus  der  Hand,  und  die  Tochter  fährt  fort: 

Du  siehst  so  erstaunt  aus,  Mama,  und  du  machst  es  doch  jedes 
Mal  auch  so  mit  mir,  wenn  ich  krank  bin ;  Du  nimmst  mich  doch  dann 
auch  immer  zu  Dir  in's  Bett,  damit  ich  mich  nicht  aufdecke." 

Wieder  ein  anderes  Bild  entrollt  P.  Veron  in  seiner  ebenso 
boshaften  v^^ie  unwahrscheinlichen  Erzählung:  Das  Bildnis^).  Das 
französische  Heer  ist  bei  Orleans  geschlagen  worden;  eine  schreck- 
liche Auflösung  hat  in  ihm  Platz  gegriffen,  niemand  hört  mehr, 
weder  auf  den  Ruf  der  Offiziere  noch  auf  die  Stimme  des  Ge- 
wissens. Und  liinter  den  zersprengten  Bataillonen  marschieren 
die  Preussen  einher,  methodisch,  unempfindlich,  den  Krieg  aus- 
nutzend und  systematisch  Beute  machend.  So  kommen  sie  auch 
in  ein  Dorf  der  Sologne.  Das  Dorf  ist  verlassen ,  die  Bauern 
sind  entflohen.  Die  Ulanen  verbreiten  sich  in  ihm,  um  die  zurück- 
gebliebenen ßeste  aufzusuchen.  Unter  ihnen  zeichnet  sich  durch 
seine  Jagdgier  Wilhelm  aus,  ein  tüchtiger  Bursche.  Da  pfeift  eine 
Kugel  an  seinem  Ohre  vorbei.  Er  schaut  schnell  auf  und  erblickt 
einige  hundert  Schritte  von  sich  entfernt  auf  einsamem  Platze  einen 
Greis  mit  langem  grauen  Barte,  'den  einzigen  Bewohner,  der  zurück- 
geblieben, in  der  Hand  die  Steinflinte,  mit  der  er  auf  ihn  geschossen, 
und  die  er  eben  wieder  ladet.  Wilhebn  reitet  auf  ihn  los  und  redet 
ihn  an:  „Du  bist  der  Bandit,  der  auf  mich  geschossen  hat?"  „Aller- 
dings," lautet  die  Antwort,  „ich  vertheidige  mein  Haus,  das  Ihr  erst 
nach  meinem  Tode  plündern  sollt,  so  wahr  ich  Jerome  Bontemps 
heisse  und  einst  als  Sergeant  in  dem  grossen  Heere  stand,  vor  dem 
Hir  früher  geflohen  seid. "  Wilhelm  schlägt  ihm  mit  einem  Säbelhiebe 
den  Schädel  in  Stücke.  Dann  dringt  er  in  des  Getöteten  Hütte, 
findet  aber  nichts  darin  als  einige  schlechte  Möbeln,  die  er  zum 
Zeitvertreib  in  Trümmer  schlägt.  Nicht  einmal  eine  Kukucksuhr 
ist  zu  finden.  Er  will  aber  eine  Siegesbeute  haben;  in  Ennangelung 
von  Besserem  nimmt  er  ein  Bildniss  des  Getöteten  an  sich,  das  ihn 
in  seiner  Sergeantenuniform  zeigt.  Nach  beendetem  Feldzuge  kehrt 
Wilhelm  in  sein  pommerisches  Dorf  heim.  Alles  eilt  ihm  entgegen, 
drückt  ilmi  die  Hand.     Ehe  er  in  sein  Haus  tritt,  muss  er  manchen 


*)  Le  Portrait  in  Coulisses  d'un  grand  drame,  S.  317  ff. 


152  E.  Eoschwitz, 

Schoppen  leeren.  Strahlend  kommt  er  endlich  unter  das  heimische 
Dach,  von  Mutter  und  Grossmutter  begrüsst.  Er  erzählt  seine 
Kriegserlebnisse.  Die  Grossmutter  macht  sonderbare  Augen,  als  er 
sein  Abenteuer  mit  dem  alten  Sergeanten  erzählt.  Er  zeigt  den 
Frauen  das  Bildniss;  da  ergreift  die  Grossmutter  heftig  den  Arm 
der  Mutter  und  ruft  aus:  „Der  Unglückliche!  Er  hat  seinen  Vater 
erschlagen ! " 

Während  in  den  eben  geschilderten  Erzählungen  das  rächende 
Schicksal  einzelne  Deutsche  erreicht,  empfängt  das  ganze  deutsche 
Volk  die  Strafe  für  seine  Ueberwindung  Frankreichs  in  einigen  Er- 
zählungen, die  den  nächsten  französischen  Rachekrieg  im  \'oraus 
ausmalen.  Eine  Fr.  Sarcey  gewidmete  Schrift  dieser  Gattung  hat 
zu  Verfassern  L.  Denay  und  E.  Tassin:  Die  phantastische  Rache.^) 
Wir  werden  hier  in  das  Jahr  1883  versetzt.  Preussen  hat  abermals 
seit  einem  halben  Jahre  Franki-eich  siegreich  mit  seinen  Heeres- 
massen überzogen.  Seit  146  Tagen  ist  Paris  wiederum  belagert, 
und  der  Ausgang  scheint  dem  früheren  entsprechen  zu  sollen.  Die 
Rettung  bringt  ein  junger  Mann,  ein  Ertinder,  der,  mit  seinem 
Projekte  abgewiesen,  wegen  Beleidigung  eines  Offiziers  bedrängt  und 
als  preussischer  Spion  verfolgt,  vor  Thiers  geführt  wird.  Dieser  will 
ihn  zuerst  erschiessen  lassen,  erkennt  ihn  aber  dann  als  einen 
hoffnungsvollen  und  ehemals  von  ihm  mit  einem  Ausnahmepreise  ge- 
krönten Schüler  des  pariser  Polytechnikums  wieder.  Er  hat  eine 
lenkbare  Flugmaschine  erfunden,  die  einer  ungeheuren  Fledermaus 
gleicht,  deren  Flugweise  als  Modell  diente,  und  mit  deren  Hülfe  man 
aus  den  Lüften  herab  den  Feind  durch  herabgeworfene  Bomben  ver- 
wirren und  ihm  einen  abergläubisclren  Schreck  einflössen  kann.  Der 
Erfinder  giebt  eine  erste  Probe.  Im  Schloss  von  Ferneres  ver- 
anstaltet Prinz  Friedrich  Karl  ein  grosses  Fest  zur  Feier  des 
Gedenktages  der  Schlacht  bei  Sedan.  Ein  wahres  Belsazarfest- 
mahl  findet  statt.  Unter  den  Stabsoffizieren  fällt  ein  einziger 
Gast  in  schwarzem  Leibrock  und  weisser  Binde  auf,  frisch  rasiert, 
mit  rothem  und  intelligentem  Gesicht,  aber  mit  falschem  Blick. 
Obgleich  er  wie  der  Diener  eines  grossen  Hauses  aussah,  wurde  er 
wie  eine  Macht  behandelt.  Es  war  der  Correspondent  der  „Times", 
der  ehrenwerthe  William  Cockney,  esquire.  Um  Mitternacht  sass 
man  noch  zu  Tisch.  Einige  Offiziere  hatten  aufgehört,  die  berühmte 
Korrektheit  des  preussischen  Heeres  darzubieten,  und  doch  war  man 
in  der  feierlichen  Stunde  der  Trinksprüche.  Man  hatte  schon  auf 
den  Kaiser,  seine  erhabene  Gemahlin,  den  Kronprinzen,  den  ruhm- 
reichen Kommandanten  des  dritten  Heeres,  auf  die  Vernichtung  von 
Paris   und    auf  die   Ausrottung   der   lateinischen   Rasse    getrunken. 


*)  La  Revanche  fantastique.     Paris  1873. 


Die  französische  Novdlistik  und  Eomanlltteratur.    I.         153 

Nur  zwei  Männer  blieben  ernst,  ruhig  und  scliweigend  inmitten  des 
allgemeinen  Lärmes:  Herr  v.  Bismarck  säbelte  philosopliiscli  Cham- 
pagner, Master  Cockney  Sherry  wein. 

Der  Kanzler  zog  sich  zurück  und  kehrte  heim,  ein  neues 
diplomatisches  Rundschreiben  ausdenkend.  Plötzlich  glaubte  er  ein 
schwaches,  sonderbares  Geräusch  zu  hören,  eine  Art  von  unbe- 
stimmtem Rauschen,  wie  wenn  ein  Zug  Vögel  ihren  Flug  nähme, 
aber  eintönig  andauernd ,  leicht ,  unbestimmt  wie  ein  Hauch. 
„Sonderbar",  sagte  er.  ,,Im  selben  Augenblick  liess  ein  furchtbarer 
Knall  den  Erdboden  erbeben.  Eine  Feuergarbe  zerriss  das  Dunkel; 
in  wenig  Augenblicken  sah  der  Fürst  das  Schloss  in  Flammen." 
Ein  furchtbares  Durcheinander  entsteht;  Pferde  und  Menschen  eilen 
wild  umher;  alles  ist  erregt,  bestürzt,  fragt  und  spricht  zugleich, 
gegen  die  deutsche  Gewohnheit.  Das  Gerücht  verbreitet  sich,  Feuer 
vom  Himmel  habe  alle  Generale  vernichtet,  und  die  Frömmsten 
glauben  darin  die  Hand  Gottes  zu  erkennen.  Bismarck  gelangt, 
gestossen  und  gedrängt,  bis  an  das  Schloss,  einen  Haufen  rauchender 
Trümmer.  Vergebens  zieht  er  Erkundigungen  ein;  alle,  die  in  der 
Nähe  des  Schauplatzes  der  Katastrophe  waren ,  sind  entflolien. 
Wüthend  befiehlt  er  die  Trümmer  zu  untersuchen  und  reitet  im 
Galopp  davon,  um  den  Kaiser  und  Moltke  zu  benachrichtigen.  Er 
lässt  den  ersteren  wecken  und  wartet  bei  ihm  auf  die  Ankunft 
Moltkes,  der  zu  drei  Vierteln  gelähmt  auf  einem  EoUstuhl  herbei- 
gefahren wird.  „Von  seinem  umfassenden  Verstände  hatte  er  noch 
nichts  eingebüsst.  Sein  Blick  funkelte  noch  immer  von  Klugheit 
und  Leben,  und  an  Schlachtenmorgen  fand  er  noch  immer  Kraft 
genug,  um  an  der  Spitze  der  Truppen  zu  Pferde  zu  steigen." 
Bismarck  berichtet  von  dem  Geschehniss,  dessen  Aufklärung  nicht 
gelingen  will.  Da  kommt  rechtzeitig  ein  Ordonanzofrizier  und  meldet, 
dass  man  unter  den  Trünunern  einen  Mann  gefunden  habe,  der  noch 
athmete.  Seine  Beine  waren  zerschmettert.  Mit  zitternden  Händen 
hatte  er  auf  eine  Tafelkarte  einige  ungestalte  Worte  geschrieben. 
Mit  Mühe  liest  der  Marschall  Multke  folgendes: 

Redakteur,  Times,  London. 
In  Ferneres  .  .  .  Festmalü  .  .  .  Prinz  Karl  .  .  .  schreckliches 
Geräusch  .  .  .  Decke  öffnete  sich  .  .  .  ungeheures  Wurfgeschoss  fiel 
in   den   Saal  .  .  .  Explosion  .  .  .  Dann   nichts  .  .  .   ich   allein   am 
Leben  .  .  .  Ei-satzmaiin  scliicken  .  .  .  ich  sterbe. 

William  Cockn  .  , 

Um  das  deutsche  Heer  zu  beruhigen,  wird  eine  Kundgebung 
beschlossen.  Unter  den  Soldaten  hatte  sich  der  Glaube  verbreitet, 
ein  Blitzstrahl  hätte  dass  Schloss  in  Asche  gelegt,  und  man  müsse 
in  diesem  Vorgange  eine  Warnung  des  Himmels  sehen.     Die  Land- 


154  '  E.  Koschwits, 

wehrmänuer  meinten,  die  Stunde  sei  gekommen,  um  auf  Befeiil  des 
Allerhöchsten  ihre  Gretchen,  ihre  Pfeifen,  ihre  Humpen  und  ihr 
Sauerkraut  wieder  aufzusuchen.  Die  Offiziere  suchten  eine  Er- 
klärung in  der  Annahme  einer  Mine  oder  eines  Riesengeschosses. 
Folgender  Aufruf  wird  erlassen  und  verlesen: 

„Soldaten  des  unbesiegbaren  deutschen  Heeres! 

Wir  berichten  unter  dem  Unwillen  der  ganzen  Welt  eine 
schreckliche  ünthat  der  französischen  Freischaren.  Derartige  Dinge 
genügten,  wenn  dies  nicht  bereits  der  Fall  wäre,  unsere  Feinde  von 
allen  gebildeten  Völkern  auszustossen. 

Gestern  haben  sich  einige  der  Elenden ,  als  Dienstboten  ver- 
kleidet, in  die  Keller  des  Schlosses  von  Ferneres  geschlichen.  Dank 
der  Mitschuld  einiger  Schlossdiener  haben  die  Banditen  einen  Zwischen- 
raum wie  einen  Minenofen  mit  Pulverfässern  gefüllt,  welche  die  Auf- 
schrift trugen:  Münchener  Bier.  Dann  sind  sie  entflohen,  nachdem 
sie  den  Zünder  angesteckt,  der  die  furchtbare  Explosion  der  ver- 
gangenen Nacht  erzeugte.  .  .  Ihr  werdet  die  Barbarei  dieser  Horden 
von  Meuchelmördern  züchtigen,  indem  ihr  würdig  ihre  edlen  Opfer 
rächt.  Ihr  werdet  dem  ruhmreichen  Prinzen  Friedlich  Karl  ein 
seiner  würdiges  Leichenbegängniss  bereiten:  seinen  erlauchten  Manen 
gebührenden  Hekatomben  von  Franzosen. 

Gezeichnet :  Moltke. 
Befehl: 

Jeder  gefangene  Freischärler  ist  dem  Divisionsprofoss  zu  über- 
geben und  sofort  vor  eine  geladene  Kanone  zu  stellen. 

Der  Feind  führt  mit  uns  Krieg  nach  Art  der  Wilden.  Wir 
zögern  nicht,  den  Räubern,  die  er  besoldet,  die  von  den  Engländern 
den  Rasenden  Indiens  auferlegte  Strafe  zu  Tlieil  werden  zu  lassen. 
Dieses  zivilisirte  Volk  hat  uns  gezeigt ,  wie  man  die  Barbaren 
behandeln  muss;  die  öffentliche  Meinung  wird  uns  nicht  tadeln, 
wenn  wir  zu  dem  einzigen  Mittel  unsere  Zuflucht  nehmen,  die 
Grausamkeiten  der  Franzosen  zu  verhindern. 

1.  A.:    Blumenthal." 

Auf  diese  Weise  wurde  die  Ruhe  in  den  aufgeregten  Geistern 
wieder  hergestellt. 

Indessen  wird  in  Paris  insgeheim  au  der  Herstellung  neuer 
Flugmaschinen  gearbeitet.  Ein  Kommunistenaufstand  bricht  aus. 
Die  Aufrührer  marschieren  ungehindert  nach  dem  Rathhause;  die 
Führer  sprechen  von  da  aus  die  davor  beflndliche  Volksmasse  an. 
Da  erscheint  über  ihr  ein  ungeheurer,  majestätischer  Vogel.  Plötzlich 
durchfurcht  unter  ihm  ein  Wölkchen  weissen  Rauches  die  Luft,  und 
eine  schreckliche  Explosion  erfolgt.     Das  geängstigte  ^'olk  entflieht 


Die  französische  NovelUstik  und  Bomanlitteratur.    I.         155 

in  alle  Winde ;  die  Eädelsfülirer  werden  widerstandslos  ins  Gefängniss 
abgeführt. 

Diesem  Vorgange  hatten  die  Offiziere  der  Belagerungsarmee 
von  Ferne  zugeschaut.  Die  Deutschen  hatten  Spione  in  dem  Platze, 
die  durch  aufsteigende  vielfarbige  Ballons  sie  über  den  Fortgang 
des  Aufstandes  unterrichteten.  Als  Moltke  das  Verfahren  des 
ßiesenvogels  gewahrte,  erzitterte  sein  Arm.  Er  stützte  sich  auf 
eine  Lafette,  die  Worte  stammelnd,  die  nur  der  Kanzler  hörte:  „W^ir 
sind  verloren!"  Nach  einem  Augenblicke  richtete  er  sich  wieder  auf: 
„Morgen  sei  alles  bereit",  befiehlt  er,  „zu  einem  allgemeinen  An- 
griif  im  Norden,  Süden,  Osten  und  Westen.  Wir  müssen  mit  den 
Franzosen  enden." 

Der  von  der  Verzweiflung  eingegebene  Versuch,  Paris  mit 
offener  Waffengewalt  zu  bezwingen,  scheiterte.  Die  deutsche  Heeres- 
macht, die  des  Nachts  vorgehen  will,  wurde  plötzlich  durch  fünfzig 
Leuchtthürme  grell  beleuchtet.  Bomben  stürzen  aus  der  Höhe 
herab;  massloser  Schrecken  erfüllt  die  Deutschen,  Alles  bricht  aus 
Reih  und  Glied;  die  einen  fallen  auf  ihre  Kniee,  die  göttliche 
Gnade  anflehend,  die  anderen  stürzen  sich  auf  die  Erde,  das  Gesicht 
zu  Boden,  andere  flüchten  sich  in  Keller,  um  sich  in  ihnen  zu  bergen. 
Unnützes  Beginnen!  Die  Bomben  stürzten  auch  auf  die  Häuser, 
alles  unter  den  gesprengten  Mauern  begrabend.  „Am  folgenden 
Morgen  sah  man  auf  dem  Schlachtfelde  allenthalben  Trümmer, 
Leichname,  und,  abstossender  als  die  Toten,  flüchtende  Soldaten 
ausser  Rand  und  Band,  die  ihre  Waffen  wegwarfen,  und  hin-  und 
herliefen,  ohne  etwas  zu  hören.  Die  Offiziere  versuchten  nicht 
einmal,  sich  Gehorsam  zu  verschaffen,  unbeweglich  und  Bildsäulen 
der  Verzweiflung  gleichend."  Der  Kronprinz  will  die  Hand  an  sich 
legen.  Moltke  fällt  ihm  in  den  Arm  und  bewegt  ihn  zur  Abfahrt 
nach  Deutschland.  Nun  brechen  die  französischen  Streiter  aus,  um 
den  Flüchtigen  nachzujagen.  Nur  Moltke  und  sein  Stab  ist  zurück- 
geblieben. Der  Feldherr  nöthigt  sein  Gefolge,  ihn  zu  verlassen  und 
bleibt  allein  zurück,  den  Blick  fest  auf  den  nahenden  Feind  ge- 
richtet. Die  Franzosen  kommen  auf  hundert  Meter  heran :  da  ergreift 
Moltke  seinen  Revolver,  wirft  einen  letzten  Blick  auf  die  feindlichen 
Reihen,  richtet  die  Mündung  auf  seine  Schläfe,  drückt  ab  und  stürzt 
nieder,  wie  vom  Blitze  getroffen. 

Einen  Monat  später  stehen  die  Franzosen  vor  Metz.  Ihr  Vor- 
marsch ist  verzögert  worden,  weil  sie  es  nicht  unterlassen  konnten, 
den  Sieg  zu  feiern.  Drei  Tage  lang  hatte  man  gesungen,  gerufen, 
geflaggt,  illuminirt,  Feuerwerke  veranstaltet. 

Indessen  warfen  die  Radikalen  der  Regierung  vor,  einen  un- 
menschlichen Krieg  zu  führen.  Es  sei  unedel  und  des  ritterlichen 
französischen  Volkes    unwürdig,    sieh    in    den    Wolken    zu    bergen. 


156  E.  Kosclimtz, 

gefahrlos  in  unzugänglicher  Höhe  zu  weilen  und  die  Gegner  mit 
Geschossen  zu  bewerfen,  die  mit  Dynamit,  Petroleum,  Blei  und  ge- 
schmolzenem Schwefel  gefüllt  seien.  Auf  Gambettas  Antrag  wurden 
ihre  Wortführer  ohne  viele  Umstände  ins  Gefängniss  geworfen. 

Die  Heere  sind  auf  dem  Vormarsch.  Das  eine  unter  Chauzy 
dringt  zwischen  Longwy  und  Diedenweiler  in  Deutschland  ein  und 
marschiert  gen  Berlin,  in  Mainz  einige  Divisionen  zurücklassend; 
ein  zweites,  bei  Beifort  gesammelt,  zieht  in  Baden  ein;  das  dritte 
hat  zur  Aufgabe,  die  festen  Plätze  Elsass-Lothringens  zu  nehmen. 
Die  Marine  endlich  segelt  von  Cherbourg  und  Brest  ab,  um  eine 
Landung  in  Schleswig  vorzunehmen. 

Die  Einnahme  des  von  Vogel  von  Falkenstein  vertheidigten 
Metz  machte  die  meiste  Schwierigkeit.  Jedes  seiner  zahlreichen 
Forts  ist  mit  einem  vierzig  Zentimeter  dicken  Eisenpanzer  umkleidet, 
mit  Löchern  für  die  Kanonenmündungen,  die,  nur  für  die  Zeit  des 
Zielens  und  Schiessens  offen,  sonst  mit  starken  Eisenthüren  ver- 
schlossen bleiben.  Lebensmittel  sind  für  zwei  Jahre  vorhanden. 
Es  gilt  dem  neuen  Angriffskampfe  mit  den  Flugmaschinen  zu  be- 
gegnen. Die  von  den  feindlichen  Luftschiffen  herabgeworfeneu 
Bomben  bieten  zunächst  keine  Gefalir;  sie  prallen  machtlos  an  der 
Eisenwehr  der  deutschen  Befestigungen  ab.  Als  eines  Tages  ein 
Luftschiff  über  einem  Fort  ziemlich  weit  hinabstieg,  flog  plötzlich 
aus  demselben  ein  Luftballon  schnurgerade  in  die  Höhe  und  enterte 
die  französische  Flugmaschine.  Ein  wüthender  Kampf  entsteht  in 
den  Lüften;  die  Deutschen  fallen  einer  nach  dem  andern.  Aber  die 
Flugmaschine  senkte  sich  mehr  und  mehr,  durch  den  Ballon,  dessen 
Luft  zum  Weichen  gebracht  war,  herabgezogen.  So  drohte  ein 
Modell  in  die  Hände  der  Deutschen  zu  fallen.  Dies  dmfte  nicht 
geschehen.  Der  französische  Kommandant  sprengt  sein  Fahrzeug, 
sich  und  seine  Mannschaft  opfernd.  Nur  ein  unbrauchbarer  Trümmer- 
haufen stürzt  auf  den  Boden  nieder.  Vogel  von  Falkenstein  ist  aber 
nocli  nicht  entmuthigt.  Er  lässt  eine  Riesenkanone  mit  senkrecht 
in  die  Höhe  gerichtetem  Laufe  bauen.  Sie  wird  auf  ein  darüber 
schwebendes  Luftscliiff  abgefeuert,  erreicht  es  aber  nicht;  dagegen 
fällt  die  ungeheuere  Ladung  auf  die  eigenen  Festungswerke  zurück 
und  sprengt  deren  Eisenplatte.  Ein  Pulvermagazin  wird  dabei  ge- 
troffen, und  das  Fort  fliegt  in  die  Luft,  Stadt  und  Land  mit  unge- 
heueren Trümmern  bedeckend.  Aller  weitere  Widerstand  ist  nun 
nutzlos.  Das  französische  Heer  zielit  siegreich  ein,  von  der  Be- 
völkerung jubelnd  empfangen. 

Auch  Strassburg  ist  gefallen.  Bismarck  ist  gezwungen,  mit 
dem  alten  Thiers  in  Friedensunterhandlungen  einzutreten,  der  ihm 
spöttiscli  lächelnd  in  Aussicht  stellt,  dass  am  folgenden  Tage  Köln 
zerstört,  am  zweitnächsten  Tage  Mainz  eingeäschert,    am  Ende  der 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlüteratnr.    I.         157 

Woche  von  allen  Rheinstädten  kein  Stein  mehr  auf  dem  andern  sein 
werde.  Als  Friedensbedingitngen  verlangte  Thiers  ausser  der  von 
Bismarck  angebotenen  Wiederherausgahe  der  fünf  Milliarden,  ausser 
Elsass-Lothringen  und  dem  Ersatz  der  Kriegskosten,  dass  alle  Mit- 
glieder der  kaiserlichen  Familie  sich  als  Gefangene  stellen ;  sie  sollen 
das  Schicksal  des  ersten  Napoleon  linden.  Die  deutschen  Staaten 
sollen  die  Gestalt  einer  Bundesrepublik  annehmen.  Bismarck  lehnt 
diesen  Antrag  ab,  und  Gambetta  verkündet  ihm  den  Krieg  aufs 
Aeusserste.  Berlin  solle  des  Schicksals  Sodoms  bedenken,  dessen 
Namen  die  pj'eussischen  Tartüffe  allzu  oft  ausgesprochen  hätten,  die 
Augen  nach  Paris  gewandt,  das  sie  nicht  zu  zerstören  wagten. 

Die  französischen  Truppen  ziehen  nun  in  Deutschland  ein. 
Eine  Proklamation  der  Friedensbedingen  geht  ihnen  voraus.  Ihr 
Marsch  vollzieht  sich  fast  ohne  Hinderniss,  der  Schreck  vor  den 
Luftungeheuern  lähmt  allen  Wideretand.  Eine  Stadt  ergiebt  sich 
nach  der  andern;  die  Ansteckung  der  Entmuthigung  verbreitet  sich 
wie  die  Pest.  Es  hatte  genügt,  eine  Stadt,  in  der  die  französischen 
Gefangenen  niedergemetzelt  worden  waren,  zu  vernichten,  um  weitere 
Verheerungen  durch  die  Luftschiffer  überflüssig  zu  machen.  In 
Berlin  verlangt  das  Volk  den  Frieden.  Es  ertönen  dort  die  Rufe: 
„Nieder  mit  Wilhelm,  nieder  mit  Bismarck,  es  lebe  die  Republik!" 
Die  kaiserliche  Familie  rüstet  sich  zur  Abreise.  Das  Erscheinen  der 
Luftschiffer  in  Berlin  bringt  die  Aufregung  daselbst  auf  den  Gipfel- 
punkt. Eines  Nachts  hört  man  dort  einen  heftigen  Knall.  Mit 
rasender  Geschwindigkeit  springen  die  Berliner  mit  ihren  ehrsamen 
Gattinnen  aus  den  Betten  und  in  leichtestem  iVnzuge  die  Treppen 
hinab,  um  sich  in  den  Kellern  zusammenzukauern.  Die  Schnelligkeit 
der  vom  Jäger  überraschten  Kaninchen  giebt  nur  eine  schwache 
Vorstellung  von  der  Geschwindigkeit,  mit  der  dies  zur  Ausführung 
gebracht  wurde.  Aber  die  Aufregung  war  eine  grundlose.  Thiers 
hatte  nur  papierene  Kundgebungen  über  die  Stadt  schütten  lassen. 
Um  dem  Volksaufstand,  den  diese  erzeugen,  zu  entgehen,  will  der 
Kaiser  und  Bismarck  entfliehen;  sie  fallen  dabei  in  die  Hände  des 
Feindes. 

Der  Schlussvorgang  findet  in  Paris  statt.  Im  Industriepalast 
am  Marsfelde  ist  ein  grosses  Luftschiff  aufgestellt,  mit  ziemlich  ge- 
räumigen Zimmern  zur  Aufnahme  der  Familie  des  deutschen  Kaisers 
und  mit  wohl  verschlossenen  Zellen  für  die  gleichfalls  zu  verbannenden 
Kommunistenführer.  Zum  ritterlichen  Wohlgefallen  der  pariser 
Pfahlbürgerschaft  müssen  unter  den  Klängen  einer  von  dem  Bänkel- 
sänger Paulus  geleiteten  Kapelle  die  Mitglieder  der  kaiserlichen 
Familie,  „alle  deutschen  Könige,  Fürsten,  Erzherzöge,  Grossherz(»ge, 
Herzöge,  Markgrafen,  Burggrafen,  Landgrafen,  Kurfürsten  und  Pfalz- 
grafen" und  hinter  ihnen  die  Streiter  der  Kommune,   „unter  ihnen 


158  E.  Koschwitz, 

Gassenbuben  der  schlimmsten  Art,  aus  der  Gesellschaft  Ausgestossene, 
die  trockenen  Früchte  der  Tagespresse  und  des  Juristenthums",  darauf 
die  entarteten  Kommunistenweiber,  auf  dem  Marsfelde  vorbeimarsclüeren, 
um  in  Anwesenheit  des  HeiTn  Thiers,  des  Präsidenten  der  französischen 
Kepublik,  Jacobis,  des  Präsidenten  der  deutschen  Eepublik,  Castelars, 
des  Präsidenten  der  spanischen  Kepublik,  Fromageods,  des  Präsidenten 
des  Schweizerbundes,  und  Jacobsons,  des  nordamerikanischen  Präsi- 
denten, in  dem  Luftschiffe  Platz  zu  nehmen.  Gambetta  hält  eine 
zeitgemässe  Rede  an  das  Volk,  und  auf  das  Kommando  des  dünn- 
stimmigen Thiers  nimmt  das  Luftschiff  seinen  Lauf  nadi  einer  fernen 
Insel. 

Am  Schlüsse  des  Buches  erfährt  man,  dass  das  Ganze  ein 
Traum  Bismarcks  gewesen  sei. 

Eine  weitere  Kriegsphantasie  enthält  V.  Thierry"s  Kriegs- 
roman,^)  der  erst  1891  erschienen  zu  sein  scheint  und  den  französischen 
Rachekrieg  in  den  Anfang  des  nächsten  Jahrhunderts  verlegt.  Nach 
ihm  haben  sich  die  Deutsclien,  ohne  auch  nur  einen  Vorwand  zur 
Kriegserklärung  zu  suchen,  plötzlich  über  Frankreich  gestürzt,  die 
uneinnahmbaren  Forts  der  Grenze  dadurch  vermeidend,  dass  sie  einen 
neutralen  Staat  durchbraclien.  Mit  einem  Sprunge  bedeckten  sie  ein 
Viertel  der  französischen  Republik.  Paris  ist  abermals  eingeschlossen; 
schon  bedrohen  die  Deutschen  die  Müudung  der  Garonue.  „Der 
deutsche  Kaiser  hat  bei  seinem  grössten  Schoppen  geschworen,  die 
fi'anzösische  Rasse  müsse  verschwinden,  und  auf  der  Karte  des  ver- 
deutschten Europas  solle  man  nur  noch  Namen  auf  -ich,  -ach,  -hof 
oder  -heim  lesen,  wie  es  schon  der  Wohlklang  verlange,  sobald  man 
nui'  ein  etwas  zartes  Ohr  und  Geschmack  an  einer  feinen  Sprache 
habe."  Der  Süden  Frankreichs  ist  von  Paris  völlig  abgeschnitten. 
Da  entsteht  dem  Lande  ein  Retter  in  der  Person  eines  verabschiedeten, 
frommgläubigen  höhei'en  Offiziers.  Er  weiss  mit  Hülfe  der  Bewohner 
seiner  Gemeinde  Coursac  am  Garrul  eine  Anzahl  deutscher  Soldaten 
in  eine  Falle  zu  locken,  und  verbreitet  Schrecken  unter  den  Feinden, 
indem  er  zur  Rache  dafür,  dass  fünf  seiner  Gehülfen  gehangen 
worden  sind,  sechzehn  Preussen  aufknüpfen  lässt  und  einen  Soldaten 
mit  der  Botschaft  an  den  deutschen  General  von  Hundskopf  entlässt, 
er  heisse  „Tod"  und  werde  überall  und  immerdar  in  derselben  Weise 
Rache  üben.  Der  deutsche  General  wii'd  mit  Hülfe  herbeigerufener 
Linientruppen  zurückgeschlagen.  Unser  Held,  mit  wirklichem  Namen 
Deraucourt,  wird  auf  Antrag  eines  alten  französischen  Generals  zum 
Oberfeldherrn  des  bei  Toulouse  gesammelten  Heeres  ernannt.  Er 
erlässt  einen  Aufruf  an  seine  Mannschaften,  in  dem  sich  die  Worte 
befinden:    „Wir  verlangen  keinen  Pardon  und  geben  keinen.     Wii- 


')  Le  roinan  de  guerre,  Paris,  Dreyfous. 


Die  französische  NovelUstili  und  Bomanlitterafur.    I.         159 

werden  mit  Gottes  Hülfe  triumphieren.  Vorwärts  aut  die  Banditen! 
Allerwärts  und  jederzeit,  ohne  Mitleid. "  Zahlreiche  Exemplare  desselben 
fallen  in  die  Hände  der  Deutschen  und  verbreiten  Angst  und  Schrecken 
unter  ihnen.  Siegreich  dringt  das  Heer  Deraucourts  vor.  Es  kommt 
zu  einer  entscheidenden  Schlacht  bei  Limoges,  die  mit  allen  Einzel- 
heiten geschildert  wird.  Um  den  Sieg  der  Franzosen  hat  sich  be- 
sonders die  von  dem  Oberfeldherrn  aus  seiner  Gemeinde  gebildete 
Freisehar  verdient  gemacht.  Dieselbe  trug  Anzüge  von  schwarzem 
Sammt,  nach  unten  enger  werdende  Beinkleider,  Halbstiefeln,  Westen 
mit  Taschen,  Marinejacken  mit  der  am  Kragen  weisseingestickten 
Aufschrift:  T.  0.  D.,  Flanellhemden,  rothe  Halsbinden  und  schwarze 
Filzhüte  mit  denselben  Buchstaben  in  Silberstickerei.  Dieser  ihr 
Anzug  und  ihr  Ruf:  „Tod,  Tod"  verbreitet  Entsetzen  unter  den 
Deutschen ;  die  Panik  greift  bei  ihnen  um  sich ,  und  es  bleibt 
ihnen  nichts  übrig,  als  eine  schleunige  Flucht.  Die  Niederlage  hat 
tiefgreifende  Nachwirkungen.  Jenseits  der  Grenze  geräth  man  in 
Aufregung.  Die  Völkerschaften,  deren  Neutralität  verletzt  wurde, 
erwarteten  nur  eine  Gelegenheit,  um  sich  gegen  Preussen  zu  wenden, 
das  sie  gedemüthigt  hatte.  In  den  eroberten  Provinzen  nimmt  der 
Aufstand  ungeheuere  Verhältnisse  an.  Wenn  sie  nicht  den  Boden 
vollständig  mit  Soldaten  bedeckten,  war  es  den  Eroberern  unmöglich, 
sich  in  ihnen  zu  halten.  „Ueberall  entstanden  Aufstände,  deren 
Kühnheit  mit  dem  Erfolge  zunahm.  Die  Brunnen  wurden  zuge- 
schüttet, Thiere  und  Getreide  versehwanden,  die  Hättser  brannten 
mitten  in  der  Nacht  ab.  Die  Deutschen  wagten  nur  nocli  zu  essen, 
was  sie  direkt  aus  den  mit  der  Eisenbahn  angekommenen  Vorräthen 
empfingen;  an  mehreren  Stellen  wurden  die  Bahnverbindungen  unter- 
brochen, ihre  Bewachung  wurde  immer  schwieriger.  Ganze  Ab- 
theilungen wurden  vernichtet ,  jeder  Vereinzelte  war  ein  toter 
Mann. "  Der  Generalissimus  Deraucourt  kann  ungehindert  bis  Orleans 
vorrücken.  Sein  Erscheinen  wird  überall  mit  ungeheuerer  Begeisterung 
begrüsst;  Gassenjungen  sangen  auf  der  Strasse  von  Orleans  nach  der 
Melodie  des  Boulangerliedes : 

C'est  Derau,  Derau,  Derau, 
C'est  Deraucourt  qu'il  nous  fauti 

Eine  Deputation  französischer  Abgeordneten  bietet  ihm  den 
französischen  Kaiserthrou  an;  es  sei  zu  seiner  Erwerbung  nur  das 
Erfordemiss  nöthig,  dass  er  einen  Schimmel  besteige.  Die  Wirkung 
eines  Rappen  sei  dui'ch  Boulanger  abgenutzt.  Der  uneigennützige 
Deraucourt  weist  das  vom  Verfasser  mit  so  geistvollen  Vorbedingungen 
verbundene  Anerbieten  mit  Entrüstung  ab. 

Bald  kann  man  daran  denken,  Elsass- Lothringen  wieder  zu 
erobern.  Eine  schwere  Arbeit,  denn  die  Festungsarbeiten  dieses 
Landes  sind  mit  undurchdringlichen  Eisenpanzern  umgeben,  die  den 


160  E.  Koschmtz, 

mächtigsten  Wurfgeschossen  trotzen.  Aber  Deraucourt  weiss  Rath. 
Zunächst  sendet  er  an  den  deutschen  Kaiser  ein  Ultimatum  mit 
folgendem  Wortlaut: 

„Der  Generalissimus  der  siegreichen  französischen  Heere  an 
den  Vernichter  der  Verträge,  an  den  Tyrannen  von  Elsass- Loth- 
ringen. 

Sie  haben  heuchlerisch  Gott  angerufen,  als  Sie  die  Gesetze 
der  Menschheit  und  der  Gerechtigkeit  verlachten:  die  Hand  Gottes 
ist  über  Ihnen. 

Wenn  ich  innerhalb  fünf  Tagen  nicht  durch  Drahtleitung  die 
ausdrückliche  Versicherung  habe,  dass  Sie  ohne  Verschub  unser 
Gebiet  bis  an  die  Lauter,  seine  anerkannte  Grenze,  befreien,  so 
werde   ich   gegen  Ihre  Staaten   ein  verheerendes  Werkzeug  senden. 

Ich  werde  zuerst  die  Stadt  Mainz  treffen,  deren  Bewohner 
zwar  nicht  zum  Stamme  Ihrer  Plünderer  gehören,  die  aber  Ihrem 
Schicksal  gefolgt  sind,  unter  dem  Verwände  einer  Treue,  die  sie 
Ihnen  niclit  schulden,  in  Wirklichkeit,  um  Antheil  am  Raube  zu 
haben.  Sie  werden  erkennen,  dass  ich  keine  eitlen  Drohungen 
ausspreche. 

Kehren  Sie  in  Sich.  Noch  ist  es  Zeit:  Hören  Sie  die  Stinnne 
der  Ehre,  der  Menschlichkeit,  der  Religion!  .  . 

Ich  erwarte  Ihre  Entscheidung  bis  zum  19.;  am  20.  werde  ich 
handeln.     Und  dann  Wehe  über  Sie!" 

Der  Kaiser  von  Deutschland  antwortet  auf  diese  Probe  fran- 
zösischer Höflichkeit  und  Ritterlichkeit  damit,  dass  er  befiehlt,  das 
deutsclie  Heer  solle  wie  ein  „Donnerschlag"  über  Paris  herfallen 
und  dort  unter  Todesstrafe  nicht  einen  Stein  auf  dem  andern 
lassen.  Am  20.  steigt  ein  Luftballon  in  Chalons  auf,  mit  grossen 
Rudern,  die  wie  Adlerflügel  seinen  Lauf  in  der  Höhe  bestimmen. 
Er  nimmt  seinen  Flug  nach  Mainz.  In  seinem  Schiff  betindet  sich 
Michel  Potio,  ein  Freund  Deraucourts,  der  ein  Gas  erfunden  hat, 
dessen  Einatlmiung  unmittelbar  den  Tod  herbeiführt.  Es  ist  ihm 
gelungen,  dasselbe  in  Gläsern  zu  fassen;  eine  Glaskugel  im  Durch- 
messer eines  Dezimeters  auf  einen  öffentlichen  Platz  geworfen,  ge- 
nügt, um  die  auf  demselben  versammelte  Menge  zu  vernichten.  Um 
12  Uhr  Mittags  ist  Potio  mit  seinem  Ballon  über  Mainz.  Eine 
Volksmasse  versammelt  sich  vor  dem  Hause  des  Stadtkommandanten. 
Dieser  selbst  beschaut  mit  einigen  Offizieren  von  seinem  Balkon 
aus  das  Luftschiff  mit  einem  vortrefflichen  Fernrohr,  das  er  ehemals 
nebst  einigen  andern  Kunstgegenständen  in  einem  Schlosse  an  der 
Loire  „gefunden"  hatte.  Er  stösst  einen  Schreckensruf  aus;  er  hat 
an  dem  Ballon  die  Aufsclirift  „Tod"  erkannt.  In  demselben  Augen- 
blicke fallen  sechs  Glaskugeln  zur  Erde,  die  Luft  füllt  sich  in  einem 


Die  französische  Novellistik  imd  Romanlitteratur.    I.         161 

Umkreis  von  fünfzig  Metern  mit  dem  tödliclien  Gase,  und  alles,  was 
von  Lebenden  auf  dem  Platze,  an  den  Fenstern  und  auf  den  Baikonen 
stand,  stürzte  wie  vom  Blitze  getrolfen  nieder. 

Die  Nachricht  von  diesem  Ereigniss  durchfliegt  mit  Windeseile 
ganz  Deutschland.  Die  Südstaaten  heulen  vor  Schmerz  und  Schrecken, 
allenthalben  hörte  man  nur  den  einen  Ruf:  „Friede".  Nur  der 
Kaiser  will  davon  nichts  hören;  sich  in  Potsdam  für  unangreifbar 
haltend,  sinnt  er  auf  Rache.  Aber  bald  erfährt  er,  dass  alle  Auf- 
gebote ihre  Posten  verlassen:  „Polen,  Baiern,  Sachsen,  Badener, 
Württemberger,  Hessen,  Frankfurter,  Hamburger,  alle  fliehen  nach 
dem  heimathlichen  Boden.  Friede !  Friede !  rufen  sie  auf  der  bergenden 
Flucht.  Sie  nehmen  sich  nicht  einmal  die  Mühe,  die  Artilleriestücke 
in  den  Festungen  unbrauchbar  zu  machen.  In  den  einverleibten 
Provinzen  weht  die  französische  Fahne  auf  den  Wällen;  die  Be- 
wohner der  belagerten  Plätze  steigen  auf  die  Befestigungswerke  und 
winken  die  Franzosen  herbei.  Nur  die  preussischen  Soldaten  hielten 
noch  einige  Zeit  stand;  die  Furcht  vor  Prügel  hielt  bei  ihnen  der  vor 
einem  weniger  unmittelbaren  Ballon  das  Gleichgewicht;  schliesslich 
aber,  entmuthigt  und  vom  Beispiel  fortgerissen,  laufen  auch  sie 
davon.  Die  Südstaaten  teiegraphirteu  nach  Paris,  um  den  Frieden 
zu  verlangen;  die  Herzöge  und  Könige  erboten  sich  in  Person  zu 
unterhandeln.  Das  fi-anzösische  Heer  rückte,  seinen  Generalissimus 
an  der  Spitze,  durch  die  freudetrunkene  Bevölkerung  vor,  unter 
Triumphbögen  und  mit  Glockengeläute.  Es  erreichte  so  die  als 
Grenze  geforderte  Lauter,  welche  nicht  überschritten  wurde.  An 
dieser  Grenze  „der  richtigen",  verbündeten  sich  die  Deutschen  mit 
ihrem  Nachbar." 

Im  folgenden  Monat  vereinigte  sich  ein  internationaler  Kongress 
in  Paris:  nur  der  deutsche  Kaiser  war  daliei  nicht  vertreten.  Die 
Franzosen  verlangten  nicht  die  geringste  Entschädigung,  nicht  die 
geringste  Gebietserweiterung,  ausser  einigen  unbedingt  nöthigen  und 
unbedeutenden  Strichen  an  der  Lauter;  die  Deutschen  gaben  jeden 
Anspruch  auf  die  „zu  Unrecht"  einverleibten  Provinzen  auf:  „Die 
Lauter  wurde  als  Grenze  zwischen  den  beiden  versöhnten  und  für 
immer  geeinten  Völkern  angenommen."  Die  DjTiastie  der  Hohen- 
zoUern  wird  vom  Kongresse  abgesetzt;  das  Königreich  Preussen  hört 
auf  zu  bestehen,  sein  Gebiet  wird  unter  die  benachbarten  Staaten 
vertheilt.  Den  deutschen  Staaten  wird  nahe  gelegt,  den  deutschen 
Bund  in  eine  Bundesrepublik  umzuwandeln. 

Der  Sieger  Deraucourt ,  dem  all  dies  zu  verdanken  ist ,  zieht 
sich  bescheiden  mit  dem  Titel  eines  Generals  in  sein  Landhaus 
zurück,  wo  er  mit  seiner  Frau  und  seiner  Pflegetochter  noch 
einige  zärtliche  Auseinandersetzungen  hat,  die  für  uns  hier  keine 
Bedeutung  besitzen. 

Ztschr.  i.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  11 


162  E.  Koschwüz, 

Das  genaue  Verhältniss,  in  dem  die  neue  deutsche  Bundes- 
republik zu  Frankreich  stehen  soll,  wird  erklärt  in  einer  1884  er- 
schienenen, in  Prosa  und  Versen  abgefassten  Schrift  Cam.  Robert 's: 
SeUsamer  Traum  Franz  des  Elsassers  hu  Jahre  1870^).  Der  Held, 
ein  verarmter  Knabe,  der  mit  seinem  Grossvater  eine  elende  Hütte 
unweit  Strassburgs  bewohnt,  hat  eine  Anzahl  seltsamer  Visionen 
(Horreurs  sanglantes  et  fantömes,  splendeurs  et  dartes,  besagt  der 
Untertitel).  Nur  die  letzte  beschäftigt  uns  hier.  In  ihr  sieht  der 
Knabe  eine  Gruppe  Frauen  mit  verschiedenen  Zügen  und  Trachten, 
alle  um  die  Wette  von  zauberischer  Schönheit  strahlend,  so  majestätisch, 
dass  sie  wie  Göttinnen  erscheinen.  Sie  umgeben  den  grünenden 
Thron  der  Francia,  die  ihnen  die  Freundinnenhand  reicht,  als  ihren 
gleichberechtigten  Gefährtinnen. 

„Ein  langes  Suramen  entsteht,  süss  und  melodisch  wie  ein 
Gesang,  ernst  und  heiter  wie  die  Stimme  einer  Versammlung  von 
Weisen,  zart  und  freundlich  wie  die  Unterhaltung  von  Schwestern 
und  Freundinnen. 

Der  Eath  der  Nationen  hält  eine  Sitzung,  im  Schatten  der 
französischen  Farben,  unter  dem  Vorsitz  unseres  französischen  Vater- 
landes. 

Die  Tochter  Albions  ist  da,  den  Dreizack  in  der  Hand.  Ihr 
Gesicht  hat  das  hochmüthige  und  eifersüchtige  Aussehen  verloren, 
das  seine  Regelmässigkeit  und  Weisse  entstellte.  Ihre  blonden  Haare 
flattern  in  zierlicher  Unordnung  auf  ihren  breiten  Schultern;  sie 
spricht  inmitten  eines  Kreises  junger  Genossinnen  und  scheint  mit 
Zuvorkommenheit  angehört  zu  werden. 

Die  riesige  Königin  des  Reifs,  am  Ufer  der  Newa  sitzend, 
ihren  rechten  Arm  über  Europa,  ihren  linken  über  Asien  ausstreckend, 
ist  ebenfalls  da.  Sie  hat  die  Knute  und  den  Knebel,  mit  denen  sie 
gerüstet  war,  weit  von  sich  geworfen  und  trägt  einen  Triangel,  das 
Symbol  der  Gleicliheit. 

Die  braune  Hispania  zeigt  ihre  liebenswürdige  Aumuth;  ihr 
Blick  hat  indess  jene  Mattigkeit  abgelegt,  die  eine  verhängnissvolle 
Weichheit  verräth;  er  glänzt  jetzt  von  lebendigem,  sanftem  Feuer, 
und  diese  unumschränkte  Schönheit  hat  dabei  neue  Reize  entwickelt. 

Bei  ihr  hält  sich  Italia,  noch  immer  bezaubernd  und  jung,  den 
Busen  mit  Blumen  gesclimückt,  die  Stirn  mit  Loibeer  und  Weinlaub 
beki'änzt. 

Die  Francia  betrachtet  die  beiden  mit  besonderer  Liebe,  als 
Schwestern,  Sprossen  der  lateinischen  Rasse,  der  sie  selbst  ent- 
stammt, und  deren  Emprindungen  mit  ihren  Plänen  und  Gedanken 
in  vollkommener  Uebereinstimmung  stehen. 


^)  Bcve  etrange  de  Franz  l'Alsacien  en  1870.    Parts,  1884. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlüteratur .    I.         163 

Helvetia  und  Graecia,  die  zweite  den  Arm  sanft  auf  die 
Schulter  der  ersteren  gelehnt,  gehören  zu  dieser  Gruppe  und  zeigen 
ihre  kräftigen  Formen,  ihr  ruhiges  und  lächelndes  Antlitz.  Die 
Haare  der  Graecia  sind  gebleicht;  aber  sie  ist  darum  nur  um  so 
herrlicher:    eine  Mutter  ebenso   stark  und   schön  wie   ihre  Tochter. 

In  der  Vei'samnilung  der  Völker  gewahrt  man  auch  die 
America  des  Nordens,  stolz  in  einen  weiten,  gestirnten  Mantel  ge- 
hüllt. Sie  redet  kräftig  eine  Menge  brauner  Gefährtinnen  an,  die 
sie  auf  allen  Seiten  umgeben,  und  scheint  ein  grosses  Ansehen  in 
diesen  ruhigen  und  entscheidenden  Berathungen  zu  besitzen. 

Vergebens  sucht  man  die  ziemlich  harten  Züge  Germanias; 
sanfte  und  ruhige  Mädchen,  die  ihr  unbestimmt  ähneln,  wie  Ver- 
wandte, scheinen  sie  bei  dieser  Versammlung  zu  vertreten.  Eins 
derselben  sitzt  am  Ufer  eines  grünenden  und  moosigen  Flusses  und 
betrachtet  in  liebenswürdiger  Träumerei  inmitten  der  Wellen,  die 
ihre  nackten  Füsse  umspielen,  das  Wiederstrahlen  der  Farben  der 
am  anderen  Ufer  wehenden  Fahne,  und  die  Nixe  des  Wassers,  auf 
geneigter  Urne  sitzend,  streckt  ihre  Arme  nach  beideif  Ufern  hin, 
wie  um  jedem  zu  zeigen,  was  sein  ist. 

Die  Göttinnen  des  Friedens  und  der  Freiheit,  von  der  Hoffnung- 
geeint,  sitzen  auf  ihrem  Ehrenplatze  und  beherrschen  die  ganze 
Versammlung  durch  Wuchs  und  Blick,  als  die  beseligenden  Engel 
des  Gerichtes  des  Menschengeschlechts." 

Plötzlich  tritt  Stille  ein  und  der  Engel  des  Friedens  hält  eine 
Ansprache. 

„Er  schweigt,  begeistertes  Murmeln  antwortet  ihm.  Aber  bald 
entzündet  sich  die  Luft.  Es  bedeutet  kein  Unheil.  Kein  Schreckensruf 
ertönt,  sondern  lange  rauschende  Freudenrufe.  Eine  ungeheure  Stadt 
erhebt  sich  bis  zu  den  W^olken,  von  milder  Helle  gebadet. 

Alles  ist  in  Flammen:  die  Wege,  Gärten  und  Gebäude,  und 
die  folgenden  Worte  erscheinen  an  der  Stirn  des  Himmels  unter  den 
Farben  des  Eegenbogens: 

Republik. 
Paris,  Hauptstadt  der  vereinigten  Staaten  der  Welt." 

D.    Tendenziöse  Kriegsbilder  und  Stillleben. 

Tendenzlose  Kriegserzählungen,  bestimmt,  die  interessanten 
Erlebnisse  einzelner  Theilnehmer  am  Kriege  zu  verzeichnen,  linden 
sich  in  Ueberfülle  in  der  Denkschriftenlitteratur  des  Kneges  von 
1870/71.  Aber  die  überaus  grosse  Mehrzahl  dieser  Erzählungen 
erhebt  keine  litterarischen  Ansprüche;  ihre  Verfasser  wollten  nur 
Beiträge  zur  Geschichte  des  deutsch-französischen  Krieges  liefern  und 
die  Erinnerung    an  Einzelheiten   desselben    wachhalten,   aber   keine 

11* 


164  E.  Koschmtz, 

Bereicherung  der  französischen  schönen  Litteratur  unternehmen. 
Wir  müssen  uns  versagen,  auf  diese  mehr  geschichtlichen  als  belle- 
tristischen Erscheinungen  einzugehen,  mit  deren  Hilfe  man  leicht  eine 
umfangreiche  Kriegsgeschichte  in  Einzell)ildeni  zusammenstellen 
könnte.  Viel  weniger  zahlreich  sind  wirkliche  Novellen,  die  ohne 
Nebenabsicht  einzelne  Kriegsbegebenheiten  zum  Vorwurf  nehmen 
und  in  kunstvollerer  Form  zur  Darstellung  bringen.  Davon  sind 
wieder  noch  die  meisten  in  Tagesblättern  und  ähnlichen  Veröffent- 
lichungen verborgen,  die  uns  unzugänglich  blieben.  Wir  müssen  uns 
daher  auf  \'orführung  einer  kleinen  Auslese  beschränken,  die  zur 
Charakterisierung  dieses  vielgestaltigen  Zweiges  unserer  Erzählungs- 
litteratur  ausreichen  dürfte. 

Auf  das  Schlachtfeld  führt  Gr.  Kandel's  Zur  Attacke^).  Ein 
französischer  Dragonermajor  erzählt  darin  von  einer  Attacke  gegen 
deutsche  Kürassiere,  an  der  er  theilgenommen.  Den  Tag  über  hatte 
sein  Regiment  hinter  einem  Hügel  verborgen  gestanden;  ringsum 
donnerten  die  Kanonen,  die  Kugeln  flogen  über  die  Köpfe  der  Mann- 
schaft, die  Pferde  spitzten  die  Oliren,  und  die  Reiter  senkten  die  Nasen. 
Eine  verirrte  Kugel  riss  eine  ganze  Reihe  hin,  um  unter  den  Beinen 
eines  Sekondlieutenants  zu  platzen,  dessen  Pferd  vor  die  Front  prellt, 
steigt  und  mit  dem  Reiter  rücklings  niederstürzt.  Die  Dragoner 
gerathen  infolge  dessen  in  Unordnung,  und  der  Oberst  lässt  das 
Regiment  um  300  Meter  zurückgehen,  kommt  aber  durch  eine  ge- 
schickte Wendung  wieder  genau  auf  die  frühere  Stellung,  die  beste, 
zurück.  Verwundete  werden  vorbeigebracht,  Gerüchte  laufen  hin 
und  her;  bald  sind  die  Deutschen  „hineingelegt",  bald  steht  es  mit 
den  Franzosen  schlecht.  Die  Furchtsamsten  sehen  schon  hinter  sich 
und  murmeln  das  Wort  „Verrath".  Das  Regiment  kommt  zur 
Attacke.  Der  Oberst  kommandiert:  Vorwärts,  meine  Tapferen!  (en 
avant,  mes  braves!).  Der  Zusatz  ist  zwar  nicht  vorschriftsmässig,  aber 
thiit  seine  Wirkung;  ein  von  Begeisterung  hingerissener  kleiner 
Brigadier  schlägt  sogar  mit  seinem  Säbel  einen  Kreis  um  sich  und 
heult:  Nach  Berlin!  Nach  Berlin!  Der  erzählende  Majoi'  befehligte 
die  erste  Schwadron;  er  soll  mit  ihr  halb  rechts  reiten  und  den  Feind 
von  der  Seite  nehmen.  Aber  die  Absicht  wird  erkannt,  und  deutsche 
Kürassiere  reiten  den  Dragonern  entgegen,  ein  Offizier  an  ihrer  Spitze, 
wie  unser  Major  vor  seiner  Schwadron.  Eine  Mischung  von  Furcht 
und  Hoffnung  erfasste  den  Erzähler;  er  erinnert  sich  noch  aller  seiner 
Emptindungen  während  der  kurzen  Zeit  zwischen  Beginn  des  Ansturms 
und  dem  Zusammenstosse.  Er  empfand  Stolz  über  die  Wichtigkeit  seiner 
Stelle,  er  hätte  gern  das  ganze  Weltall  zum  Zuschauer  seiner  kühneu 
Haltung  gewünscht.    Dann  tiel  ihm  ein  alter  Landarzt  ein,  der  immer 


1 


V  Chargez!  m  Lieutenant,  Capitaine  et  Commandant.  Paris  1874.  S.215. 


Die  französische  Novellisiik  und  liomanlitteratur.    I.         165 

sehr  wacklig-  zu  Pferde  sass;  wie  würde  der  sich  an  seiner  Stelle 
ausnehmen?  Als  Kind  hatte  ihm  dieser  Eizinusöl  eingegeben;  das  sei 
immer  noch  unangenehmer  gewesen,  als  ein  Anreiten  zur  Attacke. 
Dann  kamen  ihm  plötzlich  Todesgedauken;  er  sah  die  Trauer  seiner 
Mutter,  die  seinen  Leichnam  sucht ;  das  Händereiben  eines  Kameraden, 
seines  gewöhnlichen  Gegners  im  Billard,  während  er  beim  Spiel  seiner 
gedenkt;  er  erinnert  sich  seiner  Sündhaftigkeit  und  bereut  manche 
seiner  Thaten.  Nun  erkennt  er  genauer  den  Führer  der  feindlichen 
Reiterschar,  einen  grossen  rothhaarigen  Rittmeister;  er  ruft  Chargez, 
das  die  anderen  Offiziere  und  die  Soldaten  wiederholen,  während 
aus  den  deutschen  Reilien  ein  heiserer  Ruf  wie  das  Geschrei  einer 
Horde  von  Wilden  ertönt.  Der  deutsche  Offizier  reitet  graden 
Weges  auf  den  Erzähler  los;  dieser  hebt  den  Arm,  fühlt  einen 
Widerstand  an  der  Spitze  seiner  Klinge  und  gleich  darauf  einen 
Keulenschlag  auf  seinen  Kopf.  Darauf  verhüllte  sich  die  Erde  vor 
ihm,  er  sah  roth,  und  das  war  alles. 

Nach  dem  Kampfe  fand  man  die  beiden  Gegner  wie  ein  paar 
Freunde  aufeinander  liegend:  der  Deutsche  oben,  der  Franzose  unten. 
Anfangs  hielt  mau  letzteren  für  tot;  aber  er  war  mit  einigen  un- 
gefährlichen Hiebwunden  davon  gekommen;  der  Deutsche  hatte  dafür 
einige  Zoll  Eisen  im  Leibe.  Er  wurde  an  dem  Tage  begraben,  wo 
der  französische  Offizier  das  Kreuz  der  Ehrenlegion  erhielt.  Vorher 
lagen  beide  im  selben  Lazareth,  wo  sie  die  besten  Kameraden  ge- 
worden waren.  Der  Deutsche  hatte  dort  dem  Franzosen  seinen  Säbel 
zum  Andenken  und  einen  Brief  und  ein  Packet  mit  einer  Haarlocke 
übergeben,  mit  der  Bitte,  beides  sobald  wie  möglich  an  seine  „  Yung 
Fru"  zu  senden. 

In  einer  andern  Erzählung  G.  Kandel's,  Im  Felde,^)  erhält 
man  das  abgerissene  Tagebuch  eines  jüngeren  französischen  Kavallerie- 
offiziers, der  seine  Aufzeichnungen  für  seine  Geliebte  machte.  Er 
wurde  mit  vier  Mann  zu  einer  Ausspähung  auf  deutsches  Gebiet 
gesandt;  er  sollte  den  Schleier  der  deutschen  Reiterei  durchbrechen 
und  Aufklärung  über  die  gesammelte  feindliche  Truppenmacht  ver- 
schaffen. Er  beschliesst  den  Flügel  der  deutschen  Kavallerie  zu 
umreiten,  zu  den  Vorposten  der  deutschen  Infanterie  vorzudringen 
und  dann  auf  dem  kürzesten  Wege  zurückzukehren.  Die  Umreitung, 
die  mit  grösster  Vorsicht  unter  Benutzung  aller  Deckungen  vorge- 
nommen wird,  gelingt;  nur  einmal  nahen  deutsche  Ulanen  auf  wenige 
Schritte,  während  die  Franzosen  in  einem  Gehölz  verborgen  sind; 
sie  halten  sich  bereits  für  verloren,  als  der  Ulanenoffizier  plötzlicli 
eine  Schwenkung  vornehmen  lässt.  Unterwegs  kommen  sie  in  ein 
alleinstehendes  Gutshaus;    sie    finden   dort   zwölf  Personen,   Vater, 


V  En  cavipagne,  a.  a.  0.  S.  59. 


166  E.  Koschtoüz, 

Mutter,  Kinder,  dazu  ein  paar  Hunde  und  eine  Angorakatze,  um  den 
gut  besetzten  Tisch  versammelt.  Ein  Schreckensruf  entschwebt  den 
Lippen  der  deutschen  Familie;  eine  der  älteren  Töchter,  eine  fette 
Blondine,  fällt  in  Ohnmacht.  Der  Besitzer  muss  dem  französischen 
Offizier  eines  seiner  Pferde  für  sein  eigenes,  das  verwundet  worden 
ist,  herausgeben;  ein  Soldat  entführt  den  Deutschen  ausserdem  eine 
gebratene  Ente,  wofür  er  von  der  ganzen  Familie,  der  ohnmächtigen 
Blondine  nicht  ausgenommen,  mit  kräftigen  Verwünschungen  verfolgt 
wird.  Die  Grösse  der  feindlichen  Macht  ist  erkannt,  und  der  Lieutenant 
wird  vom  Oberst  und  General  für  seine  Umsicht  und  Mannhaftigkeit 
belobt.  —  Das  Tagebuch  wurde  später  auf  einem  Felde  gefunden, 
M^o  eine  französische  Schwadron  von  deutschen  rothen  Husaren  nieder- 
gemacht worden  w^ar. 

Einen  Kriegsfreiwilligen  von  etwas  ungewöhnlicher  Beschaffen- 
heit lernt  man  kennen  in  De  Launaj»^'?  Erzählung:  Wie  Criquet 
eine  Schlacht  sah.'^)  Bei  einer  kreuz  und  quer  herumgeschickten 
Schwadron  Kürassiere  stellt  sich  im  August  in  Eeims  ein  langer 
Jüngling  von  siebzehn  Jahren,  dünn  wie  ein  Streichholz  und  mit 
einem  Mädchengesichte,  ein.  Fünf  Tage  lang  hat  er  nach  dem 
Regimente  herumgesucht,  nur  mit  einem  leichten  Nankinganzuge, 
einem  Spazierstock,  einem  fürchterlich  langen  Zylinder  und  sonst 
nichts  ausgerüstet.  Die  Schwadron  soll  abfahren;  Criquet  nimmt 
auf  einem  Bremsersitze  oben  auf  dem  Wagen  Platz,  zur  Erheiterung 
seiner  neuen  Kameraden,  die  er  auch  sonst  mit  seinem  frischen  Humor 
belustigt.  Endlich  erhält  er  die  ersehnte  Kürassierausstattung,  mit 
Rücksicht  auf  die  ihn  seine  Mutter  nichts  hatte  mitnehmen  lassen;  er 
begreift  schnell  die  Handgriffe  seines  Berufs  und  hört  mit  Jubeln,  dass 
es  zu  einem  Kampfe  kommen  soll.  Sein  Ideal  ist,  einmal  einer  Schlacht 
beizuwohnen.  Die  erste  Kugel,  die  über  seine  Schwadron  fliegt  und 
einen  benachbarten  Baum  umreisst,  wird  von  ilun  mit  Scherzen  be- 
grüsst;  ebenso  eine  zweite,  die  ihn  auf  den  Rücken  seines  Panzers 
trifft  und  zu  einer  "S'erbeugung  nöthigt.  Aber  vom  Feinde  sieht  er 
nichts.  Die  Schwadron  ändert  mehrmals  ihren  Platz,  olme  an  den 
Feind  zu  kommen.  Criquet  fragt  ungeduldig  vorbeigehende  Ver- 
wundete, was  denn  eigentlich  vorgehe,  erhält  aber  immer  die  Ant- 
wort, sie  wüssten  weiter  nichts,  als  dass  sie  ihren  Theil  weg  hätten. 
Des  Abends  reitet  die  Schwadron  wieder  in  ihr  Quartier  zurück,  und 
seufzend  beklagt  Criquet,  dass  er  wva.  die  Schlacht  gekommen  sei. 
Bei  einem  späteren  Ausfall  aus  Paris  sehen  die  Kürassiere  zwar 
wieder  keinen  Feind,  aber  einen  zerschmetterten  Marketenderwagen 
mit  einem  toten  Pferde,  und  einen  Nationalgardisten,  der  mit  ver- 
bundenem Kopfe  nach  Paris  hinkt  und  ihnen  einen  heissen  Tag  ver- 


*)  Comment  Criquet  vit  une  bataüle  in  Ciilottes  rouges  S.  150  ff. 


Die  französische  Norellistik  und  Romanlitteratur.    I.         167 

kündet.  Doch  es  wird  nichts  daraus;  dagegen  schlägt  bald  darauf 
eine  feindliche  Granate  in  die  Reiterschar  und  tötet  den  National- 
gardisten, Rosse  und  Reiter.  Criquet  wird  verwundet  unter  seinem 
Pferde  hervoriiezogen;  ein  Schenlcel  ist  ihm  zerschmettert  worden, 
und  das  eine  Bein  muss  ihm  abgenommen  werden.  Er  eilt  nach 
dem  Kriege  trotz  seines  Holzbeines  tagtäglich  lustig  und  munter  in 
sein  Ministerium.  Nur  ein  Kummer  ist  ihm  geblieben:  er  hat 
keine  Schlacht  gesehen. 

Eine  rührende  Scene  schildern  die  GrenznacTibarn^)  desselben  Ver- 
fassers. Im  August  1870  haben  viA*  Elsasser  bei  der  allgemeinen  Flucht 
nicht  eher  als  in  Paris  Halt  gemacht.  Es  waren  noch  halbe  Kinder, 
die  man  gleich  nach  der  Kriegserklärung  in  Uniformen  gesteckt  und 
einem  Feldbataillon  zugetheilt  hatte.  Sie  kamen  grade  zur  Schlacht 
bei  Reichshofen  zurecht.  In  Paris  sind  sie  in  ein  neugebildetes 
Regiment  eingereiht  worden ;  traurig  gedenken  sie  der  Heimat.  Gegen 
die  Feinde  fehlt  ihnen  der  Hass.  Sie  können  nicht  begreifen,  warum 
sie  auf  einmal  ihre  Bekannten  von  jenseits  des  Rheines,  mit  denen 
sie  Sonntags  die  heimatlichen  Lieder  im  Wirthshaus  sangen,  als 
schädliche .  Wesen  betrachten  und  sie  hinschlachten  sollen.  Ihre 
Gemeinsamkeit  und  der  Klagebrief  der  Schwester  des  einen  er- 
höhen noch  die  Qualen  ihres  Heimwehs.  Der  Bruder,  Hans,  ist  mit 
der  hübschen  Tochter  eines  badenser  Bauern  verlobt;  ihr  Bruder 
war  auch  sein  Bruder;  die  elsasser  und  die  badenser  Familie  hingen 
innig  an  einander.  Hans  hat  nicht  einmal  von  dem  geliebten  Kathele 
Abschied  nehmen,  ihr  znschwören  können,  dass  er  gar  nichts  gegen 
die  Hohenzollern  habe.  Auch  die  drei  anderen  beweinten  jeder  ein 
Kathele.  Die  Belageriuig  hat  begonnen.  „Die  Katze,  die  anfing  aus- 
zugehen, wurde  bereits  als  saftiges  Wild  betrachtet,  der  Hund  war 
gesucht,  und  Rattenragout  ein  Feinschmeckergericht.  Von  Gemüsen 
war  keine  Rede  mehr.  Galante  Herren  huldigten  den  Frauen  mit 
einer  Kartoffel,  die  mit  Gold  aufgewogen  und  manchmal  mit  wirk- 
lichen Gefahren  erobert  worden  war;  man  bot  eine  Kohlrübe  wie 
ehemals  einen  Ring  an;  ein  Salat  galt  so  viel  wie  ein  Smaragd- 
schmuck'-.  Bei  den  Vorposten  krochen  die  Männer  des  Nachts  auf 
dem  Felde  herum,  um  einen  Kohlkopf  oder  etwas  Sellerie  unterm 
Schnee  hervorzusuchen.  In  einer  Dezembernacht  kommt  die  Suche 
auch  an  unsere  vier  Elsasser.  Die  Flinte  auf  dem  Rücken,  in  weitem 
Abstände  von  einander,  den  Athem  anhaltend,  schreiten  sie  auf  das 
Feld  hinaus.  Sie  füllen  mit  dem  dort  befindlichen  Kohl  ihre  Brot- 
beutel. Alles  ist  still  und  ruhig.  Dadurch  werden  sie  muthiger, 
und  hinter  einer  Hecke  verborgen  beginnen  sie  zu  plaudern.  Im 
Gespräch  von  der  Heimat  vergessen  sie  alle  Gefalu'en;  sie  wandern 


*)  Les  voisins  de  frontiires  in  Culottes  roiige~$,  S.  267  ff. 


168  -E.  Koschwitz, 

unbesorgt  weiter,  nach  einem  zerschossenen  Hause,  von  dem  nur  noch 
die  Seitenmauern  stehen.  Dort  setzen  sie  sicli  auf  einen  Trümmer- 
haufen, um  bei  dem  Scheine  eines  mitgebrachten  Lichtes  zum  zwanzigsten 
Mal  den  Brief  von  Hansens  Schwester  zu  lesen.  Sie  beklagt  darin 
die  Härten  der  Preussen,  von  denen  das  Land  schwarz  sei  wie  ein 
Ameisenhaufen.  Sie  requiriren  alles:  Heerden,  Wagen,  Pferde,  Getreide ; 
sie  haben  den  alten  Fritz  Reuter  erschossen,  weil  er  sie  nicht  führen 
wollte ;  Jacob  Schmitt  sei  mit  StockscliLägen  zu  Tode  geprügelt  worden, 
weil  er  preussische  Oftiziere  nicht  grüssen  wollte ;  die  Elsasser  sollen 
zu  Preussen  gemacht  werden.  SeÄie  Braut  sei  ihm  treu  gesinnt; 
ihr  Bruder  aber  zum  deutschen  Heere  genommen  worden.  Schlimmer 
als  alle  seien  die  Badenser.  Sie  sagen,  wir  haben  ihnen  nocii  viel 
melu*  Uebel  zugefügt;  aber  das  muss  schon  schrecklich  lange  her 
sein.  Was  solle  denn  daraus  werden,  wenn  alle  Völker  ein  so  langes 
Gedächtniss  haben  u.  s.  w.  Der  Brief  erweckt  allerlei  trübe  und 
freudige  Erinnerungen;  schliesslich  beginnen  unsere  Helden  im  Chor 
zu  singen: 

So  sing,  so  sing,  froh  Nachtigall! 

Die  andern  Waldvögelein  schweigen. 

Während  sie  im  besten  Singen  sind,  wird  von  aussen  das  Lied 
fortgesetzt;  entzückt  lauschen  sie,  die  Gegenwart  vergessend,  und 
das  Lied  tönt  innerhalb  und  ausserhalb  des  Gemäuers.  Aber  plötzlich 
wird  die  Idylle  durch  ein  brutales:  Wer  da?  unterbrochen.  Die 
Elsasser  greifen  zum  Gewehr,  aber  schon  sinkt  einer  von  ihnen  von 
einer  Kugel  getroffen  nieder.  Hir  Licht  hat  sie  verrathen.  Es  kommt 
zum  erbitterten  Kampfe.  Zwei  Deutsche  und  zwei  Elsasser  fallen. 
Hans  ringt  im  Finstern  verzweifelt  mit  einem  Gegner;  sie  zerschlagen 
sich  mit  dem  Bajonett,  beissen  sich  mit  den  Zähnen  in  ihre  ver- 
stümmelten Arme,  bis  sie  beide  ohne  Lebenszeichen  zusammenstürzen. 
Die  Toten  und  Veiwundeten  werden  fortgeschafft,  Hans  und  sein 
Gegner  finden  in  demselben  Lazareth  Unterkommen ;  als  sie  erwachen, 
erkennen  sie  sich.  Dei-  Deutsche  ist  der  Bruder  des  geliebten 
Kathele  ...  Sie  sterben  beide  fast  zur  selben  Minute,  sicli  als  Freunde 
an  der  Hand  haltend. 

Eine  wechselvolle  Scene  aus  dem  Kriegsleben  bietet  Guy  de 
Maupassant's  I>reikönigsahend^).  Der  Husarenwachtmeister  Graf 
von  Garens  hat  mit  zehn  Mann  das  halbzerschossene  Dorf  Porterin 
besetzt.  Einer  seiner  Begleiter  hat  ein  geeignetes  Quartier  aus- 
findig gemacht,  Bordeauxwein  im  Hühnerstall,  Champagner  unter 
der  Haustreppe,  Branntwein  im  Obstgarten  unter  einem  Birnbaum, 
ausserdem  an  Nahrungsmitteln  zwei  Hennen,  eine  Gans,  drei  Tauben  und 
eine  Amsel  im  Käfig  requiriert,  im  Kamin  ein  lustiges  Feuer  mit  Hilfe 


Les  Rots  in  Je  Horla.     14.  Ausg.     Paris  1887.  S.  208  ff. 


Die  französische  NoveUistik  und  Homanlitteratur.    I.         169 

eines  zerhakten  Herrenwagens  angesteckt,  und  es  fehlt  nun  nichts 
mehr,  um  den  hl.  Dreikönigsabend  würdig  zu  begehen,  als  Dameugesell- 
schaft.  Graf  v.  Garens  übernimmt  es,  sie  für  das  in  Vorbereitung 
befindliche  Mahl  zu  verschaffen,  und  begibt  sich  zu  diesem  Zwecke  zu 
dem  Pfarrer  des  Ortes,  einem  dicken,  jovialen  Herrn,  der  die  ihm  zu 
Theil  werdende  Einladung  annimmt  und  auch  vier  Frauen  mitzu- 
bringen verspricht.  Er  erscheint  denn  auch ,  als  alles  hergerichtet 
ist,  und  zwar  mit  einer  barmherzigen  Schwester  und  drei  unter  ihrer 
Obhut  stehenden  alten  Weibern,  einer  Wassersüchtigen  mit  ange- 
schwollenem Leibe,  einer  halbbliuden  Lahmen  und  einer  Geistes- 
schwachen. Der  Pfarrer  führt  die  Schwester  zu  Tisch,  drei  aristo- 
ki'atische  Husaren  die  drei  Alten,  denen  sie  den  Hof  machen,  und 
die  sie  reichlich  mit  Champagner  bewirthen.  Alles  ist  im  besten 
Gange,  als  der  Schuss  eines  ausgestellten  Postens  die  Gemüthlichkeit 
stört.  Ein  alter  Bauer  hat  auf  den  Ani'uf  der  Wache  nicht  geant- 
wortet und  ist  von  der  nach  ihm  gerichteten  Kugel  schwer  ver- 
wundet worden.  Man  bringt  ihn  in  das  Zimmer,  worin  sich  die 
Gesellschaft  befindet  und  erkennt  in  ihm  den  tauben  Hii'ten  des 
Dorfes.  Er  stirbt  unter  den  Gebeten  des  Pfarrers.  Schrecklicher 
aber  als  der  Anblick  des  Sterbenden  ist  das  Gebahren  der  armen 
Alten.  Sie  stossen  Schi'eckensrufe  aus ,  sobald  sich  ihnen  ein 
Dragoner  nähert;  die  Lahme  stürzt  vor  Sclu'eck  zu  Boden;  alle 
drei  schneiden ,  von  massloser  Angst  erfüllt ,  die  grässlichsten  Ge- 
sichter. Die  Schwester  nimmt  sie  ohne  ein  Wort  zu  sagen  mit 
sich  in  das  Krankenhaus  zurück. 

Einen  ganzen  Band  Skizzen  und  Erzählungen  in  novellistischer 
Form  giebt  Toudouze  in  seiner  grünen  Quaste,^)  worin  das  Treiben 
der  pariser  Mobilgarde  während  der  Belagerung  von  Paris  zur  Dar- 
stellung kommt.  Das  Werk  umfasst  im  Ganzen  neun  Erzälilungen, 
die  als  Gattungstypen  hier  in  Kürze  inhaltlich  vorgeführt  werden 
sollen. 

In  der  Taufe  der  Tressen^)  wird  ein  neugebackenei-  Korporal, 
der  mit  Stolz  die  eben  erlangte  Würde  zur  Schau  trägt,  auf  die 
Suche  nach  einem  Militärpflichtigen  geschickt.  Er  gelangt  an  den  Be- 
stimmungsort, das  elende  Haus  einer  Nebenstrasse,  und  A\1rd  von  der 
Pförtnerin  in  das  fünfte  Stockwerk  hinaufgewiesen.  Er  findet  dort 
eine  schwarzgekleidete,  kleine  und  magere  Frau  mit  bleichen  und 
leidenden  Gesichtszügen.  Ihi-  Anblick  lässt  ihn  viel  von  seinem 
Schneid  verlieren.  Zögernd  theilt  er  der  Angstvollen  mit,  dass  ihi- 
Sohn  zu  den  Mobilen  einberufen  sei.  Sie  ruft  janunernd  aus,  er  sei 
der  Sohn   einer  Wittwe,  also  dienstfrei;    aber  leider    ist   dies   nicht 


V  Le  pompon  vert.  Paris  1887. 
^)  Le  bapteme  des  galons,  S.  1  ff. 


170  E.  Koschwitz, 

genau  der  Wahrheit  entsprechend:  ihr  Mann,  ein  gewissenloser  Mensch, 
der  sie  mit  ihrem  Kinde  verlassen,  lebt  noch ;  sie  hat  den  Solin  allein 
unter  Kummer  und  Noth  gross  gezogen.  Das  Zureden  des  Korpoi-als 
bleibt  ohne  Wirkung.  Als  er  wieder  auf  der  Strasse  ist,  entdeckt 
er  zwei  Thräneutropfen  auf  seinen  neuen  Tressen;  sie  sind  aus  den 
Augen  der  klagenden  Mutter  darauf  getallen. 

Die  letzte  Hammelkeule  ^)  führt  zu  den  ^'orposten  au  die 
Schanze  von  Montretout,  mit  deien  iiusgestaltung  Mobile  beschäftigt 
sind.  Unter  ihnen  Jean  Carot,  wegen  seiner  unermesslichen  Esslust 
und  seiner  lustigen  Redereien  die  Eisenschnauze  benannt.  Bei  den 
ersten  Anzeiclien,  dass  die  Preusseu  kommen,  geht  ein  instinktiver, 
unwiderstehlicher  Schauder  von  einem  zum  andern;  einen  Augenblick 
trocknet  die  Angst  aller  Mund  und  lähmt  ihnen  die  Glieder;  dann 
folgt  ein  Erwachen;  man  flucht  und  arbeitet  mit  doppeltem  Eifer 
an  dem  Schanzwerk.  Tage  vergehen,  ohne  dass  etwas  neues  geschieht ; 
die  Erwartung  der  Grefahr  bringt  alle  in  fieberhafte  Erregung.  Nur 
in  der  Baracke  kehrt  der  alte  [Tebermuth  zurück;  doch  wirft  auch  dort 
ein  Lustigmacher  beim  Essen  eine  umheimliche  Note  hinein  mit  den 
Worten:  „Das  ist  vielleicht  unsere  letzte  Hammelkeule".  Der  Ring 
um  Paris  wird  enger,  schliesst  sich.  Trochu  besichtigt  die  Schanze, 
erkennt  ihre  Sclmäche,  verheisst  die  Sendung  von  Mitrailleusen  und 
empfiehlt  den  Mobilen,  sich  in  ihr  bis  auf  den  letzten  j\Iann  töten  zu 
lassen.  Diesen  Abend  schmeckt  die  Haui)tmahlzeit  minder  gut.  die 
Schanze  wird  mit  kritischen  Blicken  betrachtet.  Die  7.  Kompagnie 
der  Mobilen  wird  auf  Hauptwache  geschickt:  der  Korporal  des 
ersten  Zuges  hat  mit  vier  Mann  auf  Vori)osten  einen  Kreuzweg  zu  be- 
wachen. Die  Fünf  mai-schieren  ab,  mit  stolzer  Haltung,  so  lange  sie 
von  ihren  Kameraden  gesellen  werden.  Sie  nehmen  auf  der  Terrasse 
eines  Eckhauses  Auffstellung,  von  wo  aus  man  die  sich  kreuzenden 
Strassen  übersieht.  Vorher  müssen  sie  eine  Alte  aus  dem  Sclilafe 
wecken,  der  sie  den  Rath  geben,  sich  in  ihren  Keller  zu  verkriechen. 
Ein  weiter  V(n'geschobener  Posten  kommt  liinter  eine  Laterne  zu 
stehen,  deren  Lichtschein  mit  Hilfe  einer  Zeitung  nach  der  Seite  der 
Vorpostenstellung  vei-deckt  wird.  Um  Mitternacht  dröhnt  ein  dumpfes 
Geräusch,  wie  wenn  Artillerie  herankäme.  Die  fünf  Mann  lauschen 
mit  gespanntester  Aufmerksamkeit.  Sie  sehen  endlich  aus  der  Dunkel- 
heit ein  unbestimmtes  Schattenbild  hervoi'tauchen.  Mit  etwas  er- 
stickter Stimme  ruft  der  vorgestreckte  Posten:  Halfe-M!  Qui  vivef 
und  es  erscheint  ein  mit  Möbeln  beladener  Lastwagen,  dessen  Führer 
ruft:  Ne  tircz  pas,  ne  ürez  pas!  Fran<;ais!  Franfuis!  Man  erfährt 
von  ihm,  dass  die  Prenssen  eben  in  Versailles  eingezogen  waren,  aber 
besonders  des  Nachts  nicht  weiter  vorrückten.     Die  fünf  Mann  ver- 


*)  Le  derm'er  gigot,  S.  21  ff. 


Die  französische  Novellistik  wkI  liomanlitteratui:    I.         171 

nelimeu  dies  mit  Erleicliterung,  aber  aiu-li  mit  Aerger  darüber,  dass 
sie  sich  umsonst  auf  den  Tod  gefasst  gemaclit,  umsonst  Angst  aus- 
gestanden hatten.  Der  Rest  der  Nacht  vergeht  ohne  Aufregung. 
Am  folgenden  Tage  hört  man  das  Donnern  der  Kanonen;  der  erste 
Kampf  vor  Paris  findet  statt.  Auf  allgemeines  Verlangen  wird 
diesmal  die  tägliche  Hammelkeule  bereits  vormittags  verzehrt.  Die- 
selbe Kompagnie  wird  vorgeschickt,  um  einen  AValdweg  zu  über- 
wachen ;  sie  stellt  sich  dort  versteckt  in  drei  Abtheilungen  so  auf,  dass 
der  Feind  in  die  Mitte  genommen  werden  kann.  Bevor  er  nicht  dahin 
gelangt  ist,  soll  kein  Scliuss  abgegeben  werden.  Lange  ist  das 
Warten  vergeblieh.  Die  mit  Eisenschnauze  in  einem  Rübenfelde 
lagernde  Abtheilung  beginnt  in  der  Sonnenglut  halb  einzuschlafen. 
Auf  einmal  hört  man  schiessen.  Alle  erwachen,  nur  Eisenschnauze 
bewegt  sich  nicht.  Gegen  den  Befehl  ist  zu  früh  auf  sichtbar 
werdende  schwarze  Husaren  geschossen  worden.  Einer  von  ihnen 
wurde  verwundet,  die  übrigen  aber  sind  in  Folge  der  Voreiligkeit 
der  französischen  Schützen  entwichen.  Nun  lohnt  es  nicht  mehr, 
sich  zu  verbergen.  Man  marschiert  ab  und  entdeckt  dabei  mit 
staunendem  Entsetzen,  dass  der  bewegungslos  bleibende  J.  Carot  tot 
ist:  eine  versprengte  Kugel  hat  ihn  getroffen. 

Desselben  Tags  noch  wurde  die  trotz  der  darauf  verwendeten 
Arbeit  unhaltbare  Schanze  bei  Montretout  von  ihren  600  Mann  Be- 
satzung aufgegeben,  und  Schutz  unter  den  Kanonen  des  Mont  Valerien 
gesucht. 

Ein  Gewissensbiss^)  erzählt  von  den  armen  Teufeln,  die  zwischen 
den  Vorposten  der  Franzosen  und  Deutschen  nach  Gemüse  suchten, 
und  von  denen  alle,  die  keinen  Erlaubnisssche-in  besassen,  die  mit 
Lebensgefahr  gesammelten  Voiräthe  an  der  Thorwache  ausliefern 
mussten.  Manchmal  brachten  diese  Maraudeure  einen  der  ilirigen 
tot  oder  verwundet  zurück.  So  trifft  der  auf  Wache  befindliche 
Mobilgardist  Tournevire  einen  jungen  Menschen  an,  der  einen  Alten 
trägt;  hinter  ihnen  läuft  ein  junger  Hund  einher.  Dei-  Alte  ist  tot 
und  wird  begraben,  der  Hund  wird  von  dem  Mobilen  angenommen; 
er  macht  bald  die  Freude  der  ganzen  Korporalschaft.  Aber  wälirend 
Tournevire  einmal  nach  Paris  beurlaubt  ist,  lockt  ein  anderer  Mobiler, 
ein  früherer  Metzgergesell,  den  Hund  an  sicli ;  das  arme  Thier  stirbt 
unter  seinem  Schlachtmesser,  wird  von  ihm  schmackliaft  zubereitet, 
und  selbst  seine  früheren  Gönner  von  der  Korporalschaft  Touinevires 
können  der  Versuchung  nicht  widerstehen,  sich  an  dem  leckeren 
Mahle  zu  betheiligen.  Als  es  bald  zu  Ende  ist,  kommt  Touinevire 
zurück;  beschämt  gesteht  man  ihm,  was  geschehen;  er  begnügt  sich 


')   Un  remords,  S.  103. 


172  E.  Koschwitz, 

seinem   Korporal   einen    Blick    zuzuwerfen,    der    diesem  Zeit    seines 
Lebens  auf  dem  Gewissen  brennt. 

In  der  Erzählung  im  Seidenkleide^)  begeben  sich  vier  Mobil- 
gardisten vom  Mont  Avron  aus  auf  die  Nahrungssuche.  Es  fehlt 
zwar  nicht  an  schmackhaftem  Pferdefleisch,  denn  es  ist  Tags  vorher 
ein  Kampf  ausgefochten  worden;  dafür  fehlen  aber  alle  Zuthaten, 
was  den  Kompagniekoch,  den  Schlächter  des  Hundes  in  der  vorigen 
Erzählung,  ganz  melancholisch  macht.  Der  Koch  muss  mit  auf  den 
Beutezug,  sehi'  gegen  seinen  Willen;  denn  er  erhebt  nicht  den  ge- 
ringsten Anspruch  auf  Heldenhaftigkeit.  Die  Mobilen  gerathen  in  die 
Trümmer  einer  Parfumfabrik;  in  einem  Keller  finden  sie  Fläschchen 
mit  allerlei  wohlriechenden  Flüssigkeiten,  die  sie  sämmtlich  öffnen, 
um  sich  an  dem  Dufte  zu  ergötzen;  ausserdem  Eeispulver  zwischen 
Rosen-  und  Veilchenblättern,  mit  dem  sie  sich  aUe  Taschen  vollstopfen. 
Aus  dem  Kellen-aume  emporgestiegen,  hören  sie  ein  eigenthümliches 
Rauschen  auf  der  Dorfstrasse,  das  sie  wieder  zum  Bewusstsein  ihrer 
Lage  bringt:  sie  legen  sich  auf  die  Lauer  und  entdecken  einen  fran- 
zösischen Matrosen,  der  sich  mit  einem  irgendwo  aufgestöberten,  über 
die  Uniform  angezogenen  Seidenkleide  und  mit  blumenbedecktem  Hute 
geschmückt  hat  und  vergnügt  ein  bretonisches  Lied  trällert.  Er  ist 
ganz  ohne  Waffen,  da  den  Matrosen  das  Maraudieren  verboten  ist, 
und  ihnen,  um  sie  noch  sicherer  davon  abzuhalten,  beim  Ausgang  die 
Waffen  abgenommen  werden.  Nachdem  die  Moblot's  mehrere  Töpfe 
mit  Fett,  Butter  und  Zwiebeln  in  einem  verlassenen  Gärtnerhause 
aufgetrieben  und  noch  ein  Feld  mit  Porree  geplündert  haben, 
hören  sie  plötzlich  ihi-en  ausgestellten  Posten  Tournevire  um  Hilfe 
rufen.  Noch  ehe  sie  ankommen,  ist  der  Matrose  bei  ihm,  nimmt 
ihm  das  Gewehr  ab,  das  nicht  los  gehen  will,  und  schlägt  zwei 
Preussen  damit  zu  Boden.  Auch  noch  ein  dritter  Deutscher  wird 
gefangen  genommen,  und  der  Matrose  fühlt,  noch  immer  im  Seiden- 
gewande,  seine  beiden  Preussen  am  Kragen  fort,  der  kleine  Maler  Crozon 
den  dritten;  so  kommen  sie  triumphierend  mit  Esswaaren  und  als 
Sieger  zurück.  Der  Metzger  bereitet  ein  prachtvolles  Mahl;  aber 
zum  Mitgehen  auf  die  Nahrungssuche  ist  er  unter  keinen  Umständen 
mehr  zu  bewegen. 

Der  Abschnitt  Wer  dat^)  schildert,  wie  die  Korporalschaft, 
deren  Schicksale  Toudouze  erzählt,  in  einer  selbstgebauten  Hütte 
kampiert,  die  Füsse  am  Feuer,  alle  eng  zusammen  gedrängt,  ein- 
gehüllt von  oben  bis  unten ,  während  ein  erstickender  Qualm 
von  dem  grünen  Holze  des  ununterbiochen  gepflegten  Feuers  den 
Raum  erfüllt.     Man  ist  auf  der  Hochfläche  von  Avron.     Fast  einen 


»)  En  rohe  de  soie,  ebd.  S.  119. 
V  Wer  da?  S.  159  ff. 


Die  französische  Novdlistik  tmd  Bonianlitteratur.    I.         173 

Monat  weilen  unsere  Mobilaarden  dort,  vom  Feinde  ist  die  ganze  Zeit 
nichts  zu  sehen.     Man  roch  ihn  nur  im  Winde,    wie  der  Jagdhund 
das  Wild.     Man  mochte  auf  ihn  schimpfen,  wie  man  wollte,  ihn  mit 
elektrischem  Lichte  bestrahlen,  Granaten  wie  Erbsen  nach  ihm  senden, 
nichts  liess  sich  von  ihm  sehen,  nicht  einmal  die  Spitze  einer  Pickel- 
haube.    Die    einzige   Zerstreuung   der   Mobilen   war    das   Errichten 
eines  Laufgrabens,  von  dessen  Nützlichkeit  niemand  überzeugt  wat; 
man  wurde  aber  wenigstens  wann  bei  der  Arbeit.    Ein  alter  Offizier, 
der  den  Krimkrieg  mitgemacht  hatte,  wurde  befragt,  wie  lange  man  auf 
der  Höhe  von  Avron  bleiben  würde.  Er  hatte  darauf  die  wenig  tröstliche 
Antwort   gegeben,   als  er  nach   der  Krim  gezogen  sei,   war  es   für 
vierzehn  Tage;  nach  einem  Jahre  wäre  er  aber  immer  noch  da  ge- 
wesen.    So  hat   sich  denn  unsere  Korporalschaft  mit  ihrer  Baracke 
für    die    Dauer    einzurichten    gesucht.      Eines    Nachts    werden    die 
unter   dem   Kanonendonner    der    Forts    sanft    schlafenden    geweckt; 
ihre  Kompagnie   muss  eine  Ausspähung   vornehmen.     Der  Metzger- 
Koch   ist   nicht   fortzubringen;    er  gibt  vor,   krank   zu  sein;   weder 
Scherz  noch  Hohn  können  ihn  bewegen,  sich  aus  seiner  Umhüllung 
herauszuschälen.     Um    so    mehr   ist    beim   Werke   der    kriegslustige 
kleine    Maler   Orozon,    der   keinen   Auszug    ohne   sein   Skizzenbuch 
macht,   ein  Monument  an  Dicke  und  Umfang,  für  das  er  in  seinem 
Mantel  eine  besondere  Tasche   besitzt.     Auch  heute,   mitten  in  der 
Nacht,    steckt    er   es   zu   sich.     Unter   Vermeidung   des   geringsten 
Geräusches   macht   sich  die   Schar   mit   geladenem  Gewehr  auf  den 
Weg.     Man  kommt  am  Ende  von  Villemomble  vor  die  ft^anzösischen 
Vorposten;  die  eingeschlagene  Strasse  führt  unter  einem  Tunnel  hin- 
durch nach  dem  von   preussischen  Wachen  besetzten  Eainc)^     Nie- 
mals hatte  man  auf  ihr  bisher  einen  Deutschen  angetroffen.    Indessen 
diese  Nacht  lässt  eine  unwillkürliche  Gänsehaut  alle  fülileu,  dass  es 
anders    sein    würde ,    und    unheimliche    Gedanken    lieschleichen    die 
Mannschaft.     Der  Hanpttheil  der  Kompagnie  bleibt  zurück:   unsere 
Korporalschaft    muss    zur    Linken ,    eine    zweite    zur   Rechten    in 
indianischer  Reihe  an  den  vStrassenseiten  nach  dem  Tunnel  und  dem 
von  ihm  durchschnittenen  Bahndamm  heranmarschieren.    Kein  Hauch, 
kein  (-feräusch.     Am  Tunnel  steht  eine  Barrikade,  die  man  nie  besetzt 
gefunden  hat;  diesmal  hndet  man  sie  völlig  geschlossen.    Der  Untet- 
oftizier  und  zwei  Mann  klimmen  an  der  Böscliung  des  Dammes  hinan; 
plötzlich  ertönt  ein  heiseres  Wer  da!    wild  unter  dem  Gewölbe  des 
Tunnels,  und   zwei  Schüsse  knallen ,    ohne   zu   treffen.     Der  Maler 
springt   auf  den  Schienenweg,    um   den  beiden   fliehenden  Preiissen 
den  Rückweg  abzuschneiden;  er  sinkt  aber  von  einem  dritten  Scliusse 
getroffen  liin,  während  die  zurückstehenden  Mobilen  fast  ihre  eignen 
Leute   erschiessen    und   sich  dann  eilends   aus   dem  Staube    machen. 
Die  beiden  Mobilen  auf  der  Böschung  sind  so  zwischen  zwei  Feuern 


174  E.  Koschivitz, 

in  verzweifelter  Lage ;  sie  nehmen  indessen  den  Gefallenen  mit  sich 
und  gelangen  unbelästigt  bis  zu  ihrer  Abtheilung.  Dort  wird  der 
Künstler  untersucht.  Ein  paar  ihm  eingeflösste  Schluck  Branntwein 
bringen  ilin  znni  Athmen.  Es  stellt  sich  heraus,  dass  die  Kugel 
in  seinem  Skizzenbuch  stecken  geblieben  ist,  und  dass  nur  eine 
starke  Quetschung  ihn  in  Ohnmacht  fallen  Hess.  Er  zeichnet  später 
auf  einer  leeren  Seite  um  das  von  der  Kugel  gebildete  Loch  den 
betreffenden  Tunnel  mit  der  lakonischen  Untei-schrift :  Wer  da? 

Der  folgende  Faden,^)  in  dem  wir  auch  eine  lebendige  Schil- 
derung von  dem  Deginn  der  Deschiessung  von  Paris  erhalten,  führt 
einen  Mobilen  vor,  der.  um  nach  Paris,  sei  es  auch  nur  auf  eine 
halbe  Stunde,  zurückzukehren,  allem  trotzte,  zu  allem  fähig  war. 
Mit  welcher  Wollust  betrog  er  die  ihm  von  Grrund  des  Herzens 
verhassten  „Wallschnecken",  die  Nationalgardisten,  die  die  Stadtthore 
bewachten.  Konnte  er  nicht  auf  die  eine  Art  in  die  Stadt  hinein, 
so  musste  es  auf  eine  andere  Weise  gelingen;  glückte  es  nicht  an 
einem  Thore,  so  wurde  es  an  einem  andern  versucht.  Einmal  liess  er 
sich  als  Verwundeter  durch  mit  grossen  Binden  vei'sehene  Kameraden 
zum  Thor  hineintragen:  ein  ander  Mal  steckte  er  sich  mitten  unter 
die  Leichen  Gefallener,  um  mit  ihnen  auf  dem  geschlossenen  Leichen- 
wagen in  die  Stadt  zu  gelangen.  Die  Nationalgardisten  zogen  ihn 
halb  erstickt  an  den  Füssen  liervor,  und  nur  durch  die  Jlildherzigkeit 
eines  Uftiziers  entging  er  dem  Kriegsgerichte.  Erlaubnissscheine 
wurden  von  ihm  alle  Tage  mit  immer  grösserer  Vollkommenheit  ge- 
fälscht. Der  Faden,  der  ihn  mit  solcher  Gewalt  nach  Paris  hinein- 
zog, war  eine  junge  hübsche  Blondine.  Alle  zwei  Tage  erhielt  er 
einen  Brief  von  ihr,  den  er,  sich  verbergend,  verschlang;  aber  diese 
Briefchen  reizten  seine  Sehnsucht  nur  noch  mehr.  Anfangs,  als  die 
Mobilen  noch  alle  zusammen  in  St.  Maur  standen,  war  es  leicht  ge- 
wesen, nach  Paris  hineinzuk(nnmen;  wer  sich  gut  führte,  erhielt  einen 
Erlaubnissschein;  im  Nu  wai-  man  dann  am  JJalmhdf  Joinville  le  Pont, 
von  wo  die  ganze  jnbiliei-ench^  ^loliilenschar  in  die  Stadt  hinein- 
geschoben wurde.  Aber  der  Missbrauoh  dieser  Erleichterung  führte 
zu  ihrer  Beschränkung,  unser  Held  war  mehimals  genöthigt  gewesen, 
den  Weg  zu  Fuss  zurückzulegen.  Später  wurde  das  Träger  von  St.  Maur 
aufgehoben,  und  die  iAlobilen  um  Paris  herum  veitheilt.  Damit  waren 
die  Schwierigkeiten  des  Entweichens  noch  mehr  gewachsen.  Am 
schlimmsten  wui'de  es,  als  die  M(dülen  der  Seine  auf  der  Hochebene 
von  Avron  lagerten.  Gleich  anfangs,  am  Tage  nach  der  Schlacht  bei 
Champigny,  wäi-e  der  Durchgänger  fast  von  bretonischen  Mobilen  er- 
schossen worden,  die  ihn  als  Spion,  dann  als  Neuling,  als  einen  der 
verkommenen  Pariser  behandelten,  für  die  sie  erfrieren  und  umkommen 

>)  Le  fil,  a.  a.  <»..  8.  219. 


Die  französische  Novellisiik  und  Romanlitteraiur.    I.         175 

müssten,  statt  in  der  Bretagne  bleiben  zu  können.  In  dei'  Tliat 
wurden  die  Bretonen  immer  in  die  erste  Reihe  gestellt,  wälu'end  man 
die  pariser  Mobilen  in  Reserve  stellte.  Doch  gelingen  die  Ausflüge 
nach  Paris  dem  VerlieV>ten  noch  einige  Male.  Da  wurde  ein  General- 
befehl verlesen,  dass  jeder  Mobile,  <ler  die  Hochebene  verlässt,  um  nach 
Paris  /u  gehen,  als  fahnenffüchtig-  behandelt  und  mit  dem  Tode  be- 
straft werden  würde.  Unser  Held  wird  schwermüthig,  gielit  aber 
seine  Unternehmungen  auf. 

Man  ist  am  Ende  Dezember.  Es  ist  kalt,  finstere  Nacht,  und 
es  schneit.  Die  Kompagnie  unserer  Mobilen  ist  auf  Hauptwache,  am 
Fusse  des  Avron,  in  einem  alleinstehenden  Häuschen  zwischen 
Villemorable  und  Oaguy.  Von  Stunde  zu  Stunde  werden  Doppel- 
posten ausgestellt.  Sie  wachen  ,  die  Füsse  im  dichten  Schnee, 
dessen  feuchte  Kälte  das  Schuhwerk  durchdringt  und  an  den  Beinen 
aufsteigt,  ithne  dass  sie  sich  zu  bewegen  wagen;  weisse  Flocken 
fallen  stumm  auf  ihre  Schultein .  auf  Hände ,  Gresicht  und  Hals. 
Der  die  Ablösungen  überwachende  Korporal  hat  die  ganze  Nacht 
keine  Ruhe;  die  Posten  sind  so  weit  vertheilt,  dass  seine  Zeit 
mit  Hin-  und  Hergehen  und  mit  dem  Wecken  der  Schlafenden  ver- 
geht. Die  Nacht  ist  nicht  v.ie  die  übrigen.  Man  hört  dumpfe 
Geräusche  durch  das  Schweigen  der  Nacht,  laute  Flüche.  Räder- 
knarren, pfeifende  Beilhiebe;  es  riecht  nach  Kanonenfeuer.  Langsam 
verfliesst  die  Zeit.  Plötzlich  am  Morgen ,  zur  Zeit  der  Ablösung, 
schien  dem  Korporal  eine  heftige  Flamme  ins  Gesicht ;  es  zischt  über 
dem  Hause,  und  hoch  oberhalb,  auf  der  Hochfläche,  entsteht  ein 
heftiger  Knall.  Ein  zweiter,  ein  dritter  Schuss  folgen,  im  Nebel, 
bald  von  rechts,  bald  von  links.  Es  ist  kein  Zweifel  mehr:  die 
Preusseu  haben  Batterien  demaskirt,  die  sie  verstohlen  aufgestellt 
hatten,  um  die  Mobilen  besser  zu  überraschen.  Geduldig  hatten  sie 
zum  Zweck  der  üeberrunipelung  selbst  der  Versuchung  widerstanden, 
aut  die  nach  ihnen  gerichteten  Schüsse  zu  antworten.  Die  französischen 
Oftiziere  eilen  staunend  herbei  und  sehen  mit  offenem  Munde  das 
Unerwartete.  Die  Feldwache  wird  aufgegeben  und  zieht  sich  nach 
einem  sehr  flüchtigem  Frühstück  unter  freiem  Himmel  hinter  eine 
Mauer  zurück,  während  die  tranzösischen  und  deutschen  Geschosse 
sich  über  ihnen  kreuzen.  Beim  Appell  fehlt  Navaret,  den  sein 
Faden  am  Tage  vorher  nach  Paris  gezogen.  Der  Korporal  ver- 
schweigt seine  Abwesenheit,  um  ihm  das  Leben  zu  retten.  Ein 
Mobiler  kommt  bald  laufend,  bald  sich  hinwerfend,  wie  ein  Ziegen- 
bock springend  in  höchster  Aufregung  herangeeilt;  es  ist  der 
Metzger-Koch.  Er  hat  oben  in  der  Hütte  der  Korporalschaft  ruhig 
den  Schlaf  der  Faulen  geschlummert,  als  ungeheures  Krachen  ihn 
aufschreckte.  Ueber  seinem  Kopfe,  um  sich,  vor  und  hinter  sich 
ein  fortwährender  Regen  von  Eisensplittern:  wie  unter  einem  Cyklon 


176  E.  Koschmtz, 

stürzten  Soldaten  jeder  Waffe  und  Pferde  ohne  Reiter  in  rasender 
Flucht  durcheinander;  alle  Zucht  hatte  aufsiehört;  jeder  dachte  nur 
daran ,  wie  er  am  schnellsten  eine  sichere  Zuflucht  finden  könnte. 
Niemand  hatte  das  Ereigniss  vorausgesehen;  kein  Befehl  war  vor- 
bereitet, um  der  Unordnung-  zu  steuern.  Auf  der  Höhe  in  einem 
Häuschen  unweit  der  Hütte  unserer  Korporalschaft  hatten  die  Befehls- 
haber des  6.  Bataillons  sich  zu  einem  Frühmahle  vereinigt,  das  mitten 
unter  der  Beschiessung-  eingenommen  werden  sollte.  Eine  Bombe  schlug 
ein,  zerschmettert  dem  einen  den  Schädel,  zerreisst  den  andern  völlig, 
öifnet  dem  dritten  die  Brust  und  den  ITnterleib.  Der  vierte  hat  beide 
Beine  abgerissen,  der  fünfte  ist  mitten  durchgeschlagen;  auch  die  noch 
übrigen  beiden  sind  leblos.  Tnd  auf  den  Opfern  liegen  die  Trümmer 
eines  Teiles  des  Hauses.  Das  Schrecklicliste  war,  die  Reste  der 
Unglücklichen,  von  denen  einige  noch  athmeten,  in  Zelttücher  zu 
sammeln  und  fortzuschaffen.  Der  neue  Befehlshaber  des  Bataillons 
liess  seine  i\lannschaft  sich  sofort  hintei'  dem  früher  erwähnten  Lauf- 
graben sammeln.  Diese  Einzelheiten,  die  dei-  hinzugekommene, 
wachsbleiche  Kompagnie-Koch  berichtet,  tragen  nicht  dazu  bei,  den 
Mut  der  immer  noch  hinter  der  Mauer  geborgenen  Feldwache  zu  er- 
höhen, die  erst  gegen  fünf  Dir  nachmittags  ebenfalls  nach  dem 
genannten  Laufgral)e.n  aufbricht.  Die  Beschiessung  geht  bis  in  die 
folgende  Schnee-  und  Eisnacht  weiter,  deren  Kälte  manches  Hein 
und  manchen  Fuss  zum  Erfrieren  bringt.  Erst  Punkt  8  V\\v  hörte 
das  Feuern  auf,  das  genau  zwölf  Stunden  gedauert  hatte.  „Es  war, 
als  ol>  einem  der  Athem  wiederkehrte.''  Aber  der  Angst  des  'J'ages 
folgten  neue  Aengste.  Es  friert  in  entsetzlicher  Weise:  kein  Feuer 
darf  angemacht  werden,  damit  es  nicht  den  Preussen  zum  Zielpunkte 
diene;  man  muss  die  bitterkalte  Nacht  im  Laufgia))eii  verbringen, 
der  keinen  Schutz  gegen  eine  Beschiessung  gewährt.  \'i>ii  Zeit  zu 
Zeit  sah  man  Theile  der  feindlichen  Hi'>hen  von  dem  elektrischen 
Lichte  der  Forts  beleuchtet;  dies  war  die  einzige  Ablenkung  in  der 
langen  l)angeii  Nacht,  in  der  fortwährend  ein  feindlichei-  Angriff 
erwartet  wurde.  Xav;iret,  der  Ausreisser,  ist  immer  nocli  nicht 
zurückgekehrt;  er  wird  von  seinen  Kameraden  wegen  des  ehrlosen 
Todes,  der  ihn  erwartet,  im  Voraus  bedauert.  Allmählich  dämmert 
der  Tag  (des  28.  Dezember)  heran.  Punkt  8  Uhr  beginnt  die  Be- 
schiessung VOM  Neuem,  aber  an  Stelle  von  drei  bis  vier  Batterien 
sind  es  nun  neun,  die  die  Hochfläche  bestreichen.  „Niemals  ist  ein 
Stnrmhagel  mit  solcher  Wuth  gefallen  wie  dieser  p]isenorkan;  man 
kann  nicht  mehr  wie  am  Tage  vorher  die  Schüsse  zählen,  sie  kommen 
sehen ;  die  Batterien  schiessen  zusammen,  in  vollen  Lagen,  wie  um 
alles  zu  vernichten,  was  noch  auf  der  Avronhöhe  lebte.'-  Der  Tag 
rückt  vor  ohne  andre  l'nterbiechung  als  den  Besuch  des  Stadt- 
kommandanten,   der    einsieht,    dass    die    Stellung    nicht    behauptet 


jyie  französische  NoveUistik  und  RomanlUteratur.    I.         177 

werden  kann.  Entmuthigunio-  gewinnt  Leib  und  Seele.  Viele 
Kameraden  verziehten  auf  jede  Vertlieidigung ;  in  ihre  Decke  gerollt 
suchen  sie  auf  dem  gefrorenen  Boden  zu  schlafen,  während  sie  der 
Schnee  bedeckt  und  für  immer  von  den  Lebenden  trennt.  Eine  neue 
Batterie  der  Preussen  erreicht  aucli  den  bisher  verschonten  Theil  des 
Laufgrabens,  worin  das  Bataillon  unsrer  Mobilen  sich  birgt.  Aber 
man  achtet  nicht  darauf;  die  Entmuthigung  ist  so  stark,  dass  selbst 
der  Tod  wünschenswerth  erscheint.  Kein  Tropfen  Wein  ist  mehr 
in  den  Flaschen;  seit  zwei  Tagen  kommen  keine  Lebensmittel  mehr 
nach;  auch  der  Hunger  nagt  an  den  ^'ertheidig•ern  und  verstärkt 
ihre  Leiden.  Abermals  bricht  die  Nacht  liereiu.  Nach  acht  Uhr,  als 
die  Beschiessung  ziemlich  verstummt  ist,  erhebt  sich  ein  Flüstern; 
endlich  ist  der  Befehl  zum  Abzüge  gegeben.  Mit  der  Hoffnung  auf 
ein  Entweichen  erwacht  auch  der  Lebensmuth  wieder.  Man  stolpert 
und  gleitet  aus,  man  hilft  den  Gestürzten,  deren  Beine  zerschlagen 
sind ,  deren  Füsse  bluten ,  man  kommt  endlich  in  eine  Schlucht, 
in  eine  Art  grosser  vor  dem  Feinde  geschützter  Höhlen.  Ein  neues 
Leben  beginnt.  Das  Malerische  des  Anblickes  lässt  selbst  Hunger 
und  Durst  vergessen,  die  so  gut  wie  möglich  am  Lagerfeuer  gestillt 
werden.  Um  drei  Uhr  Morgens  wird  wieder  aufgebrochen.  Rosny 
muss  noch  vor  Tagesanbruch  erreicht  werden,  um  den  Preussen  den 
Abzug  zu  verheimlichen.  Man  hört  das  Getrappel  der  12000  Mann, 
die  die  Höhe  von  Avron  endgiltig  und  vollständig  verlassen.  Zuweilen 
geht  der  Weg  an  einer  unförmlichen  Masse  vorbei;  es  ist  irgend 
ein  armer  Teufel,  unfähig  weiter  zu  gehen,  vielleicht  tot.  Gleich- 
giltig  geht  alles  an  ilmi  vorül)er.  Im  Augenblick,  wo  dei-  Tag 
beginnt,  ist  alles  bei  Rosny,  alier  in  grösster  laiordnung.  Im  Lauf- 
schritt geht  die  Flucht  weiter;  denn  auch  hier  ist  noch  keine 
Sicherheit.  Unterwegs,  unter  den  Mauern  des  Forts,  findet  man 
endlich  Navaret,  den  Vermissten.  Während  er  zur  Truppe  zurück- 
eilte, hat  ihm  eine  Haubitze  die  Beine  vom  Rumi)fe  getrennt;  er 
wird  eben  von  dei-  Besatzung  des  Forts  in  die  Erde  gebracht. 

Die  folgende  Skizze:  le  Fompon^)  schildert  die  Aufregung,  die 
jedesmal  das  Erscheinen  der  grünen  Quaste  machte,  wenn  sie  auf 
dem  Haupte  eines  Mobilgardisten  im  6.  Arrondissement  von  Paris 
zum  Vorschein  kam,  aus  dessen  Bewohnern  sich  das  6.  Bataillon  der 
Mobilen  zusammensetzte.  Alle  Mütter  und  Frauen  wussten  stets  w^ie 
durch  ein  Wunder,  dass  ein pow^o>^  vert  sichtbar  geworden ;  alle  stürmten 
dann  auf  den  Mobilen  ein,  um  nach  den  Angehörigen  zu  fragen. 
Allen  zuvor  that  es  aber  die  arme  Frau  Tournevire,  die  in  der  ersten 
Skizze  unseres  Verfassers  geschildert  worden  war.  Das  Bombardement 
von  Avron  hat  stattgefunden:  die  Zeitungen  brachten  die  Nachricht. 


')  S.  Hiatt. 

Ztschr.  f.  frz.  8pr.  u.  Litt.    XV.  l2J 


178  E.  Koschwitz, 

Es  heisst.  niemand  von  der  Besatzung  sei  lebend  davongekommen. 
Die  arme  Frau  hört  dies  und  stüi'zt  ohnmächtig  auf  den  Schnee  der 
Strasse.  Mitleidige  bringen  sie  nach  Hause  und  pflegen  sie;  aber 
schon  am  nächsten  Tage  will  sie  davon,  um  selbst  zu  sehen,  was 
geschehen.  Sie  erblickt  auf  der  Strasse  eine  grüne  Quaste;  es  sind 
also  nicht  alle  Mobilen  tot.  Sie  erkennt  den  Korporal  ihres  Sohnes, 
erfährt  von  ihm,  dass  dieser  munter  und  gesund,  v^'irft  sich  ihm  an 
den  Hals  und  vergeht  fast  vor  freudigem  Entzücken. 

Die  letzte  Skizze  Toudouze's  erzählt  von  einem  sonderbaren 
Mobilen,  der  verspätet,  am  Totenfeste,  der  geschilderten  Korporalschaft 
zugeführt  wurde  und  dort  den  Beinamen  Wolfskopf^)  erhielt.  Er 
hatte  die  Haare  borstenartig  emporgesträubt,  die  Ohren  weit  ab- 
stehend, die  Nase  hoch  aufgeschwänzt  mit  zu  grossen  Nasenlöchern, 
etwas  hervorstehende  Augen,  dicke  Heischige  Lippen,  darüber  die 
Ahnung  eines  Schnurrbartes  von  blondbrauner  Färbung,  den  Kopf 
auf  einem  langen  Halse  und  einem  langen  hageren  Körper,  wie  ein 
Stubenbesen  auf  dem  Stile.  Dabei  ist  er  ein  unermüdlicher  Schwätzer; 
leichtgläubig  erzählt  er  den  grössten  Unsinn  geheimnissvoll  und  mit 
feierlichem  Ernste  nach.  Er  glaubte  an  die  Vernichtung  der 
preussischen  Flotte  durch  die  französische:  an  die  Verbindung  mit 
der  Loirearmee:  an  die  inneren  Zwistigkeiten  zwischen  Baiern  und 
Pommern,  Sachsen  und  Badensern  u.  s.  f.  Endlich  ist  er  aucli  nocli 
ein  Feigling,  fortwährend  ängstlich  auf  die  Erhaltung  seiner  Haut 
bedacht.  Diese  Angst  hat  ihn  auch  dazu  gebracht,  sich  einen  der 
Panzer,  die  Pariser  Kaufleute  zahh-eicli  anboten,  zu  kaufen  und 
unter  seinem  Anzug  zu  tragen  zum  Gelächter  und  (respött  aller 
Kameraden.  Als  sein  Bataillon,  vom  Mont  Avron  zurückgezogen, 
nunmehr  bei  Charenton  lag,  gewinnt  er  mehr  Zuversicht.  Er  glaubt 
dem  Gerede,  das  Bataillon  werde  nicht  mehr  im  Gefechte  verwendet 
we/rden,  und  legt  den  Panzer  ab.  auch  am  Tage,  wo  der  grosse 
Dui'chbruch  (19.  Januar)  erfolgen  sollte.  Der  Ausfall  meldete  sich 
für  die  Mobilen  wenig  ermutliigend  an:  alle  fünf  Minuten  hiess 
es  „halt",  und  dann  wieder  , vorwärts  Marsch!"  Dies  dauerte  sechs 
Stunden  hinter  einander,  die  man  brauchte,  um  den  Weg  von  einer 
halben  Stunde  von  Neuilly  bis  zum  Mont  Valerien  zurückzulegen. 
Nationalgaiden  in  blauen,  schwarzen,  kastanienbraunen  und  billard- 
grüncn  Mänteln.  Trupjien  all(M-  Gattungen  zogen  ai\  ihnen  vorüber. 
Endlich  kommen  aucli  die  Mobilen  daran.  Verwundete  begegnen  ihnen: 
alle  rufen  „Sieg" ;  die  Preussen  weichen  auf  der  ganzen  Linie;  die  ei'ste 
Mauer  von  Buzenval  sei  gleich  am  frühen  Morgen  genommen  worden; 
nur  eine  verdanmite,  stark  befestigte  Mauer  im  Walde  stelle  nocli  im 
Wege.     Zuletzt  geht  es  im  Laufschritt  vorwärts:    man  nähert   sich 


')  Tete-de-Loup,  S.  3.S5  ff. 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteratur.    I.         179 

der  Schlacht,  immer  noch  ist  aber  die  Mauer  im  Wege,  gegen  die 
bereits  fünfzehn  Bataillone  vergebens  gestüi-mt  haben.  Die  herein- 
brechende Nacht  verhindert,  die  Mobilen  ebenfalls  gegen  sie  vor- 
zuschicken. Sie  müssen  einen  Laufgraben  bei  der  Fouilleuse  besetzt 
halten ;  einzelne  Posten  werden  weiter  gegen  den  Feind  vorgeschoben. 
Dabei  wird  der  arme  „Wolfskopf"  von  einem  andern  französischen 
Posten  erschossen,  der  noch  ängstlicher  als  er  in  näclitlichem  Grauen 
zwei  Schüsse  abgefeuert  hatte.  —  Die  Schlacht  war  verloren. 

Eine  drastische  Schilderung  der  misslichen  Verhältnisse  der 
französischen  Ersatzheere  erhält  man  in  J.  K.  Huj'^smans:  Tornister 
auf  dem  Rücken})  (in  scherzendem  Kasernendeutsch:  Äffe  auf  ^m  Buckel). 
Ein  angehender  pariser  Jurist  ist  zu  Beginn  des  Krieges  zu  den 
Mobilen  der  Seine  eingezogen  worden.  Von  den  Kriegsgründen  hat 
er  nichts  begriffen ;  er  empfand  weder  das  Bedürfniss  zu  töten, 
noch  sich  töten  zu  lassen.  An  der  Kaserne,  an  der  er  sich  einzu- 
stellen hatte,  befinden  sich  eine  Menge  Arbeiter,  Arbeiterinnen,  un- 
bewaffnete Mobilen,  die  unter  unglaublichem  Lärm  zechen  und  die 
Marseillaise  singen.  Je  mehr  Mobilen  hinzukamen,  um  so  toller  wurde 
das  Treiben,  in  dem  weineiide  Mütter,  nacli  Spirituosen  riechende 
Väter,  vor  Freude  hüpfende  Kinder  und  johlende  Mobilen  bunt 
durcheinander  gemischt  sind.  Die  ganze  Cresellschaft  durchwandert 
Paris  in  brennender  Hitze.  Als  man  am  Bahnhof  angekommen, 
herrscht  einen  Augenblick  von  Schluchzen  unterbrochenes  Schweigen ; 
dann  aber  gewinnt  das  Geheul  der  Marseillaise  die  Oberhand.  Die 
Mobilen  werden  wie  Viehzeug  in  die  Wagen  gepackt ,  der  Zug 
pfeift  und  fährt  ab.  In  dem  Abtheil,  worin  der  Erzähler  Platz 
nimmt,  befanden  sich  etwa  fünfzig  Mann ;  einige  weinten  und  werden 
dafür  von  den  andern  verhöhnt,  die  Lichter  in  ihr  Kommissbrot  stecken 
und  plärren:  Nieder  mit  Badinguet  (^Spottname  für  Napoleon);  es 
lebe  Rochefort!  Andre  betracliten  still  und  trübselig  den  staubigen 
Fussboden.  Plötzlich  macht  der  Zug  Halt.  Zwei  Stunden  laug  wird 
gewartet,  bis  ein  endloser  Artilleriezug  vorüber  ist.  Dann  geht  es 
weiter.  Der  Tag  bricht  an,  man  sieht  ein  flaches  trauriges  Land, 
die  „Lause-Champagne"  (unfruchtbarer  Theil  der  Champagne  zwischen 
Vitry  und  Sezanne).  Der  um  acht  Uhr  Abends  von  Paris  abgefahrene 
Zug  kommt  des  andern  Tags  um  drei  Uhr  Nachmittags  in  Chälons 
an.  Unterwegs  ist  ein  Mobilgardist  vom  Wagen  in  einen  Fluss  ge- 
stürzt, ein  andier  hat  sich  an  einem  Brückenzaun  den  Kopf  zer- 
schmettert. Die  übrigen  haben  während  der  Fahrt  Hütten  und 
Gärten  geplündert,  und  gälnieii  nun  mit  weit  aufgerissenen  Augen 
und  treiben  Narrenspossen.  Die  Ausfahrt  gelit  mit  derselben  Un- 
ordnung vor  sich,  wie  die  Abfahrt.    Im  Lager  von  Chälons  ist  nichts 


M  Sac  au  dos  in  Soirees  de  Medan,  S.  109  ff. 

12=* 


180  E.  Koschivitz, 

bereit.  Es  gibt  dort  weder  Speisewirtlischafteii,  noch  Stroli,  noch  Mäntel, 
nocii  Waffen;  nur  Zelte  voll  Bnn^  und  Läusen.  Drei  Tage  lang  leben 
die  Mobilen,  wie  es  gerade  geht,  den  einen  Tag  von  einei'  Wurst, 
den  andern  von  einer  Tasse  Milchkaftee;  sie  schlafen  ohne  Decken 
und  i)hne  Stroh.  Nach  der  ersten  Unterbringung  sondern  sich  die 
Mannschaften:  Arbeiter  und  Bürger  suchen  die  von  ihresgleichen 
bewohnten  Zelte  auf.  Ein  paar  weitere  Tage  vergehen.  Die 
Mobilen  ziehen  mit  Zeltstangen  auf  die  Wache  und  beschäftigen 
sich  sonst  mit  Branntweintrinken.  Der  Marscliall  Canrobert  lässt 
sich  die  Truppen  vorstellen ;  er  sitzt  auf  einem  grossen  Pferde 
auf  den  Sattel  gebeugt,  die  Haaie  dem  Winde  preisgegeben,  einen 
gewichsten  Schnurrbart  im  blassen  Gesichte.  Als  er  droht,  die 
Klagen  der  Mobilen  mit  Gewalt  zu  unterdrücken,  bricht  ein  Auf- 
ruhr unter  ihnen  aus.  vSie  schreien  im  Chor:  Nach  Paris,  nach 
Paris!  Wachsbleich  reitet  Canrobert  an  sie  heran  und  ruft:  Hut 
ab  vor  einem  Marschall  von  Frankreich!  Neues  Hohngeschrei  aus 
ihren  Reihen.  Er  macht  Kehrt,  droht  mit  dem  Finger  und  murmelt 
zwischen  den  Zähnen:  Ihr  sollt  mir  das  theuer  bezahlen,  ihr  Herren 
Pariser.  Das  eisige  Wasser  des  Lagers  macht  den  Erzähler  der- 
massen  krank,  dass  er  in  einem  Lazaretli  Unterkunft  suchen  nuiss. 
Er  wird  dort  in  den  vorschriftsmässigen  Anzug:  einen  niäusegrauen 
langen  Rock,  schäbigrothe  Hosen  und  ein  paar  unendlich  grosse  ab- 
getretene Pantoffeln  gesteckt.  Er  sieht  darin  so  ergötzlich  hässlich 
aus,  dass  sein  Bettnachbar  Emonot,  ein  jüdisch  aussehender  Jüng- 
ling ,  nicht  umhin  kann ,  sein  Konterfei  seinem  Skizzenbuche  anzu- 
vertrauen. Die  Beiden  befreunden  sich.  Des  andern  Tags  ersclieint 
der  Bataillonsarzt.  Er  schreit  die  Kranken  an  und  verschreibt  ihnen 
allen  Süssholzthee,  den  Verwundeten  wie  den  Fiebeinden  und  Ruhr- 
kranken. Die  beiden  neuen  Freunde  sind  unter  den  übrigen  Kranken, 
ihnen  feindlich  gesinnten  Arbeitern,  ziemlich  verlassen:  sie  finden 
aber  einen  Beschützer  an  einem  ihrer  Gefährten,  der  in  seinem 
Civilverhältniss  das  Gewerbe  eines  SchuhHickers  mit  dem  eines  Zu- 
hälters verbindet,  und  dessen  Gunst  sie  durch  einige  Spendungen  er- 
worben haben.  In  noch  besseres  Verhältniss  kommen  sie,  als  sie  Geld 
herausgeben,  um  Essen  und  Trinken  hereinzuschmuggeln,  an  dem  die 
ganze  Gesellschaft  Theil  hat,  und  das  unter  allerlei  Kapri(den  verzehrt 
wird.  Nach  einigen  Tagen  werden  die  wenigei-  Kranken  zu  ihren 
Regimentern  geschickt,  die  andern  in  KrankeMköil)en  auf  Mauleseln 
fortgebracht.  Die  Preussen  rückten  bereits  gegen  das  Lager  von 
Chälons  vor.  Mehr  tot  als  lebendig  kommen  die  beiden  Freunde  in  der 
Stadt  (yhälons  au,  wo  man  sie  in  Eisenbahnwagen  steckt,  ohne  ihnen 
einen  Bestimmungsort  anzugeben.  Die  Intendantur  hat  vergessen, 
dem  Krankenzuge  Nahrungsmittel  mitzugeben.  Dies  hatte  wieder 
zur  K(dge,    dass   in    einem   Hahnhofe,    wahi-scheinlich   in  Reims,    das 


Die  französische  NoiwUistik  und  Romanlitteratur.    I.         181 

Büffet  vollständig  von  den  Kranken  geplündert  wird.     Während  der 
Plünderung  fährt  der  Zug  ab;  er  kehrt  aber  wieder  zurück,  um  die 
Zurückgebliebenen    nachzuholen.      Unterwegs    wird    dann    gegessen, 
getrunken  und  gejohlt:  „die  Gelähmten  sprangen  mit  beiden  Füssen, 
die  Magenleidenden  gössen  Cognac  hinuntei',  die  Fiebernden  hüpften 
umher,    die  Brustkranken   heulten   und   zechten".     Allmählich    tritt 
Ruhe  ein,  und  jeder  sucht  zu  schlafen.     Man  kommt  in  Saint  Denis 
an.     Einigen  gelingt  es,  vom   dortigen  Bahnhof  zu   entwisclien,   die 
übrigen   müssen    wieder   in   den  Zug    und    fahren    den    ganzen  Tag 
weiter.     Endlich  um  vier  Uhr  kommt  man  in  einer  Stadt   an.     Ein 
alter  General  empfängt  die  Kranken,  theilt  sie  in  zwei  Abtheilungen 
und  schickt  die  einen  in   das   bischöfliche  Seminar,    die    andern    ins 
Hospital.    Die  beiden  Freunde  sind  mit  nach  dem  Seminar  geschickt 
worden;  sie  werden  aber  von  da  wieder  fortgewiesen;    der  Bischof 
räumt    die  Betten    seiner   Seminaristen    nur  Verwundeten    ein.     Sie 
gehen  in  das  Hospital;  dort  ist  kein  Platz  mekr;  schliesslich  schleppen 
sie  jeder   eine  Matratze   in   den  Garten    auf   einen  Rasenplatz    und 
übernachten  unter  freiem  Himmel.     Am  andern  Tag  erhalten  sie  die 
Erlaubnis»  auszugehen,  die  sie  benutzen,  um  sich    in   einem  Gasthof 
voll  zu  essen  und  zu  trinken.     Stark  augeheitert  und  wacklig  durch- 
wandern sie   darauf  die  ganze  Stadt.     Ins  Hospital    zurückgekehrt, 
erhalten  sie  diesmal  ein  Bett,  aber  im  Irrensaal,  und  es  kommt  dort 
zwischen    dem  Erzähler   und    einem    wahnsinnigen  Greise    zu    einer 
lächerlichen  Scene,  die  alle  Geisteskranken  in  Schrecken  setzt.     Am 
folgenden  Tage  werden  die  kranken  Soldaten  wieder  versammelt  und 
nach  Reuen  weiter  gefahren.     Dort  angekommen  erfahren   sie,  dass 
die  Hospitäler  bereits  gefüllt  sind;    in  einer  Stunde  sollen  sie  noch 
weiter   geschafft  werden.     Die  beiden  Freunde    verpassen  den  Zug, 
fahren  dann  nacli  und  kommen  spät  am  Abend  in  Evreux  an.    Dort 
übernachten   sie   auf  einem  Heuhaufen.     Tags    darauf  wird  Emonot 
im  Hospitale   dieser  Stadt   aufgenommen,   der  Erzähler   im   Lyceum 
untergebracht.     Glücklicherweise    hat    der    im  Lyceum    amtierende 
Arzt  die  Sucht,  unter  allen  Umständen  seine  Kranken   bald  wieder 
los  zu  werden;  dadurch  gelingt  es  unserem  Helden,  zu  seinem  Freunde 
nach    dem  Hospital    zu    gelangen    und    sogar    sein   Bettnachbar   zu 
werden.     Eine  junge,   sehr  hübsche  Schwester   nimmt  sich  des  Er- 
zählers ganz  besonders  au.    Trotzdem  wird  ihm  und  seinem  Gefährten 
die  Zeit  im  Hospitale  lang;  die  oft  erzählte  Geschichte  eines  Linien- 
soldaten in  ihrer  Stube,  wie  er  bei  Frosch weiler ,  ohne  einen  Feind 
zu  sehen,  seine  Nachbarn  stürzen  sah,  wie  er  mit  ilmen  durch  Zurück- 
weichende in  die  Flucht  getrieben  wurde,  und  wie  er  bis  zu  vollster  Er- 
schöpfung weiter  gelaufen  war,  kann  sie  auf  die  Dauer  nicht  genügend 
zerstreuen,     Sie  entweichen  eines  Tages,  speisen  und  trinken  in  der 
Wohnung  zweier  auf  der  Strasse  aufgelesener  Dirnen  und  gelangen 


182  E.  Koschwitz, 

unbehindert  in  das  Hospital  zurück.  Aber  ein  zweites  Mal  gelingt 
der  Ausflug-  nicht  mehr.  Glücklicherweise  findet  der  Erzähler  einen 
Bekannten  in  Evreux.  der  ihm  einen  zweimonatlichen  Urlaub  nach 
Paris  verschafft.  Wälu'end  sein  Gef  ährte  als  gebesseit  seiner  Truppe 
zugeschickt  wird,  gelangt  unser  Mobilgardist  nach  einem  galanten 
Abenteuer  in  die  elterliche  Wohnung  zu  Paris,  wo  er  die  lang  ent- 
behrte Reinlichkeit  und  Pflege  wieder  findet  und  die  eintretende  Krise 
seiner  Krankheit  glücklich  besteht. 

In  Siebecker"s    Der  Ueherlehende^)   nehmen   Zwillingsbrüder 
an   der  Schlacht   bei  Wörth  Theil.     Im  ^'erlaufe  des  Sclilachttages 
sind   die   beiden   Brüder  einander   mehrfach   begegnet.     Eben   muss 
Elsasshausen  aufgegeben  werden.    Die  Abtheilungen  vermischen  sich 
beim  Weichen,  und  der  eine  Zwilling,  Moritz,  stösst  zu  einer  kleinen, 
von   seinem  Bruder  Philipp,    einem  Offizier,    geführten   Schar.     Sie 
besetzen  ein  Haus;  die  beiden  Brüder  sind  mit  zwei  andern  in  einem 
Zimmer.    Nach  fünf  Minuten  hat  einer  der  vier  den  Kopf  zerschmettert, 
ein  andrer  die  Brust  geöffnet;  auch  Philipp  sinkt  zu  Boden,  von  einer 
Kugel  in  die  Brust  getroffen.     Er  sagt  seinem  Bruder,  der  als  ein- 
facher  Soldat   dient,    dass  er   in  seiner  Brusttasclie  die  Hälfte  der 
Regimentskasse  hat.     Moritz  solle  seine  Uniform  anziehen;  wenn  ei' 
davon  komme,   das  Geld  dem   Regimentskommandeur   abliefern;   im 
Fall  der  Gefangennahme  es  bis  nach  dem  Kriege  aufbewahren.    Ein 
gefangener  Offizier   werde    nicht    wie    ein    einfacher   Soldat   durch- 
sucht;   deshalb   die   Nothwendigkeit    des    Uniformwechsels.      Moritz 
legt  seinen   Bruder  in   ein   im  Zimmer  berindliches   Bett   und  seine 
eigenen  Sachen  zu  ihm.     Gleich  darauf  wird  er  gefangen  genommen. 
Er  wird  nach  Köln  gebracht  und  lässt  es  zu,   dass  er  unter  dem 
Namen  seines  Bruders,  dem  er  täuschend  ähnlich  sieht,   als  Offizier 
behandelt,    er   selbst    als    Toter    eingetragen    wird:    eine    doppelte 
Fälschung.     Er  empfängt  von  der  Mutter  einen  Brief,  die  ihn  nach 
seinem   eigenen  Tode  befragt   und   erfährt   dal)ei,    dass   sein   Bruder 
in  Elsasshausen  bestattet   ist.     Da   die   nach  Frankreich  gesandten 
Briefe  durchgesehen  werden,   muss  er  die  Mutter  in  der  Täuschung 
belassen.     Die  mit  ihm  gefangenen  Kameraden  seines  Brudei-s  legen 
ihm   die  Unkenntniss  mancher  Einzelheiten  als  durch    seine   Trauer 
veranlasst  aus.    Im  April  1871  kelirt  er  zu  der  in  Lisienx  befindlichen 
Mutter  zurück,  die  dort  bei  einem  hübschen  Büschen  wohnt,  der  Braut 
seines  Bruders.    Mutter  und  Braut,  ihn  für  den  Verstorbeneu  haltend, 
fallen  ihm  um  den  Hals.     Er  hat  nicht  gleich  den  Muth,   der  Base 
zu   gestehen,   dass   sie  ihren  Bräutigam    verloren  hat;   sie  gewahrt 
indessen  bald  die  Täuschung  und   sinkt  bei  dieser  Entdeckung  ohn- 
mächtig  zu  Boden.     Alles  eilt   herbei:    Moritz    erzählt    Mutter   wie 


')  Le  Sttnnvant  in  Redts  hermques,  S.  167  ff. 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteratur.    I.         183 

Verwandten,  was  geschehen:  für  sie  liegt  nur  eine  Aenderung  des 
Schmerzes  vor.  Er  übergibt  sodann  dem  Obersten  den  ihm  anver- 
trauten Theil  der  Regimentskasse  und  wird  dafür  mit  einer  Kriegs- 
denkmünze belohnt.  Die  Braut  erholt  sich  wieder;  Plülipp,  ihr 
Bräutigam,  ist  ihr  im  Schlafe  erschienen  und  hat  ihr  befohlen,  den 
Zwillingsbruder  zu  lieben.  Sie  wird  die  Gattin  des  Ueberlebenden: 
indem  sie  ihn  liebt,  liebt  sie  zugleich  den  Vei^storbenen.  Ein  kleiner 
Philipp,  dei'  dieser  Ehe  entspringt,  ist  das  lebendige  Ebenbild  des 
Gefallenen  und  auch  des  lebenden  Vaters. 

In  die  Normandie  führt  uns  auch  die  niedliche  Erzählung 
H.  Malot's:  Ein  Handel'^).  Sie  bezweckt  die  „preussische  Habgier  im 
Kampfe  mit  der  normannischen  Verschmitztheit''  zu  zeigen.  Der  Er- 
zähler ist  auf  einer  Eeise  durch  die  genannte  Provinz  begriffen.  Er  steigt 
in  einer  Dorfschenke  ab,  wo  ei-  füi-  schweres  Geld  ein  Stück  Brot  und 
etwas  Käse  auftreibt.  Die  Deutschen  haben  alles  aufgezelu't.  Noch 
am  Tage  vorher  hatte  der  Schulze  von  dem  Gastwirth,  der  zugleich 
einen  Kramladen  besass,  zwanzig  Dutzend  Lichter  für  eine  preussische 
Abtheilung  verlangt,  die,  wenn  man  nicht  für  Beleuchtung  sorgte, 
die  ganze  Gegend  abzubrennen  drohte.  Der  Krämer  hatte  nun  zwar 
keine  Lichter,  aber  Talg  und  Dochte  und  machte  sich  daran,  den  Talg 
zu  schmelzen  und  Lichter  zu  sieden.  Indess  hatten  die  preussischen 
Soldaten  den  Talg  gerochen,  die  Thüre  eingesclüagen  und  sich  mit 
dem  vorgefundenen  Talgvorrath  die  Stiefel  eingeschmiert.  Während 
der  Gast  noch  über  dies^  ihm  von  der  Wirthin  vorgetragene 
Geschichte  lacht,  führen  preussische  Dragoner  einen  anscheinend 
wohlhabenden  normannischen  Bauern  gebunden  in  das  Gastzimmer. 
Man  lässt  dort  den  Gefangenen  frei;  ein  Offizier  setzt  sich  zu  Tisch, 
bestellt  eine  Flasciie  Wein,  die  auch  sofort  vorhanden  ist,  und  fragt 
einen  anwesenden  Unteroftizier  nacli  dem  Geschehenen.  Dieser  theilt 
ihm  mit,  dass  man  im  Kamin  des  Bauern  zwei  Gewehre  verborgen 
gefunden  habe.  Darauf  beginnt  eine  Verhandlung  mit  dem  An- 
geklagten. Er  räumt  ein,  dass  man  die  beiden  Flinten  bei  ihm  ge- 
funden hat,  aber  sie  seien  wahrscheinlich  von  Mobilgardisten  vergessen 
worden.  Damit  findet  er  jedoch  keinen  Glauben,  und  der  Offizier 
will  ihn  zur  Verurtheilung  nach  Rouen  abführen  lassen,  als  er  vom 
Unteroffizier  erfährt,  dass  der  preussische  Oberbefehlshaber  den  Bauern 
auf  3000  Franken  abgeschätzt  habe.  Würden  sie  bezahlt,  so  solle 
der  Gefangene  mit  dem  Leben  davonkommen.  Die  wohlhabenden 
Bauern  der  Ortschaft  haben  die  Zahlung  der  verlangten  Geldsuumie 
verweigert.  Der  Bauer  behauptet  arm  zu  sein,  wird  aber  sofort  von 
dem  Unteroffizier  dahin  berichtigt,  dass  er  sechs  Pferde,  sieben  Kühe, 
drei  Wagen,  fünfzehn  Schweine,  viel  Hafer,  schöne  Möbeln  und  eine 


•)   ün  marche  in  Qtii  vive?  —  France!    S.  277 


184  E.  Koschwüz, 

Pendeluhr  besitze.  Der  Bauer  muss  dies  zugeben;  nur  seien  die 
Möbeln  nicht  schön  und  die  Uhr  crinfre  schon  seit  vierzehn  Jahren  nicht 
mehr.  Die  3000  Franken  könne  er  nicht  zahlen.  Inzwischen  er- 
scheint der  zweite  Schulze  des  Dorfes,  dfr  sich  durch  seine  drei- 
farbige Schärpe  in  seiner  Amtswürde  zu  erkennen  gibt  und  für  den 
Bauern  unterhandeln  will.  Die  Gremeinde  habe  trotz  ihi-er  Armuth 
zu  seiner  Loslösnng  die  einhundert  Franken  zusammengebracht,  die 
er  in  einer  grossen  Rolle  von  Fünffrankenstücken  auf  den  Tisch 
legt.  Das  scheint  dem  Offizier  ein  schlechter  Witz.  Der  Schulze 
legt  infolge  dessen  fünfzig  Franken  zu,  die  er  persönlich  aus  Freund- 
schaft für  den  Vermtheilten  opfere.  Damit  kommt  er  aber  auch 
nicht  weiter,  und  es  entspinnt  sich  ein  langer  Handel,  wie  um  ein 
Pferd.  Der  Schulze  steigert  sich  immer  um  fünfzig  Franken  und 
ist  allm<ählich  auf  Fünfhundert  heraufgekommen.  Da  wird  der  Bauer 
unruhig.  Er  winkt  seinem  Vertreter,  nicht  weiter  zu  gehen,  und, 
als  das  noch  nichts  hilft,  erklärt  er  grade  heraus,  er  wolle  lieber 
sterben,  als  der  Gemeinde  so  viele  Kosten  machen.  Weinend  wirft 
er  sich  dem  Vermittler  in  die  Arme.  Er  weiss,  dass  er  das  Lösegeld 
der  Gemeinde  zurückerstatten  muss,  und  findet,  dass  der  Schulze  zu 
schnell  vorgeht;  die  dreitausend  Franken  kämen  nocli  zurecht,  wenn 
sich  die  Gewehrläufe  bereits  gegen  ihn  senkten.  Dazu  kommt  es 
indess  nicht:  der  Normanne  besiegte  den  Preussen.  Er  fügte,  die 
Zwanzigfrankenstücke  einzeln  aus  der  Tasche  ziehend,  zu  den  bereits 
auf  dem  Tische  liegenden  150  Franken  noch  825  hinzu,  den  Gesammt- 
betrag  der  Örtsarmenkasse,  die  er  bei  sich  trage,  damit  sie  nicht 
verloren  ginge.  Damit  gibt  sich  der  Offizier  zufrieden;  aber  einer 
der  Dragoner  tritt  vor  und  erklärt,  er  habe  sich  die  Stiefeln  ver- 
brannt, als  er  die  Gewehre  aus  dem  Kamin  holte.  Der  Schulze  will 
von  einem  Ersatz  der  Stiefel  nichts  wissen,  und  die  Verliaudlung  be- 
ginnt von  Neuem.  Scliliesslich  macht  der  Dragoner  dem  Schulzen  durch 
Geberden  begreiflicli,  dass  er  ihm  seine  schönen  Stiefel  abtreten  solle. 
Der  Normanne  muss  sich  dahinein  finden.  Zuletzt  fragt  der  Offizier 
den  Unterhändler,  ob  er  katholisch  ist.  Der  Schulze,  fürchtend,  man 
könne  ihm  noch  ein  Lösegeld  wegen  seines  Glaubens  abverlangen,  weiss 
zuerst  nicht,  was  er  antworten  soll,  gesteht  aber  schliesslich  doch, 
dass  er  katholisch  ist.  Darauf  lässt  ihn  der  Offizier  schwören,  dass 
es  keine  Freischärler  und  keine  Gewelire  mehr  in  der  Gemeinde  gibt. 
Erst  als  dies  geschehen,  werden  die  beiden  Normannen  entlassen. 
Der  Dragoner,  der  die  schönen  Stiefel  erhalten  hat,  lässt  sie  aber 
nicht  ziehen,  ohne  vorlier  den  Schulzen  in  seine  Arme  zu  schliessen 
und  zu  küssen ;  und  demselben  Zärtlichkeitsbeweise  muss  er  sich  auch 
von  Seiten  des  Unteroffiziers  und  der  drei  anderen  anwesenden 
Dragoner  unterziehen. 

Ein     Pariser    Stillleben     während     des     Krieges     enthalten 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    I.         185 

P.  Verons  Abenteuer  eines  Flaschenett^).  Agenor  Dubidou,  Haud- 
lungsdieuer  in  einer  Wäschehandlung-,  hat  sich  zu  Beginn  des  Feld- 
zugs, als  alles  in  Paris  mit  patriotischen  Kundgebungen  erfüllt  war, 
insgeheim  ein  Flaschenett  gekauft.  Mühsam  sucht  er  demselben 
einige  Noten  abzuringen;  nach  acht  Tagen  gelingt  es  ihm  beinahe, 
die  Note  d  herauszubekommen.  Er  quält  sich  die  Nächte  hindurch 
weiter;  auch  ein  g  und  endlich  ein  a  kommen  beinahe  zum  Vor- 
schein. Allmählich  erkennt  man,  dass  es  auf  Wiedergabe  der 
Marseillaise  abgesehen  ist.  In  der  dritten  Woche  reicht  es  schon  für 
Le  jour  de  gloire  est.  .  .  . 

Endlich  gelingt  die  ganze  Strophe.  Aber  der  Krieg  ist  in- 
«Avischen  vorübergegangen.  Das  Werk  hat  zwei  Jahre  Arbeit 
gekostet.  Und  als  Agenor  Dubidon  nun  freudetrunken  sein  Instrument 
auf  der  Strasse  zur  Marseillaise  anstimmt,  wird  er  von  einem 
Schutzmann   gepackt  und  wegen  Unfugs  vierzehn  Tage  eingesperrt. 

Ein  traurigeres  Stillleben  ist  Verons  Landhaus  Durantins^). 
Durantin,  ein  Eisenhändler,  kennt  keinen  höheren  Traum,  als  einst- 
mals ein  Landhäuschen  in  der  Umgegend  von  Paris  zu  besitzen, 
um  sich  dahin  zuinickziehen  zu  können.  Einmal  schon  stand  er  am 
Ziele,  als  die  Revolution  von  1848  seine  ersten  dafür  gemachten 
Ersparnisse  verschlang.  Er  beginnt  von  Neuem  an  der  Verwirk- 
lichung seines  Lebenszieles  zu  arbeiten:  um  schneller  vorwärts  zu 
kommen,  verzichtet  er  auf  Familie  und  auf  alle  Vergnügungen.  Endlich, 
am  1.  Juni  1870,  ist  das  Ersehnte  erreicht:  an  diesem  Tage  geht  ein  Land- 
haus zu  Clamart  bei  Paris  in  seinen  Besitz  über.  Er  lebt  nur  noch  in 
dem  Gedanken,  wie  er  dasselbe  verschönern  werde.  Seit  dem  I.Juli 
wird  fleissig  daran  gearbeitet;  am  16.  soll  es  durch  ein  Festmahl 
eingeweiht  werden.  An  diesem  Tage  aber  erscheint  im  Amtsblatt 
die  Kriegserklärung.  Mitte  September  steht  fest,  dass  die  Deutschen 
nach  Paris  kommen  würden.  Durantin  beschliesst  in  seinem  Häus- 
chen zu  bleiben,  und  sollte  er  auch  der  einzige  Bewohner  Clamarts 
sein.  Zwölf  Baiern  werden  bei  ihm  einquartiert.  Am  Ende  der 
ersten  Woche  sind  seine  drei  Fässer  Bordeaux  nur  noch  eine  Er- 
innerung. Dann  wandern  Fussböden,  Verschlage  und  Fensterläden 
ins  Feuer;  am  vierten  Tage  beginnt  der  Auszug  mit  seinen  Pendel- 
uhren. Er  geht  zum  preussischen  General;  dieser  zeiht  ilin  der 
Spionage;  schon  soll  er  erschossen  werden,  als  ein  Anfall  von  Mit- 
leid bei  seinem  Richter  ihm  das  Leben  rettet.  Er  muss  aber  von 
nun  an  im  Keller  seines  Häuschens  eingeschlossen  bleiben ;  verstohlen 
herauskriechend   sucht    er    sicli   seine    Nahrung    zusammen:    einige 


*)  Les   Aventures   d'un  flageolet   in    Coulisses   d'un   grand   drame, 
S.  207  ff. 

^)  La  villa  de  Durantin,  a.  a.  0.  S.  283. 


186  E.  Koschivüs, 

mehr  oder  minder  rohe  Kartoffeln,  etwas  mehr  oder  minder  schwarzes 
Brot.  Der  Krieg  ist  zu  Ende,  die  Deutschen  ziehen  ab.  Durantin 
athmet  auf.  Die  Baiern  hatten  ein  kleines  Stück  seines  Kellers 
nicht  entdeckt,  worin  er  seine  besten  Kostbarkeiten  vemiauert  hatte ; 
er  hat  auch  ein  paar  Möbel  wieder  gefunden,  und  beginnt  nun  mit 
Ausbesserung  seines  Hauses.  Da  bricht  der  Kommuneaufstand  aus. 
Sein  Landhaus  lag  in  der  Mitte  zwischen  dem  Fort  Vanves  und  den 
Versailler  Batterien.  Er  muss  sich  wieder  in  seinen  Keller  flüchten. 
Kommunisten  stöbei*n  ihn  darin  auf  und  wollen  ihn  als  verkleideten 
Gendarmen  zum  Tode  führen.  Glücklicherweise  sinken  einige  seiner 
Schergen  vom  Weine  berauscht  zu  Boden,  während  die  übrigen 
durch  Bombensplitter  in  die  Flucht  getrieben  werden.  Am  zweit- 
nächsten Tage  stören  ihn  Versailler  Soldaten  auf;  er  entflieht 
diesmal;  man  schiesst  nach  ihm,  und  ein  Bein  wird  ihm  zer- 
schmettert. Er  wird  geheilt  und  wieder  in  Freiheit  gesetzt.  Als 
er  aus  dem  Lazareth  nach  seinem  Häuschen  zurückkehrt,  lindet  er 
drei  Unbekannte  darin  beschäftigt;  sie  theilen  ihm  mit,  dass  dasselbe 
eingerissen  werden  muss,  weil  es  im  Militärbereiche  liegt;  der  Staat 
sei  ihm  keinen  Schadenersatz  schuldig.  Schliesslich  endet  Durantin 
im  Irrenhause;  man  sieht  ihn  dort  Sandhaufen  aufraffen  mit  den 
Worten:  Wieder  ein  Stockwerk  zu  meinem  Hause!  Wie  wird  es 
schön  werden! 

Eine  Anzahl  prächtiger  Stimmungsbilder  von  dem  Leben  und 
Treiben  der  Pariser  während  der  Belagerungszeit  enthalten  endlich 
die  Daudet 'sehen  Montagserzählungen.  In  der  Skizze:  Die  Mütter^) 
schildert  er  in  wirksamen  P'arben  ein  Mütterlein,  das  ihren  Alten 
so  lange  bearbeitet  hat,  bis  ei-  nach  vielem  Herumlaufen  und  Warten 
für  sie  beide  die  Erlaubnisse  erwirkt  hat,  iliren  auf  dem  Mont 
Valerien  befindlichen  Sohn  aufzusuchen.  Sie  kommen  mit  Speise- 
vorräthen  ausgerüstet  an  das  Thor  des  Forts  herangekeucht  und 
fragen  den  Posten  nach  dem  Gesuchten.  Dieser  will  ihn  herbei- 
holen, aber  es  geht  damit  nur  langsam;  endlich  zeigt  ein  Zittern 
der  Frau,  dass  sie  den  Sohn  hat  kommen  sehen.  Der  stattliche 
Mobilgardist  verschwindet  in  dem  Umschlagetuche  und  unter  dem 
grossen  Hute  der  Mutter.  Der  Vater  muss  sich  mit  einer  kürzeren 
Umarmung  begnügen.  Und  nun  beginnt  das  Mütterchen  zu  fragen 
und  zu  fragen,  bis  ein  Trompetensignal  die  kurze  Unterhaltung  stört. 
Der  Sohn  muss  fort,  und  das  von  der  Mutter  geplante  gemeinsame 
Frühstück  muss  unterbleiben.  Er  soll  nun  wenigstens  die  mit- 
gebrachte Konservenbüchse  haben;  aber  in  der  Eile  und  Aufregung 
will  die  mit  zitternden  Händen  gesuchte  Büchse  lange  nicht  zum 
Vorschein  kommen.    Endlich  ist  sie  gefunden:  ein  letzter  und  langer 


^)  Les  meres,  a.  a.  0.  t».  38. 


I}ie  französische  NoveUistik  und  Fomanlitteratnr.    I.         187 

Kuss,  und  der  Sohn  enteilt.  Die  Alten  bleiben  eine  Zeit  lang  un- 
beweglich am  selben  Platze,  die  Augen  nach  dem  Thore  geheftet, 
hinter  dem  ihr  Kind  verschwand. 

In  den  Battern  in  Paris^)  wird  kurz  an  einem  Beispiel  das 
Empfinden  der  Bauern  aus  der  Pariser  Umgebung  dargestellt,  die 
mit  Widerstreben  und  erst  im  letzten  Augenblicke  Haus  und  Hof 
verlassen  haben,  um  im  vierten  Stocke  einer  pariser  Miethskaserne 
Obdach  zu  nehmen.  Der  Mann  ist  nicht  allzu  unglücklich:  man  hat 
ihm  Beschäftigung  verschafft ;  später  ist  er  Nationalgardist,  wobei  es 
ihm  nicht  an  Zerstreuung  fehlt.  Anders  die  Frau.  Ihre  älteren 
Töchter  schickt  sie  in  die  Schule ,  wo  diese  in  dem  gartenlosen 
Gebäude  zu  ersticken  fürchten;  das  jüngste  Kind  kommt  ganz 
herab.  Im  Hofe  duldet  der  Hauspförtner  das  Spielen  nicht,  auf  der 
belebten  Strasse  ist  das  Kind  geängstigt,  und  nur  die  Pferde  er- 
wecken dort  etwas  seine  Theilnahme.  Der  Mutter  geht  es  nicht 
besser  als  dem  Kinde:  sie  kann  ebenfalls  nicht  das  frische,  luftige 
Heim  vergessen,  und  leicht  merkt  man  ihr  an,  dass  sie  sicli  in  der 
Verbannung  fühlt. 

Von  den  übrigen  Skizzen  Daudet's  mag  noch  Mein  Kepi^) 
Erwähnung  finden.  Er  hat  es  eines  Morgens  bestaubt  und  angerostet, 
färb-  und  formlos  geworden,  in  einem  Schi-ankwinkel  angetroffen  und 
wird  durch  seinen  Anblick  an  die  Belagerungszeit  von  Paris  zurück- 
erinnert. Er  gedenkt  des  Herbsttages,  wo  er  stolz  auf  seine  neue 
Kopfbedeckung  dem  ungewohnten  Handwerk  eines  Bürgersoldaten 
nachging.  Mit  welchem  Eifer  bemühten  sich  alle,  die  Grossen  und 
die  Kleinen,  die  Starken  und  die  Schwachen,  die  Prahlhänse  und  die 
Naiven,  den  Kriegerberuf  nach  Kräften  zu  erlernen!  Wie  schön  war 
es,  wenn  die  Kompagnie  auf  den  Wall  ausrückte !  Unterwegs  wurde 
vor  der  Julisäule  präsentirt.  An  den  Wällen  trommelte  der  Tambour 
sein  ran,  ran,  und  dann  erblickte  man  die  grünen  Böschungen,  die 
entfalteten  Zelte,  das  Feuer  der  Biwaks  und  die  verkleinerten  Schatten- 
bilder der  auf  der  Höhe  Einherschreitenden.  Was  war  das  für  eine 
scheussliche  Nacht,  als  er  unter  Regenguss  über  dem  Montreuilthor 
selbst  auf  Wache  stand  und  alle  Augenblicke  den  Säbel  eines  Ulanen 
rasseln  zu  hören  glaubte!  Eine  alte  klapperige  Strassenlateme  ver- 
anlasste den  Irrthum.  Gegen  Morgen  hörte  er  Schritte  und  Eisen- 
klirren; mit  schrecklicher  Stimme  bringt  er  ein:  halte-Iä,  qui  vive? 
hervor;  ein  ängstliches  Stimmchen  antwortet  ihm:  „Eine  Kaffee- 
verkäuferin". Man  glaubte  damals  an  den  ei-sten  Einscldiessungs- 
tagen,  dass  die  Preussen  in  einer  schönen  Nacht  unter  dem  Feuer 
der  Forts  vorgehen,    sofort    an    die  Wälle    vorrücken,    dort  Leitern 


')  Les  paysans  a  Paris  pendant  h  siege,  a.  a.  0.  S.  93. 
'-)  Mon  kepi,  a.  a.  0.  S.  160  ff. 


188  E.  Koschioits, 

anlegen  und  mit  Hurrah  heraufklettern  würden.  Bei  diesen  Vor- 
stellungen gah  es  denn  fortwährend  Alarm.  Fast  alle  Nächte  eilte 
alles  zu  den  Waffen,  plötzlicli  aufgeweckt  und  in  der  Verwirrung 
die  Gewehrbündel  umwerfend.  Die  Offiziere  riefen  ihren  Leuten  zu: 
Kalt  Blut,  Kalt  Blut,  um,  wenn  möglich,  sich  selber  welches  zu 
verschaffen.  Am  folgenden  Tage  sah  man  ii-gend  ein  ausgebrochenes 
Pferd,  das  gemüthlich  das  Gras  der  Böschungen  abfrass  und  nicht 
ahnte,  dass  es  eine  ganze  Schwadron  Kürassiere  vorgestellt  und  einer 
ganzen  bewaffneten  Bastion  zur  Zielscheibe  gedient  hatte.  .  . 

Auch  einen  Kampf  hat  das  Kepi  gesehen,  in  einem  Winkel 
an  der  Marne.  Die  preussischen  Batterien  standen  gegenüber,  hinter 
einem  kleinen  Gehölz,  wie  ein  stiller  Weiler,  dessen  Rauch  durch 
das  Laubwerk  emporsteigt.  Auf  dem  Schienenwege ,  wo  man  die 
Vertheidiger  vergessen  liatte,  regneten  die  feindlichen  Bomben  nieder. 
Das  Kepi  war  damals  gar  nicht  stolz,  und  gar  oft  hat  es  einen 
Diener  gemacht,  manchmal  tiefer,  als  es  sich  gehörte.  .  .  Weniger 
erfreulich  ist  das  Andenken  an  die  Wachen  in  den  zu  vermiethenden 
Läden  und  vor  den  Bürgermeistereien,  au  die  nächtlichen  Razzia's, 
in  denen  man  betrunkene  Soldaten,  Dirnen  und  Diebe  auflas,  und  an 
die  bleiernen  Morgen,  wo  man  müde  uud  staubig,  nach  Tabaksqualm 
und  Petroleum  riechend  heimkehrte.  Wie  einfältig  waren  die  langen 
Tage,  an  denen  die  Offizierswahl  unter  endlosen  Erörterungen  vor- 
genommen wurde,  der  Kompagnieklatsch,  die  Abscliiedspunsche,  die 
Verhandlungen  über  Schlachtpläne,  die  mit  Streichhölzern  auf  den 
Tischen  der  Wirthshäuser  erläutert  wurden,  die  Spionenjagden,  das 
abgeschmackte  Misstrauen  und  das  übertriebene  Vertrauen,  der  Massen- 
ausfall, der  Durchbruch,  all  der  Wahnsinn  eines  eingeschlossenen 
Volkes!  .  .  Auch  in  den  Bürgerkrieg  hätte  das  Kepi  bald  geführt, 
und  darum  fort  mit  ihm  in  den  Kehricht! 


II.   Romane. 

Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  neben  der  Kiiegsnovelle  sehr  bald, 
und  zwar  schon  im  Jahre  1871,  auch  der  Kiiegsroman  in  Frankreich 
zur  Ausbildung  gelangte. 

In  manchen  französischen  Romanen  kommen  Ereignisse  des 
Krieges  nur  nebenbei  vor  und  werden  sie  mit  wenigen  Worten 
abgethan,  wenn  nicht  ganz  als  bekannt  vorausgesetzt.  Grade  Romane, 
deren  Titel  eine  Beschreibung  des  Feldzugs  oder  doch  ein  genaueres 
Eingehen  auf  ihn  erwarten  lassen,  gehen  oft  über  ihn  mehr  oder 
minder  rasch  hinweg.  So  .1.  M.  Cournier's  auch  dramatisierter 
Roman:   Eine  Famüie  in  den  Jahren  1870 — 1871.^)     Man  erfährt 


*)  TJne  famiüe  en  1870171.     Paris  1874. 


I 


Die  französische  Novellistik  und  Eomanlitteratur.    II.        189 

darin  nur  im  Vorübergehen  etwas  von  der  Lebensweise  der  während 
der  Belagerung  eingeschlossenen  Pariser,  von  der  Verheerung  der 
um  Paris  liegenden  Landhäuser  und  von  den  Geschäftsspekulationen, 
die  der  Friedensschluss  in  Frankreich  zur  Folge  hatte.  Im  Uebrigen 
ist  der  Stoff  des  Romans  ein  durchaus  unkriegerischer,  oder  richtiger, 
unternimmt  er  die  Darstellung  eines  Familienkrieges.  Ein  reicher, 
aber  schlichter  Kaufmann  hat  das  Unglück,  eine  Frau  zu  besitzen, 
die  durch  Pedanterie  und  übertriebenen  Ordnungssinn  ihn  und  ihre 
gesammte  Umgebung  quält.  Die  Tochter  des  Hauses  wird  von  ihi"em 
Vetter,  einem  jungen  Dichter,  innig  geliebt  und  empfindet  auch 
selbst  Neigung  für  ihn.  Aber  durch  einen  Geschäftsfreund,  der  sich 
später  als  recht  unzuverlässig  erweist,  wird  bei  dem  Kaufmann  ein 
junger  Graf  eingeführt,  dessen  Schulden  durch  eine  reiche  Heirat 
ausgeglichen  werden  sollen.  Die  Hausfrau  ist  von  ihm  entzückt; 
das  Mädchen,  das  glücklicherweise  eine  wirkliche  Liebe  in  dem  neuen 
Bewerber  erweckt,  wii'd,  von  ihrem  talentvollen,  aber  leichtsinnigen 
Bruder  dabei  ermuntert,  ihrer  ersten  Neigung  untreu,  und  die 
Heirat  mit  dem  Grafen  findet  statt.  Der  Dichter  und  seine  edel- 
gesinnte Mutter,  die  Schwester  des  Hausherrn,  ziehen  sich  verletzt 
zurück.  Die  Kaufmannsfrau  glaubt  in  falscher  Eitelkeit  die  Schwer- 
mnth  ihres  Neffen  durch  hoffnungslose  Liebe  zu  ihr  veranlasst  und 
hält  es  für  Christenpflicht,  ihm  ennuthigend  entgegenzukommen;  sie 
bleibt  aber  von  dem  Verkannten  gänzlich  unverstanden.  Sie  quält 
dann,  auf  ihren  Schwiegersohn  eifersüchtig,  diesen  und  ihre  Tochter. 
Es  kommt  dadurch  zum  Bruch,  und  der  Graf  nimmt  eine  Stellung 
als  Gesandtschaftsbeamter  in  Athen  an.  Auch  der  Sohn  zieht  mit 
dem  jungen  Paare  fort.  So  bleiben  die  Eltern  grade  während  der 
Kriegs-  und  Belagerungszeit  allein.  Die  Einsamkeit  bricht  die  Frau 
vollständig  und  lässt  sie  vorzeitig  altern.  Dazu  verliert  der  Kauf- 
mann infolge  der  Einschliessung  von  Paris  sein  Vermögen,  was  seine 
Schwester  und  deren  verschmähten  Sohn  bewegt,  auf  ein  ihnen 
früher  ausgesetztes  Legat  zu  verzichten  und  ihm  so  ein  zu  neuen 
Unternehmungen  genügendes  Vermögen  zu  sichern.  Der  Scliwieger- 
sohn  kehrt  nach  dem  Friedensschlüsse  aus  der  Fremde  zurück.  Er 
zeigt  sich  der  neuen  Lage  gewachsen,  aber  seine  Frau  ist  anfangs 
herzlos  gegen  ihre  Mutter  und  söhnt  sich  erst  allmählich  mit  ihr  aus, 
die  nur  durch  übertriebene  Zärtlichkeit  gefehlt.  Der  Sohn,  der  am 
Feldzuge  theilnahm  und  als  Oftizier  heimkehrt,  will  dem  Krieger- 
stande treu  bleiben;  seinen  alten  Leichtsinn  hat  er  in  dem  Ernst 
der  Zeitverliältnisse  abgelegt. 

Der  Krieg  von  1870/71  spielt  in  dem  eben  geschilderten 
Romane  insofern  eine  wiclitige  Rolle,  als  er  den  Bankrott  des 
Kaufmanns  herbeiführt  und  bei  ihm  und  seiner  Frau  das  Gefühl  des 
Verlassenseins   steigeit,    auch   die   Gesinnungsänderung    des   Sohnes 


190  E.  Koschwüz, 

mit  bestimmt.  Ei-  ist  ein  treibender  Faktor  in  der  Entwicklung 
des  vorgetülu'ten  Familiendramas.  In  derselben  Weise  wirkt  er 
in  dem  preisgekrönten  Romane  Fr.  de  JuUiot's  Terre  de  France.^) 
Die  Heldin  desselben,  Solange,  entstammt  einer  Adelsfamilie,  deren 
Mitglieder  herkömmlich  dem  Kriegei-stande  angehörten.  Etwas 
von  dem  Soldatenblute  ist  auch  in  sie  übergegangen.  Sie  hat 
aber  vier  Jahre  in  Paris  verbracht  und  ist  dort  sehr  verwöhnt 
und  verweichlicht  worden ,  so  dass  sie  schlecht  zu  ihren  alten 
Muhmen  passt,  bei  denen  sie  zu  Anfang  des  Romans  eintrifft, 
und  die  Aveyron  nie  verlassen  haben.  Sie  verschmäht  die  Liebe 
eines  wackeren ,  aber  unschönen  und  formlosen  Landjunkers  aus 
der  Nachbarschaft,  der  eine  tüchtige  geistige  Bildung  und  ein 
vorzügliches  Herz,  aber  trotz  aller  Opfer  seiner  Familie  nicht  die 
genügenden  Mittel  besitzt,  um  die  Reichthum  erheischenden  Luxus- 
bedürfiiisse  Solange'»  befriedigen  zu  können.  Sie  verliert  dagegen 
ihr  Herz  an  einen  jungen  Edelmann  von  pariser  Schliff  und  Er- 
zielmng,  der  sich  mit  seiner  Mutter  in  einem  benachbarten  Schlosse 
niedergelassen  hat,  und  dessen  Reichthum  auch  den  höchst  getriebenen 
Lebensansprüchen  gerecht  zu  werden  vermag.  Der  Vermählungstag 
ist  bereits  angesetzt,  als  die  Kriegserklärung  störend  eingreift.  Der 
Bräutigam  verlässt  Paris,  wo  er  eben  weilte,  unmittelbar  vor  Be- 
ginn der  Belagerung.  Er  hält  seine  Zurückweisung  wegen  Kurz- 
sichtigkeit und  seine  Liebe  zur  Mutter  für  eine  genügende  Ent- 
schuldigung, um  während  des  Feldzuges  thatenlos  zu  Hause  zu 
weilen.  Dagegen  beträgt  sich  der  verschmähte  Landedelmann  wie 
ein  Held.  Unter  Verzicht  auf  eine  Millionenerbschaft  lässt  er  sich 
als  einfacher  Artillerist  einreihen.  Von  einer  ersten  Verwundung 
kaum  gelieilt,  kehrt  er  sofort  zur  Fahne  wieder  zurück.  Nach 
eimgen  muthigen  Kriegsthaten  wird  er  abermals,  und  zwar  diesmal 
schwer  verwundet  und  in  dieser  Lage  heimgebracht.  Solange,  auf  die 
diese  Verschiedenheit  des  Betragens  tiefen  Eindruck  macht,  beginnt 
sich  der  Thatenlosigkeit  ilires  Bräutigams  zu  schämen.  Sie  ver- 
wandelt sicli  unter  Aufgabe  der  gewohnten  und  liebgewordenen 
Bequemlichkeit  in  eine  aufopfernde  Pflegerin  von  Kranken  und  Ver- 
wundeten und  wendet  au<h  dem  ehemals  zurückgewiesenen,  durch 
seine  Wunde  noch  hässlicher  gewordenen  Edelmanne  ihre  thätige 
Theilnahme  zu.  Sie  stellt  darauf  ihrem  Bräutigam  die  Alternative, 
entweder  zu  den  Waffen  zu  greifen  oder  auf  sie  zu  verzicliten: 
er  wählt  das  letztere.  Der  einst  Verschmähte,  der  gesundet,  erwirbt 
nun  ihre  Liebe,  und  am  Schlüsse  der  Erzählung  sehen  beide  glück- 
selig ihrer  baldigen  Vermählung  entgegen. 

Weniger  erfreulich  als  in  diesem,  von  wanner  Vaterlandsliebe 


')  3.  Ausg.     Paris  1887. 


Die  französische  N&vellistik  und  Romanlitteratur.    II.        191 

durchwehten  Romane  ist  der  Grundstoff  in  G.  Duvals  Mai  1871. 
Eine  Jun0'ernsc1iaß^),  der  in  verschlechterter  Form  und  naturalistisch 
das  Thema  der  Kleist'schen  Marquise  von  0.  behandelt.  Der  Krieg 
selbst  spielt  hier  noch  mehr  eine  untergeordnete  Rolle.  Er  führt 
nur  zu  einigen  geschäftlichen  Betrachtungen  zwischen  einem  Tuch- 
händler und  seinem  ersten  Handlungsgehilfen  und  zu  der  Angabe, 
dass  der  eine  der  beiden  als  sesshafter,  der  andere  als  mobiler 
Nati(»nalgardist  in  Paris  dienten.  Dafür  erhält  man  eine  eingehende 
Schilderung  von  Kämpfen  zwischen  den  Versailler  Truppen  und  den 
Pariser  Aufständischen.  Besonders  ausführlich  wird  ein  Barrikaden- 
kampf geschildert.  Nach  demselben  dringt  ein  Major  der  Marine- 
infanterie in  ein  Haus  ein  und  vergewaltigt  im  Finstern  ein  Mädchen, 
dessen  Schreien  er  mit  Küssen  unterdinickt.  Es  war  die  Tochter 
des  Tuchhändlers.  Durch  einen  Zufall  wii'd  der  Major  spätei-  mit  ihrem 
Vatei-  bekannt  und  verliebt  sich  in  die  Entehrte,  die  aucli  ihn  lieb 
gewinnt,  aber  erst  nach  vielem  Di'ängeii  sich  zur  Vermählung  ent- 
schliesst.  In  der  Hochzeitsnacht  wird  Hortense.  die  junge  Frau, 
ohnmächtig;  der  Major  ruft  einen  Arzt  herbei,  und  dieser  stellt 
Schwangerschaft  bei  ihi*  fest.  Der  Offizier  verstösst  sie,  ohne  ihre 
Erklärungen  anzuhören,  und  kehrt  zu  seinem  Regimente  nach  Toulon 
zurück.  Hortense,  deren  Unschuld  ihre  Eltern  erkennen,  wird  von 
ihnen  in  einem  vorstädtischen  Hause  untergebracht.  Sie  entlässt  die 
ihr  beigegebene  Fliegerin ,  kommt  allein  nieder  und  erstickt  in  ihrer 
Verzweiflung  das  schreiende  Kind .  dessen  Leichnam  sie  in  den 
Abort  wirft.  Die  Niederkunft  wird  mit  der  Ausführlichkeit  Zola's 
im  Pothomlle  gescliildert ,  der  hier  wohl  nachgeahmt  ist.  Das  Ver- 
brechen wird  entdeckt;  anstelle  der  Schuldigen  liefert  sich  ihre 
unvermählte  Stiefseliwester  dem  Gericlite  aus.  Sie  wird  im  Ge- 
fängniss  von  St.  Lazare  untergebracht,  was  dem  Verfasser  Gelegen- 
heit zu  einer  ausfühi'lichen  Beschreibung  der  Verhältnisse  dieses 
Gefängnisses  u)id  zu  ausgedehnten  philanthropischen  Betrachtungen 
Veranlassung  giebt.  \'or  der  Gerichtsverhandlung  erfährt  der 
Major,  was  gescliehen.  und  welclie  Schuld  er  auf  sich  geladen .  Er 
tritt  nun  lebhaft  für  seine  verlassene  Frau  ein.  und  sie  wird  frei- 
gesprochen. Er  zieht  sich  dann  mit  Hortense  in  einen  stillen 
Winkel  zurück;  ihre  heldenhafte  Schwester  vermählt  sich  mit  ilii-em 
Bräutigam,  dem  ersten  Gehilfen  ihres  Stiefvaters,  dem  hauptsächlich 
der  günstige  Ausgang  zu  vodanken  ist;  der  alte  Tuchliändler  aber 
kann  die  Familienschande  nicht  überwinden ;  er  stirbt  am  Tage  nach 
der  Hochzeit  seiner  Stieftochter  an  einem  Schlaganfall. 

In     den     drei     bisher     genannten    Romanen     waren    Kriegs- 
schilderungen   mit    dem    übrigen    Inhalte    urganiscli    verknüpft.     In 

')  Mai  1871.     Une   Virginitc.     Paris  1886. 


192  E.  Koschmtz, 

anderen  Fällen  lassen  sich  die  in  Romanen  eingeschobenen,  episodischen 
Kriegsbeschreibungen  ohne  Störung  aus  dem  Zusammenhange  heraus- 
lösen. Nur  im  Prologe  findet  sich  /..  B.  eine  Kiiegsscene  dargestellt 
in  der  litterarischen  Missgeburt  Martial  d'Estoc's:  les  Offs}) 
einem  sogenannten  militärischen  Sittenromane,  worin  der  Verfasser 
mit  gleicher  Wuth,  aber  auch  mit  gleichem  Unverstände  über  Jesuiten 
und  Offiziere  herfällt  und  ihnen  die  grässlichsten  Dinge  nacher- 
zählt, in  der  unverkennbaren  Absicht,  die  Descaves'schen  Saus-offs 
zu  übertrumpfen,  wenn  er  sich  auch  anstellt,  als  sei  sein  Werk  von 
diesem  unbeeinflusst  geblieben.  Das  Eingangs-Kapitel  ist  kenn- 
zeichnend für  den  Ton  des  ganzen  Buches.  Die  Sedanschlacht  war 
eben  geschlagen  worden,  ,,Bazeilles  rauchte  noch.-  An  dei-  belgischen 
(frenze  wurden  die  französischen  Flüchtlinge  entwaftnet  und  zuniichst 
nach  dem  Zweigbahnhofe  von  Castelmont  gebracht,  um  von  da  aus 
im  Lande  vertheilt  zu  werden.  Die  einheimische  Bevölkerung,  „in 
der  das  gallische  Blut  der  Abkömmlinge  der  Häduer  wallte",  war 
massenhaft  nach  diesem  Bahnhofe  geströmt,  und  bei  jedem  ankommenden 
Zuge  wui'den  die  Gefangenen  mit  einem  warmen:  „Es  lebe  Frank- 
reich!" empfangen.  Lazarethwagen  und  barmherzige  Scliwestern 
standen  zur  Aufnahme  der  Verwundeten  bereit,  die  in  grosser  Zahl 
von  in  Krankenpfleger  umgewandelten  Arbeitern  herbeigeführt  wurden. 
„Nur  eine  einzige  misstönende  Saite  Hess  sich  in  dem  allgemeinen 
Aufschwünge  grossmüthiger  Empfindungen  vernehmen:  Das  Kasernen- 
vieh in  Epauletten  fand  in  seiner  sittlichen  Versnnkenheit  die  lumpen- 
hafte Virtuosität  wieder,  mit  der  es  die  belgischen  Soldaten  ver- 
thiert,  um  die  zerrissenen  Waffenröcke  und  Beinkleider  der  Besiegten 
anzubellen.  Offiziere,  deren  rauher  Stimmklang,  deren  gazellen- 
blaue Augen  und  dichten  blonden  Schnurrbarte  tlie  flämischen 
..Ditschen"  verriethen,  heulten  bei  der  geringsten  Bemerkung  der 
französischen  Soldaten  die  Schmerlapen ,  Duiknieten ,  leeliken 
Boeren  ihrer  Söldnersprache. "  Einen  Augenblick  schien  es,  als 
solle  ein  Tumult  entstehen.  Ein  französischer  Husar,  die  Stirn  mit 
l)lutiger  Binde  bedeckt ,  berührte ,  während  er  den  Arm  nach 
dem  ihm  von  einer  hübschen  Castelmonterin  gereichten  Glase  Bier 
ausstreckte,  einen  belgischen  Offizier,  und  dieser  stiess  den  \'er- 
wundeten  mit  solcher  Rohheit  zurück,  dass  er  vor  ihm  zu  Boden 
stürzte.  Infolge  der  Entrüstungsschreie  der  umstehenden  Menge 
wollte  der  Offizier  verschwinden,  als  zwei  Männer  das  Soldaten- 
spalier durchbrachen,  auf  ihn  losstürzten  und  ihn  jeder  an  einer 
Schulter  fassten.  Der  eine  der  beiden  Angreifer,  ein  kräftiger 
Schmied  mit  geröthetem  Gesicht,  schüttelte  ihn  mit  rasender  Wuth 
und  rief  ilmi  zu :    77  )»eritreurc.    vmiriv ,    qui    dji   ti    creve   li  pause 

')  Paris  18iU. 


Die  französische  NoveUisHk  und  Rmnanlitteraiur .    II.        193 

(Du  verdientest,  Taugenichts,  dass  ich  Dir  den  Wanst  zerschlage), 
wird  aber  durch  die  Schutzmanschaft  entfernt.  Der  andere  An- 
greifer, ein  bartloser  Jüngling  von  17  Jahren,  wird  von  einem 
Jesuitenpater,  dessen  Zögling  er  ist,  am  Kragen  fortgefülut  und  zu 
dreissigmaligem  Abschreiben  der  drei  ersten  Bücher  der  Aeneis 
verurtheilt. 

Diesem  ersten  Auftritte  folgt  bald  ein  zweiter.  Die  Zuschauer 
auf  dem  Bahnhofe  werden  plötzlich  zurückgedrängt,  die  Bahn- 
beamten laufen  geschäftig  dem  Scliienenwege  entlang,  die  Kommandos: 
„Achtung,  Gewehr  auf!'-  werden  von  Kompagnie  zu  Kompagnie 
wiederholt,  bald  darnach  läuft  ein  Schnellzug  ein.  „Ein  ehemals 
magisches  Wort,  das  aber  jetzt  nur  noch  eine  lebhafte  Neugier 
erregt,  ging  wie  ein  Lauffeuer  von  Mund  zu  Mund:  Der  Kaiser!  In 
der  That  enthielt  der  Zug  den  kaiserlichen  Gefangenen,  den 
preussische  Bajonette  an  der  Grenze  bei  Herbesthal  erwarteten, 
um  ihn  nach  seinem  vornehmen  Gefängniss,  nach  dem  ehemals  von 
seinem  Oheim,  dem  König  Jeröme,  bewohnten  Schlosse  \\'ilhelmshöhe 
zu  bringen.'"  Trommelwirbel  und  das  Kommando :  Achtung,  präsentiert 
das  Gewehr!  emplingen  den  Zug.  An  dem  Fenstervorhange  eines 
Schlafwagens  konnte  man  Napoleon  IH.  in  der  Ecke  sitzend  er- 
kennen ,  düster  und  müden  Angesichts ,  mit  Ringen  um  die 
träumerischen  Augen,  mit  gelber  Gesichtsfarbe,  in  einen  Mantel 
gehüllt,  von  dem  ein  Ende  auf  die  Schulter  geworfen  war,  eine  ver- 
loschene Cigarrette  in  den  Fingern.  „Eine  an  allen  Nathan  mit 
Borten  versehene,  mit  dem  ganzen  militärischen  Blechzeug  auf- 
geputzte" Persönlichkeit  begleitete  ihn.  Es  war  dies  ein  kleiner 
Abenteurer  neben  dem  grossen,  der  Baron  von  Cliazal,  General- 
lieutenant des  belgischen  Heeres,  ein  in  Belgien  natiu-alisierter 
Franzose,  der  sich  beständig  dui-cii  feindselige  Gesinnung  gegen  sein 
ursprüngliches  Vaterland  hervorgethan  hatte,  „und  den  der  könig- 
liche Spassvogel  in  Brüssel  dem  aus  dem  Leim  gegangenen  Cäsar 
nach  Givet  entgegensandte. "  Aus  einem  Tuchreiseuden  hatte  sich 
dieser  neugemachte  Baron  durch  Intriguen  zum  General  herauf- 
geschwungen ,  ohne  jemals  auch  nur  Trompeter  gewesen  zu  sein, 
eine  Art  General  Boum,  dessen  Anmassung  und  Ansprüche  er  in 
vollem  Masse  besass.  „Die  beiden  militärischen  Hochstapler  hatte 
die  Vorsehung  in  diesem  psychologischen  Augenblicke  zusammen- 
geführt. '~ 

Ein  verstümmelter  Soldat  nähert  sich  dem  kaiserlichen  Wagen, 
und  mit  hervortretenden,  von  Fieber  brennenden  Augen  ruft  er, 
dass  es  widerhallte:  „Es  lebe  die  Republik !^  wobei  er  im  Ausbruch 
seiner  patriotischen  Verzweiflung  dem  Sedaner  Capitularden  seine 
Faust  zeigt.  Bei  diesem  Rufe  wurde  das  Gesicht  eines  verwundeten 
Obersten,  den  man  eben  auf  einer  Tragbahre  mit  gebrochenem  Beine 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    .KV.  13 


194  E.  Koschmtjs, 

und  blutendem  Kopfe  nach  dem  Lazarethe  trug,  weiss  wie  die 
Leinewand,  die  seine  Wunden  deckte.  Den  Rest  seiner  Kräfte 
zusammennehmend,  stützte  er  sich  auf  einen  Arm  und  mit  ver- 
störtem Blicke  antwortete  er  auf  den  Schrei  des  Soldaten  mit  dem 
Rufe:  „Es  lebe  der  Kaiser!"  Darauf  fiel  er  blutspeiend  auf  die 
Trajrbahre  zurück.  Einige  Umstehende  stürzten  herbei,  um  ilim  zu 
zu  helfen:  aber  umsonst,  er  war  tot.  Im  gleichen  Augenblicke  gab 
der  Pfiff  der  Lokomotive  das  Zeichen  zum  Aufbruch,  und  der  kaiser- 
liche Zug  fuhr  nach  Lüttich  ab. 

In  dem  ersten  der  beiden  Auftritte  trifft  man  die  beiden 
Menschengattungen  an.  die  sich  nach  d"Estoc  den  Soldaten  feindlich 
zeigen,  und  deren  Verdammung  sein  Buch  gewidmet  ist:  Offiziere  und 
Jesuiten.  Der  übrige  Inhalt  des  in  kraftvollstem  Demokratenstil  ab- 
gefassten  Werkes  zeigt,  wie  sich  diese  in  ihrem  Grundcliarakter 
eng  verwandten  Typen  vereinen,  um  ein  echtes,  wackeres  Soldaten- 
blut zu  verfolgen,  bis  der  Unglückliche  seinem  gequälten  Dasein 
durch  freiwilligen  Tod  ein  Ende  macht. 

Nur  episodisch  wird  der  Krieg  berührt  auch  in  About's 
Roman  eines  wackeren  Mannes'^).  Dumont,  der  Träger  dieser 
autobiographischen  Prosadichtung,  ein  Mann,  der  es  aus  schlichten 
Anfängen  zum  Millionen  besitzenden  Fabrikbesitzer  gebracht  hat, 
und  der  so  glücklich  ist,  es  fast  durchweg  mit  ebenso  braven 
Menschen,  wie  er  selbst,  zu  thun  zu  haben,  kann,  trotzdem  er  bereits 
44  Jahre  zählt  und  das  Haupt  einer  vielköpfigen  Famlie  ist,  doch 
dem  patriotischen  Drange  nicht  widei'stehen.  persönlich  anderLandes- 
vertheidigung  theilzunehmen.  Anfangs  flösste  ihm  freilich  der  Krieg 
nur  geringe  Theilnahme  ein.  Er  war  wie  alle  Welt  in  Frank- 
reich fest  dav(»n  überzeugt,  dass  das  unüberwindliche  französische 
Heer  die  Preussen  zu  Paaren  treiben  werde,  glaubte  aber  ausserdem, 
dass,  nachdem  der  Friede  zu  Berlin  geschlossen,  die  Franzosen  das 
Vergnügen  haben  würden,  jährlich  eine  Milliarde  mehr  an  Steuern 
aufzubringen.  An  den  Norddeutschen  fand  er  nichts  weiter  auszu- 
setzen als  eine  krankliafte  Treuherzigkeit  uud  eine  übertriebene 
Vertrauensseligkeit  und  Zärtlichkeit.  Mit  mitleidigem  Schrecken 
stellte  er  sich  die  schüchternen  und  erröthenden  deutsclieu  Gretchen 
unter  den  Händen  der  siegreichen  Zuaven  und  Turkos  vor.  Seine 
Anschauungen  änderten  sich  erst,  als  die  Deutschen  in  Frankreich 
eindrangen.  „Es  war  im  (irrunde  genommen  dasselbe,  aber  das  Uegen- 
theil  des  Gedachten.  Was  mir  vorher  bedauerlich  erschien,  war 
mir  nun  unwürdig,  schändlich,  hassensweith,  unerträglich."  Nach 
dem  4.  September  meldete  sich  denn  Dumont  als  Kriegsfreiwilliger 
bei  den  in  Beifort  stehenden  Truppen  und  wurde  dort  in  ein  Bataillon 


I 


')  Le  Roman  d'tm  brate  homme.     46 *■  raille.     Paris  1893. 


Die  französische  Novellistik  und  üamanlitteratur.    II.        195 

des  84.  Linienregiments  eingestellt.  Er  zog  mehrfach  mit  auf  Vor- 
posten, schoss  gelegentlich  nach  einem  deutschen  Parlamentär,  den 
er  glücklicherweise  nicht  traf,  that  seine  Schuldigkeit  als  Mitglied 
einer  neugebildeten  Abtheilung  von  Spähern,  nahm  auch  am  15.  No- 
vember an  dem  Ausfallgefechte  von  Bessoncourt  theil,  das  etwas 
ausfülu'licher  geschildert  wird,  weiss  aber  sonst  von  der  Belagerung 
nur  wenig  Bemerkenswerthes  zu  erzählen,  Ueber  den  Befehlshaber 
der  Belagerungstruppen  wird  von  ihm  folgendes  ironische  Urtheil  ab- 
gegeben, das  auf  französischen  Quellen  zweiter  Hand  beruht:  „Ich 
kann  gegen  den  General  von  Treskow  keinen  Groll  liegen.  Der  edle 
Mann  hatte  den  Auftrag,  die  Stadt  um  jeden  Preis  zu  nehmen;  er  hat 
hinter  einander  und  neben  einander  List  und  Gewalt  angewendet.  Er 
liess  seine  Trompeter  unsere  Eückzugssignale  lernen,  um  unsere  un- 
erfahrenen und  etwas  naiven  Mobilgardisten  in  Verwirrung  zu  bringen. 
Einige  preussische  Soldaten,  die  zweifellos  aus  den  Nachkommen  der 
protestantischen  französischen  Auswanderer  gewählt  waren  (!),  be- 
nutzten die  Nacht,  um  ohne  fremde  Sprachfärbung:  „A  nous  mobiles! 
Vive  la  France!"  zu  rufen,  und  machten  so  Gefangene.  Man  theilte 
uns  alle  acht  Tage  einen  grossen  Sieg  unserer  Heere  mit,  um  unsere 
Hoffnungen  zu  beleben,  und  man  verfehlte  nicht,  uns  vierundzwanzig 
Stunden  später  mit  Beweisen  den  Irrthum  der  ersten  Nachricht  zu 
melden,  um  uns  den  Muth  zu  benehmen.  Sogar  der  Tod  unserer 
Offiziere  und  Soldaten  wurde  von  dem  Feinde  sinm-eich  ausgenutzt, 
und  w'enn  er  uns  einen  Leichnam  auslieferte,  so  geschah  dies  mit 
einer  Inscenierung,  die  uns  schmerzlich  treffen  musste.  So  viel  von 
der  List.  Was  die  Gewalt  betrifft,  so  war  die  Sache  sehr  einfach. 
Der  General  von  Treskow  gebrauchte  sie  im  weitesten  Umfange  und 
fügte  uns  so  viel  Uebel  zu,  als  nur  möglich.  Er  stellte  200  Kanonen 
gegen  Beifort  auf  und  bewarf  uns  täglich  im  Durchschnitt  mit 
5 — 6000  Geschossen.  Welcher  andere  Kriegsmann  hätte  Besseres 
gethan?  Er  tötete  mit  Feuer  und  Eisen  nicht  nur  die  Soldaten, 
die  den  Platz  vertheidigten ,  sondern  auch  die  ihn  bewohnenden 
Bürger,  Greise,  Frauen  und  Kinder;  er  schonte  nicht  einmal  die 
preussischen  Gefangenen,  die  so  sicher  als  möglich  untergebracht 
waren."  Dumont  schildert  auch  die  Empfindungen  der  in  Beifort 
Eingeschlossenen,  als  sie  vom  15. — 18.  Januar  den  Kanonendnimer 
der  französischen  Südarmee  hörten.  „Wie  sehnten  wir  uns  danach, 
mit  dem  Entsatzheere  zusammenzustossen !  Mit  welchei-  Begeisterung 
hätten  wir  den  Feind  übertallen,  der,  wie  es  schien,  einen  Augen- 
blick befürchtete,  zwischen  zwei  Feuer  genommen  zu  werden!  Wenn 
der  Kanonendonner  nahte,  waren  wir  des  Sieges  gewiss;  wenn  er 
sich  zu  entfernen  schien,  so  sagten  wir  uns:  der  Wind,  das  Thau- 
wetter,  der  Regen  täuschen  uns."  Mit  wehmüthigem  Gefühl  ver- 
liess   der  Erzähler   die    Festune-,    um.    zu  Hause    angekommen,    in 

13* 


,196  E.  Koschtmtz, 

Courcy,  abermals  die  Spuren  der  abgezogenen  Deutschen  anzutreflfen. 
Dieselben  liatten  gleich  am  Tage  ihrer  Ankunft  alle  in  seiner 
Fabrik  vorhandenen  Esswaaren  jieplündert.  Am  folgenden  Tage  be- 
gannen sie  Möbel  und  Waaren  fortzuschaffen.  Hunderte  für  Kunden 
bestimmte  Packete,  die  aufgespeicherten  Porzellanwaaren,  die  Modelle, 
Wagen,  Teppiche,  Vorhänge,  Betten,  Wäsche,  Stutzuhren  gingen  in 
drei  Eisenbahnzügen  nach  Deutschland,  soweit  sie  nicht  von  den 
Kaben  aufgekauft  wurden,  die  dem  Heere  folgten.  Ein  bei  dieser 
Plünderung  betheiligter  deutscher  Offizier,  namens  Merckel,  war 
früher  18  Monate  lang  als  Arbeiter  in  der  Fabrik  thätig  gewesen; 
unter  dem  Vorgeben,  eni  Elsasser  zu  sein,  hatte  er  dort  gekund- 
schaftet. Ein  Fabrikaufseher,  der  den  Aufenthaltsort  der  gravierten 
Zeichenmuster  nicht  verrathen  wollte,  wurde  gefangen  nach  Posen 
geschleppt.  Selbst  die  unter  einem  Berg  von  Thonerde  verborgenen 
Werthpapiere  Dnmonts  von  einer  Million  hatten  die  rebelthäter  in 
Waffen  austindig  gemacht  und  fortgeschafft.  Um  die  Spui-en  ihrer 
Schandthaten  zu  verdecken,  steckten  sie  am  Tage  ihres  Abzugs  die 
Fabrik  an  zehn  Stellen  in  Brand.  Sehr  schlimm  erging  es  auch 
dem  Besitzer  einer  benachbarten  Ziegelfabrik.  Er  hatte  Telegraphen- 
drähte durchschnitten,  die  Courcy  mit  dem  deutschen  Hauptquartier 
in  Larcy  verbanden.  Von  einer  Schurkin  angezeigt,  von  drei  Deutschen 
gerichtet,  wurde  er  binnen  einer  Stunde  erechossen.  Er  starb  mit 
dem  Bedauern,  den  Deutschen  keinen  grösseren  Schaden  zugefügt 
zu  haben,  und  mit  dem  Rufe:  Es  lebe  Frankreich!  Wie  mit  der 
Fabrik  ging  es  mit  dem  Tjandhause  Dumonts.  Dort  raubten  die 
Deutschen  alles,  sogar  die  Schnuren  der  Vorhänge;  was  sie  nicht 
fortschleppten,  wurde  beschmutzt  oder  zu  (rrunde  gerichtet.  Spiegel, 
Thürverzierungen,  Gemälde  dienten  ihnen  als  Zielscheiben,  Fenster- 
läden ,  Vogelgebauer ,  Hol/skulpturen ,  die  seltensten  Bäume  als 
Heizmaterialien,  Das  Holz  spalteten  sie  auf  dem  Mosaikboden 
des  Flures,  uud  das  Fleisch  zerlegten  sie  auf  dem  Billard. 
Champagner  gössen  sie  wie  Selterwasser  in  den  im  Schlosse  vor- 
gefundenen Borileau.xwein.  Den  Park  durchlöcherten  sie,  um  nach 
Schätzen  zu  suchen;  die  Uartenmauer  versahen  sie  mit  Scliiess- 
scharteu;  Garten-  und  Glashäuser  wurden  in  Trümmer  geschlagen; 
auf  dem  ganzen  Besitzthum  blieben  nicht  drei  Steinplatten  ganz. 
Nicht  ein  Buch,  nicht  ein  Bild  entging  den  schrecklichsten  Be- 
schädigungen. Zu  diesem  Werke  der  ^'erheerung  liatten  die  Deutschen 
nur  acht  Tage  gebraucht.  „Tnd  Europa  beschaute  mit  sympathischem 
Auge  dieses  Werk  der  Zivilisation.  Hoffentlich  machen  die  Deutschen 
allen  denen,  die  ihnen  beistimmten,  wenigstens  einen  Höflichkeits- 
besuch." 

Die  Deutschen   sind,    wie   man   sieht,   in  den  Beschreibungen 
Dumonts  uud  seiner  Frau,  die  About  an  seiner  Stelle  sprechen  lässt, 


Bie  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    IL        197 

keineswegs  geschmeichelt.  Wenn  man  aber  bedenkt,  dass  der  aus 
Elsass-Lothringen  gebürtige  Verfasser  1872  von  den  deutschen  Be- 
hörden wegen  Hochverrathsverdacht  in  Haft  genommen  wurde,  und 
wenn  man  seine  Schilderungen  mit  denen  mancher  seiner  Landsleute 
vergleicht,  so  kann  man  ihm,  trotz  seiner  Uebertreibungen,  einen 
gewissen  Grad  von  Streben  nach  Objektivität  nicht  aberkennen. 

Die  von  About  eingeschobene  Kriegsepisode  dient  dazu,  den 
trefflichen  Charakter  seines  Romanhelden  in  neuem  Lichte  zu  zeigen. 
In  Fr.  Coppee's  Eine  ganze  Jugend^)  wird  ein  Kampf  vor  Paris 
eingeflochten,  um  eine  der  Eomangestalten  aus  dem  Wege  zu 
räumen,  damit  ein  andrer  an  Stelle  des  Getöteten  treten,  seine 
Wittwe  heiraten  kann.  Es  würde  keinen  wesentlichen  Unterschied 
gemacht  haben,  wenn  der  zum  Sterben  Verurtheilte  auf  friedlicherem 
Wege  heimgegangen  wäre.  Das  betreffende  Kriegskapitel  ist  aber 
interessant  durch  einige  Betrachtungen  des  Verfassers,  der  in  dem 
Romane,  häufiger  als  sonst  in  französischen  Romanen  üblich,  eigene 
Beobachtungen  und  Anschauungen  zum  Ausdi'ucke  bringt  und  Er- 
innerungen aus  der  eigenen  Vergangenheit  vorträgt.  Es  handelt 
sich  um  den  Befreiungsversuch  der  Armee  von  Paris  am  2.  Dezember. 
Die  Nationalgarden  waren  in  dritter  Reserve  auf  einer  ostwärts 
von  Paris  liegenden  hässlichen  Ebene  aufgestellt  und  nahmen  sich 
dabei  nicht  so  übel  aus.  Sie  waren  etwas  täppisch  unter  den  blauen 
Mänteln,  hatten  zu  neue  Feldflaschen  und  Patronentaschen,  waren 
aber  von  gutem  Geiste  beseelt.  Ihre  soliden  Jagdstiefel  und  guten 
Ledergamaschen,  ihr  behagliches  Aussehen,  die  mitgenommenen  An- 
nehmlichkeiten, Chokoladentafeln,  Flaschen  mit  altem  Rhum  u.  dgl. 
schadeten  allerdings  etwas  ihrem  martialischen  Charakter.  Vor 
ihnen  befand  sich  ein  am  vorletzten  Tage  stark  mitgenommenes 
Bataillon  Liniensoldaten,  die  mit  Hei-stellung  ihrer  Suppe  beschäftigt 
waren.  Sie  hatten  sich  dahin  zurückgezogen ,  um  sich  auszu- 
ruhen, nachdem  sie  die  vorhergehende  Nac]it  im  Schneewetter 
unter  freiem  Himmel  verbracht  hatten.  Abgemattet,  schmutzig,  in 
Lumpen,  um  ihre  dürftigen  Holzfeuer  gesammelt,  sahen  sie  bejammerns- 
werth  aus.  Unter  ihren  der  ursprünglichen  Form  beraubten  Kepis 
zeigten  Alle  gelbe  und  hole  Gesichter  und  Hospitalbäite.  Ihi'e 
mageren,  vor  Müdigkeit  gewölbten  Rücken  fröstelten  in  dem  kalten 
Winde,  und  ilire  Schulterknochen  standen  unter  ihren  schäbigen 
Mänteln  hervo)".  Einige  Leichtverwundete  trugen  an  Stii'u  und  Arm 
blutige  Leinwandstücken.  Ging  ein  Offizier  mit  herabhängendem 
Kopfe  und  in  demüthiger  Haltung  vorüber,  so  grüssten  sie  ihn  nicht; 
sie  hatten  zu  sehr  gelitten.  Hinter  ihren  düsteren  Blicken  errieth 
man  eine  wüthende  Verzweiflung,   nahe    daran,   auszubrechen   und 


*)  Toute  une  jeunesse.    10  e  ed.  Paris  1890. 


198  £•  Koschioitz, 

Schimpfworte  auszustossen.     Hätten   sie    nicht   so   viel  Mitleid   ein- 
geflösst,  so  hätte  man  sich  vor  ihnen  fürchten  müssen.     Diesen  Ge- 
spenstern von  Soldaten,  diesen  von  Hunger  und  Müdigkeit  ei-schijpften 
Unglücklichen    trugen    die    ehrbaren,    für   den   Winter    warm    ein- 
gepackten Nationalgardisten  die  schnarchenden  Phrasen  vor,  an  denen 
sie  sich  seit  mehreren  Monaten   gütlich  thaten.     Sie  sprachen  ihnen 
„vom   Brechen   des   Eisenrini-es'-,    vom    ^Nichtabtreten   eines  Zolles 
oder   eines  Steines",   vom    „Kriege   aufs   Aeusserste'-,   vom    „strom- 
artigen Ausfall"    u.  s.  w.   u.  s.  w.     Denn  die  Pariser  „hatten  ihre 
patriotischen    Hoffnungen,   oder    aufrichtiger   gesagt,    ihren   blinden 
Chauvinismus   unversehrt   erhalten,    und   glaubten   gegen  allen  Sinn 
und  Vei-stand  an  einen  endlichen  Sieg."     Diese  Schiniredner  wurden 
aber  bald  von  dem  Achselzucken  der  Liniensoldaten  entmuthigt,  die 
sie   v^ie   gestörte  bissige  Hunde   ansahen.     Ein   besondei-s   munterer 
Nationalgardist,  der  Gatte  einer  Modistin,  dessen  Hauptbeschäftigung 
für  gewöhnlich  war,  das  ihm  von  seiner  Frau  gewährte  Taschengeld 
im    Wirthshause    zu    verbringen    und    hin    und    wieder   eine    ihrer 
Arbeiterinnen    auf    schlechte    Wege    zu    leiten,     richtet    an    einen 
Korporal  der  Linientruppen  strategische  Fragen;  er  wird  mit  einem 
spöttischen  „Pantoffelheld"  abgewiesen.    Nicht  mehr  Glück  macht  er 
bei    vorbeiziehenden    Mobilgardisten,    Bretonen,    die    ohne    Ordnung 
marschieren,  aber  etwas  frischer  als  die  Linientruppen  aussehen  und 
die  einen  Trost  an  den   mit  ihnen  ziehenden   Feldgeistlichen  haben. 
Sein  ihnen  zugerufenes:  Es  lebe  die  Republik I  bleibt  ohne  Wiederhall. 
Der  junge  Dichter,   dessen  Jugendschicksale  Coppee  schildert, 
und  in  dem  man  zum  Theil  sein  eignes  Spiegelbild  zu  sehen  hat,  ist 
angeekelt  von  dem  Treiben  seiner  Landsleute.     Die  Prahlereien  der 
Pariser   nach  jeder  Niederlage,    ihre    Verwechslung   von   Leichtsinn 
und   Tapferkeit,   die   Aufschneidereien    der   Wallbehüter,    die   amt- 
lichen  Anschläge,   das   Gewäsch   der  Zeitungen,    waren   ihm   gleich 
zuwider.     Niemals   war  das  Volk   mit   gleicher   Frechheit   belogen, 
wai"  es   gleich   niedrig    umschmeichelt    worden.      Sein   Freund,   der 
Schauspieler  Joquelet    (Anklang    an    den   Schauspieler   am   Theatre 
Frangais   Coquelin),    der   auf  der   Bühne    mit    ungeheurem    Erfolge 
den   Umständen   angepasste,   begeisterte,    aber   kunst-   und   sinnlose 
Dichtungen  vortrug,  und  der  sich  ernsthaft  für  einen  neuen  Tyrtäus 
hielt,  imstande  das  Vaterland  zu  retten  und  Bismarck  und  den  alten 
Wilhelm    zu    verscheuchen ,    erschien    ihm    in    höchsten    Grade    ab- 
geschmackt.     Auch    was    er    in    dem   Cafe    de    Seville    sieht,    dem 
Stammlokale   der  jugendlichen  politischen  und  litterarischen  pariser 
Strebegeister,   erfreut   ihn   wenig.     Die    „Haarwüchse"    (die   löwen- 
mähnigen jungen  Litteraten)  fehlten  dort:  sie  waren  jetzt  geschoren 
und  trugen,  mit  Kepis  bedeckt,  Flinte  und  Patronentasche.   Dagegen 
waren   die  , Barte"    (die  mit  reichem  Bartwuchs  versehenen  jungen 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlüteratur .     II.        199 

ümsturzpolitiker)  dem  Lokale  treuer  geblieben.  Der  Krieg  und  der 
Sturz  des  Kaiserreichs  war  für  sie  ein  Triumph  gewesen;  zwanzig 
von  ihnen  waren  mit  Präfekturen  versehen  worden:  fast  alle  hatten 
öffentliche  Aemter  inne.  Drei  der  wildesten  tlu'onten  in  der  Barri- 
kadenkommission. „Denn  so  unwahrscheinlich  dies  heut  erscheinen 
mag,  diese  Kommissiün  hat  bestanden  und  amtiert ;  —  eine  Kommission 
nach  allen  Regeln,  mit  Bureau,  grossen  Porzellantintenfässern,  ge- 
stempeltem Briefpapier,  mit  verlesenen  und  genehmigten  Protokollen 
—  und  um  iliren  grünen  Tisch  herum  stellten  diese  Professoren  des 
Aufstandes,  diese  Doktoren  der  Meuterei  dem  Lande  ihi'e  im  Cafe 
erworbenen  praktischen  Kenntnisse  zur  Verfügung,  wo  sie  sich  mit 
Dominosteinen  im  Barrikadenaufbau  geübt  hatten.'^  Obgleich  die 
im  Cafe  versammelten  Barte  nicht  einer  Korporalschaft  hätten  das 
einfachste  Kommando  geben  können,  so  hatte  ihnen  der  heilige  Geist 
doch  die  Gabe  der  strategischen  Kunst  eingeflösst.  „Alle  Abende 
wurde  auf  jedem  Marmortischchen  eine  entscheidende  Schlacht  ge- 
sclilagen.  Von  der  Artillerie  der  Wasseiüasche  unterstützt,  die  den 
Mont  Valerien  vorstellte,  griff  ein  Turiner  Wermuth,  d.  h.  das  Corps 
Vinoy's,  einen  Untersatz  an,  der  die  Batterie  von  Montretout  ver- 
trat, während  die  reguläre  Truppe  und  die  Nationalgarde,  symbolisch 
durch  einen  Bittern  und  einen  Absynth  dargestellt,  im  Süden  einen 
Massenausfall  machten  und  direkt  gegen  das  feindliche  Centrum,  die 
Streichholzbüchse,  vormarschierten. "  Unter  ihnen  befanden  sich  auch 
Erfinder,  die  sämmtlich  ein  unfehlbares  Mittel  besassen,  mit  einem 
Schlage  die  preussischen  Heere  zu  vernichten,  und  die  Trochu  des 
Verraths  beschuldigten,  weil  er  ihre  Anerbietungen  unter  Anrufung 
eines  altfi'änkischen  Völkerrechts  zurückgewiesen  hatte.  „Einer  von 
ihnen  zog  gern  mit  seinem  Tabaksbeutel  und  seinem  Cigarretten- 
papier  kleine  Fläschchen  aus  der  Tasche,  mit  den  Aufschriften: 
Cholera,  Pest,  Typhus,  gelbes  Fieber,  sch^  arzer  Tod  u.  s.  w.  und  schlug 
als  etwas  sehr  einfaches  vor,  diese  Krankheiten  in  den  deutschen 
Lagern  zu  verbreiten,  mit  Hilfe  eines  lenkbaren  Luftballons,  den 
er  am  Tage  vorher,   als  er  gerade  zu  Bette  ging,  erfunden  hatte." 

Diesen  Schwätzern  stellt  Coppee  in  demselben  Kapitel  einen 
alten  Oberst  gegenüber,  der,  in  Bureauarbeit  ergraut,  beim  Genie 
wieder  in  Felddienst  getreten  ist,  und  der  durch  unersclu-ockenes 
Verhalten  im  Feuer  die  jungen  Genieoffiziere,  die  ihn  verspotten, 
beschämt.  Sein  Heldenmuth  fülirt  ihn  und  seinen  Neffen  in  den  Tod; 
er  stirbt,  im  letzten  Augenblick  seiner  drei  mitgiftslosen  Töchter  ge- 
denkend, für  die  später  von  einer  wohlhabenden  Freundin  gesorgt  wird. 

Anderer  Art  ist  eine  Episode  in  dem  Debans 'sehen  Romane, 
Kapitim  Marehe-au-Creve^),  dessen  Held,  ein  wohlhabender  Schiffe- 


*)  Le  Capitaine  Marche-ou-Gr'eve.     Paris  1877. 


200  E.  Koschwitz, 

kapitän,  der  in  seiner  Kindlieit  ausgesetzt  und  von  einem  reichen  Rheder 
in  Pflege  genommen  worden  war,  erst  nach  Ueberwindung  manchfacher 
Mühsale  und  Gefahrnisse  in  den  Besitz  seines  wahren  Namens  und 
der  von  ihm  geliebten  Frau  kommt.  Ein  Mann  wie  er,  mit  allen 
männlichen  Tugenden  verschwenderisch  ausgerüstet,  konnte  während 
des  Krieges  von  1870/71  nicht  unthätig  bleiben.  Von  einer  weiten 
Seefahrt  kaum  heimgekehrt,  bildete  er  sofort  mit  seiner  Schiffsmann- 
schaft, 227  Matrosen,  durchweg  Waisen  und  Findlingen  wie  er,  die 
Freischar  der  „Verlorenen  Söhne",  die  in  den  Wasgenbergen  unter 
den  Deuschen  furchtbar  wüthet.  Eines  Tages  befand  sich  die 
Schar  am  Fusse  eines  steilen  Felsenabhanges  gelagert,  als  ihre  vor- 
geschobenen Posten  die  Kunde  bringen,  dass  die  Preussen  von  drei 
Seiten  nahen,  dass  die  Freitruppe  also,  und  zwar  von  nicht  weniger 
als  20000  Mann,  eingeschlossen  ist.  Ilir  Hauptmann  wird  durch  diese 
Gefahr  nicht  in  die  geringste  Verlegenheit  gesetzt.  Vorsichtig  wie  er 
war,  hat  er  jeden  seiner  Matrosen  sich  mit  einem  Packet  Seilen  und 
jeden  fünften  Mann  mit  einer  Blockrolle  versehen  lassen.  Er  klettert 
mit  einer  Anzahl  Matrosen  in  einer  Felsspalte  in  die  steile  Höhe; 
dort  oben  werden  dann  die  Rollen  befestigt  und  Seile  herabgelassen, 
um  die  unten  betindlichen  Matrosen  scluiell  heraufziehen  zu  können. 
Darauf  lässt  sich  der  Kapitän  wieder  herab,  um  im  Thale  die 
Vertheidigung  gegen  die  anrückenden  Preussen  zu  leiten.  Eine 
acht  Mann  breite  deutsche  Kolonne  rückt  gegen  den  Felsen  an.  Der 
Kapitän  schickt  ihnen  zehn  gute  Schützen  entgegen;  dieselben 
erschiessen  sieben  der  vordersten  Preussen  und  weichen  dann  mit 
Windeseile  zurück ,  um  sich  auf  die  Höhe  ziehen  zu  lassen. 
Wiederum  werden  zehn  Scharfschützen  vorgeschickt ,  die  acht 
Preussen  niederknallen.  Auch  sie  retten  sich  dann  schnell  auf  den 
Berg.  Dasselbe  Verfahren  wurde  zehnmal  wiederholt;  jedes  Mal 
geriet  die  preussische  Kolonne  durch  das  abgegebene  Feuer  ins 
Schwanken.  Aber  die  preussischen  Offiziere  ermutliigten  ihre  Sol- 
daten, die,  da  sie  in  grosser  Zahl  sind,  auch  vorrücken.  Von  den 
Franzosen  sind  schliesslich  nur  noch  fünf  Mann  unten ;  sie  befestigen 
die  herabhängenden  Seile  mit  Haken  an  ihre  breiten  Gürtel.  Zwei 
preussische  Offiziere  und  drei  Soldaten  stürzen  auf  sie  los,  um  sie 
gefangen  zu  nehmen.  Die  Matrosen  lassen  sie  nahe  herankommen  und 
sich  geduldig  am  Kragen  packen,  umfassen  dann  aber  ihrerseits  ihre 
Angreifer,  und  auf  einen  Pfiff  des  Hauptmanns  wird  die  Gesellschaft 
in  die  Höhe  gezogen.  Die  deutsdien  Soldaten  sind  darüber  so  ver- 
dutzt, dass  sie  sich  nicht  vom  Platze  rühren;  sie  mochten  auch 
fürchten,  ihre  Leute  zu  töten,  wenn  sie  nach  den  Franzosen  schössen. 
Ein  lautes  Gelächter  auf  der  Felsenhöhe  bewegt  sie,  die  Köpfe 
zu  erheben;  im  selben  Augenblick  streckt  ein  allgemeines  Feuer  von 
oben  eine  grosse  Zahl  von  ihnen,    mitten  ins  Gesicht    getroffen,    zu 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur .     II.        201 

Boden.  So  konnten  die  „Verlorenen  Söhne"  mit  heiler  Haut  zum 
Boui'baki'schen  Heere  stossen  und  bei  Deckung  von  dessen  Rückzug 
noch  weitere  Heldenthaten  verrichten. 

Die  eben  geschilderte  phantastische  Kriegsscene  des  Debans'schen 
Romans  erinnert  lebhaft  an  die  Abenteuer  des  alten  HeiTU  von  Münch- 
hausen,  bei  dem  sich  der  Verfasser  wolil  auch  seine  Inspii'ation 
geholt  hat.  Das  gerade  Gegenstück  zu  ihi-  bildet  das  Kriegskapitel 
in  Mirbeau's  Leidenswege'^),  einem  Romane,  der  um  dieser  Ein- 
ilechtuüg  willen  bei  seinem  Erscheinen  in  Frankreicli  lebhaft  an- 
gegriffen und  wegen  des  um  ihn  entstandenen  Lärms  auch  in 
deutschen  Blättern  mehrfach  besprochen  wurde. 

An  und  für  sich  hat  der  Roman  nichts,  was  eine  besondere 
Aufregung  hervorbringen  könnte.  Es  handelt  sich  in  ihm  um  einen 
jungen  Mann,  der,  von  einem  schlichten,  aber  charakterfesten  Vater 
und  einer  leidenden,  geistig  gedrückten  Mutter  unkindlich  erzogen, 
ohne  Begeisterung  am  Feldzuge  gegen  Deutschland  theilnimmt,  dann 
in  Paris  in  eine  unwürdige  Leidenschaft  verfällt,  die  ihm  sein  Ver- 
mögen und  seine  Ehre  kostet  und  ihn  auf  das  tiefste  erniedrigt,  bis 
er,  nachdem  er  alles  verloren,  einen  Arbeiterkittel  anzieht,  um  ein 
neues  Leben  zu  versuchen.  Der  Roman  erinnert  stellenweise  an 
Le  Prevost's  Manon  Lescaut  und  an  Daudet's  Sapho  und  zeigt  keine 
andere  Eigenthümlichkeit,  als  dass  er  eine  naturwahre  und  ohne 
Voreingenommenheit  abgefasste  Schilderung  aus  dem  deutsch-fran- 
zösischen Feldzuge  enthält. 

Der  betreffende  Abschnitt,  der  übrigens  nur  bestätigt,  was 
man  auch  in  den  Kriegsschilderungen  anderer  französischer  Zeugen, 
allerdings  meist  nicht  so  wirksam,  dargestellt  findet,  verdient,  dass 
wir  ihn  etwas  genauer  betrachten. 

Das  Regiment  des  erzählenden  Helden  war  in  Le  Mans  aus 
den  verschiedensten  Bestandtheilen  zusammengesetzt  worden.  Zuaven, 
Mobile,  Freischärler,  Förster,  Kavalleristen  ohne  Pferde,  Gendarmen, 
sogar  Spanier  und  Walachen  gehörten  ihm  an.  Regimentskomman- 
deur war  ein  ehemaliger  Capitaine  d'armes,  den  man  zum  Obeist- 
lieutenant  befördert  hatte.  Einige  Kompagnien  besassen  keinen 
Haiiptmann;  die  unseres  Helden  wurde  dui'ch  einen  jungen,  bleichen 
und  gebrechlichen  Mobillieutenant  befeliligt,  der  nach  einigen  Kilo- 
metern Marsch  im  Lazarethwagen  ein  Unterkommen  suchen  musste, 
der,  um  nicht  lächerlich  zu  werden,  keine  Befehle  ertheilte,  und,  weil 
er  schüchtern  und  gutmütliig  war,  von  seinen  Leuten  verspottet 
wurde.  Das  Regiment  blieb  einen  Monat  lang  in  Le  Mans,  mit 
seiner  Ausrüstung  und  mit  Exerzieren  beschäftigt,  während  die 
übrige  Zeit  in  Wirthshäusern  und  Bordellen  verbracht  wurde.     Jeder 


1)  Le  Calvaire.     20.  Ausg.,  Paris  1889. 


202  E.  Koschwitz, 

Soldat  dieser  zusammengelaufenen,  schlecht  l)ekleideten  und  noch 
schlechter  verpflegten  Menge  dachte  nur  an  sich.  Endlich  wurde 
die  Truppe  einer  Brigade  einverleibt  und  wie  eine  Heerde  ohne 
Hirt  kreuz  und  quer  herunigeschickt ,  wobei  jede  noch  vorhandene 
Begeisterung  ganz  verloren  ging.  Noch  ehe  sie  die  Kanonen  hatte 
grollen  hören,  glich  ihr  Marsch  dem  Rückzuge  eines  besiegten  Heeres. 
Oft  warfen  die  Soldaten  ihre  Patronen  fort:  in  den  Herzen  der 
Elenden  glimmte  vielfach  nur  die  Hoffnung  auf  eine  nahe  Schlacht, 
d.  h.  auf  die  Flucht,  die  Übergabe  und  eine  deutsche  Festung.  Zur 
Vertheidigung  des  noch  nicht  bedrohten  Landes  wurden  Bäume 
niedergeschlagen  und  auf  die  Landstrassen  geworfen,  Brücken  ge- 
sprengt, Kirchhöfe  um  Eingange  der  Dörfer  entweiht,  und  die  Ein- 
wohner mit  den  Bajonetten  auf  der  Brust  gezwungen,  an  der  Ver- 
nichtung ihrer  Güter  mitzuhelfen.  Dann  zog  man  weiter,  Trümmer 
und  Hass  hinter  sich  zurücklassend.  Die  Folge  davon  war,  dass  bei 
Ankunft  der  französischen  Truppen  die  Bauern  ihre  Speise  vorrät  he 
vergruben  und  ihnen  mit  feindlichen  Gesichtern  und  leeren  Händen 
entgegentraten.  Am  1.  November  1870  waren  die  Soldaten  so  den 
ganzen  Tag  marschirt  und  gegen  drei  Uhr  am  Bahnhofe  von  Loupe 
angekommen.  Eine  unglaubliche  Verwirrung  trat  ein.  Viele  ver- 
liessen  die  Reihen  und  zerstreuten  sich  in  die  Wirthshäuser  der 
nahe  liegenden  Stadt.  Eine  Stunde  lang  bliesen  die  Trompeter  zum 
Sammeln.  Die  zum  Holen  der  Soldaten  ausgeschickten  Kavalleiisten 
hielten  sich  gleichfalls  mit  Trinken  auf.  Es  liiess ,  ein  bei 
Nogent  le  Rotrou  gesammelter  Bahnzug  solle  die  Mannschaften  nach 
Chartres  bringen.  Der  General,  ein  kleiner  dicker  Alter,  der  sich 
kaum  auf  dem  Pferde  halten  konnte,  galoppirte  nach  rechts  und 
links,  rollte  gelegentlich  wie  eine  Tonne  unter  seinen  Gaul  uud 
gestiknlirte  und  fluchte  ohne  Unterbrechung.  Inzwischen  brach  die 
Nacht  herein.  Man  Hess  die  Truppen  kompagnieweise  zusanunen- 
treten  und  dann  stundenlang  im  Regen  stehen.  Von  Zeit  zu  Zeit  kamen 
mit  Soldaten  gefüllte  Züge  an:  Mobile  uud  Jägei-,  mit  aufgeknöpften 
Watfenriuken,  barhaupt  oder  das  Kepi  schief  anfLiesetzt,  manche 
trunken,  andere  die  Marseillaise  oder  gemeine  Lieder  i)lärrend.  Der 
Erzähler  benutzt  den  Wirrwar,  um  auszubrechen  und  in  einem  nicht 
allzu  fernen  Häuschen  ein  Obdach  zu  suchen.  Er  trifft  dort  einen 
Sergeanten  und  vier  I^Iann  an,  die  einen  Greis  um  Holz  quälen.  Sie 
bringen  aber  aus  ihm  nur  die  Antwort  heraus,  er  liabe  kein  Holz.  In  der 
That  ist  im  ganzen  Hause  nichts  zu  finden,  als  die  Si)ureii  früherer  Ver- 
wüstungen. Der  Sergeant  lässt  Stühle,  Tisch,  Speiseschiank  und  Bett  in 
Stücke  zei"schlagen  und  in  den  Kamin  werfen,  während  dei-  Alte  in 
stumpfer  Verzweiflung  zuschaut.  Als  der  Romanheld  für  den  Bauern 
eintreten  will,  wird  er  von  dem  Sergeanten  angefahren,  was  ihn  zur 
Rückkehr  zur  Truppe  bewegt.     Die  Mannschaft  erhält  einen  Gegeu- 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlüteratur.    II.        203 

befehl  und  muss  des  Nachts  durch  Wälder,  Dörfer  und  Felder  weiter- 
marschiren.  Die  steifeu  Glieder  vei'richten  maschinenmässig  ihren 
Dienst.  Man  kommt  am  Eingange  eines  Waldes  an.  Der  General 
und  die  meisten  Ottiziere  nehmen  in  einem  benachbarten  Flecken 
Quartier;  die  Mannschaft  errichtet  Zelte  und  ruht  darin  auf  der 
feuchten  Ei'de.  Auch  die  Nachzügler  treffen  allmählich  ein;  aber 
von  vieren  bis  fünfen  hörte  man  nichts  mehr,  sei  es,  dass  sie  schwach 
und  krank  in  Gräben  stürzten  und  dort  umkamen,  sei  es,  dass  sie 
fahnenflüchtig  wurden.  Des  andern  Tages  kann  der  Held  unserer 
Erzählung  seine  Glieder  nicht  rühren,  er  ist  schwindlig,  alles  dreht 
sich  um  ihn.  Er  begiebt  sich  deshalb  nach  dem  in  einem  Schuppen 
eingerichteten  Lazareth,  wo  eine  lange  Reihe  bleicher  Gestalten,  den 
Tod  in  den  Augen,  der  Untersuchung  harren.  Kaum  eingelassen,  werden 
sie  unter  Schimpfen  und  Fluchen  wieder  fortgewiesen.  Eine  alte 
Bäuerin  fragt  den  Arzt  nach  ihrem  Sohne  und  wird  dafür  zunächst 
angefahren;  dann  fragt  sie  der  Arzt  nach  ihrem  Namen.  Als  der 
Lazarethgehilfe  ihn  hört,  ruft  er  gefühllos:  ,,Aber  der  ist  ja  schon 
drei  Tage  tot."  Die  Alte  erlieht  weitere  Auskunft,  wird  jedoch 
barsch  abgewiesen.  Das  Wetter  hat  sich  gebessert.  Ein  kurzer 
Schlaf  stärkt  den  Erzähler.  Soldaten  schleppen,  von  den  Bauern 
verfolgt,  gestohlene  Strohbttndel,  Hühnei",  Enten,  Schafe  und  Kälber 
herbei.  Die  in"s  Lager  kommenden  Bauern  werden  mit  Hohngelächter 
verjagt.  Fliehende  Bauern  aus  der  Ebene  von  Chartres  ziehen 
während  dessen  in  endlosen  Zügen  vorüber,  erschreckt  durch  die 
Gerüchte  von  den  Brandstiftungen,  Niedermetzelungen,  Schändungen 
und  Grausamkeiten,  die  den  preussischen  Truppen  vorauseilten. 
Die  Nächte  verbrachten  sie  im  Freien,  in  Regen  und  Unwetter 
auf  ihren  Wagen  kampirend.  Befragt,  erklären  sie  keinen  Preussen 
gesehen  zu  haben,  wohl  aber  Freischärler,  noch  schlimmer  als  die 
Landesfeinde.  Den  von  der  Rast  erholten  und  gestärkten  Truppen 
wird  ein  Befehl  vorgelesen,  wonach  ein  preussisches  Armeekorps, 
ausgehungert,  schlecht  bekleidet  und  ohne  Waffen,  in  Eilmärschen 
heranrücke ,  nachdem  es  Chartres  besetzt  habe.  Sie  sollen  ihm 
den  Weg  versperren  und  es  bis  unter  die  Mauern  von  Paris  zurück- 
treiben, wo  der  tapfere  General  Ducrot  nur  noch  sie  erwarte,  um 
auszufallen  und  die  Eindringlinge  hinwegzufegen.  Um  dies  zur 
Ausführung  zu  bringen,  wurde  im  Anschluss  daran  befohlen,  eine 
unüberschreitbare  Banikade  am  Osteingange,  und  eine  noch  uu- 
überschreitbarere  Barrikade  an  der  Strasse  von  Chartres  zu  enicliten, 
die  Kirchhofmauer  mit  Schiessscharten  zu  versehen  und  im  Walde 
so  viel  Bäume  wie  möglich  niederzuschlagen.  Die  Soldaten  be- 
trachteten einander  mit  Angst  im  Herzen  darüber,  dass  die  Preussen 
so  nahe  sein  sollten.  So  lange  die  Schlacht  fern  war,  war  sie  erwünscht 
worden,  jetzt   wo   sie   nahe   bevorstand,    hatte    man    Furcht.      Die 


204  E.  Koschmtz, 

Bäume  des  nahen  Waldes  werden  ohne  Sinn  und  Verstand  nieder- 
gehauen; auch  die  unüberschreitbaren  Barrikaden  machen  Fort- 
schritte. Durch  sie  werden  aber  die  fliehenden  Bauern  aufgehalten. 
Ihre  Wagen  und  Heerden  häufen  sich  vor  der  einen  auf  dem  von  Bergen 
umgrenzten  Wege.  Die  Männer  klagen,  die  Weiber  seufzen,  die 
Ochsen  brüllen,  und  die  Soldaten  lachen  über  die  verdutzten  Gesichter 
der  am  Weiterzuge  Gehemmten.  Wiederholt  stellen  sie  sich,  als 
wollten  sie  die  Bauern  mit  dem  Bajonett  zurücktreiben ;  aber 
diese  waren  eigensinnig,  wollten  durchaus  weiter  und  beriefen  sich 
auf  ihre  Eigenschaft  als  Franzosen.  Der  hinzukommende  General 
befiehlt,  ihre  Wagen  zum  Barrikadenbau  zu  verwenden.  Die 
Soldaten  stürzen  sich  mit  Vergnügen  auf  die  vordersten  Fuhr- 
werke, die  hinnen  Kurzem  mit  allem  Inhalt  zerschlagen  sind.  Die 
Bauern  erfasst  nun  wilde  Furcht,  ihre  Wagen  fahren  durch  einander 
und  können  nicht  von  der  Stelle;  die  letztgekommenen  drehen  um 
und  galoppieren  in  wilder  Hast  davon.  Andre  verlassen  ihre  Sachen 
und  klettern  an  den  Seitenböschungen  hinauf;  sie  werden  dabei  von 
Soldaten  mit  nachgeworfenen  Erdstücken  verfolgt.  Die  Wagen- 
trümmer werden  auf  der  Barrikade  über  einander  gehäuft,  die  Lücken 
mit  Matratzen,  Hafersäcken,  Kleidungsstücken  und  Steinen  aus- 
gefüllt, und  hoch  oben  auf  einer  senkrecht  aufgestellten  Wagen- 
deichsel pflanzt  ein  Jäger  einen  in  der  Bauernliabe  aufgefundenen 
Hochzeitsstrauss  auf.  Des  Abends  erscheinen  flüchtige  Soldaten,  die 
meisten  ohne  Tornister,  viele  ohne  Gewehr,  und  erzählen  die  entsetz- 
lichsten Geschicliteu.  Keiner  von  ihnen  ist  verwundet.  Sie  werden 
zum  Schrecken  des  Pfarrers  in  der  Kirche  untergebracht.  Die  bis- 
her ausgestellte  einzige  Feldwache  hatte  keine  Weisungen.  Die  ihr 
angehörigen  Leute  tranken  und  schliefen;  der  ihr  vorgesetzte  Sergeant, 
ein  Wilddieb,  ging  auf  die  Kaninchen jagd ;  der  ausgestellte  Posten 
verhaftete  einen  Arzt  als  deutschen  Spion,  weil  er  einen  blonden 
Bart  und  eine  blaue  Brille  hatte.  Die  ganze  Nacht  herrscht  Auf- 
regung im  Lager;  die  Trompeten  blasen  unaufhörlich.  Streifwachen 
durchsuchen  fortwährend  das  umliegende  Gelände:  die  Artillerie 
rückt  vor.  Damit  sie  in  ihre  Stellung  gelangen  kann,  wird  die  eine 
mühsam  errichtete  Barrikade  Stück  für  Stück  eingerissen  und  der 
davor  aufgeworfene  Graben  ausgefüllt.  Am  folgenden  Morgen  zieht 
die  Kompagnie  des  Erzählers  auf  Feldwache.  Unterwegs  sehen  sie 
den  General,  Avie  er  auf  der  Karte  nach  einer  Mühle  sucht,  sie  aber 
nicht  findet  und  dann  ungeduldig  die  Karte  seinem  Adjutanten 
zurückgibt,  der  sie  sofort  sorgfältig  zusammenpackt  und  einsteckt. 
Unser  Held  wird  als  verlorener  Posten  ausgestellt.  Er  steht  am 
Saume  eines  Gehölzes  vor  einer  weiten  Ebene.  Nach  vier  Stunden 
soll  er  abgelöst  werden,  aber  er  wird  vergessen.  Stunde  um  Stunde 
verrinnt.     Er  hat  Hunger   und  Durst,   seine  Finaer   erstarren.     Er 


Die  französische  Novellistik  und  Eomanlitteratur.    II.        205 

ruft,  ob  jemand  in  der  Nähe  sei;  kein  Laut  antwortet,  er  ist  ganz 
allein.  Allerlei  Gedanken  bestürmen  ihn.  Er  gedenkt  der  ver- 
geudeten Zeit  seiner  Kindheit  und  Jugend.  Von  da  gelangt  er  zu 
allgemeineren  Betrachtungen.  Die  Wirklichkeit  zeigt  ihm  keine 
der  erhabenen  Abstraktionen  der  Ehre,  Gerechtigkeit,  Nächstenliebe, 
des  Vaterlandes,  mit  denen  die  Schulbücher  erfüllt  sind,  und  in  denen 
man  erzogen,  eingewiegt  wird,  damit  die  Guten  und  Kleinen  um  so 
besser  unterdrückt  und  hingewürgt  werden  können.  Was  ist  das 
Vaterland  dem  thörichten  und  räuberischen  General,  der  gegen  alte 
Bäume  und  alte  Männer  wüthet,  was  dem  Militärarzt,  der  die  Kranken 
mit  Fusstritten  behandelt  und  die  um  ihren  Sohn  trauernde  Mutter 
anhen-scht?  Die  am  meisten  geplündert,  gemetzelt  und  verheert 
haben,  sind  allein  die  ruhmreichen  Helden.  Der  schüchterne  Wege- 
lagerer, der  einen  Vorübergehenden  tötet,  um  ihm  seine  Börse  ab- 
zunehmen, wird  enthauptet  und  entelirt;  aber  zu  Ehren  des  Eroberers, 
der  Städte  verbrennt  und  Völker  vernichtet,  werden  Triumphbögen 
und  Bildsäulen  errichtet,  und  an  seiner  Mannorgruft  knieen  und 
beten  die  Frommen.  Inzwischen  schreitet  die  Nacht  voran.  Die 
Kälte  bringt  die  Glieder  unseres  Postens  immer  melii"  zum  Erstarren ; 
er  hat  Mühe  sich  durch  Bewegung  wach  zu  halten.  Seine  eignen 
Schritte  erschrecken  ihn,  es  scheint  ihm  immer,  als  ginge  jemand 
hinter  ihm  her.  Er  lauscht  gespannt  auf  und  hört  zweimal  deut- 
lich das  Geräusch  von  Schritten.  Sein  Herz  schlägt  ihm;  trotz 
der  Kälte  bricht  ihm  der  Schweiss  aus  der  Stirne;  er  denkt  daran, 
ins  Lager  zurückzukehren  oder  wenigstens  nach  dem  Pachthofe  zu 
gehen,  wo  seine  Kompagnie  sich  des  Morgens  aufhielt.  Er  könnte 
sich  auch  durch  einen  Schuss  leicht  am  Arme  verwunden,  dann  ent- 
fliehen und  erzählen,  er  sei  von  Preussen  angegriffen  worden.  Er 
muss  alle  seine  sittlichen  Kräfte  zusammennehmen,  um  diesen  Ver- 
suchungen zu  widerstehen.  Mit  Gewalt  sucht  er  auf  andre  Gedanken 
zu  kommen;  krause  Vorstellungen  beschleichen  ihn.  Er  stärkt  sich 
mit  den  letzten  Tropfen  seiner  Feldflasche  und  eilt  schnell  auf  und 
ab,  um  seine  wilden  Phantasien  zu  bekämpfen.  Allmählich  bricht  der 
der  Morgen  an.  Plötzlich  hört  er  das  sich  nähernde  Getrappel 
eines  Pferdes.  Er  verbirgt  sich  hinter  einem  Baume  und  erblickt 
von  da  einen  feindlichen  Reiter,  gross,  unbeweglich  wie  ein  ehernes 
Standbild.  Der  Fremde  hat  klare  durchsichtige  Augen,  einen  blonden 
Bart;  in  seinem  Gesichte  leuchtet  Kraft  und  Güte,  Wagemuth  und 
Trauer.  Er  beobachtete  das  vor  ihm  liegende  Gelände,  während  das 
Pferd  mit  dem  Hufe  scharrte;  er  war  unzweifelhaft  als  Späher 
vorausgeritten,  um  sich  über  die  feindliche  Stellung  zu  unter- 
richten; ein  ganzes  Heer  stand  hinter  iluu,  bereit,  sich  auf  sein 
Zeichen  gegen  den  Feind  zu  werfen.  Er  schien  indess  die  Land- 
schaft mehr  wie  ein  Dichter,  denn  wie  ein  Soldat  zu  betrachten.    Eine 


206  E.  Koschmtz, 

tiefe  Bewegung  ven'ätli  sich  in  seinem  Gesichte;  die  Schönheit  des 
erwachenden  Morgens  erweckt  in  ihm  das  Gefühl  der  Liebe.  Seine 
Physiognomie  spiegelt  so  deutlich  die  sanften  Erregungen  seines 
Herzens,  sein  Heimweh,  die  Gedanken  an  Frau  und  Kinder  wieder, 
dass  sich  der  Beobachter  mäclitig  zu  ihm  hingezogen  fühlt,  ja  ihn 
liebt.  (Tnd  dennoch:  plötzlicli  kracht  ein  Schuss  aus  seiner  Flinte; 
der  Deutsche  sinkt  getroffen  zur  Erde.  Der  Franzose  kann  nicht 
begreifen,  wie  er  dazu  gekonunen,  den  Fremden  zu  ermorden;  er 
hebt  mit  zitternden  Händen  den  Leichnam  empor,  befühlt  seine 
Brust,  horcht  nach  seinem  Herzschlag,  betrachtet  seine  traurigen 
Augen  und  küsst  den  \'erstorbenen. 

Alle  übrigen  Kriegserinnerungeu  des  Erzählers  sind  ver- 
schwommen. Er  erinnert  sich  an  Rauch,  au  schneebedeckte  Ebenen, 
an  brennende  Kuinen,  trübselige  Fluchten,  Nachtmärsche,  Drängereien 
in  Hohlwegen,  an  Wagen  mit  Toten,  an  ei-schossene  Pferde,  aus 
deren  Leibern  die  Soldaten  Stücke  schnitten,  um  sie  in  den  Zelten 
zu  vei-schlingen,  an  Aerzte,  die  Verwundeten  Arme  und  Beine  ab- 
nahmen, endlich  an  die  Heimkehr,  die  ihm  die  Trauerkunde  vom 
Ableben  seines  Vaters  brachte. 

Dies  das  angefochtene  Kapitel  von  Mirbeaus  Roman,  das  eines 
der  wirksamsten  Kriegsbilder  in  unsrer  Litteratur  darbietet. 

\o\\  den  Romanen,  die  in  ihrem  Gesammtinhalte  den 
Krieg  betreffende  oder  von  ilmi  bedingte  Ereignisse  behandeln,  sind 
am  zahlreichsten  solche,  die  man  der  Gattung  der  Abenteuerromane 
zurechnen  darf,  und  in  denen  die  Feldzugsabenteuer  einzelner 
Franzosen  oder  Deutschen  zur  Schilderung  gelangen.  Zu  dieser 
Behandlung  reizten  ganz  bes(»nders  die  Freischärler,  deren  wahre 
oder  erdichtete  Unternehmungen  bereits  zur  Kriegszeit  mächtig  die 
Phantasie  der  Franzosen  erregt  hatten.  Der  von  ihnen  in  Wirk- 
lichkeit oder  in  der  Absicht  geführte  Busch-  und  Heckenkrieg 
eignete  sich  in  vorzüglichem  Masse,  nach  Art  der  Cooper'schen 
oder  Gerstäckersclien  Indianerromane  bearbeitet  zu  werden.  Die 
Stelle  der  Rothhäute  mussten  natürlich  die  Deutschen  übernelimen, 
die  man  nur  feiger,  ungeschickter  und  plumper  als  ihre  Vorbilder 
darstellte;  die  Freiscliärler  wurden  zu  edlen,  tapferen  und,  wenn  sie 
keiner  Ueberzahl  gegenüber  standen,  allezeit  siegreichen  Menschen- 
jägern. Damit  kamen  sie  zugleich  nachträglich  zu  den  Lorbeeren, 
die  ilinen  im  Kriege  selbst  versagt  geblieben  waren.  Ausser  den 
Freischärlern  ei^schienen  die  deutsclien  Spione  zu  Romanhelden  am 
geeignetsten.  Sie  wurden  denn  auch  mit  besonderer  Vorliebe  zu 
solchen  gewählt.  Dir  dunkles  Treiben,  ihre  Verkleidungen,  ihre 
Beziehungen  zu  den  Einlieimischen.  ihre  Wiederkehr  im  Kriege  als 
deutsche  Soldaten  ermöglichten  allerlei  wechselv<dle  Scenerien. 
Dadurch,  dass  man  ihnen  persönlich  feindliche  Gruppen  von  Franzosen 


Die  französische  Novellistik  und  jRomanUtteruüir .    II.        207 

gegenüberstellte,  oder  dass  wenn  sie  sicli  in  Französinnen  verlieben 
oder  sich  selbst  mit  ihnen  vermählen  Hess,  waren  anch  die  notli- 
wendigen  Konflikte  gegeben.  Gesellte  man  im  letztern  Falle 
noch  einen  französischen  Nebenbuhler  hinzu  und  liess  man  die 
strafende  (lerechtigkeit  ihres  Amtes  walten,  so  war  damit  das  volle 
Personal  eines  Pixerecourt'schen  Melodrams  gegeben,  und  einem  so 
aufgebauten  Romane  konnte  es  an  erfolgreichen  Wirkungmitteln 
nicht  fehlen. 

Zwei  der  liierher  gehörigen  Romane  sind  sogenannte  Volks- 
romane,  d.  h.  mit  besonders  grausigen  Thaten  angefüllt  und  im 
derbsten  Stile  abgefasst.  Der  eine  von  ihnen  zeigt  schon 
äusserlich  seine  Bestimmung  durch  die  Dürftigkeit  seiner  Aus- 
stattung und  die  Fassung  und  Länge  seines  Titels.  Es  ist  der  von 
einem  Anonymus  herrührende  Roman:  Die  sonderbaren  und  atisser- 
ordentlicJien  Abenteuer  eines  Freischärlers  oder  Die  Preussen  in  Frank- 
reich. Sehr  wahrhaftige  und  fesselnde  Einzellieiten  etc.'^)  Ein  Soldat 
entweicht  im  Auftrage  seines  Obersten  mit  Regimentsfahne  und 
Adler  aus  Strassburg,  indem  er  sich  als  Frau  verkleidet  unter  die 
Kranken  und  Weiber  mischt,  denen  auf  Antrag  des  Stadtkonnnandanten 
„Ulrich"  gestattet  worden  ist.  die  der  Uebergabe  bereits  nahe  Stadt 
zu  verlassen.  Er  nimmt  seinen  Weg  nach  Zabern,  zu  seiner  geliebten 
Lisa  und  ihrem  Vater,  Meister  Gözler.  Lisa  liilft  ihm  die  gerettete 
Fahne  im  Walde  vergraben;  mit  dem  Vater  verabredet  er  beim  ein- 
fachen Abendmahle  (die  durchgezogenen  preussischen  „Raubvögel" 
hatten  das  Beste  bereits  verzehrt)  eben  seinen  Eintritt  in  eine  Frei- 
schar, als  ein  unheimliches  Geräusch  das  Nalien  von  Ulanen  an- 
meldet. Der  Flüchtling  wird  verborgen.  Das  erste,  einstimmig 
vorgebrachte  Wort  der  eindringenden  fünf  Ulanen  ist  „Wein.-'  Der 
Meister  erklärt  keinen  zu  haben;  schon  stürzen  sich  infolge  dessen 
die  Reiter  auf  ihn,  als  einer  von  ilmen  zwei  Flaschen  des  begehrten 
Getränkes  herbeibringt,  und  damit  ein  Augenblick  Rulie  eintritt. 
Aber  der  Ulanenführer  verlangt  von  Gözler,  er  solle  als  zukünftiger 
Landsmann  auf  Preusseus  Wohl  mit  anstossen.  Dieser  nimmt  auch 
das  Glas,  ruft  aber:  Es  lebe  Frankreich!  Sofort  wird  er  auf  Befehl 
des  Vorgesetzten  aus  dem  Zimmer  gebracht  und  erschossen.  Lisa 
fällt  in  die  Arme  des  zurückgebliebenen  Ulanenführers,  der  ihr  einen 
schallenden  Kuss  jribt,  im  gleichen  Augenblicke  aber  mir  gespaltenem 
Schädel  hinstürzt.  Georg,  der  Flüchtling,  liat  ihn  mit  einem  Beil- 
hieb niedergemacht.  Er  ergreift  dann  eine  Flinte,  schiesst  noch 
einen  Ulanen  nieder  und  verjagt  auch  die  drei  übrigen.  Er  flächtet 
darauf  mit  Lisa,  um  der  Rache  der   wiederkehrenden  Deutschen  zu 


')  ies    flventures  cftrieuses   et   extraordinaires  d'un   Franc-  Tireur. 
Pariiä,  0.  J. 


208  E.  Koschwüs, 

entgehen.  In  einer  einsamen  Waldhütte  finden  sie  ein  vorläufiges 
Unterkommen.  Da  erblickt  Georg  im  Dunkel  der  Nacht  einen 
Lichtschein;  er  birgt  die  schlafende  Geliebte  unter  Zweigen  und 
erklimmt  einen  nahen  Felsen.  Am  Boden  liegend,  sieht  er  von  hier 
aus  einen  Trupp  preussischer  Soldaten  vorüberziehen.  In  dem  Augen- 
blicke, wo  er  sich  erheben  will,  gewahrt  er  hinter  sich  eine  mensch- 
liche Gestalt;  noch  ehe  er  an  Gegenwehr  denken  kann,  erhält  er 
einen  wuchtigen  Schlag,  der  ihm  das  Gewehr  aus  der  Hand  fallen 
lässt.  Der  geheimnissvolle  Gegner  beugt  sich  über  ihn,  Georg 
sticht  mit  seinem  Messer  nach  ihm,  ein  deutscher  Fluch  ertönt, 
und  ein  Ringkampf  beginnt,  bei  welchem  der  Deutsche  über  Georg 
hinwegstürzt,  mit  den  Beinen  in  den  Abgrund.  Aber  die  Hände  des 
Gestürzten  klammern  sich  fest  an  den  Hals  Georgs  an;  er  ist  nahe 
daran,  mit  in  den  Abgrund  gezogen  zu  werden;  nur  ein  Busch, 
an  dem  er  sich  krampfhaft  festhält,  gewährt  ihm  Schutz,  seine  und 
des  Gegners  Last  tragend.  Er  fühlt  seine  Kräfte  sinken  und  fällt 
in  Ohnmacht.  Als  er  erwacht,  findet  er  sich  des  Feindes  ledig;  ein 
Turko  hat  ihn  eiTettet.  Bei  der  Rückkehr  nach  der  Waldhütte  ist 
Lisa  aus  ihr  verschwunden.  Der  radbrechende  Turko  führt  den  Be- 
trübten zu  einem  weitern  Flüchtling,  einen  lebhaften  und  gesprächigen 
südfranzösischen  Zuaven  aus  Tarascon.  Die  drei  schliessen  Freund- 
schaft und  schwören  Waffenbrüderschaft  bis  zu  dem  Tage,  „wo  der 
letzte  Preusse  unter  den  Hieben  Frankreichs  gefallen  sein  wird." 
Sie  begeben  sich  gemeinsam  auf  die  Suche  Lisas;  der  Turko 
Abdallah,  das  Kind  der  Wüste,  dient  als  Pfadfinder.  Mit  Hilfe  eines 
einsam  angetroffenen  kleinen  Mädchens  und  deren  alter  Grossmutter, 
die  mit  Schnaps  und  Brot  aufgefrischt  wird,  gelingt  es,  das  Feld- 
lager der  durchgezogenen  Deutschen  unentdeckt  aufzufinden.  In  ihm 
befindet  sich  Lisa,  an  einen  Pfahl  gebunden  und  von  den  Deutschen 
roh  verhöhnt.  Die  drei  beschliessen,  die  deutsche  Truppe  zu  über- 
fallen; der  eine  schiesst  von  rechts  ins  Lager,  der  andere  von  links, 
und  während  die  Deutschen  nach  diesen  Seiten  eilen,  um  den  An- 
griff abzuwehren,  eilt  Georg  in  die  verlassene  Lagei-stätte  und 
befreit  seine  Braut.  Abdallah,  der  sich  im  Kampfeseifer  zu  weit 
hervorgewagt,  wird  umgangen,  gefangen  genommen  und  an  Stelle 
der  Entflohenen  an  den  Pfahl  befestigt.  Tags  darauf  werden 
ihm  Arme  und  Beine  durch  die  Löcher  eines  Marterbrettes  gesteckt, 
so  dass  ei'  sich  nicht  rühren  kann.  Darauf  wird  er  mit  einer  neun- 
schwänzigen  Katze  zu  Tode  gepeitscht.  Mit  dem  Ausruf:  Es  lebe 
Frankreich!  athmete  er  seine  Seele  aus.  Damit  aber  noch  nicht 
genug,  Hess  ihn  der  befehlende  deutsche  Offizier  noch  aufhängen  und 
den  tot  gepeitschten  und  erhangenen  endlich  auch  noch  erschiessen. 
Erst  damit  ist  der  preussischen  Rache  genug  gethan. 

Georg  begründet  mit  Lisa  und  dem  Südfranzosen  eine  Freischar. 


Die  französische  Novdlistik  und  Romanlitteratur.    II.        209 

Sie  stossen  zu  Cfaribaldi,  dem  lebhaftes  Lob  gespendet  wird,  was  den 
Verfasser  aber  nicht  hindert,  eine  gewisse  Verwandtschaft  zwischen 
ilim  und  Don  Quijote  anzuerkennen.  ,,Sein  vornelunes  Gebahren, 
sein  männliches  Gresicht,  sein  rother  Mantel  und  sein  Filz  nach 
Art  dessen  Fra  Diavolo's  haben  ihn  mit  Recht  volksthümlich  ge- 
macht." Von  Garibaldi  begiebt  sich  Georg  zu  Cremer,  von  dem  er 
einen  ehrenvollen  Auftrag  erhält.  Er  zeichnet  sich  unter  seiner 
Führung  in  einem  Gefechte  bei  Dijon  aus,  w^o  die  Preussen  zu 
Paaren  getrieben  werden,  geräth  aber  in  Gefangenschaft,  so  dass 
die  inzwischen  in  eine  Marketenderin  verwandelte  hübsche  Lisa  mit 
ihren  Klagen  um  ihn  allein  zurückbleibt. 

Aus  den  Kämpfen  in  Wald  und  Feld  führt  der  Vei-fasser,  ohne 
Uebergang,  um  nach  dem  beliebten  Verfahren  der  Volksromanschi'eiber 
die  Spannung  der  Leser  zu  erhöhen,  in  eine  Wirthschaft  zu  Dijon, 
wo  sich  deutsche  Offiziere  ihren  gewohnten  Abendunterhaltungen 
hingeben.  Ihr  Gespräch  ist  im  vollen  Gange.  Eben  werden  Wetten 
gemacht. 

„Nun,  lieber  Baron,"  sagt  ein  Offizier,  „ich  wiederhole  Ihnen, 
Ihre  Wette,  eine  Punschbowle  in  einem  Zuge  auszutrinken,  hat 
nichts  Ueberraschendes ;  da  steckt  nicht  viel  dahinter,  und  ich  wette 
etwas  viel  Besseres." 

„Lassen  Sie  hören;  was  schlagen  Sie  vor,  mein  lieber 
von  Bacharach?" 

,,Ich  wette,  zwölf  Schoppen  zu  vertilgen,  während  es  zwölfe 
schlägt." 

„Gut!  Angenommen,  lieber  Graf!" 

„Welch  ein  Lärm  um  so  wenig!  Ich,  Lieutenant  Wilhelm 
von  Welkeimsten ,  wette ,  ein  Heubündel  zu  essen ,  ohne  dazu  zu 
trinken." 

Hurrah,  Hurrah,  riefen  die  andern  Offiziere  im  Chor. 

„Still,  meine  Herren;  ich  stelle  eine  Bedingung;  nämlich,  dass 
mir  das  Heubündel  von  Fräulein  Babet  auf  einer  Silberschale  auf- 
getragen w'ird." 

Einstimmig  angenommen!  riefen  die  Offiziere. 

Während  der  Kellner  seine  leichtlebige  Schwester  Babette  zur 
Austragung  dieser  Wette  aus  dem  Bette  holt,  erscheint  in  der 
Gaststube  ein  böhmischer  Musikant  mit  einer  hübschen  jugendlichen 
Begleiterin,  die  einem  jungen  Lieutenant  sofort  in  die  Augen  sticht 
und  von  ihm  zu  einem  ihm  nahen  Sessel  geführt  wird.  Der 
Musikant  trägt  eine  niedrig  komische  Dichtung  vor,  in  der  die 
Engländer  verspottet  werden  (zu  haben  bei  dem  Verleger  unseres 
Werkes  für  40  Centimes)  und  die  trotz  ihres  Stumpfsinnes  mit 
lebhaftestem  Beifall  aufgenommen  wird.  Darauf  ergreift  die  Ge- 
fährtin des  Musikanten  die  Hand  des  sie  beschützenden  Lieutenants 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  14 


210  E.  Koschivüz, 

und  wahrsagt  ihm,  er  werde  eines  Ta^es  sechs  Sterne  haben,  d.  h. 
General  sein,  aber  eines  gewaltsamen  Todes  sterben,  wenn  er  nicht 
vorlier  jemand  das  Leben  rette.  Er  will  nun  wissen,  wen  er  retten 
soll,  und  während  der  Kellner  das  Entwichensein  dei'  Babette  an- 
meldet, verlässt  er  mit  der  Fremden  das  Gastliaus. 

Indessen  sitzt  der  gefangen  genommene  Georg  in  tiefer  Dunkel- 
heit im  Hintergrunde  seines  „Kerkers" ,  von  qualvollen  Sorgen  ge- 
martert. Um  Mitternacht  o'laubt  er  plötzlich  seinen  Namen  flüstern  zu 
hören;  er  richtet  sich  krampfhaft  von  seinem  armseligen  Lager  auf; 
ein  leichter  Hauch  berührt  seine  Stirne,  Lisa  ist  bei  ihm  und  will 
ihn  entführen.  Aber  er  glaubt,  sie  habe  ihm  wie  Marion  Delonne 
mit  ihrer  Tugend  die  Freiheit  erkauft,  misstraut  ihren  gegentheiligen 
Versicherungen,  und,  da  die  Zeit  drängt,  muss  sie  ihn  in  seiner 
Haft  zurücklassen,  die  er  einer  schimpflich  erkauften  Freiheit  vor- 
zieht. Lisa  kehrt  in  die  verrufene  Wirthscliaft  zurück,  wo  der  sie 
beschützende  Lieutenant  und  der  Bänkelsänsicr,  in  Wirklichkeit  der 
Taraskoner  Zuave  und  Wafl'engefährte  Georgs,  auf  sie  warten. 
Der  Fransose  lockt  den  deutschen  Ofrizier  auf  die  Strasse,  ermordet 
ihn  und  befreit  in  seiner  Uniform  und  mit  Hilfe  der  bei  dem  Ge- 
töteten vorgefundenen  Papiere  Georg  aus  der  Gefangenschaft. 

Damit  ist  die  eigentliche  Geschichte  zu  Ende;  ddch  fügt  der 
Verfasser,  dem  es  damit  offenbar  zu  rasch  ging,  noch  eine  urwüchsige 
Schilderung  des  Ti-effens  l)ei  Nuits  und  eine  summarische  Angabe 
über  den  Kriegsausgang  hinzu.  Zum  Schluss  ei-fahren  wir,  dass 
Georg  und  Lisa  sich  in  Algier  niederliessen,  wohin  ilmen  auch  der 
inzwischen  zu  einem  Marseiller  gewordene  taraskoner  Zuave  als 
Hausfreund  nachgefolgt  ist. 

Ein  Volksroman  ist  auch  G.  Aimards  Baron  Friedrich^).  Im 
Vorwort  der  mir  vorliegenden  Prachtausgabe  wird  darauf  hinge- 
wiesen, dass  der  Roman  in  vollem  piditischen  Fieber  verfasst  und 
zum  ersten  Male  veröffentlicht  worden  ist.  Sein  ursprünglicher 
Titel  lautete:  Die  Äleisterspione  (7es  Maitres  espions)  und  sei  auf 
Wunsch  der  französischen  Kegierung  geändert  worden;  der  Inhalt 
sei  unverändert  geblieben.  Das  Buch  sei  weder  ein  Skandalroman 
noch  ein  platonischer  Spaziergang  in  fremdes  Land,  sondern  ent- 
halte die  reine  Walii'lieit.  Sein  Erfolg  werde  ungeheuer  sein. 
Diese  letzte  Prophezeiung  ist  nicht  eingetroffen;  wie  es  mit  der 
Wahrlieit  beschaifen  ist,  wird  man  den  folgenden  Andeutungen  über 
den  Inlialt  des  umfangreidien,  in  einen  Prolog  und  fünf  Theile 
zerfallenden  Werkes  entnehmen.  Schon  die  Titel  dieser  Abtheilungen 
lassen  vermuthen.  was  man  von  ihnen  zu  erwarten  hat.  Sie 
lauten:  Theil  I:  Eine  haiidvoll  Schurken  (womit  natürlicli  Deutsche 

')  Le  baron  Frederic.     Paris  1877. 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteratur.     11.        211 

gemeint  sind) ;  Theil  II :  Der  Verrath ;  Theil  III :  In  der  Schlinge 
gefangen;  Theil  IV:  Die  Frauenpeitscher  (wieder  Deutsche);  Theil  V: 
Die  Vereeltung-.  Aimard,  der  französische  Grerstäcker,  behandelt 
seinen  Gegenstand  vollständig  nach  den  Eecepten  seiner  Indianer- 
romane. Dadurch,  dass  eine  Freischar  eingeführt  wird,  die  in  den 
Vogesen  haust  iind  von  deutschen  Soldaten  vorfolgt  wird,  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  die  übliche  Pfadsuche,  das  Verstecken  im 
Walde,  die  Thiersignale  und  die  Schrecken  der  Einzelkämpfe  ein- 
zuführen. Audi  Spürhunde  mit  Menschenverstand,  eingerichtete 
Wohnungen  in  verborgenen  Felsengrotten,  dem  Feinde  entgegen  ge- 
wälzte Felsenblöcke  u.  dgl.  fehlen  nicht.  Die  Freischärler,  die 
grossentlieils  aus  Wilddieben  und  Schwärzern  bestehen  und  unter 
denen  ein  edler  ..Werwolf"  eine  hervorragende  Rolle  spielt,  sind  un- 
freiwillig als  eine  echte  Räuberbande  geschildert,  deren  Mitglieder 
deutsche  Krieger  aus  dem  Hinterlialte  niederknallen  oder  auch  kleine 
deutsche  Truppenabtheilungen  listig  überfallen  und  bis  auf  den  letzten 
Mann  hinmeucheln.  Die  als  grobe  Flegel  gezeichneten  deutschen 
Offiziere  und  die  deutschen  Soldaten,  die  ihnen  gegenüber  stehen, 
sind  entsetzliche  Fratzenbilder.  Die  französischen  Helden  triefen  da- 
gegen von  Bravheit  und  Edelmuth.  Die  in  dem  an  Widersprüchen 
und  Un  Wahrscheinlichkeiten  überreichen  Romane  auftretenden  deutschen 
Spione  verfolgen  auf  das  hartnäckigste  eine  Anzahl  unschuldiger  elsasser 
Opfer.  Eine  Eingangsscene  zeigt,  wie  Bismarck  in  eigner  Person 
den  Hauptspion,  den  Baron  Friedrich,  und  eine  Spionin,  eine  Edel- 
frau,  in  Dienst  nimmt.  Eine  Anzahl  Spione  niederer  Gattung,  u.  a. 
ein  jüdischer  Bankier  Jeyer  und  ein  Pferdehändler  Meyer,  stehen 
unter  Leitung  dieser  Spionenmeister.  Baron  Friedrich  muss  sich  zu 
seinem  Amte  hergeben,  weil  er  Wechsel  gefälscht  hat;  durch  sorg- 
same Erfüllung  des  ihm  gewordenen  Auftrages  darf  er  seine  Ehren- 
rettung erhoffen.  Hinderlich  in  den  Weg  stellt  sicli  ihm  einmal 
ein  von  ihm  verfühi-tes  und  schändlich  betrogenes  Mädchen,  das, 
von  einem  edlen  Franzosen  dabei  unterstützt,  sich  bemüht,  seine 
Pläne  zu  durchkreuzen ;  sodann  die  Familie  seines  strassburger 
Brodherren,  eines  Fabrikanten,  bei  dem  er  als  Buchhalter  diente, 
um  ungestört  seinem  Gewerbe  nachgehen  zu  können,  und  deren 
Tochter  er  mit  seiner  Liebe  verfolgt.  Die  spionierende  Edelfrau 
ist  durch  einen  untreuen  Diener  und  einflussreiche  Verwandte  um 
das  ihr  vererbte  Vermögen  gebracht  worden ;  sie  hat  bei  erfolgreicher 
Thätigkeit  die  Wiedereinsetzung  in  ihre  Rechte  zu  erwarten.  Sie 
sieht  aber  im  Laufe  der  Erzählung  das  Unrecht  ihi-es  Beginnens  ein, 
veiTäth  nun  zum  Nutzen  der  Franzosen  ihre  eigenen  Landsleute, 
und  wird  von  diesem  Augenblicke  von  dem  Verfasser  als  ein  muster- 
haftes Idealbild  gepriesen.  Der  Verfasser  bemerkt  nicht  im  ge- 
ringsten,  dass  er  diese  bekehrte  Edelfrau,  gerade  wo  er  sie  feiert, 

14* 


212  jE.  Koschtvitz, 

eine  noch  viel  schimpflichere  Rolle  spielen  lässt.  Die  von  Baron 
Friedrich  und  seinen  Gehülfen  veranlassten  Ang-riffe  und  Nach- 
stellungen gegen  seine  elsasser  und  französischen  Opfer  werden 
immer  wieder  vereitelt,  namentlich  durch  das  Verdienst  des  ver- 
schlagenen Werwolfs,  und  schliesslich  linden  die  deutschen  Verfolger 
sämmtlich  den  ihnen  gebührenden  Lohn.  Der  Baron  Friedlich  endet 
durch  Selbstmord;  der  Bankier  Jeyer  wird  auf  sinnvoll  verschärfte 
Weise  erhangen;  auch  der  Pferdehändler  Meyer,  in  Wirklichkeit 
ein  deutscher  Graf,  findet  ein  klägliches  Ende,  indem  er  an  einem 
nicht  weniger  als  zwanzig  Meter  hohen  Galgen  aufgehangen  wird, 
mit  einem  auf  die  Brust  geheftetem:  espion  prussien.  Die  Doppel- 
spionin,  Frau  von  Steinthal,  kommt  mit  einer  leichten  Verwundung 
davon. 

Der  Verfasser  liebt  es,  lange  belehrende  Erörterungen  einzu- 
flechten,  über  patriotische  Pflichten,  über  die  Berechtigung  des 
französischen  Freischärlerwesens,  über  die  Scheusslichkeit  der  Spionage, 
so  lange  sie  für  deutsche  Zwecke  vorgenommen  wird,  und  über  die 
Abscheulichkeit  der  deutschen  Kriegführung  und  der  Deutschen 
überhaupt.  Gibt  er  die  Erörterungen  nicht  selbst,  so  legt  er  sie 
seinen  französischen  Helden  in  den  Mund.  Die  Geisselung  der 
deutschen  Spionage  findet  insbesondere  in  dem  Falle  statt ,  wenn 
die  Franzosen  eines  deutschen  Spions  habhaft  geworden  sind;  der 
unfreiwillige  Zuhörer  ist  dann  gewöhnlich  sehr  zerknirscht  nnd  sieht 
die  Schändlichkeit  seines  Gewerbes  ein,  was  ihm  aber,  von  Frau 
von  Steinthal  abgesehen,  nichts  hilft.  Einmal  dämmert  dabei  den 
richtenden  Freischärlern  das  Bewusstsein  etwas  auf,  dass  sie  zur 
Richterschaft  vielleicht  nicht  ganz  berufen  sind.  Mit  Vorliebe  wird 
den  Spionen,  deren  Getriebe  in  langen  Kapiteln  phantastisch  aus- 
gemalt ist,  ihr  Undank  gegenüber  der  ihnen  erwiesenen  Gast- 
freundschaft vorgehalten;  diese  Gastfreundschaft  besteht  aber  auch 
nach  Aimard  nur  darin,  dass  man  ihnen  soviel  Geld  wie  möglich  ab- 
nahm für  das,  was  sie  kauften,  ihnen  möglichst  wenig  gab,  für  das 
was  sie  verkauften,  und  dass  man  sie  für  möglichst  geringen  Lohn 
möglichst  viel  arbeiten  Hess.  Die  l)eschuldigten  Spione  sind  zu  ein- 
fältig, um  zu  begreifen,  dass  sie  für  diese  selbstsüchtige  Gastfreund- 
schaft keinen  Dank  schuldig  sind.  Zur  Bezeichnung  der  Deutschen 
besitzt  Aimard  eine  reiche  Auswahl  von  Ausdrücken ,  die  sich 
während  des  Feldzuges  von  1870 — 71  in  Frankreich  für  sie  ein- 
gebürgert, und  in  Schriften,  wie  der  vorliegenden,  überhaupt  in 
der  volksthümlichen  Kriegslitteratur,  aufrecht  erhalten  haben.  Sie 
sind:  Lumpen,  Banditen,  Schwaben,  Barbaren,  germanische  Horden, 
Schinder,  Brandstifter,  Kinder-  und  Frauenmörder,  wilde  Thiere, 
Frauenschänder,  Verräther,  Ungeheuer  mit  Menschenantlitz,  stinken- 
des Viehzeug  u.  dgl. ;    ihre  wesentlichsten  Eigenschaften  sind:  Hab- 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    II.       213 

gier,  Krieclierei,  Unbarmlierzigkeit,  Wildheit,  Heuchelei,  Stumpfsinn. 
Die  deutschen  Offiziere  sind  steif,  hochmüthig,  räuberisch,  grausam, 
lachen  höhnisch  wie  Hyänen  etc.  Wenn  sie  von  den  Freischärlern 
erschossen  werden  sollen,  lassen  sie  sich  wie  Kälber  zur  Schlacht- 
bank führen.  Entsprechend  sind  die  Thaten,  die  den  Deutschen  in 
unserm  Romane  beigelegt  werden.  Die  französischen  Dorfbewohner 
müssen  ganz  unglaubliche  Kriegssteuern  zahlen,  ihre  Dörfer  werden 
geplündert,  Greise  werden  hingeschlachtet,  eine  Mutter  stirbt  unter 
Säbelhieben  über  dem  Leichnam  ihrer  geschändeten  Tochter,  Kinder 
werden  getötet,  weil  sie  ihnen  gestellte  Fragen  nicht  beantworten, 
den  fliehenden  Bauern  wird  ihr  Mundvorrath  vom  Rücken  herunter 
gerissen,  Priester  sterben  mit  dem  Kreuz  in  der  Hand  unter  den 
preussischen  Kugeln,  u.  dgl.  Zu  solchen  Schilderungen  fügt  dann 
der  Verfasser  gern  hinzu:  „Alles,  was  wir  sagen,  ist  buchstäblich 
wahr;  wir  haben  vielmehr  zu  mildern  gesucht,  da  unsre  Feder  sich 
weigerte,  solch  ungeheure  Grässlichkeiten  zu  beschreiben."  (Vgl.  II,  52, 
II,  131;  IV,  12  Anm.  u.  ö.)  Eine  heitere  Note  bringt  Aimard, 
der  vor  Jahren  einmal  Deutschland  durchreist  hat,  nur  durch  Ein- 
streuung sonderbarer  deutscher  Worte  und  Wendungen  in  seinen 
Text.  So  lautet  eine  deutsche  Losung  bei  ihm:  „Wir  wollen  dem 
Herrn  dienen  und  unserm  Koeuig  Willem"  ,  und  auf  die  Frage: 
Euer  Vaterland?:  „Wir  sind  die  werklaerten" ;  das  Stück  einer 
anderen  Losung:  „Ist  mir  verfallung"  (II,  78).  Ein  anderes  Mal 
sind  die  Preussen  mit  „Pickelhaupt"  (II,  112)  oder  „Spitzenthürnel" 
(V,  22)  bedeckt;  sie  essen  „Ptiannkuchen"  (III,  71),  sprechen  von 
„Freschützen"  (IV,  36)  u.  s.  w.  Liebüngsausdrücke  von  ihnen  sind: 
„der  Teuffei";  „Ihr  schaufsKoeple"  (III,  120)  u.  dgi.  Gelegentlich  wird 
man  belehrt  (IV,  23),  wie  man  einen  Preussen  von  einem  andern 
Deutschen  unterscheiden  kann.  Man  lässt  ihn  sagen:  „Eine  goude 
gebradene  Gans  ist  eine  goude  gäbe  Gottes."  Wenn  er  antwortet: 
„Eine  joude  jebradene  Jans  ist  eine  joude  jabe  Jottes",  dann  ist  er 
als  Preusse  erkannt. 

Ausser  den  deutschen  Soldaten  und  Spionen  trifft  der  Unwillen 
des  Verfassers  insbesondere  noch  die  deutsch-jüdischen  *Händler,  die, 
wie  Raben  dem  Aase,  dem  deutschen  Heere  nachzogen  (IV,  55), 
und  Napoleon,  der  mit  in  unsrer  Litteratur  häufig  widerkehrender 
republikanischer  Wuth  verurtheilt  wird. 

Interessant  ist  die  Beobachtung  Aimards  (I,  59) :  Die  Elsasser 
sind  grosse  Esser  und  Trinker,  wie  alle  kräftigen  und  ursprünglichen 
Naturen.  Da  auch  den  Deutschen  in  unsrem  Romane  durchweg 
eine  hervorragende  Ess-  und  Trinklust  eigen  ist,  so  können  wir 
daraus  mit  Befriedigung  eine  hervorragende  Kraft  und  Ursprüng- 
liclikeit  unserer  Rasse  folgern. 

Die   dem  Romane   beigegebenen  Holzschnitte,   die   zum   Theil 


214  E.  KoschwUe, 

fremden  Werken  entlehnt  sind,  stehen  auf  der  Höhe  des  im  Texte 
Vorige  tragenen. 

Vorzugsweise  für  die  Jugend  berechnet  erscheinen  E.  Müllers 
Erinnerungen  eines  jungen  Freischärlers^),  ein  ebenfalls  reichlich  mit 
Holzschnitten  ausgestatteter  Roman,  worin  ein  Lyoner  Lj'zealprimaner, 
der  in  eine  Freischar  getreten  ist,  seine  Abenteuer  erzählt.  Die  Er- 
zählung gehört  seit  ihrem  ersten  Erscheinen  (i.  J.  1884)  zu  den 
Weihnachts-  und  Neujahi-sfestgaben ,  mit  denen  man  gereiftere 
Rnaben  zu  beschenken  und  zur  Vaterlandsliebe  anzuregen  pflegt. 
Eine  Angabe  F.  Bohs^),  wonach  der  Verfasser  „in  seiner  Ei'zählung 
eine  solche  Grluthhitze  des  Deutschenhasses  ausstrahlt,  dass  man 
meinen  könnte,  es  wäre  das  Buch  etwa  1872  kurz  nach  dem  Kriege 
erschienen",  veranlasst  zu  dem  Glauben,  dass  in  dem  \\'erke  be- 
sonders hochgradige  Deutschenschmähungen  enthalten  seien.  Dies 
ist  keineswegs  der  Fall;  der  Müller'sche  Freischärler  ist  gegenüber 
dem  Werke  Aimards  und  dem  grösseren  Theile  der  im  Folgenden 
zu  betrachtenden  Romane  ein  Muster  von  Hötlichkeit  und  Mass- 
haltung. Die  Deutschen  kommen  in  ihm  mit  einer  Anzahl  von 
Schurken  und  Lumpen  davon,  die  schlichten  Leuten  in  den  Mund 
gelegt  werden,  und  die  der  Verfasser  also  uiclit  auf  eigne  Rechnung 
nimmt;  es  wird  ihnen  ferner  Grausamkeit  gegenüber  den  Städten 
und  Dörfern  vorgeworfen ,  die  sie  in  Brand  schössen .  weil  ihre 
Civilbevölkerung  zur  Waife  gegriffen  hatte ;  es  tritt  auch  ein  wunder- 
licher Heiliger  von  deutschem  Offiziere  auf,  der  dem  Schulzen  eines 
Dorfes  nicht  oft  genug  sagen  kann,  dass  er  seine  Ortschaft  in  Brand 
zu  stecken  gedenke;  endlich  sind  in  den  geschildeiten  Kämpfen  die 
Deutschen  ziemlich  hasenfüssig,  und  ziehen  sie  fast  immer  den 
Kürzern,  wenn  sie  nicht  in  grosser  Uebermacht  sind:  aber  das  sind 
alles  Kleinigkeiten  gegen  das  bei  Aimard  u.  a.  Vorgetragene.  Aus 
dem  Umstände,  dass  unser  Verfasser,  wie  Aimard,  wie  unten  Richebourg 
und  wie  überhaupt  fast  alle  Autoreu,  die  iu  ihren  Romanen  Freischaren 
auftreten  lassen,  das  Bedürfniss  empfindet,  diese  Einrichtung  mit 
einigen  Sophismen  zu  vertheidigen  und  sie  mit  Unrecht  mit  unserni 
Ijandsturm  ^u  vergleichen,  wird  am  deutlichsten  klar,  dass  ihm 
selbst  das  von  ihm  geschilderte  Freischarenwesen  nicht  recht  geheuer 
und  rechtfertigungsbedürftig  erscheint. 

Die  in  unserm  Romane  verherrlichte  Freitruppe  ist  von  ganz  be- 
sonderem Schlage.  Sie  besteht  aus  dem  genannten  elternlosen  Primaner, 
der  seine  Ferien  eben  bei  seinen  Pflegeeltern  in  einem  Dorfe  des 
Jura  verbringt;  aus  einem  78  Jahre  alten,  noch  rüstigen  und  riesigen 
Holzfäller,   der  den  Guerillakrieg   in  Spanien   mitgemacht   hat   und 


^)  Souvenirs  d'un  jeune  Franc-Tireur.     5.  Aufl.     Paris  1893. 
')  Deutschlands  westlicher  Nachbar.     Leipzig  188(!,  S.  46. 


Die  fransösische  Novellistik  und  Bomanlitteratur .    II.        215 

deswegen  der  „grosse  Spanier'^  genannt  und  zum  Bandenfiihrer 
erwählt  wird;  aus  seinei-  Enkelin,  einer  im  Backtischalter  befind- 
lichen Hirtin,  und  ihrem  hochintelligenten  Hunde,  die  zusammen  die 
Vorhut  zu  bilden  haben;  aus  einem  buckligen  Schneider;  einem  mit 
einer  Dörflerin  verheirateten  deutschen  Schweizer,  der  ein  wunderliches, 
im  Munde  einer  Persönlichkeit  gleicher  Herkunft  ganz  unmögliches 
Französisch  redet ;  einem  ainien  Schuhflicker ;  zwei  Bauern  und 
zwei  Holzfällern,  und  endlich  aus  dem  Vater  Cluzot,  dem  Pflege- 
vater des  Lyzeal Schülers,  dem  zu  Anfang  des  Krieges  ein  Sohn 
gefallen  war,  und  der  nun  Rache  für  ihn  nehmen  will.  Für  jeden, 
der  von  ihm  erschossenen  Deutschen  steckte  er  ein  Eichenblatt  an 
seinen  Hut;  er  kehrt  mit  15  Eichenblättern  heim.  Diese  gemischte 
Gesellschaft  verschmäht  es,  sich  zu  uniformiren  oder  einer  grösseren 
Freitruppe  anzuschliessen.  Dies  wäre  zu  gefährlich  gewesen.  In 
echten  Räubertrachten  und  zum  Theil  mit  recht  alten  Flinten  bewaffnet, 
gehen  sie  auf  eigene  Faust  auf  die  Jagd  nach  dem  deutschen  Wilde 
darauf  eingerichtet,  sich  jeden  Augenblick  in  friedliche  Bauern 
verwandeln  zu  können.  Ihr  Losungswort  ist  „(!haux-('ernoise"  (der 
Name  ihres  Dorfes);  mit  bunten  WoUfäden,  die  auf  Büsche  und  Wiesen 
gelegt  werden,  und  die  sonderbarer  Weise  der  Wind  nicht  forttreibt, 
und  mit  Hilfe  des  Hundes  wird  der  Verkehr  zwischen  der  voraus- 
marschierenden Hirtin  und  dem  Gros  der  Trupi)e  hergestellt.  Unweit 
Baume  les  Dames  (bei  Besancon)  beginnen  die  Abenteuer.  Der  Schüler 
geht  in  ein  Dorf,  wo  eben  drei  Ulanen  als  Quartiermacher  eingetrott'en 
sind.  Einer  von  ihnen  giebt  sich  als  ehemaliger  Knecht  eines  Kneip- 
wirths  des  Dorfes  zu  erkennen;  er  führt  seine  Gefährten  geraden 
Weges  zum  Schulzenhause ,  wo  er  Quartier,  Essen  und  Trinken, 
Branntwein  und  Zigarren  für  500  Mann,  ausserdem  1000  Franken  zu 
sofortiger  Auszahlung  verlangt.  Die  Unterhandlung  mit  dem  wider- 
willigen Schulzen  wird  durch  einige  in  der  Ferne  gehörte 
Schüsse  gestört;  ein  Bauer  reisst  den  früher  im  Dorfe  ansässigen 
Ulanen  vom  Pferde  herunter  und  will  ihn  erwürgen.  Auf  Zureden 
des  Schulzen  lässt  er  ihm  aber  das  Leben;  der  Ulan  wird  nur  etwas 
geprügelt  und  gebunden.  Darauf  findet  sich  allerdings  noch  ein  ehe- 
mals von  ihm  verehrtes  Landmädchen,  das  ihm  zur  grossen  Freude 
der  Umstehenden  nachdrücklich  mit  einer  grossen  Peitsche  den  Rücken 
bearbeitet.  (Die  Situation  ist  durch  einen  Holzschnitt  würdig  ver- 
anschaulicht.) Der  zweite  Ulan  wird  von  unserm  Lyzeisten  ver- 
wundet, während  der  dritte  Reissaus  nimmt.  Bald  darauf  nehmen 
unsere  neun  Doiihelden  an  dem  Gefechte  einer  grösseren  Fieischar 
gegen  deiitsche  Soldaten  theil,  wobei  der  grosse  Spanier  eine  leichte, 
der  Schuhflicker  eine  schwerere  Verwundung  erleidet,  und  der  bucklige 
Schneider  in  Gefangenschaft  geräth.  Er  befreit  sich  aber  wieder 
aus  ihr,  wobei  er  einen  seiner  Verfolger  mit  einem  Felsstiick  nieder- 


216  E.  Koschwitz, 

schmettert  und  auf  dessen  Pferde  entweicht.  Hierauf  kommt  das 
Nachtlager  der  grösseren  Freischar  zur  Schilderung.  Ilir  Haupt- 
mann und  der  grosse  Spanier  tauschen  ihre  Guerillakriegerfahrungen 
aus.  Am  folgenden  Tage  gelangen  unsere  Musterfreischärler  nach  dem 
Gute  eines  Lebel,  wo  sie  auf  das  beste  aufgenommen  werden.  In 
seinem  nahe  der  Grenze  gelegenen  Üorfe  sollen  400  deutsche  Soldaten 
einquartirt  werden.  Noch  ehe  sie  ankommen,  verscliwinden  die 
Frauen,  Greise  und  Kinder  mit  der  weithvollsten  Habe;  nur  die 
Männer  bleiben  zurück.  Die  Deutschen  werden  auf  das  aufmerk- 
samste bewirthet.  Man  verschafft  ihnen  Stroh  in  Uebeiiluss  und 
setzt  ihnen  edle  Weine  statt  des  gewöhnlichen  Landweins  vor.  Aber 
dem  Weine  ist  Mohnsaft  beigemischt  worden.  Die  deutschen  Soldaten 
schlafen  infolge  dessen  sämmtlich  nach  ihrer  Abendmahlzeit  ein,  und 
nun  wird  die  Ortschaft  von  ihren  Einwohnern  in  Brand  gesteckt. 
Auch  die  Munitionswagen  gerathen  in  Brand  und  explodiren,  so 
dass  auch  die  beiden  Kanonen  der  Deutschen  zertrümmert  werden. 
Die  schlaftrunkenen  Soldaten,  die  nicht  wissen,  wie  ihnen  geschieht, 
und  die  in  ihrer  Schlafbefangenheit  die  Ausgänge  nicht  linden, 
kommen  in  der  Brandstätte  massenhaft  um.  Selbst  unsern  Frei- 
schärlern erscheint  diese  Art  Kriegsführung  allzu  greulich,  und  sie 
verlassen  die  Gegend  ebenso  wie  die  Einwohner,  die  über  die  Grenze 
auswandern.  Tags  darauf  entspinnt  sich  ein  neuer  Kampf. 
Preussische  Soldaten  umzingeln  einen  Weiler,  in  dem  sich  etwa 
50  Freischärler  festgesetzt  haben,  die  sich  muthig  vertheidigen  und 
den  Preussen  grosse  Verluste  beifügen.  Dabei  gerathen  die  Preusseu 
in  eine  Falle;  sie  sind  plötzlich  fast  auf  allen  Seiten  von  den  Mann- 
schaften einer  grossen  Freischar  umzingelt,  und  da  sich  Tapferkeit 
unter  ihnen  nur  vereinzelt  findet,  so  bleibt  ihnen  nichts  übrig,  als 
eine  überstürzte  Flucht.  Die  Mehrheit  von  ihnen  wird  getötet  oder 
gefangen  genommen.  Unsere  kleine  Freitruppe,  die  sich  in  das  Gefecht 
eingemischt  hat,  kommt  indess  auch  nicht  ohne  Verlust  hinweg. 
Einer  der  mitgezogenen  Bauern  wird  getötet,  einer  der  beiden 
Holzfäller  verwundet.  Der  erzälilende  Lj'zealschüler,  der  sich  schon 
durch  den  Besitz  eines  ganzen  Arsenals  von  .lagdwaffen  auszeichnet, 
zeigt  sich  hierbei  auch  in  der  Heilkunst  l)ewandert  und  legt  dem 
Verwundeten  einen  kunstgerechten  Verband  an.  Auch  er  liat 
übrigens  eine  leichte  ^'erletznng  ei-fahren. 

Auf  diese  verschiedenartigen  Abenteuer  folgt  eine  Rast  von 
14  Tagen  in  Vesoul,  wohin  allerlei  Gerüchte  von  den  kühnen  Thaten 
eines  weiblichen  Freischarenhauptmanns,  von  der  Inbrandsetzung  des 
Schwarzwaldes  und  dem  siegreichen  Eindringen  der  Franzosen  in 
Baden  gelangen.  Nach  genügender  Erholung  ziehen  unsere  Helden 
ab,  um  sich  in  die  Nähe  der  Loirearmee  zu  begeben,  die  einen  sehr 
niederschlagenden  Eindruck  auf  den  Erzähler  macht.     Sie  gelangen 


Die  französische  Novellist ik  und  Romanlitteratiir.    II.        217 

nach  Chateaudun,  gerade  zur  rechten  Zeit,  um  an  der  Vertheidigung 
dieser  Stadt  mit  theilzunehmen,  die  in  sehr  ausführlicher  Weise  ge- 
schildert wird.  Am  Ufer  der  Eure,  unweit  Saint  Germain  de 
l'Espinay,  stösst  ihnen  ein  neues  Abenteuer  zu.  Ein  aus  Paris 
kommender  Luftballon,  den  die  Deutschen  verfolgen,  wird  von  ihnen 
in  einem  Walde  zum  glücklichen  Landen  gebracht.  Es  gilt,  die 
im  Luftschiffe  enthaltenen  Briefsäcke  und  Brieftauben  zu  bergen. 
Dies  war  darum  nicht  leicht,  weil  bald  darauf  die  kleine  Schar  mit 
den  beiden  Luftschiffern  umzingelt  wurde.  Die  Freischärler  müssen 
sich  in  zwei  Hälften  theilen.  Während  die  einen  mit  dem  grossen 
Spanier  an  der  Spitze  durch  eifriges  Scliiessen  die  Deutschen  an 
sich  ziehen,  entkommen  die  andern  mit  unserra  Schüler  glücklich 
sammt  den  Luftschiffern  und  den  Packen.  In  Nogent  le  Eotrou 
soll  die  Wiedervereinigung-  der  Cletrennten  statttinden.  Aber  ver- 
geblich erwarten  die  Entkommenen  dort  ihren  alten  Fühi'er  und 
die  bei  ihm  verbliebenen  Getährten.  Schliesslich  stösst  der  Erzähler 
mit  seinem  Pflegevater  und  dem  Schweizer  zu  einer  andern  Frei- 
truppe, mit  der  sie  an  der  Schlacht  bei  Beaune  la  Rolande 
theilnehmen,  worin  sich  nach  unser  Schilderung  die  Franzosen  im 
Allgemeinen  unendlich  heldenmüthig,  die  Deutschen  aber  sehr  wenig 
widerstandsfähig  zeigten.  Am  9.  Dezember  fällt  den  drei  Dörflern 
eine  von  den  Deutschen  angeschossene  Brieftaube  in  die  Hände. 
Der  Primaner  beschliesst,  die  ihr  anvertrauten  Depeschen  in  Paris 
einzuschmuggeln.  Als  Bauernbursch  verkleidet  dringt  er  durch  die 
Linien  der  Belagerer;  er  erleidet  dabei  wohl  eine  Verwundung,  kann 
aber  dennoch  die  Botschaften  einem  französischen  General  überreichen. 
Man  bringt  ihn  darauf  in  das  pariser  Theaterlazareth ,  wo  er  sich 
der  besten  Pflege  erfreut.  Das  Lazarethleben  und  das  pariser 
Strassenleben  in  den  letzten  Monaten  der  Belagerung  kommen  hierbei 
ziemlich  ausführlich,  zum  Theil  allerdings  sehr  schönfärberisch  zur 
Darstellung.  Kaum  geheilt,  ninmit  unser  Lyzeaner  an  der  Schlacht  am 
Mont  Valerien  theil ;  er  wird  dabei  abermals  verwundet .  diesmal  in  einem 
preussischen  Lazarethe  verpflegt,  und  kommt  im  Oktober  1871  wieder 
in  seinem  Dorfe  an,  etwas  gelälunt,  kurzathmig  und  mit  verzogenem 
Gesicht,  aber  als  ein  Jüngling,  der  sich  um  sein  Vaterland  wohl 
verdient  gemacht  hat.  Auch  den  übrigen  Dörflern  ist  es  nicht 
allzu  gut  ergangen.  Auch  der  zweite  Bauer  hat  seinen  Tod  gefunden; 
der  eine  Holzfäller  und  der  Schuhflicker  haben,  der  eine  das  linke, 
der  andre  das  rechte  Bein  leicht  gelähmt;  der  grosse  Spanier  hat 
gleichfalls  an  einer  Verwundung  schwer  gelitten  und  nniss  nun  ge- 
krümmt und  auf  einen  Stab  gestützt  einherschreiteu.  Seine  Enkelin, 
die  nach  Deutschland  in  Gefangenscliaft  geschickt  worden  wai-  und 
dort  alle  möglichen  körperlichen  und  seelischen  Leiden  erduldet  hat, 
ist  dagegen  wohl  erhalten;    nur  ihr  Hund   hat   ein   trauriges  Ende 


218  E.  Koschtvitz, 

genommen.  Die  übrigen  Freischärler  sind  munter  und  gesund,  und 
alle  sind  froh,  dem  Vaterlande  den  schuldigen  Tribut  gezahlt 
zu  haben. 

An  den  gewöhnlichen  Romanleserkreis  wenden  sich  Riche- 
bourg"s  Pariser  Freischärler'^),  worin  wieder  der  bei  Aimard  vor- 
gefundene Ton  angeschlagen  wird.  Im  Widerspruch  zum  Titel 
spielt  in  diesem  Romane  ein  wahres  Ungeheuer  von  einem  deutschen 
Hauptmann  die  Hauptrolle.  Er  stellt  der  jungen  und  schönen 
Tochter  eines  adligen  Bürgermeisters  nach,  der  Braut  eines  Edel- 
mannes, der  als  Lieutenant  in  einer  pariser  Freischar  dient.  Neben 
ihm  tritt  zu  Anfang  der  Erzählung  als  würdiges  Seitenstück  ein 
deutscher  Lieutenant  auf,  der  im  Begriif  steht,  mit  roher  Gewalt 
ein  Bauernmädchen  zu  entehren.  Nur  das  Dazwischentreten  ihres 
Bruders  im  gefährlichsten  Augenblicke  verhindert  die  Ausführung 
des  schändlichen  Beginnens.  Der  Lieutenant  fällt  unter  der  Kugel 
eben  dieses  Bruders,  der  ihn  aus  dem  Hinterhalte  niederschiesst  und 
dann  zu  einer  Freischar  stösst,  wie  auch  der  Bräutigam  in  unserm 
ersten  Freischärlerromane.  Der  deutsche  Hauptmann  benutzt  den 
Vorfall  für  seine  Zwecke.  Er  sucht  der  Tochter  seines  Quartier- 
gebers erst  durch  Einschüchterung,  dann  ebenfalls  mit  roher  Gewalt 
ihre  Unschuld  zu  rauben.  Um  zum  Ziele  zu  kommen,  lässt  er 
ihren  Vater,  den  Maire,  den  er  für  die  Ermordung  des  Kameraden 
mit  Unrecht  verantwortlich  macht,  in  Gefangenschaft  setzen.  Dann 
heuchelt  er  dem  Mädchen  gegenüber  eine  nicht  empfundene  Reue 
über  seine  Verführungsversuche,  bittet  sie  um  Verzeihung  und  sucht 
ihr  auf  alle  Weise  das  Gefühl  der  Sicherheit  und  des  Vertrauens 
zu  erwecken.  Nachdem  er  sie  sicher  gemacht  und  gleichzeitig  von 
ihrer  Umgebung  abgesondert  hat,  überfällt  er  sie  tückisch;  aber 
auch  ihn  erreicht  im  richtigen  Augenblick  das  Verhänguiss:  er  wird 
während  der  höchsten  Bedrängniss  des  Mädchens  von  ihrem  Bräutigam 
gefangen  genommen  und  soll  erhangen  werden.  Nur  die  Fürbitte 
dei'  Misshandelten  rettet  ihn  vor  dem  ehrlosen  Tode ;  doch  nützt 
ihm  diese  Rettung  nicht  viel:  die  Todesangst,  die  er,  ein  entsetz- 
licher Feigling,  ausgestanden,  hat  iliii  in  die  Nacht  des  Wahnsinns 
gestürzt. 

Diese  Grunderzählung  ist  mit  reichem  Beiwerk  ausgestattet, 
das  dazu  dienen  soll,  die  tiefe  Verächtlichkeit  der  deutschen  Sieger 
und  die  Berechtigung  der  Gewaltliandlungen  und  Meuchelmorde 
der  Freischärler  darzutliun.  Nebenbei  sucht  der  Verfasser  den 
mangelnden  Patriotismus  mancher  seiner  Landsleute  dadurch  wirk- 
sam zu  geissein,  dass  er  den  in  der  Erzählung  eingeführten  Deutschen 
die  Verurtheilung  ihrer  Charakterlosigkeit  und  Feiglieit  in  den  Mund 


^)  Les  Francs-Tireurs  de  Paris.     La  Fillc  du  Maire.     Paris  1877. 


Die  französische  Novellistik  und  Rommüitteratur.    II.        219 

legt.  Andre  Deutsche  haben  wieder  die  Aiitgabe,  die  Eichtiiokeit 
der  französischen  Anffassungen  zu  bestätigen,  indem  sie  alle  unsern 
Landsleuten  gemacliteu  Vorwürfe  als  zu  recht  bestehend  erklären. 
So  spricht  ein  bairischer  Soldat  dem  Bauerusohne,  der  den  Angriff 
gegen  seine  Schwester  rächt,  die  Hoffnung-  aus,  der  preussische 
Offizier,  der  ihn  befehligt,  werde  seinen  Tod  durch  Freischärler 
linden.  Ein  andrer  bairischer  Soldat,  ehemals  Diener  im  Hause  des 
Büirermeisters,  versichert  diesem,  er  werde  sich  lieber  erschiessen 
lassen,  als  einen  Franzosen  töten;  die  deutschen  Oftiziere  seien 
nichtsnutzig  und  verrätherisch,  ohne  Achtung  vor  Eigeiithum,  Greisen 
und  Frauen;  am  liebsten  möchten  sie  alle  Städte  und  Dörfer  in 
Brand  stecken,  und  sie  seien  wüthend,  nicht  oft  genug  einen  Yor- 
wand  dafür  zu  ünden.  Die  Preussen  seien  schrecklich  und  stark 
nur  gegenüber  den  Furchtsamen;  ihre  Hauptkunst  sei  die  Ein- 
schüchterung. Sie  greifen  nur  an,  wenn  sie  sicli  in  Ueberzahl 
wissen;  sobald  die  Ueberzahl  auf  Seiten  der  Gegner  ist,  weichen  sie 
feig  zurück.  Er  habe  ein  Dutzend  Freischärler  fünfzig  preussische 
Reiter  in  die  Flucht  jagen  sehen.  Die  preussischen  Soldaten,  die 
mir  durch  eine  eiserne  Mannszucht  zusammengehalten  seien,  wögen 
die  französischen  Krieger  nicht  auf.  Weiter  weiss  dieser  bairische 
Jüngling  zu  erzählen,  dass  unter  den  Ulanen  sehr  viele  vorher  in 
Frankreich  gewesen  seien  und  durch  ihre  Landeskenntniss  dem 
Preussenkönige  grosse  Dienste  leisteten.  Der  preussische  Oftizier, 
der  gegenwärtig  den  Dienst  der  französischen  Nordbahu  leite,  sei 
frülier  im  Dienste  der  Nordbahngesellschaft  gewesen.  Die  Franzosen 
seien  selber  an  diesen  Verhältnissen  schuld;  warum  nähmen  sie 
Fremde  in  die  besten  Stellen,  während  es  doch  in  Frankreich  selbst 
an  fähigen  und  geeigneten  Kräften  nicht  fehle  ?  Auch  die  preussischen 
Spione  haben  fast  sämmtlicli  Frankreich  dauernd  bewohnt;  sie 
würden  von  Franzosen  selbst  unterstützt,  die  für  etwas  Gold  sich 
zu  ihren  Verbündeten  macliten.  Mit  diesen  seien  allerlei  Zeichen 
verabredet.  Der  Müller  lässt  seine  Windmühlflügel  drehen;  der 
Holzfäller  legt  an  den  Wegesrand  eine  bestimmte  Anzahl  Eeisig- 
bündel  oder  zeichnet  einen  bestimmten  Baiim;  eine  alte  Bettlerin 
bittet  in  bestimmter  Weise  um  Almosen;  ein  Bauer  bringt  eine  Kiepe 
oder  einen  Korb  u.  dgl.  Auch  unter  einander  verständigen  sicli  die 
Preussen  durch  allerlei  Zeichen:  durch  farbige  Raketen,  Wandel- 
lichter, durch  Bewegungen  des  Gewehrs,  des  Pferdes  u.  s.  w. 
Schliesslich  spricht  der  bairische  Erzähler  die  Ansicht  aus, 
der  Krieg  werde  nicht  zu  Ende  gehen,  ohne  dass  Baiern  und 
Preussen  Kugeln  mit  einander  wechselten.  Die  Preussen  miss- 
trauen den  Baiern  und  lassen  sie  immer  zuerst  in's  Feuer 
gehen.  Die  Baiern  erwarten  grösstentiieils  nur  den  Augen- 
blick,   angegriffen   zu   werden,    um   sich  mit   Sack   und  Pack   dem 


220  E.  Koschwitz, 

Feinde  zu  übergeben.  Ein  Abgesandter  einer  bairischen  Abtheilung 
sei  zu  den  französischen  Vorposten  gegangen,  um  ihnen  die  Ueber- 
gabe  anzubieten:  er  habe  darauf  aber  die  Antwort  erhalten,  es 
liege  dafür  kein  Befehl  vor.  Der  Baier  erhält  zu  diesen  seinen 
„edlen  Empfindungen'^  von  dem  französischen  Bürgermeister  natür- 
lich die  vollste  Zustimmung. i)  Dient  dieser  phantasievolle  bairische 
Soldat  dazu,  um  die  elende  Beschaffenheit  der  Preussen  und,  aller- 
dings unabsichtlich,  die  noch  elendere  der  Baiern  nachdrucksvoll  zu 
schildern,  so  muss  der  preussische  Hauptmann  die  Abkanzelung  der 
vaterlandslos  gesinnten  französischen  Bauern  übernehmen.  Er  fülut 
im  Gespräcli  mit  demselben  Bürgermeister  aus:  „Teberall  finden 
wir  nur  gute  Bauern,  sanft  und  gelehrig  wie  Hammel,  entzückt 
uns  zu  sehen,  und  geneigt  mit  uns  zu  rufen:  Hoch  dem  Könige  von 
Preussen!  Es  ist  unglaublich.  Die  Elsass-Lothringer,  die  fast  Deutsche 
sind,  sind  tausendmal  französischer  gesinnt,  als  die  BeviUkerung  von 
Mittelfrankreich.  Ich  glaube,  Grott  soll  mich  verdammen,  Bismarck 
thäte  besser,  die  Touraine,  Berry  und  Orleannais  zu  annektiren,  als 
Elsass-Lothringen.  Blieben  wir  nur  ein  Jahr  in  Ihrem  Lande,  so  gäbe 
es  in  Frankreich  mehr  Preussen,  als  in  Preussen  selbst."-)  Etwas 
später  nennt  er  Bazaine  einen  ruchlosen  Yerräther:  die  schreck- 
lichsten Feinde  Frankreichs  seien  nicht  die,  die  offen  Krieg  mit 
dem  Lande  führen.  Episodisch  eingeflochtene  Erzählungen  des  Ver- 
fassers bezwecken  die  Richtigkeit  dieser  Behauptungen  zu  bestätigen. 
Französische  Soldaten  mussten  in  Orleans  eine  Flasche  Wasser  mit 
zwanzig  bis  fünfundzwanzig  Centimes  bezahlen,  während  dieselben 
Verkäufer  den  Truppen  von  der  Tann's  ihre  Keller  öffneten.  Wenn 
Mobilgardisten  oder  Freischärler  etwas  kaufen  wollten,  so  ant- 
woitete  man  ihnen,  die  Preussen  haben  alles  weggenommen.  Ein 
Freischarenführer,  dem  in  einem  Dorfe  eben  diese  Antwort  gegeben 
wurde,  lässt  den  Schulzen  vor  sich  rufen,  einen  wohlgenährten 
Herrn,  der  zugleicli  die  Stellung  eines  Notars  bekleidet.  Dieser 
verleiht  sofort  der  Hdffnung  Ausdruck,  dass  die  Freiscliar  bald  den 
Ort  wieder  verlassen  werde.  Aufgefordert,  den  Ortsangehörigen  den 
Verkauf  von  Lebensmitteln  anzuempfehlen,  versicliert  er,  die  armen 
Leute  besässen  nichts,  sie  seien  völlig  zu  Grunde  gerichtet.  Der 
Hauptmann  gibt  nun  in  seiner  Gegenwart  einem  Jungen  ein  Geld- 
stück mit  dem  Auftrage,  etwas  zu  essen  zu  besorgen,  und  erfährt 
so,  dass  bei  dem  Schulzen  selbst  ein  Frühstück  angerichtet  steht, 
das  die  entflohenen  preussischen  Offiziere  unberührt  zurückgelassen 
haben.  Beschämt  und  in  seinem  Leben  bedroht,  behauptet  der 
Notar   zitternd ,    die    Deutschen    liaben    ihm    gedroht ,    das  Dort    in 


')  S.  50-58. 
»)  S.  59. 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteraiur.    II.        221 

Brand  zu  stecken  und  ilni  gefangen  fortzufüliren,  wenn  er  Franzosen 
aufnehme.  Er  muss  seine  reichliche  Mahlzeit  deni  Führer  der 
Freischar  ausliefern;  auf  seine  Anordnung  öffnen  sich  wie  durcli 
Zauber  die  Bäcker-  und  Fleischerläden,  und  die  vorher  gänzlich  ver- 
schwundenen Hähne  und  Hühner  erscheinen  in  Scharen  auf  den 
Dunghaufen. 

Doch  mehr  als  an  der  Brandmarkung  der  eigenen  Landsleute, 
die  sich  im  Kriege  feig  benommen,  liegt  dem  Verfasser  daran,  die 
Landesfeinde  zu  verunglimpfen.  Die  Stellen,  in  denen  der  angeführte 
preussisclie  Hauptmann  auftritt  und  seine  traurige  IJolle  spielt, 
werden  mit  grosser  Liebe  breit  ausgeführt.  Als  er  dem  von  ihm 
verfolgten  Mädchen  seinen  nichtswürdigen  Antrag  stellt,  wird  er 
mit  folgender  stimmungsvoller  Anrede  begrüsst:  „Preussischer  Graf, 
pommerscher  Edelmann,  die  Edelleute  Ihres  Landes  sind  Feiglinge, 
Banditen!  Ich  beurtheile  die  Grossthaten  Ihrer  Vorfahren  nach 
Ihren  Handlungen  und  ich  frage  mich,  in  welchem  Kothe  sie  ihr 
Wappen  aufgelesen  haben.  Sie  geben  mir  eine  Vorstellung  von  der 
Tugend  Hirer  Schwester,  Ihrer  Mutter,  aller  Frauen  Ihres  Hauses. 
Preussen,  Baiern,  Badener,  Sachsen,  Württemberger,  Ihr  seid  alle 
verflucht.  Eines  Tages  wird  Frankreich  an  die  Eeihe  kommen; 
seine  Soldaten,  trunken  von  Sclimerz  und  Wuth,  werden  wie  ein 
Orkan  auf  Eure  Provinzen  stürzen  und  sie  mit  Feuer  und  Schwert 
verheeren,  .  .  sie  werden  Eure  Dörfer  in  Brand  stecken.  Eure  Städte 
verwüsten!  Oh,  die  Widervergeltung  wird  schrecklich  sein!  .  . 
Kinder  und  Greise  werden  hingewürgt  werden  ,  .  lieber  die 
Grösse  dieser  Verheerung,  diesen  ungeheuren  Untergang  wird  die 
Welt  staunen  und  sich  mit  Schrecken  davon  abwenden.  Wie  heut, 
wird  das  niedergeworfene  Europa  unempfindlich  bleiben.  Aber  es 
wird  sagen:  Das  mitleidlose  Frankreich,  das  rächende  Frankreich 
erfüllt  das  Werk  Gottes,  es  vernichtet  die  verfluchte  Easse!  — 
Was  Sie  betrifft,  abenteuernder  Edelmann,  so  finde  ich  keine 
Worte,  um  Ihnen  meine  Verachtung  und  meinen  Ekel  auszudrürken. 
Ich  hasse  Sie,  wie  ein  böses  Tliier  .  .  Oh!  Sie  sind  hier  dei'  Herr  .  . 
Ein  erobertes  Land  gehört  Ihnen  ...  Da  ist  eine  Stutzuhr,  zwei 
Armleuchter  aus  Bronze  ...  Im  Speisezimmer  liegt  Silberzeug  .  . 
Alle  Thüren  sind  offen,  gehen  Sie,  stehlen  Sie,  das  ist  Ihr  Hand- 
werk! Der  Keller  ist  gut  besetzt,  i-ufen  Sie  Ihre  Bande  herbei, 
leeren  Sie  die  Flasclien,  schlagen  Sie  die  Fässei-  auf;  man  ist  so 
mutliig,  wenn  man  betrunken  ist!  Auf  zur  Prasserei,  Edelmann,  Sie 
sind  in  erobertem  Lande!"  Der  Deutsche  ist  von  diesem  Ergüsse 
von  Verwünschungen  ganz  versteinert;  es  felilt  ihm  der  Muth,  den- 
selben auch  nur  mit  einem  Worte  zu  unterbreclien ;  aber  seine 
Niedertracht  und  seine  Leidenschaft  bleiben  ungeschmälert.  Er 
hindert  die  Flucht  seines  Opfers  und  meldet  ihr  durch  einen  kurzen 


222  E.  Koschwitz, 

Brief  an,  dass,  wenn  sie.  wie  sie  beabsichtigte,  Zuflucht  iu  einem 
Bauernliause  suchte,  er  dasselbe  verbrennen  und  seine  Bewohner 
ebenfalls  aefangen  abführen  lassen  würde. 

Nach  diesem  Zwischenfalle  schiebt  der  Verfasser  zur  Abwechs- 
lung- wieder  einige  Schilderungen  von  der  Kiiegsmüdigkeit  der 
Baiern  ein.  Am  Tage  der  Einnahme  von  Tourj^  durch  die  franzö- 
sischen Truppen  sah  ein  französischer  Bauer,  mit  Kartoffellesen  be- 
schäftigt, abends  plötzUch  drei  grosse  bairische  Artilleristen  auf 
sich  zukommen;  er  hielt  sich  für  verloren  und  zitterte  vor  Angst. 
„Wir  haben  uns  verirrt",  sagt  der  eine  der  Soldaten  zu  ilim,  „wii- 
übergeben  uns  Ilinen  als  Gefangene."  Während  der  Bauer  noch 
staunt,  werfen  sie  ihm  ihre  Waifen  in  die  Kiepe  und  folgen  ihm, 
bis  er  sie  französischen  Soldaten  ausliefern  kann.  Ein  andrer 
Franzose  weiss  folgendes  zu  erzählen.  Mit  seiner  Frau  und  seinem 
14jährigen  Sohne  auf  der  Flucht  betindlich,  begegnete  er  zwischen 
Chartres  und  Orleans  in  einer  Wirthschaft  neun  preussischen  Soldaten. 
Sie  nahmen  eben  eine  gehaltreiche  Mahlzeit  an  einem  mit  vielen 
Flaschen  besetzten  Tische  ein.  Während  sie  üppig  schmausten  und 
tranken,  klagten  sie  über  die  Kriegsstrapazen  und  beneideten  sie  das 
Schicksal  ihrer  in  Gefangenschaft  gerathenen  Kameraden.  Von  dem 
Flüchtigen,  einem  Handlungsreisenden,  befragt,  warum  sie  sicli  nicht 
gefangen  stellen,  entgegnen  sie,  dass  es  ihnen  an  (Telegenheit  dazu 
fehle.  Er  fordert  sie  auf,  ihm  ihre  Waffen  auszuliefern;  sie  lachen 
darüber  und  meinen,  es  müsste  wenigstens  ein  Scheingefecht  voraus- 
gelien ;  wenn  sich  zwanzig  Freischärler  fänden,  gegen  die  sie  einen 
Scheinkampf  führen  könnten,  so  Hesse  sich  darüber  reden.  Der 
Handlungsreisende  theilt  dies  einer  in  der  Nachbarschaft  befindlichen 
Freischar  mit;  die  Preussen  warteten  drei  Stunden  auf  ihre  Ankunft 
und  zogen  schliesslich  missvergnügt  ab.  Die  Freischärler  hatten 
der  Sache  nicht  getjaut. 

Wir  übergehen  die  Schilderungen  vi.>n  der  Heuchelei  des 
preussischen  Hauptmanns,  von  der  Tüchtigkeit  der  Fieischarenführer 
„Arronshon"  und  Lipowski,  von  einem  an  Erregungen  reichen 
Gefechte,  von  der  Erschiessung  einiger  gefangener  Freischärlei-,  und 
andere  Einflechtungen.  Auch  die  romantisch  ausgeschmückte  Be- 
schreibung des  letzten  Versuches  des  preussischen  Hauptmanns,  noch 
mitten  im  Kampfgewühl  die  schöne  Bürgermeistertochter  zu  ver- 
gewaltigen, und  die  Erzälilung  seiner  Gefangennahme  mögen  un- 
beachtet bleiben.  Dagegen  lohnt  es,  die  Schilderung  seines  unendlich 
traurigen  Benehmens  wiederzugeben,  als  er  sich  in  der  Gewalt  des 
Bräutigams  der  Verfolgten  sieht.  Er  war  „nun  nicht  mehr  der  stolze 
und  hochmüthige  Feind  der  vorhergehenden  Tage.  Er  senkte  das  Haupt 
und  schlug  die  Augen  nieder.  Sein  Gesicht  war  bleich,  seine  Stirn  gefaltet. 
Finstere  Gedanken  quälten  ihn;  sein  Blick  war  irre."    Die  Freischärler 


Die  französische  Novellistik  und  Eomanlitteratur.    II.        223 

wollen   ihre  Gefangenen,   darunter   unsern  Haiiptmann,   erschiessen; 
Grossmutli  ihnen  gegenüber  sei  eine  Thorheit.     Ihr  Anführer  wider- 
steht ihnen  aber;    er  willigt  nur  in  den  Tod  des  Hauptmanns  imd 
eines  Preussen,  der  einen  Freischärler  eine  Minute  vor  seiner  Er- 
schiessung  geschlagen.     Diese   beiden  sollen  erhangen  werden.     Der 
preussische  Hauptmann  wirft,   als  er  von  den  übrigen  Gefangenen 
getrennt  Mlrd,   ängstliche  Blicke   umher  und  fragt  vergebens,   was 
man  mit  ihm   anfangen  wolle.     Plötzlich,   bei   dem  Gedanken,   man 
könne  ihn  erschiessen  wollen,  durchläuft  ihn  ein  eisiger  Schauer  und 
sträuben   sich  seine  Haare;    er   glaubt  in  den  Augen   der  ihn  Um- 
gebenden eine  wilde  Freude,  in  ihren  Gesichtern  einen  unheimlichen, 
höhnischen  Zug  zu  gewahren.     Zwei  Freischärler  mit  je  einem  Stiicke 
gehen  au  ihm  vorüber;  bei  dem  Anblicke  „fühlt  er  gleichsam  einen 
heftigen  Schlag  auf  die  Brust,  seine  Ohren  sausen  ihm,  eine  Wolke 
zieht  vor  seinen  Augen  vorüber,  er  sah,  er  hörte  nicht  mehr."    ,, Schon 
glaubt  er  den  Hanf  um  seinen  Hals  zu  fühlen;    er  keuchte,   er  er- 
stickte.    Kalter  Seh  weiss  bedeckte   seine  Stirn  und   seine  Schläfe." 
Willenlos    lässt    er    sich    auf   einen    Hügel    unter    einen   Nussbaum 
führen.     Vor  ihm   wird   der    mit  verurtheilte   Soldat   hingerichtet. 
Erst  im  letzten  Augenblick  begreift  dieser,  was  ihm  bevorsteht.    Er 
stösst  einen  Schreckensruf  aus  und  will  entfliehen.     Arme  fest  wie 
Eisenbanden  halten  ihn  aber  zurück.     Die  tötliche  Schlinge  umfasst 
ihn;  ein  alter  Freischärler  meldet  ihm,   er   werde   sterben,   weil   er 
einen  an  einen  Baum   gebundenen  Freischärler  feig  geschlagen;   ein 
andrer  heftet   ihm  eine  Tafel   an   die  Brust   mit   der  Aufschrift   in 
grossen  schwarzen  Buchstaben :  Gerichtspflege  der  Freischärler.    Der 
Deutsche   faltet   die  Hände,    ohne   Zweifel,    um  Gnade   zu   erflehen. 
Seine  Lippen  bewegen  sich  zu  einem  Röcheln,  der  Strick  dehnt  sich, 
der  Krieger   schwebt   in  die  Höhe,    der   erste  Auftiitt   des  düstern 
Schauspiels  ist  beendet.     Während  dessen  hat  der  Bräutigam  und 
Freischarenführer  einen  Brief  gelesen,  der  an  den  gefangenen  Haupt- 
mann  gerichtet    war   und   in   seine   Hände    gefallen   ist.     Der  Brief 
rührt    von   der   Frau  des    Schuldigen   her    und   wird    wörtlich    mit- 
getheilt.     Die  Gattin  spricht  darin  die  Hoffnung  aus,  dass  ihr  Gemahl 
bald   in   Paris   einziehen    werde.      „Endlich    werden    diese    hassens- 
werthen,  stolzen  und  eitlen  Franzosen  völlig  besiegt  sein.     Sie  haben 
ihr-  Schicksal  wohl  verdient  und  haben  nur  noch  die  Milde  und  das 
Mitleid    unsres   grossen   Königs   anzuflehen,    wenn   sie   der    völligen 
Vernichtung    entgehen    wollen.      Wir   sind   in    Preussen    überzeugt, 
dass  ihnen  die  strenge  von  Gott  auferlegte  Züchtigung  nichts  nützen 
\nvA.      In   diesen    Abgrund    haben    Laster    und    Verdorbenheit    ein 
grosses   Volk    geführt,    dass    sich   vor   Kurzem    den   Schiedsrichter 
Europas    nannte.      Sie    hatten   Preussen    den    Untergang    und    die 
Verniclitung  geschworen:   nun  werden  sie   ihren  Untergang  rinden. " 


224  E.  Koschwitz, 

„Die  Franzosen  müssen  keine  Hoffnung-  mehr  haben,  da  sie  einen 
ihrer  Staatsmänner,  Thiers,  herumsenden,  um  Hilfe  im  Auslande  zu 
erbetteln."  Es  würde  dies  aber  nichts  helfen.  Franki-eicli  stehe  allein. 
Es  hat  sich  die  Gleichgiltigkeit,  die  Feindschaft  und  die  Verachtung 
aller  andern  Völker  zugezogen.  Ich  höre  all  dieses  um  mich  herum 
sagen,  und  jeder  wünscht,  dass  der  Krieg  bald  zu  Ende  sei;  denn 
,es  gibt  keine  Männer  mehr  in  Deutschland.  Sie  sind  alle  ins  Feld 
gezogen."  „Man  sagt  hier,  dass  die  französischen  Bauern  boshaft 
und  verrätherisch  sind,  und  dass  sie  die  vereinzelten  Deutschen  mit- 
leidlos hinwürgen.  Wenn  Du  im  Quartier  liegst,  so  ergi-eife  alle 
nöthigen  Vorsichtsmassregeln,  um  nicht  feig  mitten  in  der  Nacht 
ermordet  zu  werden.  Iss  nichts,  ohne  Dich  vorher  vergewissert  zu 
haben,  dass  die  Lebensmittel  nicht  vergiftet  sind."  Der  Brief  ent- 
hält ausserdem  Familiennachrichten ,  Zärtlichkeitsversicherungen 
und  schliesst  mit  der  Mittheiluug,  die  Schreiberin  sei  guter  Hoff- 
nung; sie  rechne  auf  den  ersehnten  Knaben,  der  Friedrich  Wilhelm 
heissen  solle.  Der  Inhalt  ist  im  Ganzen  wii-klich  frauenhaft  und 
triift,  abgesehen  von  den  wörtlich  angeführten  Stellen,  im  Allgemeinen 
den  Ton  eines  Feldzugsbriefes  von  Frauenhand.  Der  Freischaren- 
führer bleibt  von  ihm  nicht  ungerührt.  Er  geht  zu  dem  Haupt- 
mann, der  inzwischen  verzweiflungsvoll  mit  seinen  Henkern  ringt, 
einer  gegen  zwölf.  „Die  Augen  traten  ihm  aus  der  Höhle,  blut- 
befleckt; sein  Gesicht  war  grünlicli,  seine  Lippen  schäumten.  Die 
Knöpfe  seines  Waffenrockes  waren  abgerissen,  sein  Hemd  in  Fetzen, 
seine  Brust  entblösst."  Ein  schrecklicher  Anblick.  Der  Freischärler 
gebietet  seinen  Leuten  Einhalt  und  überreicht  ihm  den  Brief  seiner 
Frau.  Er  nalmi  ihn  mit  greisenhaft  zitternden  Händen.  „Er  wollte 
lesen,  aber  seine  Augen  vermochten  nicht,  die  Silben  zusammen- 
zubringen. Er  scliloss  die  Augen  und  bedeckte  sie  mit  seiner 
Hand.  So  blieb  er  einige  Sekunden.  Dann  öffnete  er  die  Augen 
wieder,  richtete  seinen  Blick  auf  das  Papier  und  las."  Als  er  auf 
der  vierten  Seite  ist,  auf  der  die  bevorstehende  Muttei-schaft  an- 
gekündigt wird,  erbebt  er.  „Er  unterbrach  das  Lesen  einen  Augen- 
blick, stiess  einen  tiefen  Seufzei*  auf,  und  las  dann  weiter."  Dicke 
Thräuen  tropften  aus  seinen  Augen.  Als  er  geendet,  fiel  ihm  der 
Brief  aus  den  Händen.  Er  schluchzte.  Sein  Todfeind  gedenkt  nun, 
ihn  zu  retten ;  seine  Braut  tritt  zu  ihm.  auch  sie  bittet  für  den  Deutschen 
trotz  allem,  was  er  gegen  sie  getliau  und  versucht.  Der  Haupt- 
mann streckt  zitternd  seine  Hände  nach  dem  Mädchen  und  bittet 
sie  um  Rettung;  er  preist  ilu-en  Edelmuth.  Aber  die  Freischärler 
sind  unerbittlich.  ,,Zum  Tode  mit  dem  Meuchelmörder,  heulten 
fünfzig  Stimmen."  Der  Gefangene  stösst  einen  tiefen  Seufzer  aus  und 
schleppt  sich  zu  den  Füssen  des  Mädchens.  Sie  solle  ihn  nicht  ver- 
lassen.    Er  sei  ein  Elender,  er  habe  seine  Frau  vergessen;  er  solle 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    II.        225 

Vater  werden,  man  möge  ihn  sein  Kind  sehen  lassen.  Dadurch 
werden  selbst  die  rachsüchtigen  Herzen  der  Freischärler  gerührt. 
Das  Mädclieil  verkündigt  dem  Unglücklichen  seine  Begnadigung. 
Aber,  „er  hörte  niclit  mehr.  Seine  Augen  waren  mit  seltsamer  ün- 
verwandtheit  an  dem  Leichnam  des  Erhangenen  haften  geblieben. 
Sein  ganzer  Körper  bebte  wie  vom  Fieberfrost  geschüttelt.  Plötzlich 
stiess  er  ein  gellendes  Gelächter  aus.  Dann,  die  eine  Hand  nach 
dem  Leichnam  gestreckt,  die  andere  krampfliaft  am  Hemdkragen, 
rief  er  zurückweichend  mit  heiserer  Stimme:  Der  Strick,  der  Strick, 
der  Strick!"  Der  Hauptmann,  Graf  von  Deerspruck,  war  wahn- 
sinnig geworden. 

So  haust  im  Kriege  und  so  gelit  dem  Tode  entgegen  ein 
preussischer  Hauptmann  und  Edelmann  —  nach  der  Schilderung  des 
Herrn  Emile  Eichebourg. 

Ein  Held  ähnlichen  Schlages  war  schon  der  Baron  Friedrich 
in  Aimard"s  Eomaii;  gleichwerthige  deutsche  Offiziere  rinden  sich 
auch  in  einigen  weiteren  Kriegsromanen,  in  denen  Deutsche  im 
Vordergrunde  stehen  und  als  Typen  des  deutschen  Heeres  vor- 
geführt werden. 

So  in  Jo  lief 's  Roman:  Drei  Ulanen^).  Sein  Inhalt  ist  im 
Wesentlichen  rein  phantastiscli ;  doch  bemüht  sich  der  Verfasser 
nach  Kräften  seinen  ebenso  unglaubliclien  Helden  wie  deren  Thaten 
den  Schein  der  Wirklichkeit  oder  wenigstens  der  Möglichkeit  zu 
verleihen.  Das  Hauptinteresse  nehmen  nicht  drei  Ulanen,  sondern 
nur  ein  Ulanenofrizier  ein,  dem  allerdings  einige  Gefährten  bei- 
gegeben sind,  die  das  Gesammtbild,  das  der  Verfasser  von  den 
preussischen  Ulanen  entwerfen  will,  vervollständigen  müssen.  Hinter 
dem  Haupthelden  steht  im  Hintergrunde  ein  alter  freisinniger 
Universitätsprofessor,  der  den  späteren  Offizier  als  einen  verwahr- 
losten und  von  seinen  Eltern  verlassenen  Bauernjungen  in  Pflege 
genommen  und  aufgezogen  liat,  um  an  seiner  Entwickelung  psycho- 
logische Studien  zu  machen.  Er  sieht  sein  Geschöpf,  für  das  er 
nur  ein  wissensoliaftliclies  Interesse,  die  Theilnahme  des  Schöpfers 
an  seinem  Werke,  hegt,  ohne  Ei-regung  in  Lebensgefahr  und  in 
den  sichern  Tod  rennen,  weil  dadurcli  erst  sein  psychologisches 
Experünent  vollständig  wird.  Der  Verfasser  lässt  dabei  indessen 
dichterische  Gerechtigkeit  walten.  Der  Professoi-  büsst  seinen  herz- 
losen Wissensdurst  ebenso  mit  dem  Tode,  wie  sein  Zögling  seine 
Schändliclikeit.  Karl  Siffer,  so  heisst  der  Ulanenoffizier,  ein  Gemisch 
von  hoher  geistiger  Bildung,  von  Uebermuth,  Dreistigkeit,  Rück- 
sichtslosigkeit und  Feigheit,  nimmt  mit  seiner  „Freitruppe"  in  dem 
Schlosse  eines  französischen  Maiquis  ein  ungern  gewährtes  Quartier. 


^)  Trois  Hiilan^.     Odyssee  du  capitaine   Karl   Siffer.     Paris    1872. 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV.  lö 


226  E.  Koschmtz, 

Er  zeigt  sich  mit  den  FamilienverhältnisseQ  des  Schlossherrn  auf 
das  genaueste  bekannt,  dessen  ältester  Sohn  mit  seinen  Dienstleuten 
eine  Freischar  gebildet  hat,  und  behandelt  den  alten  Herrn  und 
seine  Angehörigen  mit  einem  ins  Ungeheure  gesteigerten  Cynismus. 
So  kündigt  er  ihm  und  seiner  Schwiegertochter  und  Tochter  bei  der 
ersten  Begegnung  an,  dass  er  den  Sohn  des  Hauses  aufknüpfen 
lassen  werde,  sobald  er  ihn  gefangen  nehme,  und  lässt  er  sich  von 
den  beiden  Damen  in  Gregenwart  des  Hausherren  die  Stiefel  aus- 
ziehen, um  seine  Socken  zu  wechseln.  Von  dem  anwesenden  Pfarrer 
nmss  er  sich  dafür  herbe  Wahrheiten  sagen  lassen,  denen  er  mit 
spöttischen  Antworten  begegnet.  Natürlich  zieht  er  im  "Wertkampfe 
den  Kürzeren.  Bei  den  Mahlzeiten  nimmt  er,  wie  alle  Deutschen 
in  den  französischen  Schilderungen,  Getränke  und  Speisen  für  drei 
Personen  zu  sich;  der  Grafentochter  versichert  er,  nachdem  er  sie 
genöthigt,  ihm  ein  Stück  von  Beethoven  vorzuspielen,  dass  sie  wie 
eine  Tochterschülerin  spiele ;  in  seinem  Zimmer  steckt  er  die  Miniatur- 
bilder der  beiden  jungen  Gräünnen  zu  sich,  und  kratzt  er  seinen  Namen 
in  den  Spiegel  ein.  Ehe  er  mit  seiner  Mannschaft  abzieht,  findet 
er  es  für  angezeigt,  mit  seinem  Karabiner  einen  Schuss  nach  dem 
Fenster  der  Tochter  des  Hausherren  abzugeben.  Begreiflicherweise 
hinterlässt  dieser  Vertreter  deutscher  Art  und  Sitte  kein  ange- 
nehmes Andenken  bei  den  Schlossbewohnern.  Er  gelangt  hierauf 
mit  seiner  Schar  in  ein  Dorf,  in  dem  die  üblichen  Requisitionen 
vorgenommen  werden.  Von  einem  habgierigen  Schöffen  zu  Gaste 
geladen,  verabredet  er  mit  ihm  und  seinem  Sohne  eine  Lieferung 
derselben  für  die  deutschen  Truppen.  Er  erfährt  von  ihnen  auch, 
dass  der  Gatte  einer  Bäuerin,  die  ehemals  den  Schöttensohu  ver- 
schmäht, zu  der  gräflichen  Freischar  gehöre.  Die  junge  Frau  wird 
aufgeknüpft,  ihr  Haus  angezündet;  doch  kommt  die  Verrathene 
durch  rechtzeitiges  Abschneiden  des  Strickes  mit  dem  Leben  davon. 
Tags  darauf  stösst  der  Bauernsohn  mit  der  verabredeten  Lieferung 
zu  den  Ulanen;  er  erhält  als  Bezahlung  eine  Anweisung  an  seine 
Gemeinde  und  hat  somit  wenig  Hoffnung,  dass  er  zu  seinem  Gelde 
gelangen  werde.  Einige  Minuten  nachlier  erscheint  die  Freischar; 
der  Bauer  wird  von  dem  Manne  der  von  ihm  Verrathenen  er- 
schossen. Siffer  geräth  mit  seinen  fünfzig  Mann  in  die  Gefangen- 
schaft des  Grafensohnes.  Zur  Bestrafung  für  sein  unedles  Benehmen 
auf  dem  Schlosse  und  für  die  Mitnahme  der  beiden  Bilder  wird  er 
mit  einem  \'  (=  roleur,  Dieb)  auf  der  Stirn  gebrandmarkt,  dann 
aber  mit  seiner  Schar  laufen  gelassen.  Etwas  später,  bei  Orleans, 
stösst  er  mit  einem  französischen  Husarenhauptmann  zusaimnen,  der 
in  allen  Punkten  sein  Gegentheil  ist:  wenig  auf  Erhaltung  seines 
Lebens  bedacht,  mutliig  und  unternehmend,  auch  wenn  Gefahren 
drohen.     Dieser    Husar   behauptet    steif    und    fest,    es    gäbe    keine 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur .    II.        227 

Ulanen;  wenigstens  ist  es  ilim  und  seinen  Leuten  nie  niöglicli  ge- 
wesen einen  zu  seilen.  Ehe  aber  der  Zusamnienstoss  erfolgt,  ver- 
richtet Siffer  noch  einige  Heldenthaten  eigner  Art.  Li  Orleans 
verehrt  er  seiner  Wirthin  einen  riesigen  Blumenstrauss  zur  Feier 
des  Geburtstages  Friedrichs  des  Grossen,  den  er  bald  darauf  auf 
einem  Schutthaufen ,  die  Blumenstengel  im  Einnsteine ,  wieder- 
findet. Dann  kauft  er  einen  Sperber,  den  er  mit  Erfolg  gegen  eine 
französische  Brieftaube  loslässt.  Endlich  fängt  er  einen  Ballon  ein, 
wobei  er  sich  aber  zu  weit  gegen  die  Feinde  vorwagt.  Zwei 
seiner  Leute,  die  mit  einem  vom  Ballon  herabgeworfenen  Briefbeutel 
in  ein  Wirthshaus  getreten  sind,  werden  von  dem  bereits  geschilderten 
Husarenhauptmann  ßaquin  überrascht ;  der  eine  entflieht,  ehe  er  ein- 
tritt ;  den  andern,  einen  Akrobaten,  trifft  er,  statt  in  seiner  uniform, 
in  einem  Froschanzuge  von  Kautschuk  an,  den  der  Ulan  stets  bei 
sich  trug.  Er  hat  damit  eben  seinen  Kameraden  zu  unterhalten  ge- 
sucht. Raquin  lässt  ihn  laufen  und  verfolgt  mit  seiner  Abtheilung 
die  übrigen  Ulanen,  die  eine  rasende  Flucht  ergreifen.  Er  tötet 
zwei  derselben  eigenhändig,  schliesslich  erreicht  er  auch  Siffer  und 
fordert  ilin  auf,  ihm  seinen  Säbel  zu  übergeben.  Siffer  thut  dies  mit 
der  linken  Hand,  mit  der  rechten  erschiesst  er  ihm  unerwartet  das 
Pferd,  und  es  gelingt  ihm  so  zu  entkommen.  Etwas  später  finden 
wir  Siffer  in  der  Umgegend  von  Versailles  wieder.  Einer  seiner 
Leute  ist  von  einem  Hufschmiede  ermordet  worden.  Der  Mörder 
hat  die  gebührende  Strafe  gefunden;  der  Schmied  und  sein  Opfer 
sind  auf  dein  Friedhofe  des  Thatortes  bestattet  worden.  Siffer  lässt 
einige  Zeit  darauf  das  Dorf  von  seiner  Mannschaft  umstellen,  reitet 
allein  im  Schritt  in  dasselbe  herein  und  sendet  nach  dem  Schulzen. 
Von  diesem  verlangt  er,  dass  die  beiden  Gräber  mit  je  einer  Stein- 
platte bedeckt,  von  einem  Eisengitter  umgeben  und  mit  Vergiss- 
meinnicht  bekränzt  werden.  Auf  dem  einen  Grabstein  soll  einge- 
gTaben  werden: 

So  und  so:  Hufschmied,  ein  Patriot; 

auf  dem  andern: 

Wilhelm  Brückner 

Ulan 

Die  Hoffnung  der  nationalen  Pharmazeutik 

in  der  Blüthe  seiner  Jahre  dahingeraö't 

beklagt  von  seinem  Hauptmann. 

Siffer  erbittet  sich  dann  eine  Zigarre,  die  die  Tabakshändlerin  des 
Ortes  herbeibringt,  lässt  sich  Feuer  geben,  und  bezahlt  die  Zigarre 
mit  einem  Zwanzig-Frankenstück.  Der  Rest  solle  für  die  Armen  des 
Orts  verwandt  werden.     Darauf  verschwindet   er.     Das  ganze  Dorf 

15* 


228  E.  Koschwiiz, 

ist  durch  diese  Grossmutli  iu  Staunen  gesetzt.  Aber  zehn  Minuten 
später  erscheinen  seine  Soldaten ,  sammeln  sich  vor  dem  Tabaks- 
laden, räumen  dessen  Kasse  aus  und  stecken  sich  alle  Taschen  voll 
Zigarren,  Tabak  und  Pfeifen,  \\m  dann  ebenfalls  zu  verschwinden. 
Es  folgen  weitere  episodische  Einflechtungen :  ein  Mahl  deutscher 
Stabsofüziere  im  Schlosse  des  Marquis,  der  gleich  zu  Anfang  der 
Erzählung  auftrat,  wobei  sich  sänimtliche  Theilnehmer  berauschen, 
alles  zerschlagen  und  verunreinigen,  und  die  Schilderung  von  dem 
heroischen  Untergange  des  französischen  Husarenhauptmanns  und  eines 
ihm  gleichgesinnten  Artillerieoffiziers.  Diese  Einschiebungen  sollen 
den  Unterschied  zwischen  dem  edlen  Benehmen  der  französischen, 
und  dem  schimpflichen  der  deutsclieu  (Offiziere  stärker  liervortreten 
lassen.  Inzwischen  hat  der  Pflegevater  unseres  Helden  sich  nach 
dem  Kriegsschauplatze  begeben  und  nimmt  mit  Siffer  Quartier  in 
einem  Hause,  wo  sich  bereits  eine  aus  Paris  ausgewanderte,  eng- 
herzige und  unpatriotisclie  Krämerfamilie  befindet.  Sitter  erklärt 
dem  ( »berhaupte  derselben  auf  den  Kopf,  dass  er  ein  Dummkopf  sei, 
und  lässt  ihn,  um  sich  seiner  Gesellschaft  zu  entledigen,  als  Spion 
verhaften  und  aus  Tours  ausweisen.  Darauf  gesteht  Siffer  seinem 
Erzielier  seine  Liebe  zu  der  Grafentochter,  die  selbst  und  deren 
ganze  Familie  er  so  schwer  gekränkt.  Während  er  mit  seiner  Ab- 
theilung an  die  schweizer  Grenze  geschickt  wird  und  dort  durch 
zwei  aus  dem  Hinterhalt  schiessende  französische  Steuerbeamten 
eine  leichte  Verwundung  erhält,  begiebt  sich  der  Professor  als 
Brautwerber  in  die  Grafenfamilie,  wo  ihm  ein  Empfang  bereitet 
wird,  der  ilin  nicht  zum  V(dlen  Aussprechen  seiner  Bewerbung 
gelangen  lässt.  Er  theilt  dieses  Ergebniss  dem  wieder  mit  ihm  in 
Tours  zusammengetroffenen  ülanenoffizier  mit,  verstärkt  aber  gleich- 
zeitig dessen  Neigung.  Siffer  macht  sich  mit  einer  Abtheilung 
Ulanen  nach  dem  Frauenkloster  auf,  worin  die  Grafentochter  geborgen 
ist,  und  lässt  dort  seine  Soldaten  bewirthen.  Sein  Erzieher  eilt 
ilim  dahin  nach  und  warnt  ihn  in  einem  bei  seinem  Charakter 
auffälligen  Anfalle  von  Gewissensbissen;  er  möge  auf  seiner  Hut  sein. 
Trotzdem  reitet  unser  Held  in  die  Klosterkirche  hinein,  worin  sich 
die  geflüchteten  Frauen  befinden,  bis  vor  das  Gitter  des  Chores 
und  verlangt  von  der  dort  befindlichen  Grafentochter,  dass  sie  mit 
einem  Kusse  die  ihm  widerfahrene  Beschimpfung  wieder  gut  mache. 
Er  steigt  vom  Pterde  herab,  aber  im  Augenldick,  wo  er  sich  ihr 
naht,  tötet  sie  ihn  mit  drei  Pistolenschüssen.  Gleichzeitig  überfällt 
ihr  Bruder  mit  seiner  Freischar  die  Ulanen,  tötet  eine  Anzahl  der- 
selben und  schlägt  die  übiigen  in  die  Flucht.  Auch  der  Professor 
erhält  dabei  einen  tötlichen  Schuss  und  wehrt  sterbend  die  ihn  pflegen 
wollende  Oberin  ab;  er  habe  ein  gefährliches  Experiment  gemacht 
und  büsse  dafür;  das  Zusammenbringen  zweier  Elektrizitäten  sei  ihm 


Die  französische  NovelUstik  und  Romanlitteratur.    II.        229 

verliängnissvoll  geworden.  Der  Graf  und  seine  Familie  entkommen; 
die  preussischen  Kriegsbehörden  verzichten  nacii  geführter  Unter- 
suchung- auf  eine  Bestrafung-  des  Klosters. 

80  der  Gang-  der  Erzählnng-,  mit  der  der  Verfasser  eine  seinen 
Landsleuten  wohlgefällige  Scliilderung  der  vielgeturchteten  Ulanen 
zu  geben  beabsichtigte;  eine  kleine  Rache  für  den  Schrecken,  den 
diese  Truppe  den  Franzosen  während  des  Feldzuges  einflösste.  Die 
dem  Führer  zur  Seite  gestellten  Ulanengemeinen,  mit  denen  er  sich 
oft  in  herablassende  Vertraulichkeiten  einlässt,  erscheinen  als  seiner 
würdige  Seitenstücke.  Der  Ulan  im  Allgemeinen  ist  nach  dem 
Verfasser  „ein  völlig  phantastisches  Wesen,  zur  Familie  der  Hasen 
gehörig.  Die  Lanze  mit  dem  zweifarbigen  Fähnchen  ist  sein  Kenn- 
zeichen. Er  schlägt  sich  nicht,  er  sucht  nur  das  Gelände  ab;  der 
Anschein  einer  Gefahr  treibt  ihn  in  die  Flucht,  und  er  waltet  dabei 
seines  Amtes.  Wenn  er  sich  vorwagen  niuss,  so  gebiaucht  er 
tausend  Vorsichtsraassregeln,  befragt  er  den  Himmel,  die  Ebene, 
den  Wald,  verbirgt  er  sich  hinter  alles,  was  seinen  Weg  verheim- 
lichen kann,  macht  er  Umwege  wie  ein  Kaninchen,  und  dann 
erscheint  er  plötzlich  wie  der  Teufel  aus  einer  Spielschachtel.-  In 
der  Mannschaft  Sitfers  befinden  sich  ein  Lelu*er  der  Mathematik, 
einer  der  Geographie,  ein  Pharmazeut,  ein  Seiltänzer,  ein  Brau- 
knecht, ein  Bankbeamter,  Arbeiter,  Dienstboten,  meist  gute  Reiter 
und  alle  in  Fi-ankreich  wohl  bekannt.  Der  Pharmazeut  Brückner, 
dessen  Tod  und  Grabstätte  wir  bereits  kennen  lernten,  ist  ein 
ebenso  grosser  Hasenfuss  wie  Neidhammel.  Siffer  kam  sich  neben 
ihm  wie  ein  Held  vor.  Der  Seiltänzer,  den  wir,  nach  seiner  Lieblings- 
neigung in  einem  von  ihm  mit  herumgeschleppten  Froschanzuge  an- 
gethan,  bereits  antrafen,  ist  ein  Philosoph;  er  las  so  gern,  dass  er 
selbst  zu  Pferde  dieser  Gewohnheit  nachgab.  Ausser  seinen  Frosch- 
sprüngen  lag  ihm  besonders  am  Herzen,  Uhren  und  Kleinodien  zu 
stehlen,  die  er  den  dem  deutschen  Heere  folgenden  Juden  verkaufte. 
Ein  weiterer  Ulan,  Beifrancis,  ist  ein  ewig  verliebter,  schüchterner 
Jüngling,  und  so  fort.  Fast  alle  finden  der  Reihe  nach  einen  un- 
rühmlichen Tod. 

Ebenso  beklagenswerthe  Eigenschaften  wie  die  bishei-  vor- 
geführten Offiziere  besitzt  auch  der  deutsche  Hauptheld  in 
Labarriere-Duprey's  Beutschcnliehe^).  Er  hat  vor  dem  Kriege 
in  Paris  die  Bekanntschaft  zweier  junger  Französinnen,  zweier 
Freundinneu,  gemacht,  die  ihm  gleich  liebenswürdig  erschienen.  Er 
brachte  beiden  seine  Huldigungen  dar,  fand  aber  bei  keiner  mit  seiner 
Bewerbung  Gehör.  Während  des  Feldzuges  findet  er  die  beiden 
Mädchen  vermählt,  noch  immer  durch  innige  Freundschaft  verbunden 


')  Amour  d'Alkmand.     Paris  1886. 


230  E.  Koschmtz, 

und  bei  einander  wohnend.  Ihre  Männer  haben  eine  Freischar  ge- 
bildet, welcher  der  eine  als  Hauptmann,  der  andere  als  Lieutenant 
vorsteht.  Sie  gerathen  in  die  Gefangenschaft  des  ehemals  von  iliren 
Frauen  verschmäliten,  rachsüchtigen  deutschen  Offiziers.  Dieser  wird 
von  den  Französinnen  um  das  Leben  ihrer  Gatten  gebeten;  er  ver- 
langt als  Entgelt  die  Preisgebung  ihrer  Ehre.  Die  eine,  stolz  und 
patriotisch,  schlägt  dieses  Ansinnen  mit  Entrüstung  aus:  ihr  Gemahl, 
der  Lieutenant  der  Freischar,  wird  deshalb  unbarmlierzig  erscliossen. 
Die  andre  lässt  sicli  durch  die  Liebe  zu  ihrem  Manne  zum  Nach- 
geben bestimmen;  ilir  Gatte,  der  Hauptmann  der  Freischärler,  wird 
nur  nach  Deutschland  in  Gefangenschaft  geschickt.  Der  preussische 
Offizier,  dem  die  unedle  Tliat  zugeschrieben  wird,  büsst  während 
des  Feldzugs  seine  Schuld  mit  dem  Tode.  Wähi-end  die  eine  Frau 
den  verlornen  Gatten  beklagt  und  in  dem  Bewusstsein,  recht  und 
edel  gehandelt  zu  haben,  Trost  sucht,  erfreut  sich  die  andre  des 
nach  Abschluss  des  Krieges  Heimgekehrten,  dessen  Leben  sie  so 
theuer  erkauft.  Durch  doppelte  Liebe  sucht  sie  ihre  Schuld  zu 
sühnen.  Aber  dem  glücklich  lebenden  Paare  entsteht  ein  unerwartetes 
Unheil.  Der  Mann  einer  ehemaligen  Maitresse  des  Geretteten  hat  Briefe 
von  ihm  voi'gefundeu  und  sucht  mit  ilirer  Hilfe  Geld  zu  erpressen. 
Er  wird  kurzer  Hand  abgewiesen  und  sinnt  nun  auf  Eaclie.  In 
einem  von  ihm  herausgegebenen  Bkitte,  le  Scandale,  lässt  ei-  durch 
einen  gesinnungsverwandten  Schriftsteller  darauf  hinweisen,  dass 
der  am  Leben  erhaltene  Gatte  als  Freischarenhauptmann  gefangen  ge- 
nommen und  dennoch  verschont  w^orden  sei,  während  der  mit  gefangene 
Freischarenlieutenant,  sein  Freund,  erschossen  worden  sei.  Der  davon 
Betroffene  erscheint  so  als  Verräther;  seine  Ehre  ist  befleckt,  da  sich 
keine  andre  Erklärung  bietet.  Er  wird  von  seinen  Freunden  ver- 
lassen und  fühlt  sich  tief  unglücklich  und  um  so  schwerer  bedrückt, 
als  er  sich  selbst  das  Eätsel  seiner  Rettung  nicht  lösen  kann. 
Um  ihn  vor  Tiefsinn  zu  bewahi-en,  gesteht  ihm  seine  Frau  ihre 
Schuld  und  gibt  sicli  selbst  den  Tod.  So  hat  sie  ihm  mit  ihrer  Ehre 
das  Leben,  mit  iiirem  Untergänge  die  Ehre  gerettet.  Man  sieht,  der 
in  der  Erzählung  eingeführte  preussische  Offizier  dient  im  Wesent- 
lichen nur  dazu,  um  das  in  ilu-  behandelte  sittliche  Problem  herbei- 
zuführen. Das  Motiv  selbst  ist  ein  altes;  neu  ist  nur,  dass  die 
gehässige  Rolle,  um  Stimmung  gegen  die  Deutschen  zu  machen, 
einem  Preussen  zugetheilt  wird,  der.  um  ihn  zu  einer  einheit- 
lichen Erscheinung  zu  gestalten,  mit  einer  reichen  Sammlung  auch 
solcher  unedler  Eigenschaften  ausgestattet  wird,  die  zur  Herbei- 
führung des  Konrtiktes  nicht  unbedingt  nöthig  waren.  Doch  ist  der 
Verfasser  darin  eben  so  unselbständig,  wie  in  der  gesammten  Er- 
zählung, in  der  nicht  eine  Situation  vorhanden  ist,  die  nicht  als 
litterarischer  Gemeinplatz  gelten  könnte. 


Die  französische  Novellistik  und  BomanliÜeratur.    II.        231 

Auch  in  H.  Cauvain's  Bosa  Valentin^)  stellt  ein  deutscher 
Offizier  der  Tugend  einer  Französin  erfolgreich  nach ;  doch  wird  der- 
selbe, der  gleichzeitig  auch  ein  Spion  ist,  wenn  möglich  noch  hassens- 
werther  dargestellt.  Der  Roman  lässt  in  allmählichem  Uebergange 
sich  aus  einer  anmuthigen  Liebesidylle  ein  mit  den  düstersten 
Farben  ausgemaltes,  grausiges  Sclireckensbild  aus  dem  deutsch- 
französisclien  Feldzuge  entwickeln.  In  Coursolles,  einem  freundlichen 
Höhendorfe  im  französischen  Jura,  hat  sich  ein  Maler  Germain  nieder- 
gelassen, ein  blondgelockter  Jüngling  mit  freundlichen,  träumerischen 
Augen,  der  bald  die  ganze  Gemeinde  für  sich  gewinnt.  Er  erwirbt 
die  Neigung  der  unschuldigen,  liebreizenden  Rosa,  der  Tocliter  des 
wohlhabenden  Bürgermeisters  Valentin,  eines  biedern,  treuherzigen 
und  wohlthätigen  alten  Mannes.  Als  dieser  es  bemerkt,  besucht  er 
den  fremden  Jüngling  und  wird  durch  sein  herzgewinnendes  Wesen 
ebenfalls  bestochen.  Er  erfährt  von  Germain,  dass  er  aus  der 
Schweiz  gebürtig  ist  und  nur  noch  eine  Mutter  in  Zürich  hat;  in 
seiner  Heimat  habe  er  kein  Mädchen  gefunden,  das  ihm  zusagte;  zum 
ersten  Male  habe  sein  Herz  beim  Anblicke  Rosa's  geschlagen.  Der 
Alte  gestattet  ihm  den  Zutritt  in  sein  Haus,  und  die  jungen  Leute 
geben  sich  unverhüllt  ihrer  reinen  Liebe  hin,  bis  Germain  durch 
einen  Brief  seiner  Mutter  nach  Hause  berufen  wird.  Er  kehrt  nach 
einiger  Zeit  wieder  in  das  Dorf  zurück.  Bei  einem  gemeinsamen 
Spaziergange  tauschen  die  wieder  vereinten  Liebenden  ihre  Liebes- 
schwüre  aus;  sie  vertiefen  sich  dabei  in  den  nahen  Wald;  Germain 
wirft  Rosa  immer  glühendere  Blicke  zu,  drückt  ihren  Arm  immer 
fester  an  sich;  eine  Art  unbeschreiblicher  Erstarrung  bemächtigt  sich 
des  Mädchens,  und  die  Beine  werden  ihr  schwer.  In  diesem  gefähr- 
lichen Augenblicke  erscheint  Rene  Brunet,  ein  armer  Ulu'macher, 
der  Holz  im  Walde  sucht  und  die  Liebenden  bis  zu  ihrer  Rückkehr 
nicht  mehr  aus  dem  Auge  verliert.  Er  erweckt  dadurch  den  Un- 
willen Germains;  umgekehrt  hasst  diesen  Rene,  der  selbst  in  Liebe 
zu  Rosa  entbrannt  ist  und  dem  siegreichen  Nebenbuhler  ungern 
weicht.  Der  Maler  gibt  darauf  Rosa  eine  französische  üebersetzung 
von  Werthers  Leiden  zum  Lesen;  das  Buch  macht  aber  einen  ganz 
andern  Eindruck  als  er  erwartet  hat.  Werther,  Charlotte  und 
Albert  kommen  ihr  alle  drei  unehrlich  und  lügnerisch  vor.  Wenn 
Charlotte  Werther  liebte,  so  musste  sie  ihn  heiraten;  empfand 
Werther  eine  echte  Liebe  zu  Charlotte,  so  durfte  er  ihr  Glück  nicht 
stören;  liebte  Albert  endlich  Charlotte,  so  musste  er  Werther  bei 
der  Schulter  packen  und  ihm  anrathen,  seine  leidenschaftlichen 
Tiraden  an  eine  andre  Stelle  zu  richten.  Zum  Staunen  aller  zögert 
Germain  mit  der  Vorbereitung  der  Hochzeit;   er  hat  zwar  in  aller 

0  Paris  1889. 


232  E.  Koschwitz, 

Form  um  die  Hand  Rosa's  angehalten  und  dieselbe  zugesagt  be- 
kommen: er  gibt  auch  an,  dass  von  Seiten  seiner  Mutter  keine 
Schwierigkeiten  entgegenstehen;  aber  die  nöthigen  Papiere  wollen 
nicht  ankommen.  Dagegen  wird  er  immer  stürmischer  und  unter- 
nehmender gegen  das  Mädchen.  Bei  einem  zweiten  Ansturm,  der 
die  erlaubten  Grenzen  überschreitet,  wird  der  Verführer  von  der  alten 
Köchin  des  Hauses  gestört,  die  auf  Rosa's  Hilferuf  mit  einem  grossen 
Küchenmesser  herbeieilt:  auch  Valentin  kommt  hinzu;  es  wird  ihm 
indessen  von  Tochter  und  Wirthschafterin  veischwiegen,  was  ge- 
schehen. Die  Sache  kommt  ihm  indessen  nicht  geheuer  ^•or;  er  sucht 
Germain  in  seiner  Wohnung  auf  und  interpellirt  ihn  in  wenig  ver- 
bindlicher Weise  wegen  der  fortwährend  aufgeschobenen  \'ennählung. 
Der  Maler  benimmt  sich  dabei  recht  ungeschickt  und  gibt  schliess- 
lich als  Grund  seines  Zögerns  an ,  dass  Rosa  ihm  durch  ihre 
Freundschaft  für  Rene  Besorgniss  einflösse;  er  habe  sie  noch  am 
Abend  vorher  in  einem  allzuvertraulichen  Stelldichein  angetroffen. 
Er  will  so  den  Verdacht  von  sich  auf  Reue  abwälzen,  verfehlt  abei- 
völlig  seinen  Zweck.  Der  kräftige  Alte  fasst  ihn  am  Kragen,  zwingt 
ihn  auf  die  Kniee  nieder  und  zu  dem  Eingeständniss,  dass  er  gelogen 
habe.  Nachdem  er  dem  entlarvten  Heuchler  noch  nahe  gelegt,  das 
Dorf  schleunigst  zu  verlassen,  kehrt  er  zu  seiner  'i'ochter  heim,  die 
er  auffordert,  ihre  Liebe  zu  dem  Unwürdigen  zu  unterdiücken. 

Der  gedemütigte  Germain  empfängt  bald  darauf  den  Besuch 
eines  verdächtigen  Hausirei-s.  Er  erhält  von  ihm  Briefe,  Zeitungen, 
Tabak  und  Branntwein  und  übergiebt  ihm  dafür  Zeichnungen  und 
Pläne,  die  dieser  in  seinem  Wagen  verbirgt.  Die  beiden  verabreden 
einen  Racheplan.  Am  nächsten  Abend  brennt  es  in  einem  Nachbar- 
dorfe,  und  Valentin  macht  sich  pflichtgetreu  trotz  des  schlechten 
Wetters  daliin  auf.  Während  dessen  dringt  Germain  in  das  Schlaf- 
zimmer Rosa's  und  bringt  sie  seiner  Lust  zum  Opfer.  Der  ^'ater 
kommt  nur  noch  zurecht,  um  dem  Fliehenden  zwei  Schüsse  nach- 
zusenden und  ihn  mit  einem  derselben  zu  verwunden.  Es  gelingt 
abei-  Germain  zu  entkommen.  Rosa  wird  schwer  krank;  als  sie 
wieder  genesen,  hat  sie  alle  Jugendfreudigkeit  verloren.  Um  ihren 
Vater  zu  beruhigen,  stellt  sie  sich,  als  ob  sie  Germain  vollständig 
vergessen  habe,  und  es  gelingt  ihr  auch,  ihn  zu  täuschen.  Die 
von  Valentin  angestellten  Nachforschungen  ergeben,  dass  der  Bi-and 
im  Nachbardoi'fe  von  Germain  und  seinem  Gehilfen  angesteckt  war, 
um  dem  Maler  das  Eindringen  in  sein  Haus  zu  ermöglichen.  Aus 
in  seiner  Wohnung  aufgefundenen  Papieren  geht  ausserdem  noch 
hervor,  dass  Germain  ein  Deutscher  aus  Wesel  war.  Seine  Frau 
schrieb  ihm  von  da  zärtliche  Briefe  und  meldete  ihm  das  Wohl- 
ergehen seiner  drei  Kinder.  Der  Treulose  war  alsi»  längst  ver- 
heiratet, als  er  seine  Liebhaberrolle  in  Frankreich  spielte. 


Die  französische  NoveUistik  und  RomanliUeratur.     II.        233 

Bald  darauf  bricht  der  Krieg:  aus.  Der  Verfasser  schildert 
anschaulich,  wie  die  Nachricht  von  der  Kriegserklärung  in  dem  ent- 
legenen Bergdorfe  Coursolles  aufgenommen  wurde.  Die  jungen  Leute 
werden  nach  der  ersten  Niederlage  zu  den  Mobilen  einberufen. 
Auch  Rene  zieht  mit  fort.  Er  ist  Wittwensohn  und  könnte  sich 
dem  Kriegsdienste  entziehen.  Aber  da  Rosa,  um  die  er  sich  von 
Neuem  bewarb,  ilun  sagte,  sie  werde  nie  die  seine  werden,  ver- 
zichtet er  auf  sein  Vorrecht.  Er  verspricht  Valentin ,  an  Germain, 
falls  er  ihm  begegne,  die  auch  von  ihm  ersehnte  Rache  nicht  zu 
vergessen.  Nach  dem  Abzüge  der  jungen  Leute  versammeln  sich 
die  übrigen  Bauern  alle  Sonnabende  bei  dem  Bürgermeister,  um  ihre 
Nachrichten  und  Gedanken  über  den  Krieg  auszutauschen.  Ein 
letzter  Brief  Rene's,  der  im  Bourbaki'schen  Heere  wacker  niit- 
gefochten  und  viele  fliehende  Deutsche  aufgespiesst  und  erschossen 
hat,  meldet,  dass  er  verwundet  ist.  Bald  darauf  wird  er  von  Saint 
Claude  her  zu  Wagen  heimgebracht ;  eine  Kugel  hat  ihn  in  die  Lunge 
getroffen.  Er  w'ird  von  Rosa  und  seiner  Mutter  in  Pflege  genommen, 
die,  vorher  krank,  nun  sofort  die  nöthigen  Kräfte  findet,  um  den  Sohn 
versorgen  zu  können.  Nach  acht  Tagen  ist  für  ihn  alle  Gefahr  vorüber. 
Dafür  nahen  andere  Schrecknisse.  Zunächst  erscheint  im  Dorfe  eine 
Schar  flüchtiger  Franzosen,  zerlumpt,  abgehungert,  wie  Banditen 
aussehend.  Das  kleine  Häuflein  hat  sich  der  Umschliessung  durch 
die  Deutschen  an  der  Schweizer  Grenze  entzogen.  Einige  Tage 
später  erscheinen  deutsche  Ulanen.  Die  Bauern  haben,  um  ihre  Habe 
zu  retten,  beschlossen,  keinen  Widerstand  zu  leisten,  sogar  einen 
achtzigjährigen  Feldhüter,  der  sich  diesem  Beschlüsse  nicht 
fügen  wollte,  vorsichtigerweise  in  seinem  eigenen  Häuschen  ein- 
geschlossen. Aber  dieser  entweicht,  stellt  sich  an  der  nach  dem  Dorfe 
führenden  Brücke  ganz  allein  auf,  und  mit  einer  alten  verrosteten 
Flinte,  die  anfangs  durchaus  nicht  losgehn  will,  tötet  er  zwei  der 
herannahenden  Ulanen.  Er  wird  dafür  standrechtlich  erschossen;  der 
Schulmeister  und  die  Schuljugend  sehen  in  Sonntagskleidern  seiner  Er- 
schiessung  zu.  Unter  den  Ulanen,  die  in  Coursolles  einziehen,  befindet 
sich  ein  Offizier,  der  den  übrigen  als  Fühi'er  dient;  es  ist  Germain, 
mit  wahrem  Namen  Hermann  Liebner,  der  sich  freilich  äusserlich  sehr 
verändert  hat.  Sein  sanfter  Gesichtsausdruck  ist  in  das  Gegentheil 
verwandelt.  Der  oberste  Anführer  der  Deutschen  ist  ein  Offizier,  dem 
nach  Cauvain  der  vollkommene  Typus  eines  germanischen  Söldners 
eignet:  „rother  Backenbart,  dicke  Wangen,  bürstenaitige  Augen- 
brauen, gesträubter,  stachlicher  Schnurrbart,  die  Augen  unter  zwei 
Paar  Brillen  geborgen.  Ein  vollkommener  Soldat  im  Kriege,  ein 
vollkommener  Notar  oder  Mathematikprofessor  im  Frieden."  Die 
Deutschen  hausen  in  Coursolles  auf  furchtbare  Weise.  Für  die 
gemeinen  Soldaten  werden  gefordert:   „täglich  drei  Mahlzeiten,  zwei 


234  -K.  Koschwitz, 

Mal  mit  Fleisch ;  Kaffee,  eine  Flasche  Wein  und  fünf  Zigarren ;  für  die 
Oflftziere  täglich  drei  Mahlzeiten  mit  Fleisch,  Gremüse  und  Nai  htisch; 
Kaffee,  Branntwein,  zwei  Flaschen  Wein  und  zehn  Zigairen/  Die  Sol- 
daten schlagen  die  Thüren  ein  und  stehlen  und  zerbrechen,  was  ihnen 
unter  die  Hand  kommt.  Die  Einwohner  wei'den  mit  der  Pistole  auf  der 
Brust  bedroht.  „Hier  jagte  ein  deutscher  Schlächter  zwei  magere  Kühe 
vor  sich  her;  dort  trug  ein  grosser  Reiter  Schinken  und  Speck  furt. 
um  sie  in  irgend  einem  Winkel  gierig  zu  verschlingen;  andere 
hatten  Ketten  von  Hühnern  und  Enten  am  Halse.  Einige  schafften 
mit  wunderbarer  Geschwindigkeit  Möbel  fort,  rollten  Decken  zu- 
sammen ,  nahmen  Matratzen  auf  den  Rücken ,  steckten  bunt  durch 
einander  Flaschen  und  Taschenuhren  in  ihre  tiefen  Taschen,  und 
trugen  die  Holzuhren  fort,  deren  Ketten  und  Gewichte  sie  um  ihre 
Hüften  wanden."  Sie  tinden  auch  den  verwundeten  und  halb  her- 
gestellten Rene  bei  seiner  Mutter;  sein  Mobilenbeinkleid  hat  ihn 
als  Soldaten  verrathen.  Vor  Liebner  gebracht ,  sagt  er  diesem  derbe 
Wahrheiten  und  ohrfeigt  ihn;  er  wird  dafür  von  dem  Deutschen  nieder- 
geschlagen und  auf  seineu  Befehl  erschossen.  \)  Die  ülanenoftiziere 
schmausen  und  zechen  im  Gemeindehause.  „Die  Orgie  begann, 
brutal  und  abstossend  wie  jede  deutsche  Freude.  Der  dicke  Haupt- 
mann, vom  Weine  trunken,  von  Fleisch  vollgestopft,  lag  lialb  auf 
den  Tisch  ausgestreckt,  auf  den  gekreuzten  Annen  ruhend,  schnaubend 
wie  ein  Seehund,  den  Körper  von  jenem  Zittern  bewegt,  das  der 
Alkoholrausch  hervorbringt.  Seine  dicke,  kurze  und  haarige  Hand 
liel)koste  ein  leeres  Litergefäls,  das  Branntwein  enthalten  hatte. 
Sein  Nachbar,  ein  hübscher,  blonder  Ofrizier  lachte  schallend,  während 
er  eine  Flasche  Schaumwein  einem  seiner  Kameraden  in  den  Hals 
goss,  der  völlig  berauscht  an  die  Stuhllehne  hingestreckt  dasass. 
Am  andern  Tischende  sangen  zwei  junge  Männer  eine  schwerfällige 
und  schleppende  Romanze.  Hire  Schultern  lehnten  sich  an  einander; 
ohnedem  hätten  sie  schwerlich  das  Gleichgewicht  gewahrt.  Bei 
jedem  Kehrvers  stiessen  sie  mit  ihren  Bechern  zusannnen,  und  ihre 
rothen  Nasen  begegneten  sich ,  durch  eine  sonderbare  Sympathie 
an  einander  gezogen."  Hermann,  der  ehemalige  (.lermain,  lässt 
Valentin  und  Rosa,  die  flüchten  wollten,  vor  diese  Gesellschaft 
bringen.  Nachdem  er  sich  einige  Grobheiten  des  Alten  angehört, 
lässt  er  ihn  hinausbringen;  dann  bedrängt  er  Rosa  von  Neuem.  Es 
scheint,  als  wolle  er  sie  angesichts  seiner  Kameraden  und  der  an 
derThür  wachenden  SoMatcn  noclimals  schänden;  aber  der  ungeheuer- 


')  Eine  Aniiieikung  lehrt,  dass  thatsäelilich  in  Athesans  i  l'ep. 
Haute-Saönei  ein  verwundeter  Mobilgardist  von  Preussen  aus  dem  Hiiu«;e. 
in  dem  er  Pflege  fand,  gerissen  und  in  einem  tiralien  niedergemetzelt 
worden  sei.  Naiv  lügt  der  Verfasser  hinzu,  die  l'.auern  haben  ihm  den 
Graben  irezeigt,  als  er  einen  Tag  nachher  durcli  das  Dorf  gekommen  war. 


Die  französische  NorelUstik  und  llomanlitteratur .    II.        235 

liehe  Gedanke  kommt  nicht  zur  Ausführung.  Rosa  ergreift  in  ihrer 
Bedrängniss  ein  auf  dem  Tische  liegendes  Messer  und  ersticht  damit 
den  Verrucliten.  Er  stirbt  mit  den  Worten:  Meine  arme  Frau!  .  . 
Meine  armen  Kinder!  .  .  Zur  Strafe  wird  Eosa  erschossen  und  das 
Dorf  niedergebrannt.  Der  alte  Valentin  kommt  mit  dem  Leben 
davon  und  beschaut  am  Schlüsse  des  Romans  gebrochen  und  schwer- 
müthig  das  Grab  seiner  Tochter  und  die  von  Rauch  geschwärzten 
Trümmer  der  verlassenen  Ortschaft. 

Wir  begegnen  hier  einem  ersten  reinen  Spione  n  r  o  m  a  n  e.  Zwar 
enthielt  bereits  Aimard's  Schöpfung  die  Schilderung  einer  ganzen 
Schar  männlicher  und  weiblicher  deutscher  Spione ;  aber  bei  ihm  war 
das  Interesse  nicht  ausschliesslich  auf  sie  gerichtet.  In  Cauvain's 
Rosa  Valentin  steht  dagegen  der  deutsche  Spion  und  sein  Benehmen 
in  Krieg  und  Frieden  durchaus  im  Vordergrunde,  wird  von  ihm 
und  seinem  Handeln  die  ganze  Entwicklung  bestimmt.  Aehnliches 
ündet  sich  auch  in  drei  weiteren  Romanen,  von  denen  Millauvoj'e's 
und  Etievant's  Schöne  Spionin^)  schon  durch  den  Titel  ahnen  lässt, 
w'as  man  in  ihm  zu  suchen  liat.  Die  Erzählung  beginnt  hier  in  Paris  im 
Januar  1870.  In  einem  Prologe  werden  ihre  Träger  vorgestellt.  Es  sind 
ein  nicht  mehr  junger  General  v.  Mornas,  der  seine  hohe  Stellung  seinen 
Erfolgen  im  Tanzsaal  und  in  den  Frauengemächern  verdankt,  und 
der,  eben  in  Liebe  zu  einer  schönen  Preussin,  einer  Oberstin  von 
Kerner,  entbrannt  ist,  die  ilim  alle  nur  wünschenswerthen  Gunst- 
bezeugungen verstattet,  um  bei  ihm  nach  wichtigen  militärischen 
Papieren  spionieren  zu  können.  Zum  Diener  hat  er  einen  früheren 
preussischen  Soldaten,  Wilhelm,  der  für  wenig  Lohn  treu  und  auf- 
merksam seine  Stelle  versieht.  Der  Preusse  ist  aber  zugleicli  im 
Dienste  der  Frau  von  Kerner,  der  schönen  Spionin,  die  in  ihrem  Ge- 
folge auch  noch  eine  weitere  ergebene  Seele,  Hermann,  zählt,  einen 
äusserlicli  recht  abstossenden  Menschen,  der  aber  von  grosser  Vater- 
landsliebe erfüllt  ist.  Sie  alle  stehen  unter  der  Oberleitung  eines 
HeiTU  von  Berg,  des  gewaltigen  Direktors  der  preussischen  Geheim- 
polizei, der  insbesondere  auch  dem  Nachrichtendienste  über  Frank- 
reichs Militärlage  mit  fanatischem  Eifer  obliegt.  Er  ist  ein  früherer 
Verehrer  der  Frau  von  Kerner,  die  ihm  ihren  einzigen  Sohn  verdankt, 
einen  preussischen  Offizier,  der  als  der  Sohn  des  ilir  angetrauten 
Gatten  gilt  und  der  nur  die  Börse  seines  wirkliclien  Vaters, 
dessen  \'erhältniss  zu  ihm  er  nicht  kennt,  für  seine  thörichten 
Jugenstreiche  leeren  hilft.  Herr  v.  Berg  benutzt  die  Scliön- 
heit  und  die  gesellschaftliche  Gewandtheit  seiner  ehemaligen  Geliebten, 
um  durch  sie  in  Besitz  wichtiger  französischer  Militärgeheimnisse 
zu  kommen.     Dieser  Gruppe  steht  gegenüber  ein  junger  französischer 


')  La  belle  espionue.    Bibliotlieque  des  bons  feuilletons.    Paris  1887 


236  E.  Koschwitz, 

Offizier,  Morand,  der  dem  General  v.  Monias  bei  Abfassung  eines 
militärischen  Berichtes  hilft,  der  alle  denkbaren  körperlichen  und 
geistigen  Vorzüge  in  sich  vereinigt,  und  dem  alle  weibliche  Herzen  zu- 
fliegen, am  langsamsten  allerdings  das  seiner  späteren  Gattin,  Martha 
Thouvenin.  Seine  Mutter,  die  Tochter  eines  Strassburger  Arztes,  nachher 
Besitzerin  eines  sehr  gangbaren  Modewaarengeschäfts  in  Hagenau, 
das  ihr  gestattete,  sich  noch  in  ziemlich  jungen  Jahren  mit  einer 
stattlichen  Rente  zur  Ruhe  zu  setzen,  heisst  im  Romane  „Frau"  Morand, 
ist  aber  in  Wirklichkeit  ein  Fräulein  und  als  unerfahrenes  Mädchen 
von  dem  Obersten  von  Kerner,  dem  Gemahl  der  schönen  vSpionin, 
verführt  und  dann  verlassen  worden.  Der  französische  Held  hat 
also,  ohne  es  zu  wissen,  einen  preussischen  Vater.  Diese  in  Un- 
ordnung belindlichen  Familienverhältnisse  geben  die  Veranlassung 
zu  einem  grossen  Theile  der  späteren  Verwicklungen.  Bewegung 
entsteht  dadurch  in  dem  Romane,  dass  im  Auftrage  des  Herrn 
von  Berg  und  der  Frau  von  Kerner  Wilhelm  und  Hermann  den 
Lieutenant  Morand  des  Nachts  auf  der  Almabrücke  meuchlings  über- 
fallen, um  ihm  ein  wichtiges  Aktenstück  abzunehmen,  das  er  aus 
der  Wohnung  des  Generals  von  Mornas  nach  Hause  trägt.  Der  üeber- 
fall  misslingt.  Morand  wirft  das  Aktenstück  in  die  Seine  und  kommt 
mit  einigen  Messerstichen  davon,  von  denen  er  bald  geheilt  ist;  die 
Mordgeselleu  entflielien,  nicht  aber  ohne  dass  sidi  das  Gesicht  Her- 
manns tief  in  das  Gedächtnis«  Morands  eingeprägt  hätte. 

Im  März  1870  linden  wir  den  französischen  Lieutenant  in 
Berlin  wieder,  wohin  er  mit  einem  wichtigen  Auftrage  entsandt 
worden  ist.  Er  schliesst  sich  dort  einem  jungen  Gesandschafts- 
beamten  de  Froges  an,  einem  liebenswürdigen  Schwerenöther,  der 
aber  ein  Hasenfuss  ist  und,  weil  er  sich  während  des  folgenden 
Krieges  krank  stellt  und  sich  nach  England  in  Sicherheit  begibt, 
die  Neigung  des  Fräulein  Thouvenin  verliert,  um  deren  Hand  er  mit 
Morand  in  Wettbewerb  stand.  Die  beiden  besuchen,  um  sich  in 
dem  langweiligen  Berlin  etwas  zu  zerstreuen,  den  Spandauer  Bock, 
der  sehr  ausführlich,  aber  in  nicht  selir  einladender  W^eise  geschildert 
wird.  ;,Eine  Menge  vom  Laster  triefender,  nach  Elend  riechender 
und  Trunksucht  ausspeiender  Wesen  drängten  sich  dort  lännend 
herum.  Zerlumpte  Männer  leerten  stehend  oder  sitzend  Steinkrügel 
voll  Bier  und  assen  rothe  Eier  dazu.  Mit  Lappen  bekleidete  Frauen, 
aus  deren  offenen  Miedern  Zipfel  schmutziger  Wäsche  und  Stücke 
schmierigen  Fleisches  hervorschauten,  rauchten  grosse  Zigarren.  Alle 
diese  Bestien,  die  die  Trunkenheit  wild  gemacht  hatte,  stürzten  auf 
einander,  Speichel  und  Koth  im  Munde.  Jeden  Augenblick  entstand 
eine  neue  Rauferei  und  mussten  die  mit  der  Bewachung  der  Wirth- 
schaft  beauftragten  Schutzmänner  mit  der  blanken  Waffe  die  Ord- 
nung herstellen.     Die  Haare  gesträubt,   die  Augen  aus  ihrer  Höhle 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlüteratur.    II.        237 

getreten,  die  Lippen  weiss  und  verzogen,  mit  blutleeren  Gesichtern, 
steifen  Körpern  und  krampfhaft  geballten  Händen  heulte  dieses  un- 
reine menschliche  Viehzeug  gemeine  Lieder,  warf  es  sich  die  Gläser 
und  Krüge  an  den  Kopf,  die  sich  der  Ausschenker  vorsichtiger 
Weise  hatte  vorausbezahlen  lassen,  scluie  man  sich  an,  packte  man 
sich  am  Kragen,  stürzte  man  von  den  Bänken,  rollte  man  unter  die 
Tische,  und  stand  man  zerschunden,  zerfetzt  und  blutbedeckt  wieder 
auf.  Von  Zeit  zu  Zeit  wurde  eine  dieser  Bestien  von  einem  Faust- 
schlage oder  Fusstritte  halb  tot  geschlagen  fortgebracht.  Besonders 
scheusslich  waren  die  Frauen:  Herumtreiberinnen,  ständige  Gäste 
des  Asyls  auf  der  Füsilierstrasse  oder  vSchläferinnen  bei  Mutter 
Grün,  Spitzbübinnen,  Strassendirnen."  ^Die  gemeinsten  Weiber  von 
der  Königsmauer,  dem  verrufensten  berliner  Viertel,  waren  in  Banden 
mit  ihren  Aushältern  erschienen,  die  man  im  Lande  der  guten  »Sitten 
Louis  nennt.  Mit  aufgelöstem  Haarnetz,  verzerrten  Zügen,  zer- 
schlagenen Augen,  mit  grausamem  Blick  und  schmutzigem  Lächeln 
wanderten  diese  Weibsbilder  durch  die  Reihen  der  Gäste,  die  sie 
mit  gemeiner  Haltung  und  cynischen,  von  gemeinen  Geberden  be- 
gleiteten Worten  herausforderten.  Das  ganze  Heer  des  Lasters  und 
der  Faulheit  war  in  dieser  Saufmesse  versammelt.  Gauner  und 
Einbrecher,  Gänsediebe,  Messerhelden,  alles  berliner  Gesindel,  das 
gei-ade  nicht  eingesperrt  war,  nahm  an  dieser  Art  Kirmess  theil. 
Alle  Diebsschenken,  Verbrecherkeller  und  Spelunken  entsandten  un- 
unterbrochen ihre  Kunden  in  diese  Vorstadtkneipe."  Dort  trifft 
Morand  auch  Hermann,  den  pariser  Mordgesellen,  der  inzwischen  bei 
seiner  Gönnerin,  Frau  von  Kerner,  einen  Juwelendiebstahl  begangen; 
er  stürzt  sich  auf  ihn;  Hennann  aber  entkommt  und  findet  Schutz 
bei  Herrn  v.  Berg  und  der  von  ihm  Bestohlenen.  Die  beiden  entziehen 
ihn  erfolgreich  auch  allen  weiteren  Vei-folgungen  Morands,  trotzdem 
dieser  von  einer  Dirne,  namens  Fricka,  unterstützt  wird,  die  gegen  Her- 
mann, weil  er  sie  treulos  verlassen,  einen  unversöhnlichen  Hass  hegt. 
Auf  der  Suche  nach  ihm  und  seinem  Genossen  Wilhelm  kommt  Morand 
auch  nach  dem  berliner  Orpheum,  wo  zwei  weibliclie  Gäste  des  pariser 
Bai  Bullier  durch  ihren  Cancan,  „den  französischen  Nationaltanz ", 
den  die  Verfasser  mit  vieler  Theilnahme  schildern,  das  Publikum  in 
Staunen  und  Entzücken  setzen.  Hierbei  wird  ein  sachkundiger 
Vergleich  der  pariser  und  der  berliner  Halbwelt  und  ihrer  Ver- 
gnügungs-  bez.  Arbeitslokale  angestellt,  der  zum  Nachtheile  der 
Berliner  ausfällt.  Merkwürdigerweise  scheinen  die  Verfasser  aber 
nichts  von  dem  Bestehen  der  Sonderzimmer  in  den  VDrnehmen  pariser 
Wirthschaften  zu  wissen,  die  in  den  französischen  Komanen  und  Schau- 
spielen eine  so  hervorragende  Rolle  spielen.  Später  besucht  unser  Held 
mit  seinem  elsasser  Burschen  Franz  zum  selben  Zwecke  auch  noch 
einen  Bierkeller,  in  dem  sich  die  Gäste  wie  Häringe  drängen.   Tabaks- 


238  E.  Koschwitz, 

qualm  und  die  Ausdünstungen  von  Rothkohl  und  Scliinken  ermöolichen 
darin  kaum  das  Athmen.  Doch  auch  in  andere  Kreise  gelangen 
unsere  Helden.  So  einmal  an  den  Hof  zu  einer  französischen 
Theatervorstellung  bei  der  Königin  Augusta.  An  der  holien  Frau 
wird  nur  ihre  Vorliebe  für  alles  Französische  anerkannt;  selbst 
dieser  Vorzug  kann  sie  vor  der  vernichtenden  Kritik  ihrer  franzö- 
sischen Gäste  nicht  retten.  Die  ^'erfasser  scheinen  sich  durch  ihre 
Darstellung  zum  Ziele  zu  setzen,  den  deutschen  Fürsten  das  Heran- 
ziehen einer  französischen  Umgebung  ein  für  alle  Mal  gründlich  zu 
verleiden.  Nicht  besser  kommt  der  studentische  „Fortschrittsverein" 
weg,  an  dessen  Stiftungsfeste  der  Lieutenant  theilnimmt.  Die 
Schilderung  ist,  wie  namentlich  die  Verballhornisirung  des  Gaudeamus 
zeigt,  einer  ähnlichen  Tissots  in  seiner  Reise  nach  dem  Milliarden- 
lande nachgebildet.  Da  dort  von  Füchsen  die  Rede  ist,  lassen  unsere 
Verfasser  die  Burschen  sich  Wölfe  nennen  und  selbst  einen  kühn 
erfundenen  Wolfsgesang  anstimmen^);  eine  Fuchstaufe  wird  mit  ganz 
ungewohntem  Zeremoniell  vorgeführt,  und  schliesslich  hält  ein  Wolf 
einen  patriotischen  Vortrag,  der  unsern  Helden  zu  so  heftigem  lauten 
Widerspruche  verleitet,  dass  er  mit  seinem  Gefährten  die  Tliür  ge- 
wiesen erhält.  —  Alle  diese  Schilderungen  sollen  offenbar  dazu  dienen, 
Berlin  und  seine  Bewohner  den  französischen  Lesern  in  möglichst 
ungünstigem  Lichte  vorzustellen. 

Die  Jagd  nach  Hermann  und  Wilhelm  scheitert.  Auch  ein 
Zweikampf  aus  Eifei-sucht  zwischen  dem  als  eine  klägliche  Figur 
geschilderten  Sohne  der  Spionin  und  Morand  kommt  nicht  zur  Aus- 
führung. Die  Kriegserklärung  tritt  hindernd  dazwischen.  Die  Dirne, 
die  den  Franzosen  bei  der  Aufsuchung  seiner  ehemaligen  Angreifer 
unterstützt  hat,  ist  eben  deshalb  von  Wilhelm  und  einem  ihrer  Ver- 
ehrer schwer  verwundet  worden.  Sie  wird  von  Franz,  dem  Burschen 
Morands,  gepflegt  und  fasst  zu  ihm  eine  innige  Liebe,  die  sie  von  allen 
Schlacken  reinigt.  Auch  Franz  entbrennt  in  heisser  Liebe  zu  der 
Gefallenen. 

Im  zweiten  Theile  des  Romanes  wird  eine  Darstellung  der 
Hauptereignisse  des  Krieges  unternommen,  in  die  episodisch  die  Er- 


')  Er  lautet: 

Camarades.  c"est  la  soif  .seulo 
Qui  fait  sortir  le  loup  du  bois, 

Quand  j'ai  soif.  moi  je  gueule. 
Et  comme  Teau  rend  riiomme  veule. 
A  Gainbrinus  je  bois. 
.Tc  bois  ä  notre  li(iucur  blonde  .Te  bois  ä  notre  race  altiere 

Plus  genereuse  que  le  vin;  Qui  nargue  en  face  le  trepas, 

C'est  de  Tor  dans  de  runde,  A  notre  äme  guerriere ; 

La  biere  est  la  reine  du  luonde.  .Te  bois  entin  ä  notre  biere, 

Gambrinus  est  diviii.  Que  les  Franqais  nont  pas. 


Die  französhche  NovelUstilz  und  Rontanlitterafur.     II.        239 

lebiiisse  der  genannten  Romanhelden  eingeschoben  werden.  Die 
Verfasser  machen  sich  ihre  Aufcahe  nicht  allzu  schwer,  indem  sie 
einen  grossen  Theil  ilirer  Schilderungen  fremden  Quellen  wörtlich 
entlehnen.  Man  rindet  so  in  dem  Buche  eine  Stelle  aus  Domenech's 
Histoire  de  la  campagne  de  1870 — 71 ,  die  Faillj^'s  Benehmen  bei 
der  Sehlacht  von  Beaumont  geisselt;  den  Abdruck  der  Proklamation 
Napoleons  vom  31.  Augiist;  einige  Citate  aus  Wimpffen's  Sedan 
(Paris  1871).  die  die  vor  der  Sedanschlacht  im  französischen  Heere 
bestellende  Unordnung  und  die  nach  der  Schlacht  im  deutschen 
Hauptquartier  geführten  Untei'handlungen  schildern;  eine  Stelle  aus 
Lenionnier's  Sedan  (Brüssel  1875)  mit  einer  bewegten  Schilderung 
der  Leiden  der  bei  Sedan  gefangen  genommenen  Franzosen  auf  der 
Halbinsel  von  Iges,  die  nur  verschweigt,  dass  diese  Leiden,  s) 
weit  keine  Uebertreibungen  vorliegen,  unabwendbar  waren;  Prokla- 
mationen der  pariser  Regierung  vom  22.  September  und  vom  2.  Olctober ; 
einige  Stelleu  aus  Stieber's  Denkschriften,  womit  der  Erweis  der 
Plünderungssucht  der  deutschen  Soldaten  unternommen  wird,  endlich 
die  Beschreibung  Aurelle  de  Paladine's  des  Treffens  bei  Coulmiers  aus 
dessen  La  l^e  armee  de  la  Loire,  campagne  de  1870 — 71.  Aus  der 
Kriegsdarstellung-  scheint  mit  Sicherheit  hervorzugehen,  dass  die 
patriotischen  und  kriegslustigen  Verfasser  den  geschilderten  Feldzug 
nicht  aus  eigener  Anschauung  kennen  und  auch  sonst  des  Waften- 
handwerks  unkundig  sind.  Die  französisclien  Helden,  Morand  und 
sein  Bursche,  nehmen  an  der  berühmten  Baufremont'schen  Attacke 
bei  Sedan  theil,  gerathen  in  Kriegsgefangenschaft  und  v-  erden  durch 
Fricka's  Hilfe,  die  zur  rerhten  Zeit  und  am  richtigen  One  als  Marke- 
tenderin auftritt,  aus  ihr  befreit.  Morand  nimmt  als  Geniehauptmami 
im  Chanzy'schen  Heere  von  Neuem  Dienste,  Franz  folgt  ihm  auch 
dahin,  und  Fricka,  die  von  den  Deutschen  nichts  mehr  wissen  will, 
geht  mit  Morands  Mutter  nach  Chäteauneuf,  wo  sie  ihr  ein  Privat - 
lazareth  errichten  hilft.  Dort  rindet  Hermann,  der  als  schwer  ver- 
wundeter Ulan  dahin  eingebracht  wird,  sein  Ende,  ohne  verlier  die 
von  der  unversöhnlichen  Fricka  erbetene  Verzeihung  zu  erlialten. 
Auch  Morand  wird  verwundet  und  kommt,  seines  linken  Armes  be- 
raubt, zu  seiner  Mutter  in  Pflege.  Darnach  ziehen  die  Preussen 
in  Chäteauneuf  ein.  An  ihrer  Spitze  steht  der  zum  General  be- 
förderte von  Kerner,  der  schon  in  Berlin  die  Untreue  seiner  Frau 
und  die  wahi-e  Vaterschaft  seines  bei  il»m  berindlichen  unechten 
Sohnes  erfahren;  später  erscheinen  am  selben  Orte  auch  noch  Herr 
von  Berg  und  die  schöne  Spionin.  So  sind  in  Chäteauneuf  alle  Haupt- 
personen des  Romans  wieder  glücklich  beisammen;  nur  der  abermals  in 
Gefangenschaft  gerathene  und  nach  Deutschland  abgeführte  Frai:z 
und  der  Mordgeselle  Willielm  fehlen,  dei',  durch  in  I'rankreich  aus- 
geübte Plünderungen  zum  reichen  Mann  geworden,  erst  am  Schlüsse 


240  E.  Koschwitz, 

der  Erzählung  wieder  auftaucht.  In  Chäteauneuf  wird  von  Seiten 
der  Deutschen  ein  grosses  Festmahl  zur  Feier  der  Kaiserproklamation 
zu  Versailles  veranstaltet.  Die  einfachen  Soldaten  zechen  auf  dem 
Hofe  der  Frau  Morand  und  werfen  die  mit  grosser  Schnelle  geleerten 
Flaschen  zu  ilirem  Vergnügen  an  die  Mauern.  Bestialisch  betrunken 
beginnen  sie  nachher  unter  einander  blutige  Raufereien.  Die  Offiziere 
tafeln  im  besten  Zimmer  des  Herrenhauses,  das  aufgehört  hat  Lazareth 
zu  sein,  von  den  gesuchtesten  Gerichten  und  den  edelsten  Weinen; 
sie  spotten  der  Besiegten,  wobei  sie  in  ihren  schweren  Köpfen  ver- 
gebens nach  witzigen  Bemerkungen  suchen,  und  machen  dann  im 
Zickzack  einen  Spaziergang  im  Garten.  Die  Besitzerin,  Frau  Morand, 
und  ihr  Sohn  weilen  hier,  von  den  Deutschen  getrennt,  in  einem 
Gartenliause.  Die  Offiziere  kommen  in  ihrer  Trunkenheit  auf  den 
Gedanken,  die  Wirthin  zur  Theilnahme  am  Feste  und  zu  einem 
Trunk  auf  das  Wohl  des  deutschen  Kaisers  nöthigen  zu  wollen. 
Der  junge  von  Kerner  übernimmt  die  taktlose  Einladung  und  wird 
dabei  von  seinem  alten  Gegner,  Morand,  nicht  nur  geohrfeigt,  sondern 
dieser  schiesst  auch  noch  mit  einem  Revolver  nach  ihm.  Damit  beginnt 
die  Kata^traphe.  Morand  soll  wegen  dieses  Schusses  standrechtlich 
erschossen  werden.  Er  wird  aber  durch  seinen  Vater,  den  General 
von  Kerner,  und  durch  die  Aufopferung  Fricka's  befreit,  die  zu 
seiner  Rettung  die  Spionin  erschiesst  und  dafür  selbst  erschossen 
wird.  Um  ihretwillen  stirbt  auch  noch  ein  sentimentaler  deutscher 
Krieger,  ein  zweiter  Franz,  der  gleich  beim  ersten  Anblick  Frickas 
in  Liebe  zu  ihr  entflammte  und  ihren  Tod  nicht  überleben  kann. 
Von  Kerner  erschiesst  bei  dieser  Gelegenheit  auch  den  Beschützer  seiner 
Frau,  von  Berg.  Zum  Danke  für  das  aufopfernde  Eintreten  des  Generals 
für  den  jungen  Moi'and  will  dessen  einst  von  ihm  verlassene  Mutter  das 
Geschehene  vergessen,  nur  verzeihen  kann  sie  nicht.  Später,  als  sich 
V.  Kerner  ihr  noch  einmal  naht,  verzeiht  sie  ihm,  aber  vergessen  kann 
sie  nicht.  Dieselbe  Frau  Morand,  die  S.  148  bereits  ein  mit  weissen 
Haaren  umrahmtes  Gesicht  besitzt,  hat  auch  das  Unglück,  S.  400 
und  404  mit  einigen  weissen  Fäden  in  ihren  schwarzen  Haaren  er- 
scheinen zu  müssen,  die  sie  dem  Kummer  der  letzten  Monate  ver- 
dankt. Nachdem  die  Katastrophe  vorüber  und  alle  deutschen  Misse- 
thäter,  Fricka  eingeschlossen,  bis  auf  \Mlhehn  ihren  I^ohn  gefunden 
haben,  erhält  Momnd,  der  trotz  seiner  Einarmigkeit  den  Feldzug 
bis  zu  Ende  mitmacht  und  auch  nachher  im  Heeresdienste  zu  bleiben 
beschliesst,  die  Hand  der  gellebten  Martha  Thouvenin  zum  Lohn 
für  seine  ausgestandenen  Leiden.  Der  betrübte  Franz  wird  für  die 
verlorene  Geliebte  mit  dem  Vermögen  von  Kerners  entschädigt,  das 
dieser  seinem  echten  Scdine  Morand  ausgesetzt  hat,  letzterer  aber 
für  sich  anzunehmen  unter  seiner  Würde  findet. 

Alle  französischen   Helden   sind   von   republikanischem   Geiste 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    II.        241 

erfüllt;    nur   de    Froges,    dem    Feigling    und    Schwächling,    werden 
bonapartistische  Anschauungen  in  den  Mund  gelegt. 

Ein  männlicher  Spion  und  seine  französische  Gemahlin  stehen 
im  Mittelpunkte  von  Jean  Bruno's  Die  Frau  eines  Preussen^).  Ein 
Berliner,  der  mit  gesellschaftlichen  und  körperlichen  Vorzügen 
reich  ausgestattet  ist  und  der  ein  österreichisches  Bankgeschäft  in 
Paris  an  zweiter  Stelle  leitet,  erwirbt  dort  nicht  nur  die  Neigung 
eines  wohlhabenden  Armeelieferanten,  der  sich  zur  Ruhe  gesetzt  hat, 
sondern  auch  die  Liebe  von  dessen  schöner  Tochter  Jeanne.  Trotz 
des  Abrathens  einer  Freundin,  die  gegen  die  Vermählung  mit  einem 
Ausländer  patriotische  Bedenken  hegt,  trotz  der  gleichzeitigen  Be- 
werbung ihres  Vetters  um  sie,  eines  taleut-  und  charaktervollen 
Ingenieurs,  der  in  einer  staatlichen  Waffen'fabrik  beschäftigt  ist, 
reicht  das  Mädchen  dem  Preussen  die  Hand,  und  es  gelingt  diesem 
durch  sein  offenes,  gesetztes  Wesen  und  durch  die  Betheuerung 
seiner  Liebe  für  Frankreich  selbst  seine  ursprünglichen  Gegner  all- 
mählich für  sich  einzunehmen.  Auch  der  wackere  Bruder  der  jungen 
Gattin,  ein  Offizier  der  Chasseurs  d'Afrique,  tauscht  mit  dem  deutschen 
Schwager  den  Händedruck  der  Freundschaft  aus.  Die  Ende  1869 
geschlossene  Ehe  ist  eine  durchaus  glückliche.  Rudolf,  so  heisst  der 
Preusse,  ist  voller  Zuvorkommenheit  gegen  seine  junge  Frau,  die 
mit  Bewunderung  zu  ihm  aufschaut.  Ein  erster  Schatten  fällt  in 
das  Familienglück  durch  das  Auftreten  eines  unsympathischen 
Russen,  namens  Therzen,  eines  Mädchenjägers,  der  sich  zum  Theil 
von  einer  reichen  Amerikanerin  aushalten  lässt  und  der  seine 
geschäftlichen  Verbindungen  mit  Rudolf  benutzt,  um  der  Tugend 
Jeanne's  nachzustellen.  In  der  Verfülu-ungskunst  ist  er  freilich, 
wohl  gegen  die  Absicht  des  Verfassers,  ein  Stümper;  aber  er  weiss 
dennoch,  dass  der  ei-ste  Scliritt  zum  Herzen  einer  verheiratlieten 
Frau  ist,  Misstrauen  gegen  ihren  Gatten  zu  erwecken.  Er  verräth 
Jeanne  den  häutigen  Verkehr  ihres  Mannes  mit  einer  italienischen 
Prinzessin  Burnetti  und  gibt  ihr  auch  Gelegenheit,  sich  dessen  mit 
eigenen  Augen  zu  vergewissern.  Aber  der  eheliche  Frieden  wird 
dadurch  wieder  hergestellt,  dass  Rudolf,  der  anfangs  verlegen 
leugnet,  seiner  Frau  versichert,  seine  Beziehungen  mit  dieser  etwas 
berüchtigten  Schönheit  seien  rein  geschäftlicher  Art;  er  treffe  bei 
ihr  Staatsmänner  und  Börsenfürsten,  deren  Umgang  ihm  für  seine 
Bankunternehmungen  von  grösstem  Vortheil  sei.  Die  liebende 
Gattin  ist  dadurch  vollkommen  beruhigt.  Da  treten  die  ersten  An- 
zeichen des  drohenden  Kiieges  auf.  Die  Thätigkeit  Rudolfs  wird 
infolge  dessen  rastlos  gesteigert;  immer  häufiger  werden  seine  Ab- 
wesenheiten  vom   Hause    und    seine    Besuche    bei    der   getahrlichen 


')  La  femme  d'un  Prussien.     Paris  1882. 
Ztschr.  f.  trz.  Spr.  u.  Litt.    XV.  16 


242  E.  Koschw'dz, 

Pfinzessin,  und  eine  eifersüchtige  Regung  schleicht  sich  von  Neuem 
in  das  Herz  seiner  jungen  Gremahlin.  Dieselbe  wird  verstärkt  durch 
eine  Drohung  Therzeus,  der  frech  um  ihre  Gunst  wirbt  und,  von 
ihr  abgewiesen,  ihr  ankündigt,  es  läge  ganz  in  seiner  Gewalt, 
Rudolf  in  Gefangenschaft  und  vielleicht  in  noch  schlimmere  Lage 
zu  bringen.  Es  gelingt  dem  Preussen,  ein  zweites  Mal  den  Ver- 
dacht seiner  Frau  abziilenken,  aber  ein  Rest  von  Argwohn  bleibt 
in  ilir  haften.  Die  Kriegserklärung  ist  erfolgt.  Rudolf  soll  zur 
deutscheu  Fahne  einberufen  werden;  aber  er  bleibt  in  Frankreich 
auf  die  Gefahr  hin,  für  fahnenflüchtig  zu  gelten;  er  verweigert 
auch,  Frankreicli  während  der  Kriegszeit  mit  einem  neutralen  Lande 
zu  vertauschen.  Er  hofft,  dass  der  Einfluss  seines  Schwiegervaters 
ihn  vor  allen  Anfechtungen  wegen  seiner  Abstammung  schützen  werde. 
Die  französiche  Begeisterung  über  die  Kriegserklärung  war  nach  dem 
Verfasser  eine  gemachte;  „es  herrschte  (über  sie  eine)  allgemeine 
Verdutztheit,  die  durch  die  Manifestationen  einigei'  überreizter 
Chauvinisten  nicht  verscheucht  wurde."  Nichts  wai-  für  den  Krieg 
vorbereitet,  während  Preussen  vierzig  Jahre  lang  für  ihn  gerüstet 
hatte.  Deutsche  Spione  wimmelten  im  Lande,  jedermann  erinnerte 
sich  des  preussischeu  Offiziers,  der  drei  Jahre  hindurch  im  Hause  des 
Kommandanten  von  Nanzig  Dienstbotendienste  verrichtete,  um  Aus- 
künfte über  das  feindliche  Heer  zu  sammeln,  und  der  zu  Peginn  des 
Krieges  ertappt  und  erschossen  wurde.  So  war  es  natürlich,  dass 
auch  Rudolf,  einstweilen  ohne  Erfolg,  mit  kritischen  Blicken  betrachtet 
wurde.  Der  „gekrönte  Sybarit"  Napoleon  ist  heimlich  von  Paris  ins 
Feld  gezogen;  dem  „lächerlichen"  Angriffe  auf  Saarbrücken  ist  die 
Schlacht  bei  Weissenburg  gefolgt.  Die  deutschen  Heere  ziehen 
siegreich  immer  tiefer  in  Frankreich  ein.  Rudolf  setzt  seine  Frau 
in  Schrecken  durch  die  Gleichgiltigkeit  oder  auch  verhaltene  Freude, 
mit  der  er  den  Verlauf  des  Feldzuges  hinnimmt.  Der  Vetter  und 
die  Freundin,  Clara,  beginnen  Rudolf  zu  beargwöhnen,  namentlich, 
seitdem  Jeanne  einen  Brief  ihres  Bruders ,  der  einen  von  den 
Franzosen  beabsichtigten  Ueberfall  in  den  \'ogesen  mittheilte,  ihrem 
Manne  vorgelesen  hatte ,  und  dann  spätere  Meldungen  zeigten, 
dass  dieser  Ueberfall  den  Deutschen  verrathen  worden  war.  Der 
Schwager  Rudolfs  ist  dabei  verwundet  und  als  Gefangener  nach 
Mairiz  abgeführt  worden.  Von  dem  Vetter  Jeannes  wird  auch 
entdeckt,  dass  die  Prinzessin  Burnetti  eine  preussische  Spionin  ist, 
und  dass  Tlierzen  der  von  ihr  geleiteten  Spionageagentur  angehört, 
die  ganz  Frankreich  umspannt  und  besonders  auch  während  des 
Krieges  über  Wien  nülitärisch  wichtige  Meldungen  nach  Preussen 
sendet.  Es  gelingt  dem  Ligenieur,  Therzen  in  eine  Falle  zu  locken 
und  ihm  sein  Notizbuch  mit  wichtigen  verrätherischen  Aufzeicliuungen 
abzunehmen,  nicht  ohne  dass  der  Russe  einen  Versuch  machte,  seinen 


Die  französische  NoveUistik  und  RomanUtteratiir.    II.        248 

Gegner  zu  töten.  Was  ihm  missliugt,  wäre  beinah  Rudolf  gelungen; 
denn  dieser,  von  seinem  alten  Nebenbuhler  endlich  als  Spion  erkannt 
und  zur  Rede  gestellt,  liefert  ihm  sofort  einen  Zweikampf  ohne 
Zeugen,  bei  dem  der  Franzose  unterliegt  und  für  tot  liegen  bleibt. 
Der  Ingenieur  war  jedoch  nur  verwundet;  er  wird  von  Jeanne  und 
ihrer  Freundin  in  Pflege  genommen.  Clara  hat  schon  vor  dem 
Zweikampfe  auch  das  Notizbuch  Therzens  in  Verwahrung  genommen 
und  einem  Professor  mit  der  Verpflichtung  weitergegeben,  es  mit 
einer  Anzeige  Therzens,  Rudolfs  und  der  Prinzessin  Burnetti  dem 
Ministerium  am  Abend  des  nächsten  Tages  zu  übergeben.  Diese 
Frist,  die  den  Spionen  die  Flucht  ermöglicht,  wurde  ihnen  mit  Rück- 
sicht auf  Jeanne  gewährt.  Therzen  versucht,  Clara  das  nicht  mehr  in 
ihrem  Besitz  befindliche  Notizbuch  abzunehmen;  im  Augenblick,  wo 
er  sie  zu  diesem  Zwecke  erdolchen  will,  tritt  Jeanne  dazwischen 
und  rettet  die  Freundin;  der  Mordbube  fällt  in  die  Hände  von 
Nationalgardisten.  Die  Prinzessin  entflieht  rechtzeitig.  Rudolf 
will  Jeanne  zwingen,  mit  ihm  Frankreich  zu  verlassen;  als  seine 
Frau  sei  sie  eine  Preussin.  Dieser  Schimpf  empört  das  patriotische 
Herz  der  Französin.  Es  kommt  zu  einer  heftigen  Auseinandersetzung 
zwischen  den  Eheleuten,  gegen  deren  Ende  der  gereizte  Rudolf  die 
Hand  gegen  seine  Fi-au  erhebt.  Jeanne,  die  ihn  bis  zum  letzten 
Augenblicke  geliebt,  ergreift  infolge  dessen  eine  Pistole  und 
erschiesst  den  Gatten.  Sie  will  dann  auch  Hand  an  sich  legen, 
wird  aber  von  diesem  Vorhaben  durch  das  rechtzeitige  Dazwischen- 
treten ihres  Vaters  und  ihres  aus  der  Gefangenschaft  entflohenen 
Bruders  abgehalten. 

Der  Aufbau  und  die  Verwicklung  des  Romans  sind  verhältnis- 
mässig einfach.  Politische  Unterhaltungen,  namentlich  über  die  Ge- 
fahren der  Ehe  mit  einem  Preussen,  nehmen  einen  grossen  Raum  in 
Anspruch.  In  welcher  Weise  sich  die  Parteien  gegenüber  stehen, 
erhellt  am  besten  aus  dem  letzten  Abschnitt,  wo  Preusse  und 
Französin,  Rudolf  und 'Jeanne,  sich  offen  gegen  einander  aussprechen. 
Der  Spion,  von  seiner  Gattin  zum  Eingeständnis  seines  Berufes  ge- 
drängt, lässt  alle  Verstellung  fallen ;  stolz  und  mit  funkelnden  Augen 
sagt  er:  „Von  meiner  zartesten  Kindheit  an  habe  ich  in  meinem 
Herzen  einen  unversöhnlichen  Hass  gegen  Frankreich  heranwachsen 
sehen;  denn  dieses  Land  hat  den  Untergang  und  den  Tod  meiner 
Grosseltern  und  die  Zerstreuung  der  Mitglieder  meiner  Familie  ver- 
schuldet. Für  die  Rudolfs  rufen  Jena  und  Eilau  blutige  Erinnerungen 
wach,  die  selbst  die  schrecklichste  Rache  nicht  verlöschen  kann. 
Seit  meiner  Jugend  habe  ich  dieses  Volk  vermeintlicher  Philosophen 
mit  Schaudern  betrachtet,  das  die  alten  Ueberlieferungen  unseres 
theuren  Deutschlands,  Achtung  und  Autorität,  unterwühlt  hat,  und 
ich   habe  mich  dem  W^erke  mit   ganzer  Seele  hingegeben,   Preussen 

16* 


244  E.  Kosckmtz, 

in  der  Welt  eine  vorwiegende  Stellung  zu  verschaffen.  Um  mein 
Ziel  zu  erreichen,  bin  ich  vor  keiner  Niedrigkeit,  vor  keiner 
Demüthigung  zurückgewichen.  Ich  bin  hinter  einander  ein  ungetreuer 
Diener,  ein  elender  Schmeichler,  ein  falscher  Freund  gewesen;  ich 
habe  die  Maske  einer  heuchlerischen  Gutmüthigkeit  aufgesetzt,  um 
besser  hinter  die  Geheimnisse  zu  kommen,  die  ich  wissen  wollte. 
Ich  habe  den  Hochmuth  der  Franzosen  und  ihre  alberne  Vertrauens- 
seligkeit benutzt,  um  sie  mit  gebundenen  Händen  und  Füssen  meinen 
Landsleuten  auszuliefern,  und  wenn  sie  chimärische  Siege  im  Voraus 
berechneten,  da  schrieb  ich  in  das  Hauptquartier  des  Königs  Wilhelm : 
Marsclürt  ohne  Verzug  vorwärts,  und  in  vierzehn  Tagen  werden  die 
Pariser  die  Spitzen  Eurer  Pickelbauben   vor   ihren  Thoren  sehen". 

Auf  dieses  stolze  Sündenbekenntnis  erhält  Rudolf  von  seiner 
französischen  Gattin  folgenden  Bescheid: 

„Wie  konnte  ich  mich  einem  solchen  Verbrecher  anvertrauen?  . . 
Fort  von  mir  mit  der  verabscheuten  Bezeichnung  Preussin,  die  mir 
wie  glühendes  Eisen  auf  der  Stirn  brennt.  Was,  ich  sollte  diesem 
Volke  mystischer  Söldlinge  angehören,  von  denen  die  meisten  den 
Meuchelmord  zu  einem  Priesteramt  erhoben  haben,  diesem  Volke 
pietistischer  Tartüffe,  die  Frankreich  mit  Trümmern  bedecken,  Städte 
und  Dörfer  in  Brand  stecken,  Frauen  schänden,  Greise  und  Kinder 
hinwürgen!  Ich  soll  nicht  nur  die  Sklavin,  sondern  auch  die  Mit- 
schuldige eines  elenden  Spions  sein!  .  .  Sofort  von  hinnen,  und 
zwingen  Sie  mich  nicht,  Ihnen  die  Züchtigung  der  Verräther  und 
der  Verruchten  aufzuerlegen!" 

Der  Geringschätzung  der  Hauptpersonen  gegen  Preussen  kommt 
nur  ihre  Abneigung  gegen  das  napoleonische  Regiment  gleich.  Das- 
selbe wird  auch  dadurch  verächtlich  gemacht,  dass  z.  B.  einem 
der  bonapartistischen  Polizeisergeanten,  die  nach  Erklärung  der 
Republik  in  Paris  unsichtbar  wurden,  Mitbetheiligung  an  einer  von 
deutschen  Spionen  versuchten  Aufwiegelung  gegen  das  neue  Regiment 
zugeschrieben  wird.  Nur  ein  alter  etwas  schwachköpfiger  Bureau- 
beamter erscheint  in  dem  Romane  als  Anhänger  der  napoleonischen 
Dynastie;  er  bekehrt  sich  aber  sofort,  als  es  Napoleon  nicht  ge- 
glückt war,  die  erhofften  neuen  Lorbeeren  für  Frankreich  zu  erringen, 
und  wird  einer  der  erbittertsten  Gegner  der  vorher  von  ihm  ver- 
tretenen Sache. 

Einen  nahe  verwandten  Stoff  behandelt  die  Eheinhraut  der 
Frau  Nelly  Hager^),  die  einem  Fräulein  Bader  gewidmet  ist  und, 
wie  der  deutsche  Name  der  Verfasserin  und  ihrer  Freundin  an- 
deutet, ihren  Ursprung  wohl  einer  Elsässerin  verdankt.  Man  muss 
sich   darum    auf  einen   besonders    kräftigen    Ausdruck    französisch- 


')  La  Fiancee  du  Rhin.     Paris.     1874. 


Die  französische  Novellistik  und  RomanUtteraiur .    II.        245 

patriotischer  Gefühle  gefasst  machen ;  denn  —  wir  sahen  es 
bereits  an  manchen  Beispielen  —  seit  1871  sind  die  früher  ständig 
wegen  ihres  germanischen  Wesens  in  Frankreich  verspotteten 
Elsasser  in  der  französischen  Erzählungslitteratur  nicht  nur  Voll- 
blutfranzosen, die  nur  eine  Mundart  sprechen,  sondern  sogar  die 
französischsten  aller  Franzosen,  namentlich  in  ihren  eignen  Schriften. 
In  der  That  versteigt  sich  Frau  Hager  zu  einer  ganz  ungeheuerlichen 
patriotischen  Exaltiertheit.  Sie  scheint  selbst  gefühlt  zu  haben, 
dass  sie  zu  starke  Farben  aufgetragen  hat,  denn  in  ihrer 
Widmung  finden  sich  die  Worte,  dass  dem,  der  viel  geliebt  hat, 
auch  viel  verziehen  werden  müsse ;  sie  liebe  ihr  Vaterland  d.  i. 
Frankreich  leidenschaftlich  und  sei  zu  allen  Opfern  für  dasselbe 
bereit,  sie  habe  also  eine  ganz  besondere  Nachsicht  zu  beanspruchen. 
Da  ferner  eine  Schriftstellerin  selten  in  der  Lage  ist,  männliche 
Charaktere  richtig  zu  schildern,  so  kann  es  nicht  überraschen,  wenn 
die  männlichen  Helden  unsres  Romans  verzeichnet  sind.  Am 
gelungensten  ist  merkwürdigerweise  der  deutsche  Hauptheld,  der 
junge  Oberst  Rurick  von  der  Tzorn,  der  wenigstens  von  allen 
auftretenden  Männern  der  männlichste  ist,  obgleich  ihm  eine  statt- 
liclie  Anzahl  alberner  Aeusserungen  in  den  Mund  gelegt  und  eine 
Laugmuth  zugeschrieben  wird,  die  auch  dem  geduldigsten  Deutschen 
nicht  eigen  zu  sein  pflegt.  Die  französischen  Helden  dagegen  be- 
sitzen, wenn  sie  sich  nicht  völlig  wie  dumme  Jungen  betragen,  sehr 
mangelhafte  Begriife  von  Anstand  und  männlicher  Würde.  Der 
Oheim  Ruricks  könnte  ebenso  gut  eine  alte  Frau  sein.  Besser  ist 
die  Hauptheldin  gezeichnet,  namentlich  auch  in  den  von  der  Ver- 
fasserin nicht  beabsichtigten  Zügen  ihrer  Unüberlegtheit,  ihrer  vor- 
schnellen Urtheile  und  ihrer  mangelhaft  begründeten  republikanischen 
Schwärmerei. 

Der  Roman  beginnt  mit  Schilderung  der  Verlobung  des  ge- 
nannten deutschen  Obersten,  der  von  schlankem  Wüchse  und  mit  dem 
Kopfe  eines  Antinous  sowie  mit  hohen  geistigen  Graben  ausgestattet  ist, 
und  Elia  Mulzer's,  einer  leidenschaftlichen  elsasser  Schönheit  von  neun- 
zehn Jahren.  Die  Feier  findet  am  „französischen"  Ufer  des  Rheines 
in  dem  nahe  bei  Strassburg  gelegenen  Landhause  des  (französischen) 
Obersten  Mulzer  statt,  der  mit  dem  Oheim  Ruricks,  einem  älteren 
deutschen  Stabsarzt  von  der  Tzorn,  durch  lange  Freundschaft  ver- 
bunden ist.  Frau  Mulzer,  die  Mutter  der  Braut,  ist  eine  gut 
erhaltene,  sehr  oberfläclüiche  und  nur  an  den  Annehmlichkeiten  des 
Lebens  hängende  Frau.  Neben  diesen  Familienmitgliedern  treten 
hervor:  Victor  Mulzer,  der  siebzehnjährige  Bruder  Elia's,  ein  Schüler 
des  Polytechnikums  zu  Paris,  der  für  alle  Deutsche  und  darum  auch  für 
seinen  zukünftigen  Schwager  nur  wenig  Sympathie  empfindet  und  von 
republikanischen  Ideen  erfüllt  ist,  und  Leonin,  ein  Vetter  der  Braut, 


246  E.  Koschivitz, 

ein  tünfundzwanzigjähriger  blasierter  französischer  Lieutenant,   der 
eine   tiefe  Neigung  für  Elia   empfindet   und   den   preussischen   sieg- 
reichen Nebenbuhler  in  seinem  Herzen  bitter  hasst.     Das  Brautpaar 
ist  von  schwärmerischer  Liebe  für  einander  erfüllt.     Beim  \\'echsel 
der   Verlobungsringe    entfällt    Elia    der    ihr    von    ihrem   Briiutigam 
überreichte  King  und  rollt  Leonin  zu  Füssen,    der  ihn  aufrafft    und 
mit  linsterem  Lächeln  der  Geliebten  an  Rurick's  Stelle  an  den  Fingt^r 
steckt.      Es   folgt    ein    Ball,    bei    dem    französische    und    deutsche 
Frauen   neben   einander   auftreten.     Dabei  erfahren  wir  Folgendes: 
„Die  Germanin  geht  schwerfällig  einher,  hat  steife  Bewegungen,  einen 
schmachtenden  Ausdruck,  eine  vierschrötige  Gestalt  un<l  unmögliche 
Anzüge,  deren  schreiende  Farben  das  Auge  verletzen  und  die  ohne 
Schwung,  ohne  Schnitt  und  kunstlos  angefertigt  sind.    Die  deutseben 
Frauen  gleichen  den  kolorierten  Holzschnitten,  die  der  Bauer  in  seiner 
Stul)e  aufliäugt.    Die  alten  sehen  wie  hindostanische  Götzenbilder  aus, 
die  jungen  wie  nürnberger  Puppen.    Die  Französinnen  haben  dagegen 
gewöhnlich  einen  leichten  Schritt,  die  anmuthigen  Bewegungen  eines 
Kätzchens,    eine   volle    und   geschmeidige  Gestalt,    geschmackvollen 
Putz  mit  harmonischem  Farbenwechsel   und  im  schönen   oder  häss- 
lichen  Gesichte  die  Beweglichkeit  der  Wellen,  die  auch  Stürme  ver- 
spricht, aber  die  den  Reiz  des  Unbekannten,  des  verheisseiien  Ver- 
gnügens  und    der  Gefahr  besitzt."     Die   geladenen   Gäste   huldigen 
sammt  und  sonders   ausschliesslich  den  Französinnen  und  lassen  die 
von   Eifersucht   verzehrten   deutschen   Frauen   und   Jungfrauen   un- 
beachtet sitzen.  Die  Verfasserin  bemerkt  nicht,  dass  sie  mit  dieser  An- 
gabe der  gesellschaftlichen  Bildung  ihrer  französisclien  Helden  ein  sehr 
schlechtes  Zeugniss  ausstellt.   Das  Brautpaar  sucht  die  Einsamkeit  auf. 
Die  Liebenden  setzen  sich  an  ein  Fenster  mit  der  Aussicht  auf  den 
Rheinstrom  und  linden  dort   keinen  besseren  Unterhaltungsstoff",  als 
dass  Rurick  die  Strophen  des  Becker'schen  Liedes:    „Sie  sollen  ihn 
nicht  haben"  vor  sich  hiiisunuut,  und  dass  ihm  die  kampflustige  Braut 
darauf  mit  dem  Vortrage  von  Mussets:  „Nous  l'avons  eu,  votre  Rliin 
allemand"  antwoitet.    Der  von  dieser  Entgegnung  überraschte  Bräuti- 
gam   weist   nunmehr   auf    die    Möglichkeit    eines   Krieges    zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  hin,  und  damit  ist  schon  am  Verlobungs- 
tage  der  spätere  Widerstreit   angemeldet.     Leonin   hat   die  Unter- 
haltung  belauscht:    er   möchte   am   liebsten   den  Unglückspropheten 
Rurick  ins  Wasser  werfen  und  rindet  hierin  die  völlige  Zustinnnung 
Victors,  tler  ausserdem  eine  Philiiipika  gegen  das  gesammte  deutsche 
\'olk  liinzufügt,  dessen  Angehörige  Frankreich  wie  dif  zeliii  TMi^en 
Aegyptens  überschwemmen. 

Rurick  muss  infolge  eines  Moltke'sclien  Telegrammes  nbrei.sen. 
Auch  Leonin  reist  ab  und  schickt  geschmack-  und  taktvoll  der  jungen 
Braut  eine  schriftliche  Liebeserklärung,  in  die  er  zusileich  sein  Be- 


Die  französische  Novellistik  und  Eomanlitteratur.    II.        247 

dauern,  dass  Elia  eine  Preussin  werden  soll,  und  die  Versicherung- 
seines  Hasses  gegen  Rurick  einfliclit.  Sie  wirft  zwar,  wie  sich  ge- 
hört, den  Brief  in  die  Flammen;  aber  die  Worte:  sie  werde  eine 
Preussin  werden,  ülien  dennoch  eine  niederschlagende  Wirkung  auf 
sie  aus.  Auch  Rurick  lässt  es  an  zärtlichen  Briefen  nicht  fehlen; 
dem  Schwiegervater  fällt  aber  an  ihnen  auf,  dass  sie  jedes  Mal  aus 
einer  anderen  französischen  Stadt  abgesandt  waren.  Ebenso  auifällig 
erscheint  es,  dass  Rurick  bei  seiner  Rückkehr  eine  Beschleunigung 
der  Vermählung  verlangt  und  die  Nächte  hindurch  in  seinem  Zimmer 
arbeitet,  dessen  Zugang  von  seinem  Burschen  Fritz  ängstlich  behütet 
wird.  Bei  einer  späteren  Gelegenheit  entdeckt  Elia,  dass  er  sein 
ganzes  Zimmer  mit  Karten  von  Frankreich  bedeckt  hat;  sie  ahnt 
aber  noch  nicht,  dass  ihr  Bräutigam  den  Dienst  eines  deutschen 
Spions  verrichtet  und  giebt  sich  mit  seiner  Erklärung  zufrieden,  er 
bereite  sich  dafür  vor,  eines  Tages  Gesandter  in  Frankreich  zu 
werden.  Die  Idylle  des  abermaligen  Zusammenseins,  die  nur  der 
wegen  eines  Spottgedichtes  auf  Napoleon  aus  dem  Polytechnikum  ent- 
lassene Victor  etwas  trübt,  wird  schliesslich  durch  eine  neue  Bot- 
schaft, diesmal  Bismarcks,  gestört,  die  den  preussischen  Offizier 
heimbescheidet. 

Der  Krieg  briclit  lierein.  Der  Stabsarzt  von  der  Tzorn  wird 
zur  Landwehr  einberufen;  Rurick  schi-eibt  gleich  nach  der  Kriegs- 
erklärung der  Geliebten,  sie  möge  mit  den  ihrigen  das  Land  ver- 
lassen; sie  seien  zu  Hause  nicht  in  Sicherheit;  Frankreich  stehe  in 
der  Gewalt  der  Deutschen;  Napoleon  werde  an  Preussen  die  Hälfte 
seines  Landes  abtreten,  der  preussische  Hof  die  Stellung  des  französi- 
schen einnehmen.  Er  findet  damit  aber  keinen  Glauben.  Zwölf- 
hunderttauseud  Deutsche  werfen  sich  über  das  eingeschlafene  Frank- 
reich; auch  das  Mulzer'sche  Haus  wird  von  ihnen  in  Besitz  genommen. 
Der  Oberst  will  einen  Widerstand  organisiren,  wird  aber  entwaffnet, 
„gekettet"  und  in  eine  deutsche  Festung  abgefülirt.  Die  deutschen 
Soldaten  verbreiten  sich  im  Hause  „wie  giftige  Insekten  in  einem 
schlecht  vertheidigteu  Bienenstocke".  Ein  deutscher,  bis  zum  Helm 
mit  Koth  bespritzter  Offizier  streckt  sich  auf  dem  Bette  Elia's  aus; 
ihre  Stutzuhr,  ihre  Vasen,  Leuchter,  ihr  Köfferchen  mit  ihren 
Liebesbriefen  und  den  Bildnissen  ihrer  Theuren  verschwinden  aus 
ihrem  Zimmer,  und  ihr  Schreibpult  wii'd  geöffnet.  Nur  das  Zimmer 
des  Obersten  mit  dem  Bargeld  bleibt  glücklicherweise  verschont. 
Eine  Flucht  scheint  anfangs  nicht  möglich.  Um  sie  dennoch  be- 
werkstelligen zu  können,  muss  erst  Elia  die  Keller  öflfnen  lassen, 
damit  sich  die  Einquartirten  an  den  daselbst  befindlichen  Weinvor- 
räthen  berauschen,  und  den  mit  Heu  und  Stroh  gefüllten  Boden- 
raum eigenhändig  in  Brand  stecken.  In  dem  durch  die  Feuersbrunst 
entstehenden  Tumulte  entkommen  dann  die  beiden  Frauen,  Elia  und 


248  E.  Koschmtz, 

ihre  Mutter,  in  Begleitung;  ilires  Dieners  Julian.  Aber  die  Flucht 
auf  den  von  deutschen  Soldaten  überfüllten  Wegen  ist  beschwerlich ; 
die  jeder  Strapaze  ungewohnte  Frau  Mulzer  kann  bald  nicht  weiter; 
so  fallen  die  Flüchtigen  Ulanen  in  die  Hände,  die  sie  mit  sich 
fortführen.  Die  am  Fusse  wund  gewordene  Mutter  wii'd,  weil  sie 
nicht  gehen  kann,  von  einem  Soldaten  mit  dem  Gewehrkolben  auf  die 
Schulter  geschlagen;  Elia  eilt  herbei,  ein  Bajonett  (das  eines  Ulanen!) 
senkt  sich  gegen  ihre  Brust,  bereit  sie  zu  durchstossen.  Auf  die 
Beschwerde  des  Mädchens  zieht  der  Offizier  seinen  Säbel  und  schlägt 
damit  den  schuldigen  Soldaten  grausam  blutig.  Julian  und  Elia 
tragen  die  Mutter  weiter;  keines  der  sie  begleitenden  ,Thiere  mit 
Menschenantlitz "  kommt  ihnen  zu  Hilfe.  Endlich ,  nachdem  sie 
in  eine  Hütte  eingesperrt  worden  sind,  finden  sie  Schutz  durch 
den  alten  Herrn  von  der  Tzorn,  den  Stabsarzt,  der  der  Mutter  Auf- 
nahme in  einem  Militärlazarethe  verheisst.  Der  dazu  gekommene 
Oberst  des  Arztes  will,  ungestört  durch  seine  Gegenwart,  Elia  kosend 
um  die  Hüfte  nehmen.  Dies  erregt  ihr  das  Gefühl,  als  ob  ihr  eine 
Kröte  zu  nahe  komme;  sie  nimmt  desshalb  eine  Hand  voll  Erde  und 
wirft  sie  dem  kühnen  Verehrer  ins  Gesicht.  Der  Oberst  gew  innt  diesem 
etwas  auffälligen  Beginnen  des  elsasser  Fräuleins  eine  gute  Seite  ab, 
scherzt  darüber  und  —  fällt  zur  Strafe  noch  an  demselben  Tage 
vor  Strassburg  von  einer  französischen  Kugel.  Der  Stabsarzt  sucht 
Elia  damit  zu  beruhigen,  dass  er  ihr  den  mächtigen  Schutz  seines 
Neffen  Eurick  verheisst,  der  am  meisten  dazu  beigetragen  habe,  den 
Krieg  vorzubereiten.  Er  habe  ganz  Franki'eich  ausgekundschaftet. 
Natürlich  verfehlt  diese  Art  der  Beruhigung  die  Wirkung;  Elia  weiss 
jetzt,  dass  sie  einen  Spion  zum  Bräutigam  hat,  und  es  macht  wenig 
Eindruck  auf  sie,  als  ihr  von  der  Tzorn  auch  noch  erzählt,  dass 
selbst  der  Preussenkönig,  sein  Sohn  und  seine  Minister  1867  nur  nach 
Paris  gegangen  seien,  um  die  wunden  Stellen  Frankreichs  aufzuspüren. 
Darauf  wird  Frau  Mulzer  in  einem  Pachthofe  untergebracht,  wo 
Elia  und  eine  patriotische  Alte  ihre  Pflege  übernehmen,  während  der 
ehrgeizige  und  servile  Militärarzt  Mailand  ärztlichen  Beistand  ge- 
währt, hoffend,  sich  dadurch  den  Dank  des  einfiussreichen  Rurick 
zu  erwerben.  Die  Krankheit  nimmt  einen  langsamen  und  gefähr- 
lichen Verlauf.  Die  Stille  des  infolge  dessen  lange  bewohnten  Pacht- 
hofes wird  nur  dadurch  gestört,  dass  Elia  gelegentlich  französische 
Gefangene  vorüberführen  sieht,  „entwaffnet,  in  Fetzen  gekleidet, 
mager,  verhungert,  von  Scham  vei-zehrte  Schattenbilder  mit  Augen 
voll  Wuth  oder  vom  Todeskampf  verschleiert,  von  Preussen  geführt 
wie  wilde  Thiere  oder  vielmehr  wie  die  Verdammten  Dante's,  ein 
Spielzeug  der  Dämonen,  eine  menschliche  Hekatombe  zu  Ehren 
Wilhelms  und  Napoleons".  Eine  weitere  Abwechslung  bringt  Elia'n 
die  Rettung  eines  für  tot  liegen  gebliebenen,  mit  Kolbenstössen  be- 


Die  französische  JSFoveUistik  und  Eomanlitteratur.    IL        249 

arbeiteten  französisclien  Soldaten,  der  ebenfalls  in  Pflege  genommen 
und  geheilt  wird. 

Am  10.  vSeptember  erhält  das  Mädchen  eine  Nachricht  von  Rurick 
durch  dessen  Burschen  Fritz,  der  ihr  den  Brief  des  Bräutigams  auf 
den  Knieen  überreicht.  Rurick  theilt  ihr  darin  mit,  dass  sein  Oheim 
von  der  Tzorn  vor  Strassbui'g  ein  Bein  verloren  hat,  und  er  bittet  sie, 
sich  mit  der  kranken  Mutter  zu  ihm  nach  Reims  in  seinen  Schutz 
zu  begeben.  Die  Mutter  ist  aber  nicht  reisefähig,  und  so  macht 
sich  Elia,  von  Mailand  begleitet,  ohne  sie  nach  Reims  auf.  Sie  wird 
unterwegs  für  eine  Deutsche  gehalten  und  deshalb  überall  mit 
eisiger  Kälte  aufgenommen.  In  einem  Dörfchen  sieht  sie,  wie 
deutsche  Soldaten  Matratzen,  Möbeln  und  Wäsche  auf  Balmwagen 
laden,  die  die  Sachen  nach  Berlin  fahren  sollen.  Und,  o  Schrecken, 
als  Führer  dieser  „Räuberbande"  entdeckt  sie  Rurick,  der  eben 
einen  vor  ihm  betindlichen,  sein  Haupt  demüthig  neigenden  Haupt- 
mann zurechtweist.  Unweit  davon  wird  ein  junger  Freischärler 
erschossen,  der  mit  einem  „Es  lebe  Frankreich'"  zu  Boden  sinkt. 
Ein  zweiter,  der  Bruder  des  Erschossenen,  der  mit  ihm  zusammen  sechs 
Deutsche  ermordet  hat,  soll  dasselbe  Schicksal  erleiden.  Da  stürzt 
Elia  vor  und  erbittet  von  Rurick,  vor  dem  sie  plötzlich  erscheint, 
Gnade  für  ihn.  Der  Gerettete  dankt  ihr,  indem  er  ihr  mit  Blick 
und  Geberde  zu  verstehen  gibt,  wie  sehr  er  sie,  die  französische 
Geliebte  eines  preussischen  Offiziers,  missachtet.  Rurick  bringt  die 
Braut  in  das  Haus  einer  bonapartistisch  gesinnten  Familie,  „für  die 
die  Börse  das  Vaterland,  der  Vortheil  das  Gesetz,  eine  gute  Tafel 
das  Ideal,  Furcht  und  Feigheit  die  einzigen  Triebfedern  zum  Handeln 
sind."  Der  Sohn  des  Hauses  hat  dank  Rurick  iu's  Ausland  ent- 
weichen können  und  ist  so  dem  unbequemen  französischen  Kriegs- 
dienste entgangen.  In  dieser  Familie  kann  es  der  patriotischen  Elia 
nicht  gefallen:  sie  versichert  liebenswürdig  dem  gastfreundlichen 
Hausherrn,  dass  Männer  wie  er  den  Tod  verdienen.  Nachher  sieht 
sie  von  ihrem  Fenster  aus  den  König  Wilhelm  vor1)eiziehen,  „einen 
hindostanischen  Götzen,  der  die  Reihen  dei'er  durchschreitet,  die 
für  ihn  sterben  sollen."  „Blutdurst  entzündet  ihre  Seele;  .  .  ihre 
Hände  krampfen  sich,  der  Hass  gegen  die  Könige  berauscht  sie  .  .  . 
0,  wenn  nur  Rurick  seinen  Revolver  vergessen  hätte!  .  .  Mit 
gierigem  Auge  blickt  sie  im  Zimmer  umher  .  .  .  Nein!  Ohnedem 
war  es  um  den  alten  Fetisch  geschehen."  Elia  widerfährt  ausserdem 
noch  das  Herzeleid,  sehen  zu  müssen,  wie  Rurick  sich  tief  vor  seinem 
Kriegsherrn  verneigt  und  ihm  die  Hand  küsst.  Darob  erfasst  Ekel 
ihre  Seele;  ihr  Geliebter  ist  ein  Höfling,  eine  servile  Seele;  er  küsst 
kriechend  die  Hand,  die  ihn  züchtigt!  Er  erscheint  ihr  wie  ein 
Schöps,  der  die  Hand  seines  Schlächters  küsst,  und  sie  kann  nicht 
umhin,  dem  Staunenden  diesen  ^'ergleich  auch  vorzutragen.    Rurick 


250  E.  Koschwitz, 

sieht  ein,  dass  er  die  Creliebte  aus  dieser  Umgebung'  bald  wieder  fort- 
schaffen muss.  Er  lässt  sie  auf  einem  Lazareth wagen  mit  seinen  schwer 
verwundeten  Vettern  Konrad  und  Franz  von  Stemback  nach  ihrem 
elterlichen  Hause  fahren,  das  durch  die  deutschen  Soldaten  nach 
der  Brandlegung  glücklich  gelöscht  worden  war.  Sie  trifft  dort  die 
noch  immer  leidende  Mutter  und  ihren  Oheim,  den  Stabsarzt 
von  der  Tzorn,  an;  auch  die  entwendeten  Sachen  haben  durch  seine 
und  Ruricks  Bemühungen  grösstentheils  den  Weg  in  das  Haus 
zurückgefunden.  Der  Vater,  Oberst  Mulzer,  kehrt  ebenfalls,  aller- 
dings wie  ein  Verbrecher  von  Soldaten  begleitet,  aus  der  Gefangen- 
schaft heim:  ein  schmerzliches  Wiedersehen;  denn  alle  sind  um  Jahr- 
zehnte gealtert.  Nur  das  obere  Stockwerk  wird  noch  von  Preussen 
bewohnt,  die  den  Einheimischen  mit  unterwürtiger  Höflichkeit 
begegnen. 

Inzwischen  hat  der  „Judas"  Bazaine  Metz  ausgeliefert,  vier- 
zehn Tage  später  stellt  sich,  mit  Lumpen  bedeckt  und  schwer  krank, 
Leonin,  aus  der  Gefangenschaft  entflohen,  im  Hause  ein;  er  wird 
von  Elia  in  zärtliche  Pflege  genommen.  Sie  lässt  sich  von  ihm 
ohne  W^iderspruch  versichern,  er  werde  ihren  Bräutigam  mit  Ver- 
gnügen töten.  Geheilt  enteilt  er  zum  Heere  Faidherbe's,  der  ihn 
mit  offenen  Armen  aufnimmt  und  als  Hauptmann  in  seine  nächste 
Umgebung  zieht.  Victor,  der  Bruder  Elia's,  der  sich  den  Ver- 
theidigern  von  Paris  angeschlossen  hatte,  wird  bei  Le  Bourget 
gleichfalls  gefangen  genommen.  Auf  seinen  Wunsch  wird  er  nach 
Versailles  in  des  abwesenden  Ruricks  Wohnung  gebracht.  Er  ver- 
nichtet dort  das  Bildnis  seiner  Schwester  und  ihre  Briefe,  entweicht 
und  gelangt ,  nachdem  er  unterwegs  bei  einer  Jüdin  Aufnahme 
und  bergende  Frauenkleider  erhalten,  glücklich  zum  Heere  Aui'elle 
de  Paladines".  Sein  Muth  zieht  bald  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn; 
er  wird  mit  einer  Mission  an  Faidherbe  betraut,  den  er  auch  er- 
reicht,  und  bei  dem  er   mit  seinem  Vetter  Leonin   zusammentrifft. 

Auch  Paris  ist  gefallen,  das  Ende  des  Krieges  naht.  Die 
Leiden  der  elsasser  Familie  sind  aber  noch  nicht  beendet.  Victor 
führt  eines  Tages  den  bei  Bapaume  schwer  verwundeten  Leonin  ins 
Haus.  Die  noch  immer  leidende  Frau  Mulzer  erblickt  den  Kranken 
und  bricht  bei  seinem  Anblick  tot  zusammen.  Rurick  kommt  gerade 
an  ihrem  Begräbnisstage  an;  von  allen  scheu  gemieden,  muss  er 
getrennt  hinter  dem  Leichenzuge  einherschreiten.  Elia,  von  Leonin 
und  Victor  angestaclielt,  weigert  ihm  ein  Wiedersehen  zu  solcher 
Stunde;  er  muss  wieder  abreisen,  ohne  die  Geliebte  gesprochen  zu 
haben.     Seine  Liebe  ist  aber  noch  immer  nicht  abgekühlt. 

Leonin  gesundet;  zu  seiner  völligen  Genesung  ist  nur  noch 
ein  längerer  Aufenthalt  im  Süden  erforderlich.  Der  alte  Mulzer, 
der  die  Einverleibung  des  Elsass  nicht  miterleben   will,  beschliesst 


Die  französische  NovelUstik  und  Eomanlitteratur.    IL        251 

darum,  die  Heimatli  zu  verlassen,  und  siedelt  sich  bei  Marseille  in 
einem  am  Strande  des  mittelländischen  Meeres  gelegenen  Landhause 
mit  den  Seinen  an.  Victor  beschäftigt  sich  dort  damit,  republikanische 
Gesellschaften  zu  gründen.  Nachdem  aber  in  Paris  der  Kommu- 
nistenaufstand bewältigt  war,  kehrt  er  dalün  zurück,  um  mit 
grösserem  Ernste  als  früher  seinen  Studien  obzuliegen.  Er  be- 
gegnet dort  auf  dem  Pantheonplatze  seinem  zukünftigen  Schwager 
Rurick.  „Seine  Haare  sträuben  sich  bei  diesem  Anblick,  er  erbleicht, 
der  Zorn  schwellt  seine  Stirnadern,  seine  Zähne  klappern  wie  bei 
einem  Fieberanfall",  und  er  redet  ihn  an:  „Was  treiben  Sie  hier, 
Sie  Exspion!  Haben  Sie  an  unsern  gestohlenen  und  verheerten 
Provinzen,  an  unsern  Milliarden  noch  nicht  genug?  Was  brauen  Sie 
wieder?  Welche  Pestkeime  bringen  Sie  mit  sich;  denn  Ihre  An- 
wesenheit kann  Paris  nur  ein  verhängnissvoUes  Vorzeichen  sein." 
—  „Mit  welchem  Rechte  beschimpfen  Sie  mich,"  antwortet  Rurik 
von  oben  herab;  „Sie,  der  Sie  als  mein  Gefangener  das  Wort  ge- 
brochen haben."  —  „Mein  Wort  einem  Preussen!  Und  Ihr  Beispiel, 
und  das  Ihres  Pendeluhrenkönigs?  Hat  man  Spionen  gegenüber  Rück- 
sichten nöthig?"  —  „Das  ist  zuviel,  Victor!  Vergessen  Sie  die 
Bande,  die  uns  einen?"  —  „Ich  möchte  lieber  meine  Schwester 
sterben  als  entehren  sehen."  Nach  dieser  liebenswürdigen  Unter- 
haltung hetzt  Victor  den  Strassenpöbel  auf  Rurik,  der  so  genöthigt 
wird,  in  einem  Nachbarhause  zu  verschwinden,  das  sich  wie  durch 
Zauber  für  ihn  öffnet. 

Ruriks  Liebe  bleibt  immer  noch  unverändert.  Um  Elia's 
willen  schlägt  er  fürstliche  Verbindungen  aus  und,  sobald  die  Trauer- 
zeit um  die  verstorbene  Mutter  abgelaufen,  eilt  er  nach  Marseille, 
wo  er  die  Geliebte  träumerisch  am  Meeresstrande  lustwandelnd  an- 
trifft. Leonin  horcht  aus  der  Ferne  dem  Gespräche  der  Liebenden 
zu.  Elia  hegt  in  ihrem  Innern  noch  immer  Neigung  für  den 
Preussen;  aber  sie  kann  die  seine  nicht  mehr  werden:  Nationalität 
und  politische  Gesinnung  treten  trennend  zwischen  sie;  er  verehrt, 
was  sie  verabscheut,  seine  Freuden  sind  ihr  Leiden,  sein  Glück 
ist  ihr  Kummer.  Ihre  Liebe  muss  dem  Vaterlande  aufgeopfert 
werden.  Elia  will  Rurick  den  Ring  zurückgeben  und  wirft  ihn,  da 
er  seine  Annahme  verweigert,  ins  Meer.  Ruricks  Thränen  ver- 
mehren nur  ihren  Schmerz.  Nach  einem  letzten,  innigen  Scheide- 
kusse muss  der  Deutsche  als  Besiegter  von  dannen  ziehen,  zur  Wonne 
des  lauschenden  Leonin,  der  sich  sofort  zum  Nachfolger  anbietet. 
Elia  verspricht  auch,  die  seine  zu  werden;  „aber  erst  an  dem 
Tage,  wo  das  republikanische  Frankreich  die  Hoffnung  haben  wird, 
die  [französische  Fahne  auf  den  Domen  von  Strassburg  und  Metz 
wehen  zu  sehen." 

Frau  Hager  vertritt  in  ihrem  Romane  den  Grundsatz,  dass  die 


252  E.  Koschwitz, 

Liebe  zum  Vaterlande  der  Liebe  zu  einem  Landesfeinde  voransehen 
müsse.  C.  Gibrac  in  seinem  Lothringen^)  beliandelt  in  Romanform  die 
verwandte  Fraae:  „Hat  ein  Sohn  Pflichten  g-egen  seinen  dem  Vater- 
lande feindlichen  Vater?"  Der  Vater  ist  ein  Spion  in  deutschem  Dienste, 
ein  polnischer  Graf  Boldeski,  der,  nachdem  er  sein  Vermögen  von  einer 
Million  verbracht  und  eine  Zeit  lang  von  Auskunftsraitteln  seinen  Unter- 
halt bestritten,  sich  hat  zu  einer  Wechselfälschung  hinreissen  lassen. 
Die  Strafe  ist  ihm  wie  Aimards  Baron  Friedrich  gegen  die  Ver- 
pflichtung erlassen  worden,  Spionendienste  zu  leisten.  Zur  Beauf- 
sichtigung ist  ihm  ein  Gefährte  beigegeben  worden,  dessen  Frau  er 
einst  verführt  hat,  und  der  aus  Rache  dafür  keine  Gelegenheit  ver- 
säumt, ihm  seine  Erniedrigung  vorzuhalten.  Zu  Anfang  der  Erzählung 
erscheint  dieser  polnische  Graf  mit  seiner  jungen  schönen  Frau  und 
mit  seinem  ständigen  Begleiter  in  einem  kleinen  lothringischen 
Badeorte,  wo  auch  sein  Sohn  Lavigne,  der  seinen  richtigen  Vater 
nicht  kennt,  als  Adjutant  des  ebenda  befindlichen  Generals  Pellegrier 
weilt.  Der  französische  Lieutenant  hält  sich  für  den  rechtmässigen 
Sohn  des  Fabrikbesitzes  Lavigne;  er  weiss  nicht,  dass  einst  Boldeski, 
von  diesem  gastfreundlich  aufgenommen,  seine  Mutter  verführt  und 
dann  den  Betrogenen  im  Zweikampf  getötet  hat.  Er  begreift 
darum  auch  nicht,  warum  seine  Mutter  ihn,  die  Frucht  eines 
Ehebruchs,  jederzeit  theilnahmslos  wie  einen  Fremden  behandelt  hat. 
Eine  bedenkliche  Verwicklung  tritt  dadurch  ein,  dass  Lavigne  zur 
Frau  Boldeski's  eine  leidenschaftliche  Liebe  fasst,  die  ebenso  leiden- 
schaftlich erwidert  wird,  und  die,  namentlich  infolge  der  Sinnlichkeit 
der  Boldeska,  beinahe  wiederum  zum  Ehebruch  geführt  hätte.  Der  Graf 
nimmt  die  drohende  Gefahr  wahr*;  er  begiebt  sich  deshalb  zu  Frau 
Lavigne  und  verlangt  von  ihr,  sie  solle  ihren  Sohn  bestimmen,  von  der 
Werbung  um  seine  Frau  abzustehen.  Ein  Zweikampf  zwischen  ihm 
und  Lavigne  ist  eine  Unmöglichkeit.  Die  Mutter  lässt  den  Sohn 
zu  sich  kommen,  der  inzwischen  seinen  Abschied  aus  dem  fran- 
zösischen Militärdienste  genommen  und  mit  der  Boldeska  eine  Flucht 
verabredet  hat.  Sie  sucht  ihm  das  bindende  Versprechen  abzunehmen, 
auf  seinen  Plan  zu  verzichten.  Er  weigert  sich  aber  dessen;  nur 
dann  werde  er  ihr  gehorchen,  wenn  sie  ihn  wie  eine  wirkliche 
Mutter  in  ihre  Arme  schliesseu  und  dauernd  in  ihr  Herz  aufnehmen 
wolle.  Frau  Lavigne  kann  ihre  unüberwindliche  Abneigung  gegen 
den  eigenen  Sohn  auch  in  diesem  Falle  noch  nicht  bemeistern:  sie 
steht  im  Begriff,  ilim  das  schwere  Geständniss  ihrer  Verschuldung 
zu  machen,  um  ihn  von  dem  vorgenommenen  Schritte  abzuhalten. 
Das  Opfer  wird  ilii'  jedoch  dadurch  erspart,  dass  im  letzten  Augen- 
blicke ihre  Nichte  mit  der  Nachricht  ins  Zimmer  diingt,   der  Krieg 


*)  Lorraine.'    Paris  1885. 


Die  französische  Novellistlk  und  Bomanlitteratur.    II.       253 

sei  erklärt.  Lavigne  hann  nun  sein  Abschiedsgesuch  nicht  mehr 
aufrecht  erhalten  und  muss  auf  seinen  Entfilhrungsplan  verzichten. 
Das  patriotische  Feuer  flackert  bei  ihm  mit  solcher  Gluth  auf,  dass 
seine  Mutter  bei  dieser  Beobachtung'  ihren  Widerwillen  gegen  ihn 
aufgibt  und  ihm,  dem  echten  Sprössling  des  eigenen  französischen 
Blutes,  nunmehr  in  die  Arme  fällt.  Lavigne  ist  so  genöthigt,  der 
Boldeska  mitzutheilen ,  dass  die  auf  sein  Drängen  beschlossene 
Flucht  aufgegeben  werden  müsse.  Sie  hat  indessen,  auf  ihn  ver- 
trauend, durch  einen  zurückgelassenen  Brief  ihrem  Gatten  die  Ent- 
weichung angemeldet  und  sich  damit  den  Weg  zur  Rückkehr  ab- 
geschitten.  Lavignes  Eutschlusswechsel,  den  er,  sein  Unrecht  ein- 
sehend, ihi^  mit  aller  Schonung  mittheilt,  bringt  sie  in  Wuth  und 
Verzweiflung;  sie  enthüllt  dabei  ihre  Herzlosigkeit,  verschmäht  alle 
vermittelnden  Auerbietungen  und  kehrt  zu  ihrem  Gatten  zurück, 
der  mit  ihr  abreist,  als  sei  nichts  geschehen.  Sein  Stolz  verbietet 
ihm,  auch  nur  im  geringsten  zu  verrathen,  dass  er  um  ihre  Treu- 
losigkeit und  ihren  Plan  gewusst  habe. 

Der  Krieg  ist  bald  im  vollen  Gange,  wird  aber  vom  Verfasser 
nicht  weiter  geschildert.  Er  begnügt  sich,  ihn  als  eine  Kette  von 
Niederlagen  und  Unglücksfällen  zu  bezeichnen.  Den  Deutschen  ge- 
reichten selbst  ihre  Fehler  zum  Vortheil.  Nichts  sei  weniger  be- 
gründet als  der  Ruf  von  der  wunderbaren  Leitung  und  Organi- 
sation des  deutschen  Heeres.  Zum  Beweise  dafür  führt  Gibrac  eine 
Stelle  aus  Duquets  Fröschwiller,  Chälons,  Sedan  an,  der  selber 
Rüstow's  Krieg  um  die  Rheingrenze  (Zürich  1871)  citiert,  und 
macht  er  sich  auch  sonst  Duquets  Folgerungen  zu  ei^en,  die  der 
heutigen  allgemeinen  Kriegsauf fassung  seitens  der  Franzosen  ent- 
sprechen. Genauer  geschildert  wird  nur  der  Kampf  bei  Saint  Privat, 
worin  dem  General  Pellegrier,  der  eine  Brigade  des  6.  Corps  führt, 
und  seinem  Adjutanten  Lavigne  Rollen  zugeschrieben  werden.  Die 
deutsche  Garde  dankt  danach  ihren  Sieg  nur  dem  Umstände,  dass 
Bazaine  ausdrücklich  dem  französischen  Heere  BehaiTen  in  der  De- 
fensive vorgeschrieben  hatte.  Beim  Rückzuge  muss  Lavigne  mit 
einer  kleinen  Abtheilung  die  Deckung  übernehmen.  Dabei  fällt  der 
Graf  Boldeski,  der  als  Ulanenoffizier  erscheint,  mit  seiner  waghalsigen 
kleinen  Schar  in  seine  Gewalt.  Auf  Befehl  des  Obersten  soll  La- 
vigne den  Spion  erschiessen  lassen.  Boldeski  ist  bereits  an  einen 
Baum  gestellt,  und  die  Gewehre  der  französischen  Soldaten  sind  gegen 
ihn  gerichtet.  In  diesem  Augenblicke  bittet  er  Lavigne,  seinen 
Sohn,  ihn  zu  umarmen,  was  dieser,  ebenso  sehr  von  einem  unerklär- 
lichen Instinkte  wie  von  Mitleid  getrieben,  auch  thut.  Er  will  eben  den 
Befehl  zum  Feuern  geben,  da  eilt  seine  Mutter,  die  von  seiner  An- 
wesenheit in  der  Nähe  ihres  Ortes  erfahren  hat  und  ihn  aufzusuchen 
kam,  auf  ihn  zu  und  gesteht  ihm,  um  das  Schreckliche  zu  verhindern, 


254  E.  Koschwitz, 

dass  der  Graf  sein  Vater  ist.  Ein  gewaltiger  innerer  Kampf  ent- 
spinnt sicli  in  der  Brust  Lavigne's.  Die  verfolgenden  Preussen 
nahen;  ein  Entschluss  niuss  sofort  gefasst  werden.  Sein  soldatisches 
Pflichtgefühl  siegt,  und  er  wendet  sich  gegen  seine  Soldaten,  um 
„Feuer!"  zu  kommandieren.  Aber  der  heroische  Vatermord  wird  ihm 
erspart:  eine  feindliche  Salve  streckt  Vater,  Mutter  und  Sohn  zu 
Boden.  Lavigne  hatte  nur  noch  die  Kraft,  sich  auf  seine  rechte 
Hand  gestützt  etwas  zu  erheben  und  den  Deutschen  entgegenzurufen: 
„Es  lebe  Franki-eich!" 

Eine  andere  Romangattung  vertritt  Erckmann-Chatrian's 
Brigadier  Friedrich'^).  Man  könnte  ihn  als  empfindsamen  Roman 
charakterisieren,  nicht  etwa  weil  die  Verfasser  darauf  ausgehen,  feine 
und  zarte  Gemüthsbewegungen  und  Geisteserregungen  spitzfindig  zu 
zerlegen,  sondern  weil  sich  die  Erzählung  durchaus  an  das  Gemüth 
der  Leser  wendet,  in  ihnen  inniges  Mitgefühl  für  die  geschilderten 
Personen  zu  erwecken  unternimmt.  Durch  den  in  die  Form  einer 
Ich  -  Erzählung  gekleideten  Roman  geht  ein  tiet  schwermüthiger 
Zug.  Seine  Helden  sind  fast  durchaus  leidend  und  lassen  ziemlich 
ohne  Gegenkampf  die  Gewaltsamkeiten  und  Härten  ihrer  deutschen 
Bedränger  über  sich  ergehen.  Die  Wirkung  dieser  Darstellungs- 
weise ist  offenbar  grösser  als  die  der  vorher  besprochenen  Romane, 
worin  die  deutschen  Galgenstricke  auf  ebenbürtige  Gegner  stussen  und 
manchmal  mehr  als  die  ihnen  gebührende  Strafe  finden.  Ein  fi-an- 
zösischer  gläubiger  Leser  wird  das  Buch  schwerlich  ohne  tiefen 
Groll  und  ohne  Rachegedanken  gegen  die  deutschen  Bösewichter 
aus  der  Hand  legen ,  die  so  guten  Menschen ,  wie  den  elsasser 
Helden  der  Erzählung,  so  schweres  Leid  zugefügt  haben.  Selbst 
deutsche  Leser  können  sich  vor  ähnlichen  Empfindungen  nur 
dadurcli  retten,  dass  sie  sich  in  Erinnerung  halten,  es  liege  eben 
nur  ein  tendenziöses  Phantasiegebilde  vor. 

Auf  den  Erzähler,  einen  elsässer  Föi-ster,  häuft  der  Feldzug 
von  1870/71  so  sehr  Unglück  über  Unglück,  dass  schliesslich  seine 
ganze  Familie  untergeht.  Er  lebt  vor  der  Kriegserklärung  glücklich 
und  ruhig  mit  Mutter  und  Tochter  in  seinem  Waldhause.  Das  Mädchen 
soll  bald  mit  einem  jungen,  musterhaft  lebenden  Forstgehilfen,  dem 
verniuthlichen  Amtsnachfolger  ihres  Vaters,  durch  die  Ehe  verbunden 
werden.  Einen  Schatten  wirft  das  häufige  Erscheinen  von  fremden 
bairischen  Holzfällern  in  den  elsässer  Forsten  voraus,  die  die  Wirths- 
häuser  mit  dem  Qualme  ihrer  Porzellanpfeifen  anfüllen,  nach  allem 
fragen,  sich  voll  stopfen,  wie  Leute,  die  ihren  Lebensunterhalt  leicht 
verdienen,  die  in  Reih  und  Glied  marschieren  und  durch  ihr  Betragen 
den  Verdacht   erwecken,   Spione  zu  sein.     Der  Krieg  beginnt.     Die 

*)  Le  hrifjadier  Frederic.     5  ed.     Paris,     c  .1. 


1 


Die  französische  Novellistik  und  JRmnanlitteratiir .    II.        255 

Franzosen  werden  geschlagen,  und  die  deutsche  Landwehr  besetzt 
den  Elsass,  der  unter  deutsche  Verwaltung  tritt.  Kaum  hat  Herr 
von  Bismarck-Bohlen  in  Hagenau  die  Leitung  der  Greschäfte  in  die 
Hand  genommen,  als  ein  Wagen  die  einheimische  Bevölkerung  in 
Aufregung  versetzt.  Er  glich  denen,  die  vor  Erfindung  der  Eisen- 
bahnen den  nach  Amerika  auswandernden  Deutschen  dienten,  d.  h.  er 
war  von  auffälliger  Länge  und  mit  Strohsäcken,  Spindeln,  Bett- 
gestellen, Kochtöpfen,  Laternen  u.  s.  w.  belastet.  Auf  ihm  befand 
sich  ein  kothbedeckter  Hund,  eine  schlecht  gekämmte  Frau  und  eine 
Brut  von  Kindern  mit  ungeputzten  Nasen;  neben  ihm  ein  Mann,  der 
die  vorgespannte  Mähre  am  Zügel  führte.  „Unter  der  Plane,  nahe 
der  Deichsel,  suchte  die  schon  alte,  gelbe  und  runzlige  Frau,  die 
Haube  der  Quere,  den  verwilderten  Haarwuchs  der  Kinder  nach 
Ungeziefer  ab,  Knaben  und  Mädchen,  die  wie  Ameisen  im  Strohe 
wimmelten,  sämmtlich  flachsblond,  bausbäckig  und  schmeerbäuchig 
wie  alle  Kartoffelesser.  Es  war  ein  Schauspiel  wie  das  der  Zigeuner", 
Diesem  ersten  Wagen  folgten  andere,  in  endloser  Eeihe:  „alte 
Einspänner,  Korbwagen,  Kremser,  zwei  und  vierrädiige  Kaleschen, 
angefüllt  mit  Grreisen  und  sonderbar  aufgeputzten  Frauen  und 
Mädchen  in  Kleidern,  wie  man  sie  vierzehn  oder  zwanzig  Jahre 
vorher  bei  den  Frauen  von  Zabern  gesehen  hatte,  mit  grossen 
mit  Papierrosen  besetzten  Hüten  auf  den  gelben  Haaren  und 
mit  Zöpfen,  ähnlich  den  Eattenschwänzen  der  alten  Clrossväter. 
Die  Männer  sprachen  alle  Arten  schwer  verständliches  Deutsch. 
Sie  hatten  Gesichter  von  allen  Formen:  die  einen  dicke  und  ge- 
schwollene, mit  Patriarchenbärten,  die  andern  Gesichter  wie  Messer- 
klingen; sie  trugen  den  alten  Schnürrock  bis  an  das  Kinn  zu- 
geknöpft, um  das  Hemde  zu  verbergen ;  ihre  Augen  waren  hellgrau, 
ihre  Backenbärte  roth,  starr  und  borstig.  Andere  waren  klein,  rund, 
lebendig,  in  ständiger  Bewegung.  Alle  stiessen  beim  Anblicke  der 
elsasser  Thäler  Rufe  der  Bewunderung  aus,  wie  man  von  den  Juden  bei 
ihrem  Einzug  in  das  gelobte  Land  erzählt."  Diese  sonderbaren  Ein- 
wanderer waren  deutsche  Beamte:  Steuerbeamte,  Schreiber,  Schul- 
meister, Förster  u.  s.  w.,  bestimmt,  die  einheimischen  Beamten  ab- 
zulösen, die  nicht  in  deutsche  Dienste  übertreten  wollten.  Sie 
richteten  sich  bald  im  Elsass  häuslich  ein,  dessen  Reichthuni  sie  mit 
Staunen  erfüllte;  doch  blieb  ihnen  die  Erinnerung  au  die  „Loumpe- 
strasse",  die  sie  bis  dahin  bewohnt  hatten.  „Diese  Erinnerung  machte 
sie  sehr  sparsam:  sie  tranken  einen  Schoppen  zu  zweien,  und  jeder 
bezahlte  seinen  Theil;  sie  handelten  mit  Schuster  und  Schneider  um 
Heller;  sie  fanden  an  allen  Rechnungen  etwas  auszusetzen  und  schrieen 
dabei,  als  ob  man  sie  schinden  wollte;  der  geringste  Schuhflicker  bei 
uns  hätte  sich  der  Knauserei  dieser  neuen  Beamten  geschämt".  Auch 
an   den  Erzähler  tritt   die  Frage  heran,   ob  er  in  deutsche  Dienste 


256  E.  Koschwüs, 

treten  wolle.  Trotz  aller  Katzenfreundliclikeit  des  deutschen  Ober- 
försters lehnt  er  das  Anerbieten  mit  stolzem  Selbstbewusstsein  ab. 
Leiden  über  Leiden  brechen  nun  über  ihn  herein.  Er  muss  mit 
Mutter  und  Tochter  das  jieliebte  Forsthaus  verlassen  und  seine 
Wohnung  unter  dem  Dache  eines  geringen  Wirthshauses  aufschlagen. 
Am  schwersten  fällt  der  Umzug  der  Grossmutter ,  die  sich  in 
die  traurige  Veränderung  nicht  finden  kann.  Doch  mit  Hilfe  des 
zukünftigen  Schwiegersohnes  geht  alles  gut  von  statten.  Dieser 
selbst  entweicht  bald  darauf,  um  sich  einer  Freischar  anzuschliessen. 
Auf  Veranlassung  eines  ihm  übel  gesinnten  elsasser  Bahnwärters, 
bei  dem  ein  deutscher  Hauptmann  wohnte  und  dessen  grosse  und 
schöne  Töchter  für  Mägde  des  Deutschen  galten,  werden  dem  Er- 
zähler seine  zwei  Kühe  abgenommen,  deren  Milch  zui-  Erhaltung  der 
alten  Mutter  diente.  Diese  wird  schwer  krank.  Der  Förster  geht 
nach  Pfalzburg,  um  einen  Arzt  herbeizuholen;  er  geräth  dort  in 
einem  Wirthshause  mit  seinem  Feinde  zusammen,  der  aus  Rache 
bewerkstelligt,  dass  ihm  ein  Ausweisungsbefehl  ertheilt  wird.  Der 
Förster  muss  die  sterbenskranke  Mutter  verlassen  und  zieht  nach 
St.  Die,  wo  sich  ein  ehemaliger  Vorgesetzter  von  ihm  seiner  an- 
nimmt. Die  Grossmutter  stirbt,  und  die  Tochter  zieht  dem  Vater 
nach;  sie  führen  traurig  in  einer  bescheidenen  Wohnung  ein  stilles 
zurückgezogenes  Leben.  Schliesslich  erkrankt  auch  die  Tochter:  sie 
hat  bei  Abwehr  der  deutschen  Soldaten,  die  ihres  Vaters  Kühe  weg- 
nehmen wollten,  einen  Kolbenstoss  erhalten,  und  dies  hat  bei  ihr  ein 
schweres  Leiden  hervorgerufen.  Doch  hält  sie  sich  bis  zum  Friedens- 
schlüsse. Da  erreicht  sie  die  Nachricht,  dass  ihr  Bräutigam  im  Kampfe 
verwundet  worden  und  seiner  Wunde  erlegen  ist.  Diese  Kunde  be- 
wirkt auch  ihren  Tod,  und  der  verzweifelte,  vaterlandslos  gewordene 
Förster  bleibt  somit  von  seiner  ganzen  Familie  allein  zurück. 

Einige  Verwandtschaft  mit  dieser  Erckmann-Chatrian'schen 
Eührerzählung  zeigt  A.  Daudet 's  Robert  Helmont^)  insofern,  als 
auch  in  ihm  die  Form  der  Ich-Erzählung  gewählt  ist,  und  als  man 
auch  hier  in  die  Waldeinsamkeit  geführt  und  in  emplindungsvoUe 
Stimmungen  versetzt  wird.  Dies  ist  aber  die  ganze  Aehnlichkeit. 
Das  Eigenthümliclie  in  dem  auch  in  Deutschland  ziemlich  bekannten 
Daudet'schen  Werke  besteht  in  dem  Kontraste  zwischen  der  Ver- 
lorenheit des  Helden  im  einsamen  Forste  und  dem  mächtigen  Kriegs- 
ringen, das  unweit  davon  zwei  Völker  mit  einander  führen.  Ueber 
die  Entstehung  seines  Buches  giebt  Daudet  selbst  eingehend  Aus- 
kunft. Vor  Ausbruch  des  Krieges,  am  14.  Juli  1870,  zog  er  sich 
im  Sorameraufenthalte  bei  Champrosay  in  der  Umgegend  von  Paris 
bei    einem  Ringkampf   einen  Beinbruch    zu,    der   ihn   während    der 


')  Paris  1873  u.  1891. 


Die  französische  NovdlistiJc  und  Bomanlitteratur.    II.        257 

ersten  sechs  Kriegswochen  ans  Bett  fesselte.  Die  Leiden  seines 
Vaterlandes  und  die  seines  Körpers  vereinigten  sich,  um  ihn  in  eine 
tiefsinnige,  niedergeschlagene  Stimmung  zu  versetzen.  Er  gehörte 
zu  den  letzten  pariser  Sommerfrischlern,  die  in  die  Stadt  zurück- 
kehrten. Einige  Tage,  nachdem  dies  geschehen,  besuchte  er  noch- 
mals sein  verlassenes  Landhaus;  dabei  fand  er  Champrosay  und  die 
benachbarten  Ortschaften  verödet  und  still;  nur  ein  alter  Bauer  war 
in  dem  Dorfe  zurückgeblieben.  Daudet  will  ihn  mitnehmen,  erhält 
aber  von  ihm  zur  Antwort,  er  sei  zur  Auswanderung  zu  alt;  mit 
seinen  Kartoffeln,  seinem  Weinvorrath,  einigen  Hühnern  und  seinem 
Schweine  werde  er  schon  durchkommen.  In  der  That  findet  ihn 
Daudet  nach  Einstellung  der  Ftindseligkeiten  frisch  und  munter  in 
Champrosay  wieder.  Die  Deutschen  waren  durch  die  Ortschaft  nur 
hindurchgezogen,  ohne  sie  zu  besetzen.  Da  die  französischen  Wald- 
hüter nach  Paris  abberufen  waren,  so  konnte  der  Bauer,  von  einigen 
Wilddieben  dabei  unterstützt,  ungestört  Holz  fällen  und  Eehböcke 
und  Fasanen  abfangen.  Stiess  man  in  der  Nähe  der  Steinbrüche 
auf  einen  vereinzelten  Preussen,  „so  wurde  ihm  seine  Sache  schnell 
und  geräuschlos  besorgt". 

Auf  dieser  Grundlage  baut  Daudet  seinen  E.  Helmont  auf. 
Er  leiht  diesem,  einem  Maler,  den  eigenen  Unfall  und  die  eigenen 
Empfindungen  zu  Beginn  des  Krieges,  lässt  ihn  dann  einsam  in 
einem  versteckten  Forsthause  während  der  pariser  Belagerung 
zurück  und  sich  dort  in  Betrachtungen  der  Waldesstille  und  der 
Aeusserungen  des  Krieges  ergehen,  die  ihn  bis  in  seinen  verlassenen 
Winkel  verfolgen.  Er  hört  den  Donner  der  Festungs-  und  Be- 
lagerungsgeschütze, sieht  ein  Luftschifl:  über  sein  Haupt  hinziehen, 
nimmt  eine  erschöpfte  Brieftaube  in  seine  Pflege  und  macht  un- 
beachtete Wanderungen  nach  Champrosay,  wo  nur  ein  Bauer  zurück- 
geblieben ist.  Dieser  ist  einmal  nahe  daran,  gehenkt  zu  werden; 
er  rettet  sein  Leben  dadurch,  dass  er,  schon  hängend,  das  ihm  zu- 
fällig bekannt  gewordene  Nothzeichen  der  Freimaurer  macht.  Ein 
deutscher  Offizier,  ein  wirklicher  Freimaurer,  sieht  dies  und  hindert 
die  Vollstreckung  des  Urtheils.  Zum  Danke  dafür  ermordet  der 
Bauer  einen  deutschen  Soldaten  nach  dem  andern,  indem  er  jedes- 
mal, wenn  er  einen  derselben  vereinzelt  antrifft,  ihn  meuchlings 
überfällt  und  mit  einer  grossen  Gartensclieere  von  liinten  ersticht. 
Die  Ermordeten  bleiben,  nachdem  er  sie  geplündert,  den  Raubviigeln 
zum  Frasse  überlassen. 

Die  Deutschen,  diese  Ueberfälle  bemerkend,  machen  auf  den 
Bauern  Jagd.  Er  findet  vorübergehend  eine  Zufluchtsstätte  in  der 
vei-steckten  Klause  Helmonts,  verlässt  diesen  aber  wieder,  um  seinem 
Mörder-  und  Räuberhandwerk  weiter  nachzugehen.  Zwischenein 
verirren  sich  einige  kleine  deutsche  Abtheilungen  in  die  Nähe  des 

Ztschr.  1.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  i' 


258  E.  Koschivitz, 

Einsameu,  wo  sie  als  Plünderer  und  »Säufer  auftreten.  Es  kostet 
Helmont  üeberwindung,  nicht  einen  derselben,  der  sich  ahnungslos 
auf  einer  Steinbank  ausstreckt,  niederzuschiessen.  Schliesslich  unter- 
nimmt er  es  mit  dem  Bauern,  der  ihn  wieder  aufsucht,  nach  Paris 
hineinzugelangen.  Ohne  Erfolg,  weil  sein  Begleiter  es  nicht  unter- 
lassen kann,  eine  alleinstehende  deutsche  Schildwache  niederzustechen, 
das  zweiundzwanzigste  Opfer  seiner  Mordsucht.  Der  Bauer  findet 
bei  dem  darauf  folgenden  Fluchtversuche  den  wohlverdienten  Tod; 
Helmont  dagegen,  von  einem  französischen  Arzte  aufgenommen  und  ver- 
borgen gehalten,  entkommt  und  kehrt  in  seine  Waldstätte  zurück, 
wo  er  das  Ende  der  Belagerung  und  des  Feldzugs  erwartet. 

Die  Darstellung  hat  die  Form  eines  Tagebuchs  Helmonts,  in 
dem  sich  der  Dichter  gewissermassen  selbst  verdoppelt.  In  den 
beigegebenen  Holzschnitten  sind  Helmont  auch  die  Gesichtszüge 
Daudets  beigelegt.  Der  Eahmen  der  Erzählung  ist  der  Wirklichkeit 
entlehnt;  selbst  die  Ermordungen  werden  von  Daudet  als  thatsäch- 
lich  behauptet.  Die  Betrachtungen  des  Helden  ergeben  sich  aus 
seinen  Verhältnissen  und  legen  von  der  Beobachtungsgabe,  dem 
Natursinn  und  der  Schilderungskraft  des  Verfassers  Zeugnis  ab. 
Auf  freier  Erlindung  beruhen  die  eingeflochteueu  Schilderungen  der 
Deutschen,  die  auch  von  Daudet  in  Ejiegsbeleuchtung  d.  i.  grau  in 
grau  gemalt  werden.  Trommel  und  Pfeife  der  Deutschen  erscheinen 
ihm  als  Begleitungsmusik  zu  einem  Tanz  von  Kanibalen,  die  deutschen 
Krieger  als  West-  und  Ostgothen,  unwürdig  die  schöne  Heerstrasse 
von  Ile  de  France  zu  betreten.  An  einer  Stelle  malt  er  mit 
kräftigen  Zügen,  wie  sie  sich  über  ein  Fass  Wein  herstürzeu,  be- 
rauscht alles  zertrümmern,  das  Fass  umtanzen  und  schliesslich  sich 
in  blutige  Raufereien  einlassen;  dann  wie  einer  derselben  zurückkehrt, 
um  dem  Fasse  auf  den  Boden  zu  sehen,  vergnügt  sich  auf  eine  Bank 
hinstreckt,  ein  Lied  mit  dem  Kehrvers  „Lieb,  Lieb  Mai"  anstimmt 
und,  nach  der  beigegebenen  Zeichnung,  sehr  schwankend  abzieht. 
An  andern  Stellen  schildert  Daudet,  wie  französische  Bauern  von 
den  Deutschen  mit  Gewehrkolben  und  Säbelscheiden  bearbeitet 
werden,  deutsche  Oftiziere  grosse  Spiegel  als  Zielscheiben  benutzen 
u.  dgl.  m.  Auch  pariser  Freischärler  besuchen  Helmont  zu  Anfang 
der  Erzählung;  er  schenkt  ihnen  ein  Huhn,  sie  nehmen  aber 
vier  mit.  Obgleich  der  Verfasser  den  mordenden  Bauern  verurtheilt, 
seine  Handlungsweise  durch  den  ihm  widerfahrenen  Verlust  von  Hab 
und  Gut  erklärt  und  durch  seinen  Tod  eine  ausgleichende  Gerechtig- 
keit herstellt,  so  wird  ihm  doch  eine  deutlich  erkennbare  Sympathie 
zugewandt,  die  bei  einem  Schriftsteller  von  der  Bedeutung  Daudets 
überrascht  und  sich  durch  ein  Entgegenkommen  gegen  den  Ge- 
schmack der  französischen  Chauvinisten  wohl  erklären,  aber  nicht 
entschuldigen  lässt. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur .    II.        259 

Ganz  tendenzlos  ist  Fr.  Coppee's  Idylle  während  der  Be- 
lagerung^). In  ihr  dienen  die  Ereignisse  des  Krieges  im  Wesent- 
lichen nur  dazu,  um  Kontrastwirkungen  zwischen  dem  Unglücke  der 
Gesammtheit  und  dem  Liebesgiücke  eines  Einzelnen  hervorzubringen 
und  um  die  Selbstsucht  der  Liebe  um  so  deutlicher  zu  kennzeichnen. 
Der  Held  der  Erzählung,  ein  junger  Bureaubeamter,  dessen  Herz 
durch  eine  junge  Frau  (in  einem  deutschen  Romane  wäre  es  ein 
junges  Mädchen)  zum  ersten  Mal  zum  Schlagen  kommt,  ist  so  von 
seiner  Leidenschaft  erfüllt,  dass  die  das  ganze  französische  Volk  auf- 
wühlenden Wechselfälle  des  Ki'ieges  und  der  Belagerung  von  Paris 
fast  keinen  Eindruck  auf  ihn  machen.  Die  grössten,  betrübeudsten 
Schreckenstage  sind  für  ihn  die  Tage  des  höchsten  Glückes.  Der 
Kiieg  gibt  so  in  der  Erzählung  nur  den  dunklen  Hintergrund  ab,  von 
dem  sich  das  zärtliche  Treiben  des  Liebenden  hell  abhebt. 

Gabriel  ist  als  einziger  Sohn  einer  Wittwe  von  thätiger 
Theilnahme  am  Feldzuge  befreit.  Zwar  schlägt  am  Tage  der  Kriegs- 
erklärung auch  sein  Herz  höher;  er  muss  sich  aber  damit  begnügen, 
dem  regen  Treiben  auf  den  Strassen,  den  „Nach  Berlin!"  rufenden 
Bluseumännern,  den  vorbeiziehenden  Regimentern  und  den  Seenen  des 
Abschieduehmens  zuzuschauen.  Vor  dem  Strassbui'ger  Bahnhofe 
bitten  ihn  zwei  junge  Frauen,  ihnen  einen  Platz  vor  ihm  einzuräumen, 
damit  sie  besser  sehen  können.  Es  entstellt  ein  Gedränge;  die  eine 
Frau,  Eugenie,  wird  fast  zwischen  die  Räder  eines  Proviantwagens 
geworfen  und  nur  durch  Gabriel,  der  sie  rechtzeitig  in  seinen  Armen 
auffängt,  vom  üeberfahren  gerettet.  Damit  ist  die  Bekanntschaft 
angeknüpft.  Gabriel  begleitet  die  Beiden  ein  Stück  auf  ihrem  Nach- 
hausewege. Er  erfährt  dabei,  dass  die  eine  von  ihnen,  Frau  Henry, 
eine  grosse,  unternehmende  und  leichtfertige  Brünette,  von  ihrem 
Manne  geschieden,  die  andre,  Eugenie,  mit  einem  rohen  und  un- 
gebildeten Holzhändler  vermählt  ist,  der  sie  um  ihres  Vermögens 
willen  geheiratet  hat  und,  nachdem  dies  grossentheils  verloren,  seinen 
Aerger  über  die  schlechten  Geschäfte  im  Kneipenleben  zu  vergessen 
sucht.  Er  kehrt  keinen  Abend  vor  Mitternacht  heim;  die  zart  an- 
gelegte junge  Frau  verbringt  daher  ihre  Abende  grossentheils  bei 
ihrer  Freundin,  Frau  Henry,  deren  munteres  Wesen  sie  aufheitert 
und  die  häuslichen  Sorgen  etwas  vergessen  lässt.  Gabriel  wird  von 
Frau  Henry  zu  einem  Besuche  eingeladen.  Der  schüchterne  Jüngling, 
auf  den  die  nur  verschleiert  gesehene  Eugenie  einen  tiefen  Eindruck 
gemacht  hat,  entschliesst  sicii  auch  zu  diesem  Besuche,  der  ihm  als 
ein  grosses  und  gewagtes  Unternehmen  erscheint.  Nach  Art  der 
Feigen,  die  einer  Gefalu-  entgegengehen,  macht  er  ei-st  grosse  Um- 
wege, um  dann  schliesslich  fast  im  Laufschritt  dem  ersehnten  Ziele 


TJne  idi/Ue  pendant  le  siege.     Paris  1874. 


260  E.  KoschuMs, 

zuzueilen.  Er  lindet  Frau  Henry  zu  Hause,  die  seine  aufkeimende 
Liebe  zu  Eugenie  bemerkt  hat,  ihn  damit  neckt  und  sich  ein  Ver- 
gnügen daraus  macht,  die  beiden  zusammenzuführen,  Sie  bewerk- 
stelligt dies  dadurch,  dass  sie  Gabriel  zu  den  Abenden  einladet,  die 
sie  mit  der  Freundin  in  ihrer  Wohnung  verbringt;  er  soll  ilmen, 
während  sie  Handarbeiten  vorhaben,  das  Petit  Journal  vorlesen. 
Glückerfüllt  von  dieser  verlockenden  Aussicht,  vernimmt  Gabriel 
auf  dem  Heimwege  fast  ohne  Theilnalmie  von  dem  Gefecht  bei 
Saarbrücken. 

Den  folgenden  Abend  findet  die  erste  Zusammenkunft  zwischen 
den  Dreien  statt.  Eugenie  ist  ebenso  schüchtern  und  zurückhaltend 
wie  Gabriel.  Der  Jüngling  betrachtet  sie,  ohne  sie  zu  sehen,  lauscht 
ihr  zu,  ohne  sie  zu  hören.  Sie  erscheint  ihm  wie  im  Nebel,  und 
er  ündet  keine  bessere  Unterhaltung  als  vom  Wetter  zu  sprechen. 
Als  er  nach  eingenommenem  Thee  das  Petit  Journal  lesen  soll, 
schwanken  ihm  die  Zeilen  vor  den  Augen;  er  liest  zwar,  aber  er 
weiss  kaum,  was  er  liest.  Eugenie  hat  die  Augen  beharrlich  auf 
ihre  Arbeit  gerichtet,  nur  ein  paar  Mal  kreuzt  sich  ihr  Blick  flüchtig 
mit  dem  Gabriels.  Als  es  Zeit  zum  Nachhausegehen  ist,  lehnt  sie 
scheu  seine  Begleitung  ab  und  macht  sich  sclinell  davon.  Auch 
Gabriel  verlässt  bald  darauf  Frau  Henry.  Auf  dem  Nachhausewege 
macht  er  sich  Vorwürfe  wegen  seines  einfältigen  Benehmens,  und 
Eugenies  Kühle  gegen  ihn  schlägt  ihn  nieder.  Er  erfährt  unter- 
wegs den  Verlust  der  Schlacht  bei  Weissenburg.  Die  schlimme 
Nachricht  bringt  ihn  einen  Augenblick  von  seinem  Liebesschmachten 
ab;  aber  kaum  ist  er  in  seinem  Zimmer,  so  sind  seine  Gedanken 
schon  wieder  bei  Eugenien.  während  ganz  Paris  von  der  Nieder- 
metzelung  einer  französischen  Division  und  dem  dabei  vergossenen 
Blute  erfüllt  ist. 

Es  folgen  die  langen  aufregenden  Tage  des  Augusts  1870. 
Der  Eeihe  nach  treffen  die  Unglücksbotschaften  von  der  Schlacht 
bei  Spichern,  von  der  Belagerung  von  Strassburg,  der  Einschliessung 
von  Metz  ein.  Die  Abgeordnetenkammer  sitzt  ohne  Unterbrechung; 
Minister  werden  wüthend  gestürzt;  die  Linke  wird  herrisch  und 
drohend.  Dann  bleiben  die  Nachrichten  aus.  Man  begann  auf  der 
Strasse  zu  leben.  Die  Menge  nahm  leichtgläubig  alle  Fabeln  hin. 
Alle  Tage  änderte  sich  das  Stadtbild.  Gestern  erfüllten  die  lächerlich 
gekleideten  Löschmannschaften  der  Provinz  die  Strassen,  heute  thun 
es  schmutzige,  halb  bekleidete,  oft  trunkene  alte  Soldaten  und  Ersatz- 
mannscliaften,  morgen  unbewaffnete  Mobilen.  Den  einen  Tag  flaggte 
Paris  auf  das  falsche  Gerücht  eines  Sieges,  den  andern  Tag  lief 
man  auf  die  Wälle  und  Befestigungswerke,  um  sich  von  ihrer  Stärke 
zu  überzeugen.  Ein  kriegerisches  Fieber  erfasst  alle  Bürger,  und  sie 
erlernen  auf  den  Kasernenhöfen  das  Kriegshandwerk.    Durch  die  Vor- 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlüteratur.    II.        261 

Städte  ziehen  die  Bewoliner  der  Bannmeile  mit  Möbeln,  Frauen, 
Kindern  und  Vieli  ein.  Von  alledem  wird  Gabriel  nur  wenig 
berülut.  Er  hatte  Eugenie  bei  Frau  Henry  wiedergesehen  und  traf 
jetzt  dort  mit  ihr  den  einen  Tag  um  den  andern  zusammen.  Als 
sie  ihn  so  schüchtern  sah,  hatte  sie  ihm  mit  mehr  Zuversicht  zu 
antworten  begonnen,  ihm  manchmal  auch  einen  sympathischen  Blick 
zugeworfen.  Eines  Abends  redete  sie  ihn  sogar  zuerst  an,  und  sie 
konnte  nicht  umhin,  traurig  über  die  unsagbare  Freude  zu  lächeln, 
die  ihm  dies  machte.  Er  ahnte  nicht,  welchen  Fortschritt  er  durch 
seine  stille  Bewunderung,  sein  zurückhaltendes  Wesen  im  Herzen 
der  jungen  Frau  gemacht  hatte,  und  auch  sie  selbst  war  sich  dessen 
nicht  bewusst.  Eines  Abends,  Ende  August,  darf  endlich  Grabriel 
die  Greliebte  auch  nach  Hause  begleiten;  ihr  Mann  war  auf  einige 
Tage  nach  Chartres  verreist,  so  dass  eine  Begegnung  nicht  zu  be- 
fürchten stand.  Eugenie  warnt  ihn  unterwegs,  allzuviel  Freundschaft 
für  sie  zu  emplinden,  und  schlägt  ihm  vor,  nicht  mehr  zu  ihrer 
Begegnung  zu  Frau  Henry  zu  kommen.  Er  antwortet  ihr  mit 
einem  Schluchzen,  und  sie  fühlt  eine  heisse  Thräne  aus  seinen 
Augen  auf  ihre  Hand  fallen.  So  kommt  es  zum  Ausbruch  ihrer 
Gefühle.  Eugenie  sucht  den  Weinenden  zu  beruhigen,  zu  trösten; 
eng  zusammengedrängt  wandern  sie  unter  den  Zweigen  der  Strassen- 
bäume.  Sie  erzählt  ihm  ihre  Lebensgeschichte;  er  verschlingt  sie 
mit  den  Augen  und  will  auch  das  Unbedeutendste  ihrer  Erlebnisse 
wissen.  Sie  gestehen  einander  ihre  Liebe  nicht  mit  Worten;  aber 
sie  lesen  sie  einander  an  den  Augen  ab.  So  gelangen  sie  an  das 
Thor  des  Holzhofes;  sie  reicht  ihm  die  Hand  zum  Abschiede;  aber 
plötzlich  liegen  sie  einander  in  den  Armen,  Lippe  gegen  Lippe  ge- 
presst.  Dann  entreisst  sich  Eugenie,  und  Gabriel  bleibt  unbeweglich 
vor  dem  Thore  zurück,  die  Augen  zum  Himmel  gewandt,  die  Hände 
zitternd  wie  die  eines  Greises,  das  Herz  bewegt.  Er  wäre  am  liebsten 
vor  Glückseligkeit  gestorben. 

Die  abendlichen  Begegnungen  bei  Frau  Henry  genügen  nun 
den  Liebenden  nicht  mehr;  sie  treffen  sich  auch  am  Tage  und 
machen  Spaziergänge  an  den  Seineufern.  Gabriel,  muthiger  ge- 
worden, spricht  nun  von  seiner  Liebe  auch  in  Worten  mit  all  dem 
Feuer  einer  ersten  Neigung.  Die  zweite  verabredete  Begegnung  fällt 
auf  den  4.  September,  den  Tag,  wo  die  Nachricht  von  der  Sedanschlacht 
nach  Paris  gelangte  und  zur  Beseitigung  des  französischen  Kaiser- 
thums  führte.  Es  war  unmöglich,  in  dem  vom  Verfasser  anschaulich 
geschilderten  Aufruhr  des  Tages  die  Geliebte  aufzufinden,  und  dies 
ist  an  dem  denkwürdigen  Tage  für  Gabriel  die  Hauptsache.  Wie 
im  Traume  sieht  er  die  Massenversammlungen  auf  den  Plätzen  und 
Strassen,  die  beginnende  Zerstörung  der  kaiserlichen  Adler  und 
Wappen,  die  friedliche  Erstürmung  von  Abgeordneten-  und  Rathhaus. 


262  E.  Koschwitz, 

Sobald  der  Abeud  gekommen,  eilt  er  zu  Frau  Henry,  die  er  nicht 
zu  Hause  antrifft:  Eugenie  bleibt  diesen  Tag  also  für  ihn  unerreichbar. 
Als  er  am  nächsten  Morgen  Frau  Henry  aufsucht,  findet  er  sie  in 
der  Gesellschaft  eines  zweifelhaften  Vetters,  eines  jungen  blonden 
Offiziers  der  Mobilen,  der  ihn  mit  misstrauischen  Blicken  betrachtet. 
Er  erfährt  von  ihr,  dass  Eugenie  von  ihrem  Manne  zu  ihren  Eltern 
nach  der  Provinz  geschickt  werden  solle,  und  bleich  und  halb  ohn- 
mächtig schleicht  er  von  dannen. 

Die  Versuche,  Eugenie  in  den  nächsten  Tagen  wiederzusehen, 
scheitern.  Seitdem  Frau  Henry  ihren  Vetter  gefunden  hat,  ist  sie 
fast  nie  mehr  zu  Hause.  Er  ist  in  Verzweiflung.  Inzwischen  sind 
die  Preussen  bis  vor  Paris  gerückt,  und  Gabriel  tritt  wie  jedermann 
in  die  Nationalgarde  ein.  Er  gehörte  einem  Bataillone  an,  das 
grösstentheils  aus  Professoren  und  Dekorirten  bestand,  das  nur  „Es 
lebe  Franki-eich ! "  rief  und  darum  für  reaktionär  galt.  Besonders 
gern  zog  er  des  Nachts  auf  die  einsame  Wache,  wo  er  auf  dem 
Walle  stehend  im  Mondesschein,  den  Blick  in  die  Ferne  gerichtet, 
sich  den  Träumereien  seiner  Liebe  hingeben  konnte.  Das  Unglück 
des  Vaterlandes  kommt  ihm  nur  hin  und  wieder  zum  Bewusstsein, 
insbesondere  eines  Tages,  als  er  nach  einem  unglücklichen  Ausfalls- 
gefecht die  geschlagenen  Truppen  zurückkehren  und  hinter  ihnen 
die  Verwundeten  vorbeifahren  sah.  Aus  einem  Lazarethwagen  schafft 
man  einen  Verwundeten  mit  geöffnetem  Unterleibe  heraus  und  lässt 
ihn  auf  der  Strasse  sterben.  Bei  dem  Gedanken,  dass  Tausende 
und  aber  Tausende  ein  ähnliches  Schicksal  erdulden,  während  sein 
Leben  in  weichlicher  Trägheit  dahinschleicht,  steigt  ihm  die  Scham- 
röthe  ins  Gesicht,  und  er  fragt  sich,  ob  er  kein  Ungeheuer  sei. 

Die  pariser  Belagerung  dauert  bereits  sechs  Wochen.  Die 
Hoffnungen  der  Einsichtigen  begannen  zu  sinken;  die  Stadt  nahm 
einen  düsteren  Charakter  an,  wurde  um-einlich.  Auf  den  Strassen 
Nationalgardisten  mit  immer  vernachlässigter,  oft  schmutziger 
Uniform;  flüchtige  Bauern  in  ganz  neuen  Häusern,  worin  sie 
Kaninchen  und  Geflügel  aufzogen;  schlecht  beleuchtete  und  zeitig 
geschlossene  Läden.  Eines  Tages  sieht  Gabriel  Eugenie  am  Arme 
eines  hochgewachsenen  Nationalgardisten,  ihres  Mannes.  Während 
er  sie  fern  glaubte  und  sich  nach  ihr  sehnte,  war  sie  in  Paris, 
in  seiner  Nähe  geblieben.  Am  Abend  desselben  Tages  eilt  er  zu 
Frau  Henry,  die  er  auch  glücklich  antrifft;  sie  sagt  ihm,  dass 
auch  Eugenie  ihn  vermisst  habe.  Bald  trifft  auch  sie  ein ;  unbeweglich, 
zitternd,  bleich,  vor  Rührung  halb  erstickt  stellen  die  Liebenden 
einander  gegenüber.  Sie  kommen  erst  zur  Besinnung,  als  Frau 
Henry  Gabriel  nach  alter  Weise  zum  Vorlesen  des  Petit  Journal 
auffordert.  Die  lang  entbehrten  Abendzusammenkünfte  beginnen  von 
Neuem;  wenn  der  Mann  Eugeniens  auf  Wache  ist,  darf  Gabriel  sie 


Die  französische  NovellistiJc  und  Romanlitteratnr.     II.        263 

anch  nach  Hause  begleiten.  So  vergehen  die  Monate  November  und 
Dezember.  Kälte,  Hunger,  Elend,  Schrecken  lassen  sie  gleichgiltig; 
ob  Trochu  oder  Blanqui  an  der  Spitze  der  Eegierung  steht,  kümmert 
Gabriel  nicht  im  mindesten;  die  traurigen  Schlachtendaten  erinnern 
ihn  nur  an  dieses  oder  jenes  zärtliche  Wort.  Am  4.  Januar  beginnt 
die  Beschiessung.  Frau  Henry  hat  aus  Furcht  ihre  Wohnung  ver- 
lassen; so  kommt  es,  dass  Gabriel  Abends  Eugenie  dort  allein  an- 
trifft, die  nicht  von  ihm  verfehlt  werden  wollte.  Sie  will  gleich 
wieder  fort,  hat  aber  dazu  nicht  Gewalt  genug  über  sich.  Gabriel 
verliert  vollends  den  Kopf  und  wirft  sich  ihr  zu  Füssen,  ihre  Hände 
mit  Küssen  bedeckend.  Das  angezündete  Licht  beginnt  zu  erlöschen. 
„Wir  leiden  zu  viel",  ruft  Gabriel,  „wenn  das  Schicksal  Mitleid  mit 
uns  hätte,  würde  es  eine  Bombe  auf  dieses  Haus  fallen  lassen,  die 
uns  vernichtet."  Im  selben  Augenblicke  erschüttert  eine  auf  die 
Strasse  gefallene  Bombe  das  ganze  Haus;  Fensterscheiben  zerbrechen; 
das  Licht  erlöscht,  und  der  Schrecken  wirft  Eugenie  in  die  Arme 
des  Geliebten.  In  ihrer  Verschlingung  achten  sie  nicht  des  Hagels 
von  Feuer  und  Eisen,  der  alles  niederschmettert,  Dächer  und  Mauern 
zum  Bersten  bringt,  Verwundete  in  ihren  Betten,  kleine  Kinder  in 
der  Wiege  tötet. 

Sie  setzen  ihre  Liebe  unter  dem  Wüthen  der  Geschosse  fort. 
Der  schreckliche  Monat  Januar  mit  seinen  Qualen  ist  ihnen  ein 
Paradies;  für  sie  ist  keine  Gefahr  vorhanden.  Sie  waren  glücklich 
am  Tage  der  Schlacht  am  Mont -Valerien  und  selbst  am  Tage  der 
Kapitulation.  Aber  an  diesem  Tage  zum  letzten  Mal.  Eugenie 
wird  krank  und  muss  sechs  Wochen  lang  das  Bett  hüten.  Gabriel 
denkt  nur  an  sie  und  wartet  fieberhaft  auf  den  Augenblick,  wo  sie 
wieder  ausgehen  kann,  ohne  sich  um  die  ersten  Sitzungen  der 
Versammlung  in  Bordeaux,  um  den  schüchternen  Siegeseinzug  der 
Deutscheu  in  Paris,  um  die  Kundgebungen  der  Nationalgarde  vor 
der  Julisäule,  um  die  Kanonen  des  Montmartre  und  die  drohenden 
Anzeichen  des  beginnenden  Bürgerkrieges  irgendwie  zu  bekümmern, 
Erst  am  Morgen  des  12.  März  hat  er  das  Glück,  die  Geliebte  bei 
Frau  Henry  wiederzusehen;  aber  sie  ist  so  bleich  und  abgemagert, 
dass  ihn  wie  ein  Schrecken  befällt,  er  könne  Eugenie  verlieren. 
Am  folgenden  Tage  hatten  die  Aufständischen  sich  der  Stadt  be- 
mächtigt. 

Gabriel  muss  mit  allen  Regierungsbeamten  nach  Versailles, 
wo  sich  die  flüchtigen  Pariser  in  Kellern  und  Speichern,  des  Nachts 
auf  Ladentischen  und  Billards  schlafend,  zusammendrängten.  Ihre 
Eitelkeiten,  Vergnügungen  undLächerlichkeiten  brachten  sie  auch  dahin 
mit.  Unmöglich,  nach  Paris  zu  gehen,  um  die  Geliebte  aufzusuchen. 
Gabriel  verwünscht  den  Aufstand,  der  seiner  Liebe  diese  Hinder- 
nisse bereitet.     Am  Tage,   wo  die  Vendomesäule  umgestürzt  wurde. 


264  E.  Koschmtz, 

sieht  er  den  Mann  der  Geliebten  gefangen  nach  Versailles  führen; 
angstvoll  stellt  er  sich  Eugenie  einsam  und  verlassen  in  Paris 
vor.  Als  einer  der  ersten  eilt  er  in  die  wiedergewonnene  Stadt  und 
wie  ein  Wahnsinniger  stürzt  er  nach  der  Wohnung  der  Geliebten. 
Eine  alte  Obsthändlerin  berichtet  ihm  dort,  dass  sie  Paris  ver- 
lassen hat  und  zu  ihren  Eltern  in  der  Normandie  zurückgekehrt 
ist.  Er  hat  nie  daran  gedacht,  sie  nach  dem  Namen  ihres  Heimats- 
ortes zu  befragen;  auch  Frau  Henry,  die  er  später  in  einem  andern 
Stadtviertel  wiedertrifft,  weiss  ihm  keine  Auskunft  zu  geben.  Er 
erfährt  nur  noch,  dass  der  Mann  Eugeniens  wegen  seiner  Theilnahme 
an  dem  Aufstande  zur  Deportation  verurtheilt  worden  ist.  —  So  war 
mit  dem  Feldzuge  auch  die  Liebesidylle  beendet. 

Es  ist  ein  zwar  nicht  sittliches,  aber  reizend  zartes  Gemälde, 
das  Coppee  auf  dem  düsteren  Hintergrunde  des  Krieges  entwarf,  der 
wie  der  unbestimmte  Rückhall  eines  Echos  in  unsere  Idylle  hinein- 
tönt und  ihr  ihre  Eigenthümlichkeit  und  ihren  besonderen  Reiz  verleiht. 

Eine  etwas  anders  geartete,  reinere  Idylle,  die  schmucklos 
wirklich  Erlebtes  erzählt,  linden  wir  vor  in  J.  de  Villeurs'  Botnan 
eines  Belagerten.  Busch.  1870—1871.1)  Das  Werk  enthält:  Briefe 
und  Tagebuch  eines  jungen  französichen  Offiziers,  der  mit  dem  zweiten 
Bataillon  des  86.  Linienregiments  Anfang  August  in  Bitsch  ein- 
geschlossen wurde  und  dort  den  ganzen  Feldzug  hindurch  ver- 
bleiben musste;  Briefe  und  Tagebuchblätter  seiner  Frau,  die  an- 
fangs in  Villeneuve  le  Roy,  dann  in  Saint  Sorliu  bei  ihren  Eltern 
weilte  und  dort  den  Leiden  des  Krieges  ausgesetzt  war;  endlich 
einige  Briefe  der  Schwiegereltern  des  Oftiziers  und  eines  Kame- 
raden, der  mit  den  beiden  übrigen  Bataillonen  des  Regiments 
die  Kämpfe  um  Metz  mitmachte  und  verwundet  nach  Belgien  ent- 
kam. De  Villeurs  ist  nach  einem  kurzen  Vorwort  nur  der  Sammler 
und  Herausgeber  der  veröffentlichten  Blätter,  die  ein  zusammen- 
hängendes Ganze,  eine  Kriegsidylle  in  Briefform  ergeben.  Der 
Offizier,  dessen  Familienverhältnisse  und  Feldzugsbetrachtungen 
man  kennen  lernt,  ist  als  Bataillonsführer  später  in  Tongking  im 
Kampfe  gegen  die  schwarzen  Fahnen  gefallen,  und  seine  Frau  ist  ihm 
drei  Monate  später  aus  Sclnnerz  darüber  ins  Grab  gefolgt.  Es 
liegt  kein  Grund  vor,  die  Richtigkeit  dieser  Angaben  anzuzweifeln. 

In  den  mitgetheilten  Aufzeichnungen  spiegelt  sich  das  Seelen- 
leben eines  grossen  Theiles  der  gebildeten  Bevölkerung  Frankreichs 
während  der  Kriegszeit  unverfälscht  wieder.  Die  Schwiegermutter 
findet  am  12.  Juli,  dass  die  französische  Regierung  mit  unerhörtem 
Leichtsinn  das  Leben  Tausender  aufs  Spiel  setzt.  Wozu  musste 
sie  gleich  einen  so  herausfordernden  Ton  anschlagen?    Gab  es  denn 


>)  Le  Boman  d'un  Assiegi:     Bitche.     1870—1871.     Paris  1889. 


Die  französische  Novellistik  und  Romanlifteratur.    II.        265 

kein  anderes  Mittel,  um  den  Ministern  ihre  Stellen,  dem  Kaiser 
seinen  Thron  zu  retten?  Der  Schwiegervater  meint  am  15.  Juli, 
nachdem  der  Krieg  erklärt,  es  gelte,  Rache  für  Waterloo  zu 
nehmen  und  durch  die  Rheinufer  das  grosse  Frankreich  ab- 
zurunden, dessen  allmähliche  Entwicklung  das  Werk  der  Jahr- 
hunderte sei.  Europa  werde  nicht  eher  Ruhe  haben,  als  bis  Frank- 
reich seine  natürlichen  Grenzen  besitze.  Der  junge  Krieger  geht 
guten  Muthes  ins  Feld.  Die  ersten  Kriegstage  gleichen  einem  fried- 
lichen Landausfluge  in  grosser  Gesellschaft.  An  dem  Siege  der 
Franzosen  zweifelt  niemand.  Der  Offizier  empfiehlt  den  seinen  (am 
23.  Juli),  sich  mit  einer  guten  Rheinkarte  zu  versehen,  damit  sie  seinem 
Vorrücken  auf  ihr  folgen  können;  seine  Frau  fragt  am  25.  Juli,  wie 
er  ihre  Briefe  nach  Preussen  bekommen  werde,  und  ihre  Mutter 
ist  (am  27.  Juli)  um  das  Schicksal  der  aus  Deutschland  zu  er- 
wartenden Briefschaften  besorgt.  Am  28.  Juli  spricht  der  Lieute- 
nant die  Zuversicht  aus,  dass  die  Reise  nach  Preussen  und  der 
ganze  Feldzug  nicht  von  langer  Dauer  sein  werde ;  am  30.  Juli  seine 
Freude,  genügend  Deutsch  zu  verstehen,  um  sich  mit  den  Bauern 
des  zu  erobernden  Landes  zu  verständigen.  Diese  Zuversicht  wird 
durch  das  Bekanntwerden  der  Besetzung  von  Saarbrücken  (am 
3.  August)  noch  verstärkt;  man  spricht  von  einer  Abdankung 
Wilhelms,  dem  es  gereuen  werde,  in  seinem  Alter  auf  Abenteuer 
ausgegangen  zu  sein.  Als  sich  die  gehegten  Hoffnungen  als  irrig 
erAviesen,  treten  falsche  Siegesnachrichten  an  Stelle  der  erwarteten 
wirklichen  Triumphe.  Am  16.  August  hörte  man  in  Bitsch  von 
einer  zweitägigen  siegreichen  Schlacht  bei  Remilly;  am  28.  August 
wusste  man  dort,  dass  das  Heer  Friedrich  Karls  vernichtet  sei,  man 
habe  ihm  mehr  als  hundert  Kanonen  abgenommen  und  jeden  Waffen- 
stillstand abgeschlagen;  am  6.  September,  dass  die  Deutschen  in 
Lothringen  bereits  600000  Mann  verloren  hätten;  am  8.  September, 
dass  Oesterreich  ein  drohendes  Ultimatum  an  Baiern  gerichtet  habe, 
bis  zum  8.  September  seine  Truppen  zurückzunehmen;  am  25.  Sep- 
tember, dass  Bismarck  durch  eine  Kugel  beide  Beine  ab- 
gerissen worden  seien;  am  29.  September,  die  Strassburger  Besatzung 
habe  bei  einem  Ausfall  den  Deutschen  7  000  Mann  getötet.  In 
Saint  Sorlin  verkündete  man  am  24.  Oktober  den  Tod  des  preussischen 
Kronprinzen :  am  29.  November  vernahm  man  dort,  dass  ein  deutscher 
Artilleriepark  von  100  Kanonen  im  Lehmboden  stecken  geblieben 
sei  u.  s.  w.  Diese  Freudenbotschaften,  anfänglich  mit  gläubigem 
Sinn  aufgenommen,  fanden,  je  länger  der  Krieg  gedauert  hatte, 
um  so  weniger  Glauben.  Trotzdem  lässt  unser  Lieutenant  fast  bis 
zum  letzten  Augenblick  die  Hoffnung  auf  einen  schliesslichen  Erfolg 
der  französischen  Waffen  nicht  sinken  (s.  19.  Nov.).  Seine  junge 
Frau  ist  früher  entmuthigt;  ziemlich  bald  macht  sich  bei  ilii'  Sehn- 


266  E.  Koschwitz, 

sucht  nach  einer  Beendigung  des  Krieges  selbst  um  hohen  Preis 
geltend;  am  26.  Dezember  bittet  sie  ihren  Mann,  alle  eitlen  Illusionen 
aufzugeben.  Verhältnissmässig  selten  wird  Rachegedanken  Ausdruck 
gegeben  (z.  B.  28.  Jan.).  Die  Neutralen,  auf  die  am  6.  September 
und  noch  am  1.  November  Hoffnungen  gesetzt  wurden,  finden  später 
heftigen  Tadel  für  ihre  Theilnahmslosigkeit  (28.  Jan.).  Auch  der 
Tadel  an  den  eigenen  Zuständen  bleibt  nicht  aus.  Am  16.  Dezember 
schreibt  die  Schwiegermutter:  „Ehrgeiz,  Flunkerei,  Sorglosigkeit, 
alle  Fehler  des  französischen  Charaktei-s  haben  sich  vereint,  um 
uns  niederzuschmettern."  Die  Deutschen  werden  je  nach  den  Um- 
ständen oder  nach  Stimmung  auf  das  ärgste  verunglimpft  oder  an- 
erkennend beiu'theilt.  Die  baiiische  Infanterie  vor  Bitsch  besteht  aus 
einer  ungeordneten  Truppe  von  Familienvätern,  die  ihren  Dienst  laut 
verwünschen  und  die  Flintenkugeln  nicht  lieben  (24.  Aug.);  die 
Kriegsaristokratie  der  Preussen  hat  ein  wenig  zivilisiertes  Benehmen 
(25.  Aug.) ;  es  sind  Vandalen,  die  (bei  der  Beschiessung  von  Bitsch) 
harmlose  Bürger,  Frauen  und  Kinder  hinmetzeln  und  brutal 
den  Abzug  der  Zivilbevölkerung  aus  der  beschossenen  Festung  ver- 
weigern (13.  Sept.);  die  Deutschen  sind  zu  dickbäuchig,  um  ein 
Erklimmen  der  Festungsmauern  auf  Leitern  unternehmen  zu  können 
(17.  Sept.),  sie  brennen  und  morden  (2.  7.  Okt.),  lassen  die  Gefangenen 
Hungei's  sterben  und  ohne  Stroh,  um  darauf  zu  schlafen  (2.  9.  Okt.); 
sie  sind  Barbaren  (27.  Nov.)  und  martern  die  gefangenen  Freischärler, 
ehe  sie  sie  erscliiesssen ;  die  Proviantwagen  der  deutschen  Generäle 
sind  mit  Stutzuhren,  Kunstgegenständen,  Möbeln,  Wäsche,  Frauen- 
kleidern, Kiuderanzügen  und  Kinderspielzeug  angefüllt  (6.  Dez.), 
auch  die  Soldaten  stehlen  Thiere,  Leinwand  und  Möbeln;  die  Ein- 
wohner müssen  ihnen  ihre  Betten  abtreten,  der  geringste  Widei-stand 
wii'd  von  ilinen  mit  dem  Tode  bestraft.  Einmal  halten  fünf  Ulanen 
einen  französischen  Bauern  wegen  seiner  neuen  Ledergamaschen  für 
einen  Freischärler  und  bearbeiten  ihn  mit  dem  flachen  Säbel,  ehe  sie 
ilm  erschiessen  (18.  Jan.).  Andererseits  findet  der  eingeschlossene 
Lieutenant  an  zwei  deutsclien  Berichterstattern,  gebildeten  Leuten, 
die  hohe  Gedanken  reizend  aussprechen  und  die  in  Bitsch ,  in  das 
sie  aus  Versehen  kamen,  gefangen  gehalten  werden,  eine  angenelune 
Gesellschaft,  und  bleibt  er  mit  ihnen  in  fortwährendem  freundschaft- 
lichen Verkehr  (15.  Aug.);  sie  erscheinen  ihm  als  echte  Pariser,  ob- 
gleich sie  aus  Berlin  stammen  (18.  Aug.);  einer  von  ilinen  macht  ilm 
zum  Helden  einer  Novelle  (28.  Dez.),  die  er  ins  Französische  übei-setzen 
hilft.  Sie  tauschen  auch  Sprachunterricht  aus  (27.  Jan.)  Die  guten 
deutschen  Landwehrmänner  fügen  nach  ihm  den  armen  Departements 
des  Niederrheins  keinen  Schaden  zu  (11.  Okt.).  Auch  in  Nemours 
betragen  sich  die  deutschen  Soldaten  recht  gut,  wenn  man  ilinen 
keinen  Widei-stand  leistet.    Für  die  Herrin  des  Hauses  sind  sie  voller 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    IL        267 

Achtung-;  nur  in  Bezug  auf  Keller,  Küche  und  Speisekammer  sind 
sie  schwieriger  (7.  Nov).  Die  Badenser,  die  von  Zelt  zu  Zeit  nach 
Chatenay  kamen,  um  Chokolade  und  Zucker  zu  kaufen,  zahlen 
ohne  Abzug  die  geforderten  Preise  (20.  Dez.).  Es  wird  auch  nicht 
verschwiegen,  dass  von  Seiten  der  Franzosen  die  den  Deutschen  vor- 
geworfenen Plünderungen  nicht  minder  stattfanden;  nur  wird  ent- 
schuldigend dazu  bemerkt,  dass  der  Eö-ieg  die  ungesunden  Leiden- 
schaften entfessele  (2.  Aug.),  und  dass  der  Hunger  wüthend  mache 
(23.  Okt.).  Diese  Entschuldigungen  durften  wohl  auch  die  Deutschen  für 
sich  geltend  machen.  Die  Kriegsereignisse,  mit  denen  die  erzählenden 
Personen  in  unmittelbare  Berühi'ung  treten,  sind  ziemlich  spärlich. 
Der  Lieutenant  beschreibt  ausführlich,  aber  ohne  Rücksichtnahme  aut 
militärische  Interessen,  die  Vorgänge  in  und  um  Bitsch:  die  An- 
kunft von  Flüchtlingen  daselbst  (7.  Aug.),  einige  Scharmützel  vor 
<ier  Stadt  (9.  Aug.,  29.  Sept.),  die  widerholten  Aufforderungen 
zur  Uebergabe  dui-ch  deutsche  Parlamentäre  und  ihre  Ab- 
weisung (22.  Aug. ,  23.  Aug.) ,  die  erste  Beschiessung  Bitsch's 
(23.  Aug.),  einige  Vertheidigungsarbeiten  (27.  Aug.),  eine  beab- 
sichtigte Ueberrumpelung  der  Deutschen,  die  aber  ergebnisslos  ab- 
läuft (30.  Aug.,  31.  Aug.  und  1.  Sept.),  den  Ausfall  vom  5.  September 
(5.  Sept.),  die  Thätigkeit  der  Baiern  (8.  Sept.,  9.  Sept.),  die  Schrecken 
und  Folgen  des  Bombardements  (11.,  12.,  13.,  14.,  15.,  16.,  17., 
18.,  19.,  20.,  21.  Sept.),  die  engere  Einschliessung  (24.  Sept.  u.  s.  f.), 
die  Ertappung  und  Ersclüessung  eines  Spions  (28.  Okt.),  die  Lange- 
weile der  Belagerten  und  ihre  Zerstreuungen  (3.  Nov.  u.  ö.),  die  Bil- 
dung eines  54.  Marschregiments  aus  den  in  Bitsch  beündlichen 
Mannschaften  (25.  Nov.),  endlich  das  Vergessenwerden  von  Bitsch 
seitens  der  französischen  Regierung,  die  der  Besatzung  weder  den 
Waffenstillstand  noch  den  Friedensschluss  mittheilt.  Von  der  Frau 
des  Lieutenants  erhält  man  besonders  die  Schilderung  der  Kriegs- 
vorgänge, die  sich  um  Saint  Sorlin  abspielten.  Das  Nahen  des 
Feindes  und  die  Kämpfe  um  Orleans,  das  Eintreffen  flüchtiger  Frei- 
schärler (6.  Dez.),  das  Einbringen  eines  gefangenen  deutschen 
Dragoners  (9.  Dez.),  und  Scharmützel  zwischen  Fro'^  >Hrlern  und 
Deutschen  in  unmittelbarer  Nähe  des  von  ihr  bewuliü.en  Schlosses 
(31.  Jan.)  gelangen  der  Reihe  nach  zur  Darstellung.  Ein  grosser  Theil 
der  Aufzeichnungen  besteht  in  rein  persönlichen  Mittheilungen.  Der 
Offizier  schildert  die  kleinen  Erlebnisse  seines  ersten  Auszugs,  das 
Lagern  unter  Zelten,  die  Annehmlichkeit  der  ihm  nachgeschickten  Sachen, 
seine  Spazierritte  um  Bitsch,  seine  geringen  Vergnügungen  in  dieser 
Festung,  seine  Ernennung  zum  Hauptmann  u.  s.  w.  Seine  Frau  und 
seine  Schwiegereltern  geben  von  sich  und  den  Verwandten  Nachricht. 
Eine  grosse  Rolle  spielt  dabei  das  kleine  Söhnchen  des  Eingeschlossenen, 
das   Mutter    und    Vater    in    gleicher   Weise    das  Herz    erfüllt,    und 


268  E.  Koschwitz, 

dessen  Thateu  und  Reden  mit  Genauijrkeit  gemeldet  werden.  Diese 
Familiennachricliten,  der  hei'zliche  Ton  der  Briefschaften  und  die  An- 
hänglichkeit der  auftretenden  Verwandten  an  einander,  geben  dem 
Buche  eine  anziehende  Grundstimmung;  die  Menschen,  die  darin  auf- 
treten, erscheinen  lebenswahr  und  liebenswürdig  und  schmeicheln  sich 
unwillkürlich  in  die  Theilnahme  des  Lesers  ein.  Der  de  Villeurs'sche 
Roman  eines  Belagerten  ist  darum  vielleicht  die  anmuthendste  Er- 
scheinung aus  der  ganzen  Litteratur,  die  wir  hier  beliandelu. 

Während  bei  Coppee  der  Held  der  Idylle  in  Paris,  bei  de 
Villeurs  in  Bitsch  eingeschlossen  ist,  führt  uns  in  eine  deutsche 
Mittelstadt,  in  der  man  leicht  Stettin  erkennt,  der  einzige  Roman 
eines  Kriegsgefangenen,  dessen  ich  habhaft  werden  konnte:  Die 
lÄebe  in  Preussen  von  (Jh.  Laurent^).  Der  Schilderung  des  Lebens 
des  Gefangenen  ist  die  eines  platonischen  Liebesverliältnisses  ein- 
geflochten, womit  die  Theilnahme  des  Lesers  angespornt  und  wach 
erhalten  werden  soll.  Der  Held  der  Erzählung,  der  trotz  aller 
schmeichelhaften  Vorzüge,  die  ihm  zugeschrieben  werden,  und  trotz  der 
hohen  Ueberlegenheit,  die  ihm  allen  mit  ihm  in  Berührung  kommenden 
Deutschen  gegenüber  zuerkannt  wird,  eine  recht  wenig  sympathische 
Persönlichkeit  bleibt,  ist  ein  fünfundzwanzigjähriger  Referendarius, 
der  1870  freiwillig  ins  Heer  getreten,  gefangen  genommen  und  nach 
S.  geschafft  worden  ist,  wo  er  die  Feldzugszeit  verbringt.  Anfangs 
in  einer  Kaserne  eingeschlossen,  beneidet  er  die  kriegsgefangenen  Hand- 
werker, denen  das  Ausgehen  gestattet  ist.  Er  soll  dann  Kanonen- 
kugeln schleppen  helfen  und  stürzt  auf  dem  Wege  zu  dieser  Ai'beit  in 
Folge  des  Glatteises.  Bei  der  Gelegenheit  erregt  er  die  Aufinerk- 
samkeit  eines  Landwehroftiziers,  eines  Gutsbesitzers,  der  ihn  in  seine 
Familie  einführt,  ihn  u.  a.  auch  mit  einem  General,  seinem  Scliwager, 
und  mit  Frau  von  Schöngarten,  der  jungen  Wittwe  eines  Oberst- 
lieutenants bekannt  macht,  deren  Gemahl  in  der  Schlacht  bei  Wörth 
gefallen  war,  und  auf  die  der  junge  Franzose,  wie  auf  alle  jüngeren 
deutschen  Frauen,  einen  tiefen  Eindruck  macht.  Diese  rasche  Em- 
pfänglichkeit der  deutsclieu  Frauen  für  die  Franzosen,  die  ausnahmslos 
als  Musterbildei'  gesellscliaftlicher  Anmuth  erscheinen,  gehört  zu  den 
Gemeinplätzen  der  gesammten  neuern  französischen  Litteratur  über 
Deutschland;  die  Franzosenbegeisterung  unsrer  Frauen  und  die 
Vorzüglichkeit  der  französischen  Geistesbildung  und  Umgangs- 
formen werden  selbst  dann  behauptet,  wenn,  Avie  in  unserm 
Romane,  alle  Aeusserungen  und  Handlungen  des  Vertreters 
dieser  Vorzüge  dazu  in  krassem  Widerspruch  stehen.  Der  Ver- 
fasser gibt  sich  zwar  alle  Mühe,  seinen  Helden  mit  geistigen  und 
gesellschaftlichen    Tugenden    auszustatten;    aber     es    gelingt    ihm 


^)  L'amour  en  Prusse.    Paris  187S. 


Die  französische  NoveUistik  und  Romanlittcratur .    II.        269 

doch  nur,  einen  unbescheidenen,  halbgebildeten  und  wenig  welt- 
gewandten, dafür  um  so  dünkelhafteren  und  eiteln  jungen  Mann 
hervorzubringen,  der  die  Dinge  um  sich  herum  mit  der  Brille  eines 
wenig  gereisten  und  ziemlich  beschränkten  französischen  Durch- 
schnittsphilisters ansieht.  Der  Romanschriftsteller,  der  seine  Ge- 
schöpfe in  fremde  Verhältnisse  führt  und  Erörterungen  über  Kunst 
und  Wissenschaft  vorbringen  lässt,  muss  selbst  mit  diesen  Ver- 
hältnissen bekannt  und  mit  den  erforderlichen  Kenntnissen  ausgerüstet 
sein.  Bei  Herrn  Laurent  war  dies  leider  nicht  der  Fall,  und  darum 
missrieth  seine  Schöpfung.  Die  meisten  Deutschen  in  seinem  Romane 
gewahi'en  natürlich  nichts  von  der  Flachheit  des  französischen 
Helden.  Er  macht  auf  sie  Eindruck,  schon  weil  er  ein  Pariser  ist. 
Besonders  aber  schreitet  er  rasch  in  der  Gunst  der  Oberstlieutenants- 
wittwe  voran.  Sie  gewährt  ihm  wiederholt  vertrauliche  Zusammen- 
künfte in  ihrer  Wohnung,  doch  widersteht  sie  siegreich  seinen 
heisseren  Gefühlen.  Ihr  Widerstand  wird  jedoch  allmählich  schwächer; 
der  Franzosenjüngling  hat  mit  Recht  auf  das  letzte  Stelldichein 
weitgehende  Hoffnungen  gesetzt.  Dasselbe  kommt  aber  glücklicher- 
weise nicht  zu  Stande,  und  so  erfolgt  die  Trennung  ohne  Verschuldung 
der  Deutschen.  Die  Entfernung  wirkt  abkühlend  auf  das  Liebespaar; 
sie  erkennen  nachträglich  beide  ihre  Geschmacksverirrung,  und  Held 
und  Heldin  vermählen  sich  mit  Angehörigen  des  eigenen  Volksstammes. 
Den  Hauptreiz  an  dem  Romane  bilden  die  eingeflochtenen 
Schilderungen  der  Deutschen,  mit  denen  der  Hauptheld  in  Berührung 
kommt.  Einer  derselben  ist  ein  junger  Pharmazeut,  der  mit  Entzücken 
an  einen  pariser  Aufenthalt  zurückdenkt  und  besonders  gern  in  Ge- 
danken an  die  dortigen  Tingeltangelsängerinnen  schwelgt.  Daneben 
treten  auf:  ein  lümmelhafter  Gymnasiast,  der  sich  mit  seinem  Jammer- 
franzöisch  aufdrängt ;  Kellnerinnen,  die  es  mit  der  Sittlichkeit  nicht 
sehr  genau  nehmen ;  ein  Privatgelehrter,  der  mit  dem  Träger  der  Er- 
zählung wiederholt  zusammentrifft  und  mit  ihm  Gespräche  über  dar- 
stellende Kunst,  Musik  und  Litteratur  fülu't,  die  stets  zum  Siege  des 
Franzosen  ausfallen  und  in  jedem  Punkte  die  unendliche  Ueber- 
legenlieit  des  französischen  Volkes  feststellen.  Die  Vertheidigung 
des  Deutschen  oder  der  Deutschen,  wenn  die  eingestreuten  Kunst-  und 
Litteraturunterhaltungen  allgemeiner  sind,  ist  ungemein  schwächlich; 
sie  wissen  über  heimische  Dinge  nicht  mehr  Bescheid,  als  der  Durch- 
schnittsgebildete in  Frankreich.  Und  da  dessen  recht  wenig  ist,  so  ist 
es  kein  Wunder,  wenn  sie  stets  den  Kürzeren  ziehen.  Der  armselige 
deutsche  Gelehrte  bereitet  ein  für  die  berliner  Akademie  bestinnntes 
mythologisches  Werk  vor,  worin  er  die  Reste  der  griechisch-römischen 
Götterlehre  in  den  heutigen  Volkserzählungen  und  im  Volksaber- 
glauben nachweisen  will.  Er  sucht  und  rindet  dafür  reichlichen  Stoff 
unter  den  französischen  Kriegsgefangenen,  die  er  durch  Austheilung 


270  E.  Koschwitz, 

von  Tabak  und  Zigarren  entgej^enkommend  zu  stimmen  sucht.  Sie 
binden  ihm  allerlei  Kasernenschnack  auf,  den  er  gläubig  hinnimmt  und 
seinem  umfangreichen  Werke  einverleibt.  Erst  das  (telächter  unsres 
Franzosen,  dem  er  seine  neugesammelten  Schätze  zur  Volkskunde 
zeigt,  bringt  ihn  zum  Bewusstsein.  Er  wird  seitdem  ein  erbitterter 
Gegner  des  Franzosenthums.  Sein  Benehmen  wird  seinen  wissen- 
schaftlichen Leistungen  entsprechend  geschildert:  er  ist  plump,  un- 
gewandt, dünkelhaft  und  verdeckt  hinter  bissigen  Bemerkungen  die 
Blossen  seiner  Kenntnisse.  Zur  Abwechslung  werden  auch  einige 
angenehmere  deutsche  Persönlichkeiten  eingeführt.  So  der  gast- 
freundliche Landwehroffizier  und  seine  Verwandten.  Doch  bleibt  auch 
an  ihnen  allerlei  auszusetzen;  nur  die  Wittwe,  an  die  das  Liebes- 
werben  des  Gefangenen  gerichtet  ist,  und  ein  andres  junges  Mädchen 
linden  Gnade  vor  seinen  Augen.  Dafür  empfindet  der  deutsche 
Leser  um  so  weniger  Wohlgefallen  an  der  von  dem  Franzosen  verehrten 
Schönheit,  die,  wie  gewöhnlich  die  Wittwen  in  der  französischen  Litte- 
ratur,  den  gefallenen  Gatten  allzu  rasch  vergisst  und  sich  durch  die 
zweifelhaften  Vorzüge  und  die  Werbungen  eines  Gefangenen  bestechen 
lässt,  dem  trotz  allen  ilim  geliehenen  Zartgefühls  ein  ziemlicher 
Beisatz  von  Frechheit  nicht  mangelt.  —  Auch  ein  Landsmann  des 
Verfassers  spielt  übrigens  eine  klägliche  Rolle:  ein  französischer 
Sergeant,  der  von  den  Reizen  einer  nichts  weniger  als  tugendhaften 
deutschen  Kellnerin  umstrickt  wird  und  ihretwegen  auf  die  Heimat 
verzichtet. 

Li  allen  Theilen  der  Erzählung  ist  ersichtlich,  dass  der  Ver- 
fasser die  Kriegsgefangenschaft  selbst  erlebt  hat  und  seine  dabei 
gemachten  Aufzeiclinungen  verwerthet.  Man  findet  bei  ihm  oft  jene 
Beobachtungen  und  alltäglichen  Unterhaltungen,  die  allenthalben 
von  den  französischen  Kiiegsgefangenen  bei  ihrem  ersten  Eintreffen 
in  Deutschland  angestellt,  bez.  gefülirt  wurden.  Unsere  abweichenden 
Wohnungseinrichtungen  und  manche  unserer  Gebräuche  waren  ihnen 
völlig  neu ;  begreiflicherweise  drückten  sie  dies  überall  in  ziemlich 
derselben  Weise  aus  und  erliielten  sie  dieselbe  Auskunft.  IVIan  empfängt 
durch  diese  Einfiechtungen  stellenweise  den  Eindruck,  als  habe  der  Ver- 
fasser ein  Handbucli  der  Umgangssprache  schieiben  wollen,  worin  der 
übliche  und  unvermeidliche  üedankenaustauscli  übei-  die  verschiedenen 
Landeseinrichtungen  zum  Vorwurf  genommen  wird,  dem  sich  niemand 
völlig  entziehen  kann,  der  ins  Ausland  reist  und  dort  mit  Einheimischen 
in  Berülirung  tritt.  Auf  Neulieit  oder  grossen  Geistesreichthum 
können  die  vom  Verfasser  eingestreuten  Betrachtungen  dieser  Art 
keinen  Ansprudi  erheben;  sie  liaben  nur  Reiz  für  den,  der  die  ge- 
schilderte Zeit  mit  erlebt  hat  und  der  sich  nun  freut,  die  alten  Be- 
kannten wiederzufinden.  Bedauerliclierweise  gibt  der  Verfasser  auch 
hier  der  Ueberlieferung   seines  Landes  allzu  oft  nach,   und  lässt  er 


Bie  französische  Novellistik  und  Romanlitteratur.    II.        271 

zum  Beispiel  die  norddeutscheii  Offiziere  und  Soldaten  das  Französische 
in  elsasser  Weise  aussprechen.  Solche  eingeführten  Unmöglichkeiten 
benehmen  seiner  Erzählung  selbst  den  Werth  eines  getreuen  Reise- 
berichtes. Manche  seiner  Einzelangaben  sind  dafür  allerdings  von 
grosser  Treue.  So,  wenn  er  französische  Soldaten  einer  auf  dem 
Glatteis  hingefallenen  Preussin  „kaput"  zurufen  lässt,  ein  Wort,  das 
die  Franzosen  für  deutsch,  und  unsere  Soldaten  für  gutes  französich 
hielten  und  wovon  sie  in  Frankreich  einen  verschwenderischen  Ge- 
brauch machten;  wenn  er  die  Sprachschwierigkeiten  schildert,  die 
bei  der  französischen  Unterhaltung  einer  deutschen  Familie  entstehen, 
und  die  gutmüthige  Unart  der  Deutschen,  über  die  Sprachverdrehungen 
der  Ausländer  rückhaltslos  zu  lachen;  oder  wenn  er  entdeckt,  dass  es 
unter  Umständen  nicht  gar  so  übel  ist,  ein  süsses  Kompott  zum  Fleisch 
zu  essen,  was  sonst  in  den  französischen  Schilderungen  als  eine  der 
grössten  Barbareien  geschildert  wird  ^).  Auch  die  folgende  Scliilderung 
von  einer  Unterhaltung  der  in  einem  Barackenlager  untergebrachten 
Kriegsgefangenen  scheint  einem  wirklichen  Erlebnisse  entnommen. 
Dieselben  parodierten  eine  Prozession:  „Ein  mit  einem  Stück  grauen 
Tuches  als  Mantel  bedeckter  Kreuzträger,  dessen  Kreuz  aus  einem 
Besenstiele  und  einem  Stück  Holz  gebildet  war,  und  zwei  Trompeter 
gingen  voran,  letztere  die  bei  den  Frohnleichnamsprozessionen  in 
Frankreich  übliche  Weise  spielend.  Darauf  folgten  zwei  junge 
Soldaten,  ein  Hemd  als  Chorrock  benutzend,  einen  irdenen  Topf  statt 
des  Baretts  auf  dem  Kopfe  und  einen  Kieselstein  als  Weihfass  an 
einem  Stricke  schwingend,  und  ein  weiterer  Soldat,  der  die  Beinkleider 
bis  über  das  Knie  aufgestreift  hatte,  einen  weissen  Rock  ohne  Aermel 
trug  und  einen  Pudel  hinter  sich  herzog.  Er  sollte  den  heiligen 
Johannes  mit  seinem  Lannn  vorstellen.  Hinter  ihm  her  marschierten: 
zwölf  Mann  mit  umgedrehten  Röcken,  auf  dem  Kopfe,  den  Fuss  nach 
oben,  mit  Papier  und  Werg  ausgestopfte  Strümpfe,  die  ein  mensch- 
liches Bein  vollkommen  nachbildeten:  die  zwölf  Apostel;  vier  Turkos, 
einen  scheinbar  Toten  tragend;  um  sie  herum  ein  halbes  Dutzend 
Priester,  als  solche  durch  umgekelirte  Mäntel  erkenntlich  gemacht, 
die  mit  gefalteten  Händen  das  heitere  Lied  sangen: 

Herr  Marlborough  ist  tot, 

Mironton,  ton,  ton,  mirontaine. 

Herr  Marlborough  ist  tot, 

Ist  tot  und  begraben  (drei  Mal); 
endlich  drei  Gendarmen  mit  aus  Papier  hergestelltem  Dreispitz  auf 
dem  Kopfe  und  mit  Besenstielen  als  Wafte".     Ebenso  ist  unzweifelhaft 


^)  In  Wirklichkeit  liegt  nur  eine  Verschiedenheit  des  Auftragens 
vor.  In  Frankreich  werden  manche  Gerichte  nach  einander  aufgetragen, 
die  in  Deutschland  gleichzeitig  auf  den  Tisch  gebracht  werden,  ohne  dass 
damit  ein  gleichzeitiges  Einnehmen  derselben  vorausgesetzt  wird. 


272  E.  Koschwitz, 

geschichtlich  das  verunglückte  galante  Abenteuer  des  Helden  mit  einer 
Kellnerin,  infolge  dessen  er  nutzlos  bis  spät  in  die  Nacht  in  einer  Kneipe 
weilt  und  dann  mit  einem  gleich  ihm  stark  angeheiterten  Deutschen, 
der  ihm  gutmüthig  ein  Nachtquartier  anbietet,  den  Heimweg  antritt. 
Die  beiden  Schwankenden  müssen  sich  gegenseitig  stützen;  sie 
brauchen  eine  Stunde,  um  den  einen  Kilometer  weit  entfernten  Platz 
wiederzufinden,  an  dem  der  Deutsche  wohnt.  Dann  kann  der  freund- 
liche Wirth  sein  Haus  nicht  finden,  und  als  es  endlich  erkannt  ist, 
fehlt  ihm  der  Hausschlüssel.  Ein  liebenswürdiger  Nachbar  schliesst  ihm 
auf,  und  der  Deutsche  stolpert  in  sein  Zimmer,  von  einem  keifenden 
Weibe  empfangen.  Er  vergisst  dabei  den  Franzosen  und  lässt  ihn 
rathlos  auf  der  Treppe  zurück.  Es  gelingt  demselben  indess  auf  den 
Boden  zu  gelangen ;  dort  ündet  er  eine  Dachstube  offen,  tritt  hinein  und 
legt  sich  in  ein  darin  vorgefundenes  Bett  zum  Schlafen.  Er  ist 
in  die  Wohnung  einer  Mutter  von  zwei  erwachsenen  Töchtern  ge- 
rathen  und  wird,  früh  am  Morgen  entdeckt,  nicht  allzu  höflich  an 
die  Lutl  gesetzt,  froh,  einer  Anzeige  durch  schleunige  Flucht  ent- 
gehen z;i  können. 

Bei  den  übrigen  Episoden  ist  den  wirklichen  Erlebnissen  stets 
ein  starker  Zusatz  dichterischer  Erfindung  beigemischt,  bestimmt,  den 
Romanhelden  in  gute,  die  Deutschen  in  düstere  Beleuchtung  zu 
setzen.  Der  Knabe,  der  ihm  von  sechs  in  den  deutschen  Familien 
üblichen  Mahlzeiten  erzählt;  die  Behauptungen  der  deutschen  Lieb- 
habei'in,  dass  die  Deutschen  bei  Begegnung  einer  Frau  nie  vom  Bürger- 
steige ausweichen;  dass  der  schwere  Marschschritt  der  deutschen 
Soldaten  ein  natürlicher  sei;  die  berichtete  Kneipenunterhaltuug,  in 
der  ein  Deutscher  völlig  wie  ein  Franzose  denkt  und  spricht;  die 
Sentimentalität  der  Wittwe,  die  ihn  um  sein  Kepi  als  Andenken 
bittet,  verdienen  niclit  mehr  Glaubwürdigkeit,  als  die  Behauptung 
des  Romanhelden  seinen  deutschen  Wirthen  gegenüber,  die  pariser 
Hauspförtner  seien  gelehrter  und  unterrichteter  als  die  berliner 
Studenten.  Des  Verfassers  .Schilderuns:  eines  Bordellbesuches  und  der 
Theilnalime  seines  Helden  an  einem  Tanzven^nügen  mit  Prügelei,  sowie 
die  seiner  Beiiegiiunü-  mit  einer  verliebten  Büraerfrau,  der  er  Turnunter- 
richt ertheilt  und  deren  allzu  gro.sses  Entgegenkommen  ihm  Schrecken 
eintlösst,  wo  in  einem  Theile  wiikliche  Ereignisse  zu  Grunde  liegen 
mögen ,  haben  in  ihrer  i:eschiciitlichen  Grundlage  gewiss  eine 
andere,  für  den  Helden  weniger  rühmliche  Entwicklung  gehabt. 
Im  Grossen  uml  Ganzen  aber  erhält  man  aus  der  Erzählung  ein 
anschauliches  Bild  von  dem  Leben  und  Denken  eines  französischen 
Kriegsgefangenen  während  des  letzten  Feldzuges ,  das  auch  in 
Deutschland  bekannt  zu  werden  verdient,  und  wäre  es  auch  nur, 
um  zu  sehen,  wie  für  die  den  Kriegsgefangenen  erwiesene  Gast- 
freundschaft gedankt  wird. 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitterakir.    II.        273 

Zweien  der  von  uns  noch  zu  besprechenden  Werke  gebührt  mehr 
als  allen  übrigen  der  Name  von  Kriegsromanen,  weil  ihre  Ver- 
fasser beabsichtigten,  ein  kulturhistorisches  Gesammtbild  von  dem 
deutsch-französischen  Feldzuge  zu  entwerfen.  In  dem  einen  von 
beiden,  in  M.  L.  Gagneur's  Kanonenfiitter^),  sollen  nicht  nur  die 
Sclu'ecken  und  Greuel  des  Krieges  zur  Darstellung  gelangen,  sondern 
überdies  in  einer  Anzahl  von  Trägern  des  Romans  auch  die  Ver- 
schiedenheit der  Rassen  und  ihrer  x^uschauungen  zum  Bewusstsein 
gebracht  werden,  und  zwar  so,  dass  auf  die  republikanischen  Fran- 
zosen alles  Licht,  auf  die  preussischen  Tyrannenknechte  und  ihre 
Herrscher  aller  Schatten  fällt.  In  einem  Prolog  werden  die  Ver- 
treter der  beiden  Parteien  vorgestellt,  die  dann,  wie  in  Aimards 
Baron  Friedricli  und  in  Etievants  Schöner  Spionin,  immer  wieder 
feindlich  zusammenstossen,  und  wobei  mit  einer  Ausnahme  die 
Deutschen  die  hartherzigen,  schurkischen  Verfolger,  die  Franzosen  ihre 
edeln  und  grossmüthigen  Opfer  sind.  Die  verkommensten  Deutschen 
sind  auch  bei  Frau  Gagneur  die  Angehörigen  des  Preussenstaates.  Sie 
bilden  wie  in  den  eben  genannten  Romanen  so  auch  hier  ein  ganzes 
Schlangennest  verschlagener,  dreister  und  gewissenloser  Spione.  An 
ihrer  Spitze  steht  der  General  Freiherr  Haun  von  Truenborg.  Er 
hat  eine  eifrige  Gehilfin  an  seiner  schönen  Tochter,  die  mit  einem 
älteren  französischen  Gberst  v.  Reumont  vermählt  ist,  den  sie  durch 
ihre  Reize  bezaubert  hat,  den  sie  aber  betrügt  und  durch  ihre  Ver- 
schwendung um  sein  Vermögen  bringt.  Ihr  Geliebter  ist  ein  Prinz 
Karl,  ein  heruntergekommener  weltgewandter  Edelmann,  mit  vielem 
Verstand,  aber  ohne  Gesinnung,  der  ebenfalls  im  Spionagedienst  be- 
schäftigt ist  und  der  Frau  v.  Reumont  bei  der  Verschwendung  des  Ver- 
mögens ihres  Mannes  geholfen  und,  um  Geld  zu  haben,  selbst  eine 
Fälschung  vorgenommen  hat.  Er  ist  seiner  ehemaligen  Geliebten 
überdrüssig,  dafür  in  eine  unerwiderte  Liebe  zu  ihrer  älteren  Stief- 
tochter Camilla  entbrannt,  die  um  sein  Verhältniss  zur  Stiefmutter 
und  um  seinen  Betrug  weiss,  sogar  den  Beweis  desselben  im  Besitze 
hat,  und  die  ihn  desshalb  mit  Geringschätzung  zurückweist.  Zu  dem 
deutschen  Personale  gehören  weiter  eine  x\nzahl  untergeordneter 
Spione:  Shermann,  der  Sekretär  des  Generals,  Sporling,  Harth,  Hirsch, 
insbesondere  Hopfer,  ein  wohlhabender  Fabrikbesitzer,  der,  um  den 
französischen  Konkurrenzbetrieb  kennen  zu  lernen,  in  einem  elsasser 
Eisenwerke  als  einfacher  Arbeiter  gedient  hat  und  von  dessen  Leiterin, 
Frau  Milher,  mit  Schimpf  und  Schande  verjagt  worden  ist.  Er 
rächt  sich  später  sehr  praktisch  damit,  dass  er  die  Werkzeuge  seiner 
ehemaligen  Herrin  in  seine  Heimat  schicken  und  dann  ihr  Hütten- 
werk  bei  Zabern  abbrennen   lässt.     Zu  diesen  Preussen   treten  ein 


^)  Chair  ä  canon.     Paris  1872. 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV'.  18 


274  E.  KoschuMs, 

empfindsamer  bairischer  Offizier  von  Rosenthal,  der  von  den  Greueln 
des  Krieges  nichts  wissen  will,  in  demokratischen  Anschauungen  be- 
fangen ist,  die  Preussen  hasst  und  schliesslich  logisch  damit  endet, 
dass  er  das  französische  Bürgerrecht  erwirbt,  und  ein  etwa  hundert- 
jähriger Oesten'eicher,  der  sich  auf  einem  Planeten  wohnend  glaubt 
und  von  Zeit  zu  Zeit  durch  eine  Lupe  dem  thörichten  Getriebe  der 
Menschen  zuschaut,  das  er  von  seinem  höheren  Standpunkte  aus  nach 
den  sozialistischen  Ideen  der  Verfasserin  beurtheilt.  Die  mensch- 
liche Gesellschaft  erscheint  ihm  wie  ein  Kranker,  der  von  allerlei 
Gewürm  zerfressen  wird.  Der  Parasitismus  nagt  an  ihm  wie  ein 
Aussatz,  der  gierige  Handel  zerfrisst  ihn  wie  ein  Krebsgeschwür, 
das  stehende  Heer  wirkt  auf  ihn  wie  eine  offene  Wunde.  Andere 
Schmarotzer  am  kranken  Körper  sind  die  müssig  gehenden  Bürger, 
die  Geistlichen  und  Jesuiten.  Er  sieht  den  allgemeinen  Untergang, 
die  Anarchie  voraus,  aus  deren  Trümmern  eine  neue,  bessere  Mensch- 
heit hervorgehen  wird,  wo  die  Fesseln  der  heutigen  Gesellschafts- 
ordnung gebrochen,  das  Kapital,  der  Sklave  der  Arbeit,  die  Vorrechte 
gefallen  sein  werden,  wo  alle  gesellschaftlichen  Kräfte  ins  Gleich- 
gewicht gelangt  sein  und  nur  noch  Einklang  und  Glückseligkeit  er- 
zeugen werden.  Diesen  Deutschen  gegenüber  stehen  als  französische 
Typen  gegenüber:  der  tapfere  Oberst  v.  Reumont,  der  immer  an 
der  Spitze  seines  Regiments  in  den  Kampf  marschiert,  wiederholt 
verwundet,  nach  der  Genesung  immer  wieder  zur  Waffe  greift,  so 
lange  bis  ihn  eine  tötliche  Kugel  trifft;  die  stolze  Schönheit  Camilla, 
seine  älteste,  herrliche  Tochter,  die  ihre  jüngere  zarte  Schwester 
Lucile  sorgsam  überwacht  und  für  die  alle  Männerherzen  schlagen,  ins- 
besondere aber  das  des  elsasser  Hauptmanns  jMilher,  für  den  auch 
sie  eine  Liebe  immer  mächtiger  aufkeimen  und  emporwachsen  fühlt; 
die  sanfte  Lucile,  die  den  bairischen  Hauptmann  v.  Rosenthal  liebt 
und  von  ihm  ebenso  innig  und  rein  wiedergeliebt  wird;  die  ener- 
gische Frau  Milher,  Mutter  des  Hauptmanns  und  zweier  Töchter, 
von  denen  die  eine  während  des  Krieges  getötet,  die  andere  ge- 
schändet und  infolge  dessen  irrsinnig  wird,  ein  Werk  des  rach- 
süchtigen Hopfer;  verschiedene  französische  Offiziere  uncl  einige 
Soldaten,  die  mutliige  Heldenthaten  venichten,  immer  zur  rechten 
Zeit  da  sind,  wenn  es  gilt,  einen  der  französischen  Haupthelden  zu 
retten,  die,  verwundet,  immer  wieder  genesen,  gefangen,  immer 
wieder  entweichen  und  erst  zuletzt  zum  Theil  im  Schlaclitenkampf 
ihr  Ende  finden.  Endlich  gehöien  zu  dem  zahlreichen  Roman- 
personal noch  ein  excentrischer  englischer  Lord  und  seine  magere 
liässliche  Schwester,  die  ein  englisch -französisches  Kauderwelsch 
sprechen  und  die  Manie  haben.  Schlachten  beiwohnen  und  Schlacht- 
felder besichtigen  zu  wollen.  Sie  sind  die  komischen  Figuren 
des   Romans.      Die   Verfasserin   verwendet    sie   wiederholt    zui'   Be- 


Die  französische  NoveUistik  und  Bomanlitteratur.    II.        275 

freiung  der  gefangen  genommenen  französischen  Helden  und  ausserdem 
dazu,  sich  von  ihnen  als  Unparteiischen  die  von  ihr  behaupteten 
deutschen  Scheusslichkeiten  bestätigen  zu  lassen. 

Die  feindlichen  preussischen  und  französischen  Parteien  werden 
nun  gegen  einander  in  Bewegung  gesetzt.  Die  Spionin  v.  Reumont 
und  ihr  ungetreuer  Anbeter  Prinz  Karl  verfolgen  unausgesetzt 
Camilla  und  ihren  Verehrer  Milher.  Frau  v.  Reumont  will  sich 
an  Camilla  rächen,  weil  sie  von  ilir  gedemüthigt  worden  ist  und 
um  ihretwillen  die  Liebe  des  Prinzen  Karl  verloren  hat;  Prinz 
Karl  hasst  Camilla,  weil  sie  ihn  verschmäht,  und  Milher,  weil  er 
ihm  von  ihr  vorgezogen  wird.  Als  Dritter  im  Bunde  betheiligt 
sich  Hopfer,  ihr  williges  Werkzeug,  an  dem  Rachewerke.  Der 
Prinz  dient  als  Oberst,  Hopfer  als  Hauptmann  in  dem  Regimente 
der  Totenhusaren.  Sie  vernichten  nicht  nur  das  Glück  der  Familie 
Milher,  die  sie  in  den  Töchtern  des  Hauses  so  schwer  treffen, 
sie  lassen  auch  das  Dorf  und  das  Herrenhaus  v.  Reumont's  in  den 
Ardennen  in  Brand  stecken,  locken  ferner  den  Hauptmann  Milher 
in  einen  Hinterhalt  und  lassen  ihn  endlich,  als  er  auf  Schloss 
Pouilly  ein  letztes  Mal  in  ihre  Hände  fällt,  lebendig  verbrennen. 
Auch  sonst  häufen  sie  Schandthaten  auf  Schandthaten ,  bis  sie 
selbst  einem  rächenden  Geschicke  unterliegen.  Die  böse  Stiefmutter, 
Frau  V.  Reumont,  die  nach  dem  von  ihr  geförderten  Tode  ihres  Gatten 
ihn  zu  beerben  hoffte,  wird  in  ihrer  Hoffnung  betrogen;  er  hat 
nicht  nur  nichts  hinterlassen,  sondern  auch  noch  ein  zu  ihren  Gunsten 
aufgesetztes  Testament  wieder  vernichtet.  Bei  einem  Besuche  bei 
Hopfer,  der  von  den  Blattern  gänzlich  entstellt  worden  ist,  steckt 
sie  sich  an,  und  von  ihrer  früheren  Schönheit  bleibt  nach  dieser 
grässlichen  Kranklieit  nichts  übrig.  Um  sich  an  dem  Prinzen  zu 
rächen,  der  sie  verlassen,  steckt  sie  auch  ihn  an;  er  fällt  der  Krank- 
heit völlig  zum  Opfer.  Andrerseits  geht  auch  Camilla  unter;  die 
Trauer  um  den  heissgeliebten  Milher  bringt  sie  ins  Grab.  Glück- 
licher ist  ihre  Schwester  Lucile,  die  die  Gemahlin  des  zum  Fran- 
zosen gewordenen  Baiern  v.  Rosenthal  wird.  Die  deutschen  Spione 
Shermann  und  Sporling  bleiben  am  Leben  und  sind  nocli  immer  in 
Paris;  dafür  geht  der  oberste  Spion  Hann  von  Truenberg  bald  nach 
dem  Frieden  an  den  Folgen  seines  unersättlichen  Heisshungers 
zu  Grunde. 

Die  erste  Stelle  nimmt  in  dem  Romane  die  Kriegsbesclu*eibung 
ein.  Es  kommen  zur  Schilderung:  die  Schlacht  bei  Spichern  und 
insbesondere  die  Schrecken  dieses  Schlachtfeldes,  auf  dem  Camilla 
nach  Milher  und  ihrem  Vater  sucht;  die  Leiden  eines  schwer  Ver- 
wundeten, der  vergessen  liegen  bleibt  und  von  einer  Schlachthyäne 
ausgeplündert  wird;  die  Ordnung  und  Regelmässigkeit  der  deutschen 
Feldlager;     die    Sorglosigkeit    und    Unfähigkeit    der    französischen 

18* 


276  E.  Koschwitz, 

Heeresleitung-  und  die  Unordnung  in  den  französisclien  Heeren;  der 
Kampf  bei  Bazeilles;  die  Abfahrt  des  gefangenen  Napoleon;  die 
Leiden  der  bei  Sedan  Gefangenen;  die  Rettung  einer  französischen 
Fahne;  die  freudige  Aufregung  der  Pariser  nach  Erklärung  der 
Republik  und  die  bald  darauf  von  ihnen  begonnene  Spionenjagd; 
das  Treffen  bei  Coulmiers;  die  Wiedereinnähme  von  Orleans  durch 
die  Deutschen;  endlieh  einige  Kämpfe  der  Garibaldianer.  An  allen 
diesen  Ereignissen  sind  die  Helden  des  Romans  betheiligt.  Sonst 
wird  das  Hauptgewicht  auf  Schilderung  der  deutschen  Schändlich- 
keiten gelegt.  Um  ihrer  Darstellung  mehr  Nachdruck  zu  geben, 
verzeichnet  die  Verfasserin  in  Anmerkungen  die  angeblich  ge- 
schichtlichen Grundlagen,  die  sie  in  ihrem  Romane  verwerthete. 
Die  angeführten  geschichtlichen  Thatsachen  bestehen  jedoch  in 
entstellten  oder  mehr  oder  minder  vollständig  erfundenen  Berichten. 
Zu  einer  Prüfung  ihrer  Quellen  und  zur  Anhörung  der  ihnen  gegen- 
überstehenden Behauptungen  fülilte  die  Verfasserin  offenbar  keine 
Neigung;  sie  wäre  dadurch  um  ihre  schönsten  Deklamationen  ge- 
kommen. Die  von  ihr  angegebenen  Vorlagen  sind  Zeitungsartikel, 
die  von  der  Entdeckung  eines  als  Pfeifenhändlers  verkleideten  Spions 
im  Fort  Viucennes  berichteten  und  erzählten,  wie  ehemalige  deutsche 
Diener,  als  Sieger  ins  Land  eingezogen,  ihre  früheren  Herrschaften 
auf  das  übelste  behandelten,  oder  wie  ehemalige  deutsche  Arbeiter 
und  Beamte  während  des  Krieges  die  Maschinen  ihrer  Brotgeber 
und  Konkurienten  zerstörten.  Ferner  benutzte  sie:  E.  Fnurnier,  les 
Prussiens  chez  nous  (Paris  1871);  die  Papiers  secrets  et  correspondances 
du  second  Empire,  la  Prusse  au  pilori,  woraus  eine  deutsche  Brand- 
stiftung entnommen  wird;  Freycinet,  La  guerre  de  province  (Paris 
1872),  welchem  Weike  tin  Briet'  entlehnt  ist,  worin  ein  Deutscher 
die  Fortsetzung  des  Krieges  nach  Sedan  für  unsittlich  erklärt,  sich 
freut,  dass  er  gefangen  genommen  worden  ist,  also  an  einem  un- 
gerechten Kriege  nicht  mehr  theilzunehmen  braucht,  und  die 
Franzosen  wegen  ihres  aufmerksamen  Fienehmens  gegen  die  Kriegs- 
gefangenen belobt;  die  Documents  ofticiels  emanes  d'Orleans,  woraus 
die  im  Romane  benutzte  Behauptung  entlehnt  ist,  dass  ein  deutscher 
üflizier,  um  die  ihm  anfgetrageuen  Scheusslichkeiten  niclit  ausführen 
zu  müssen,  sich  selbst  erschossen  habe ;  endlich  einen  Skandalbericht, 
der  die  Verbrennung  eines  französischen  Oftizieis  bei  Pouilly  nicht 
der  Wahrheit  gemäss,  sondern  nacli  den  damals  in  Umlauf 
gesetzten  gehässiaen  Gerüchten  erzählte.  Ausserdem  wird  noch  die 
authentische  Unterhaltung  eines  französisclien  und  eines  deutschen 
Soldaten  vor  dem  von  den  Konnnunisten  angesteckten  Paris 
eingetlochten.  Der  Deutsche  sagte:  „Nicht  wahr,  das  brennt  sehr 
gut."  Der  Franzose  antwortete:  „Ja,  sehr  gut.  Aber  das  wird  noch 
besser  brennen,    wenn   wir  Berlin   anstecken   werden.'-      Ueberliaupt 


Bie  französische  Novellistik  tmd  RomanUtteratur.    II.        277 

hat  Frau  Gagneur  eifrig  die  französischen  Kriegswerke  gelesen,  die 
während  oder  unmittelbar  nach  dem  Kriege  erschienen,  um  ihrem 
Romane  den  Anschein  eines  historischen  Romanes  zu  geben.  Aber 
dieser  gesuchte  Anschein  hat  nur  den  Zweck,  ihrer  deutschfeindlichen 
Tendenz  mehr  Gewicht  zu  verleihen.  Nebst  der  Verhetzung  der 
Deutschen  lag  ihr  die  sozialistische  Propaganda  am  meisten  am 
Herzen,  und  eine  stattliche  Anzahl  der  eingestreuten  breiten  Unter- 
haltungen und  Betrachtungen  verdanken  nur  dieser  Absicht  ihren 
Ursprung.  Von  den  in  Deutschland  herrschenden  Anschauungen  und 
von  dem  wirklichen  deutschem  Wesen  hat  Frau  Gagneur  noch  weniger 
eine  Vorstellung  als  irgend  ein  anderer  der  uns  beschäftigenden 
Autoren.  Sie  legt  (S.  71)  z.  B.  einem  bairischeu  Offizier  die  Be- 
trachtung in  den  Mund,  Napoleon  hätte  den  Krieg  von  1870  als  zu 
dem  Zwecke  unternommen  erklären  müssen,  die  von  Preussen  ein- 
verleibten Provinzen  von  diesem  Joche  zu  befreien;  dann  hätte  sich 
Süddeutschland  gegen  die  verhassten  preussischen  Unterdrücker  er- 
hoben, und  Frankreich  hätte  die  ganze  deutsche  Demokratie  zur 
Verbündeten  gehabt.  Als  ob  die  Deutschen  nicht  gelernt  hätten,  ein 
für  alle  Mal  für  die  selbstsüchtigen  Beglückungsversuche  von  Seiten 
ihrer  westlichen  Nachbarn  zu  danken!  Sie  legt  ferner  den  Preussen 
einen  ganz  unbändigen  Neid  gegen  Frankreich,  seine  Kunst  und 
Wissenschaft ,  gegen  seineu  Reichthum  und  seine  Ueberlegenheit 
auf  allen  Gebieten  bei,  was  zur  Voraussetzung  hätte,  dass  diese 
französische  Ueberlegenheit  in  Preussen  anerkannt  sei;  sie  findet 
ferner,  dass  die  Elsasser  von  einer  ganz  andern  Rasse  und  Art  sind, 
als  die  Deutschen  u.  s.  w.  Auch  andere  Naivitäten  sind  zahlreich: 
so  wenn  die  auftretenden  englischen  Geschwister  als  unter  einander 
ein  Schauerfranzösisch  sprechend  eingeführt  werden ;  wenn  ein 
bairischer  Offizier  seine  preussische  Kokarde  von  seiner  Mütze  ab- 
reisst  u.  dergl.  m. 

Eine  künstlerisch  werthvolle  Leistung  konnte  auf  die  ge- 
schilderte Weise  nicht  entstehen.  Statt  eines  historischen  Kiiegsromanes 
erhielt  man  einen  verworrenen  Abenteuerroman,  mit  der  Absicht 
einer  doppelten  Hetze  gegen  Deutschland  und  gegen  die  monarchische 
Staatsform,  die  Frau  Gagneur  offenbar  nur  in  ihrer  letzten  französischen 
Gestaltung  kennt. 

Der  zweite  eigentliche  Kriegsroman,  der  auch  sein  Ziel 
erreicht,  ist  Zola 's  Zusammenbruch^).  Hier  wird  wirklich  eine 
Schilderung  des  Krieges  von  1870/71  nach  seiner  allgemein  mensch- 
lichen und  kulturellen  Seite  hin  gegeben.  Die  militärwissenschaftlich, 
strategisch  und  sonstwie  fachmännisch  werthvollen  historischen  Vor- 
gänge spielen  dabei  allerdings  eine  Nebenrolle.   Es  kann  nicht  Aufgabe 


1)  La  Bebacle.     141  e  mille.     Paris.     1892. 


278  E.  Koschwits, 

eines  Romanschriftstellers  sein,  die  Stelle  eines  Militärhistorikers  zu 
übernehmen,   den  umgekehrt   die  rein  menschliche,   kulturelle  Seite 
des  Krieges  nur  soweit  interessiert,  als  sie  Einfluss  auf  die  Ki'iegs- 
entwicklung  ausübt.     Mit  Frau  Gagneur  theilt  Zola  ausser  der  Ab- 
sicht, eine  Kriegsschilderung  in  Romanform  zu  liefern,  die  Abneigung 
gegen  die  monarchische  Staatsform :  sein  ganzer  Romancyclusdei- Rougon- 
Macquart  soll  ja  bekanntlich  die  üblen  Wirkungen  der  napoleonischen 
Wirthschaft  in  Franki-eich  zeigen;  der  „Zusammenbruch"  ist  bestimmt, 
ihi-  naturnothwendiges  Ende  vorführen.    Endlich  ist  Zola  kein  minder 
guter  Patriot  als  die  mit  ihm  verglichene  Schriftstellerin,  und  mau  kann 
auch  ihm  nicht  vorwerfen,  dass  er  von  uns  Deutschen  eine  zu  gute 
Meinung  kundgebe.     Aber  welcher  Unterschied   der  Ausführung  bei 
wesentlich  denselben  Zielen!     Während  Frau  Gagneur  ihre  Helden 
und  ihre  Leser  von  Schlachtfeld  zu  Schlachtfeld  durch  alle  Theile 
Frankreichs   jagt,    begnügt    sich    Zola,    einige    Hauptepisoden    des 
Krieges,  diese  aber  um  so  anschaulicher  zu  behandeln.     Die  übrigen 
Kriegsereignisse  werden  darum  nicht  vergessen;  sie  ei"scheinen  in  der 
Schilderung  zweier  Soldaten  von  ihrer  Theilnahme  an  den  Kämpfen 
bei  Weissenburg,    Wörth   und  Spichern;    in  den  Gesprächen   eines 
Verwundeten    mit   seinen    Pflegern,    von    denen    er    aus    Zeitungs- 
nachrichten die  Vorgänge  um  Paris  und  auf  den  südlichen  und  nörd- 
lichen Kriegsschauplätzen  erfährt;  endlich  in  Briefen  und  sonstigen 
Unterhaltungen  der  Romanhelden.     Zola  schildert  genauer  nur  den 
übereilten  Rückzug  eines  Theiles  des  7.  Korps,  das  bei  Mühlhausen 
zusammengezogen  war;   den  planlosen  Marsch  des  Mac  Älahon'schen 
Heeres,   um   die   bald   beabsichtigte,    bald   aufgegeliene  \'ereinigung 
mit   Bazaine   durchzufüliren;   die   Katastrophe   bei   Sedan,    mit   der 
das   Schicksal   des   französischen  Feldzuges   besiegelt   war;    endlich, 
aber    minder    ausführlich,    den    pariser   Kommunistenaufstand    und 
seine   Unterdrückung.      Die    grösste    Aufmerksamkeit    ist   den    ver- 
worrenen   Zuständen     in    der    französischen    Heeresleitung ,     ihren 
Folgen  für  die   Beschaffeiüieit  der  Truppen   und  den  Wechselfällen 
der  Sedanschlacht  gewidmet.     Die  Schilderung  erfolgt  in  der  Weise, 
dass  Zola  mit  der  ihm  eigenen  Darstellungskraft  vorzugsweise  die  Ge- 
danken, Beobachtungen,  Gespräche  und  Erlebnisse  seiner  Helden  ver- 
zeichnet, die  er  in  solcher  Weise  ausgewählt  hat  und  in  Thätigkeit 
setzt,  dass  keine  Seite  des  Kriegslebens  unberücksichtigt  bleibt.    Um 
nachdrücklich    zu   schildern ,    fürchtet   der   Verfasser   auch   Wieder- 
holungen   nicht ;    es    gehört    vielmehr    zu    seinen   Stileigeuthümlich- 
keiten,   mehrfach  von   denselben  Pei-sonen   in   fast   genau  denselben 
Worten  zu  sprechen.     Dem  Leser  wird  es  dadurch  erleichtert,   die 
wichtigen  Eigenthümlichkeiten  der  ihm  vorgestellten  Helden  im  Ge- 
dächtnisse  zu   behalten  und   sich   in   der   bunten   Reihe   der  vorge- 
führten Pei-sönlichkeiten  zurechtzufinden,    die  unter  der  Fülle   und 


Die  französische  NoveWisiik  und  Romanlitteratur.    IL       279 

dem  vorwiegenden  Interesse  der  Ki'iegsschilderungen  zu  leiden 
haben.  Die  Helden  gehören  den  verschiedensten  Ständen  an  und 
treten  theils  rein  passiv,  theils  handelnd  oder  auch  in  beiden  Weisen 
auf.  Eine  vollständig  passive  Persönlichkeit  ist  der  Kaiser  Napoleon. 
Der  Leser  erfährt  alles  von  ihm,  was  der  beobachtende  Zuschauer 
von  ihm  wissen  und  erfahren  konnte ;  dagegen  hat  es  Zola  fast  ganz 
vermieden,  unmittelbar  in  sein  Seelenleben  einzuführen.  So  sieht 
man  mit  den  französischen  Soldaten,  Wirthen  und  Bürgeni  den  un- 
angebrachten Luxus  seines  Gefolges,  der  im  Kriege  so  viel  Anstoss 
bei  den  Franzosen  eiTegte ;  Napoleon  selbst,  bleich,  appetitlos,  schwer 
krank,  während  sein  Gefolge  es  sich  an  nichts  fehlen  lässt  und  sich 
des  besten  Wohlseins  erfreut;  sieht  man  ihn  in  ruhelosem  Hin-  und 
Hergehen  die  Nächte  verbringen;  sich  den  feindlichen  Kugeln  aus- 
setzen, ohne  aber  den  heroischen  Entschluss  zu  fassen,  sich  an  der 
Spitze  der  Truppen  gegen  den  Feind  zu  werfen;  geschminkt,  um 
seine  Leichenfarbe,  sein  verstörtes  Aussehen  den  Mannschaften  zu 
verbergen.  Man  sieht  ihn  endlich  unbedauert  in  die  Gefangenschaft 
ziehen  und  erhält  eine  genaue  Beschreibung  seines  Quartiers  in 
Bouillon  und  von  dem  Interesse,  das  seine  Anwesenheit  dort  erweckt. 
Zola  verwendet  hierbei  das  von  V.  Hugo  empfohlene  und  beständig  aus- 
genutzte romantische  Wirkungsmittel  des  Kontrastes:  den  doppelten 
Gegensatz  zwischen  Napoleons  in  Ueppigkeit  lebendem  Gefolge  und  dem 
Mangel  leidenden  Heere ;  zwischen  dem  Wohlbefinden  seiner  Begleiter 
und  seiner  eigenen  physischen  und  moralischen  Gedrücktheit.  Nur  von 
aussen  betrachtet  wird  auch  der  General  Bourgain-Desfeuilles,  einer 
der  Napoleonischen  Paradegenerale,  dem  sein  eigenes  Wohlbehagen 
die  Hauptsache  ist,  der,  unwissend  und  kopflos,  sich  seiner  Aufgabe  in 
keiner  Weise  gewachsen  zeigt,  und  von  dem  höchstens  anzuerkennen 
bleibt,  dass  er  nicht  gerade  ein  ganzer  Feigling  ist.  Einer  ähnlichen 
Figur  begegneten  wir  auch  in  der  „Schönen  Spionin".  Ein  ihnen  ver- 
wandter Typus  ist  auch  der  schon  mehr  handelnd  auftretende  Haupt- 
mann Beaudoin,  der  ebenso  wenig  Anhänglichkeit  an  seine  Leute 
besitzt  wie  diese  an  ihn,  dem  gut  Essen  und  Trinken  und  reine 
Wäsche  bis  zum  letzten  Augenblick  über  alles  gehen  und  der,  ein 
unverbesserlicher  Salonlöwe,  unbekümmert  um  das  Schicksal  der  ihm 
anvertrauten  Mannschaft  seinen  Posten  verlässt,  um  bei  einer  leicht- 
sinnigen Jugendfreundin  eine  Liebesnacht  zu  verbringen  und  deren 
ihm  arglos  und  herzlich  entgegentretenden  gastfreundlichen  Gatten 
mit  ihr  zu  betrügen.  Zola  lässt  hier  gegen  die  naturalistischen 
Grundsätze  eine  ausgleichende  Gerechtigkeit  eintreten,  indem  er 
diesen  Helden  sein  Ende  an  einer  Kugel  in  der  Nähe  der  Geliebten 
finden  lässt.  Im  Gegensatz  zu  diesen  Typen,  die  auch  an  A.  Daudet's 
Billardpartie  in  den  Montagserzählungen  erinnern,  steht  iler  Oberst 
de  Vineuil,  der  wie   der  Oberst  v.  Reumont  bei  Frau  Gagneur  treu 


280  E.  Koschivitz, 

und  mutliip'  seine  Soldatenpflichteii  erfüllt,  dem  das  Unglück  des 
Vaterlandes  mehr  gilt  als  die  Schmerzen  der  eigenen  Verwundung, 
und  der,  ähnlich  dem  alten  Oberst  Jouve  in  A.  Daudet 's  Belagerung 
von  Berlin,  stirbt,  als  er  erfährt,  dass  die  Niederlage  der  Franzosen 
unabwendbar  ist.  Ihm  geistesverwandt  ist  der  Lieutenant  Eochas, 
ein  Offizier  vom  alten  Schlage,  der,  ein  schlichter  Maurei-ssohn,  sich 
in  fünfzehnjähriger  Dienstzeit  durch  Tapferkeit  und  treue  Pflicht- 
erfüllung zu  seiner  Stellung  emporgearbeitet  hat,  der  aber  aus  Mangel 
au  Kenntnissen  niemals  Hauptmann  werden  kann.  Er  hält  treu  zu 
seiner  Mannschaft  wie  diese  zu  ihm;  er  kann  sich  weder  in  die 
neue  Kriegfülirung  der  Deutschen  noch  in  den  Gedanken  linden, 
dass  die  Franzosen  nicht  unüberwindlich  seien;  er  findet  schliesslich 
sein  Ende  vor  Sedan,  seinem  Leben  entsprecliend,  indem  er  in  tapferem 
Kampfe  fällt ,  von  den  Fetzen  der  von  ihm  bis  auf  den  letzten  Bluts- 
tropfen vertheidigten  Fahne  bedeckt.  Eine  ebenso  sympathische  Figur 
ist  der  aus  Zola's  Terre  bekannte  Jean  Macquart,  der  nach  Verlust 
seiner  Frau  und  ihres  Landbesitzes  sich  beim  ersten  Anzeichen  des 
bevoi-stehenden  Krieges  in  seiner  früheren  Stellung  als  Unteroffizier 
hatte  anwerben  lassen.  Er  tritt  in  unserm  Eomane  in  innige  Be- 
ziehung zu  dessen  Haupthelden  Maurice  Levasseur,  einem  angehenden 
Advokaten,  der  als  Kriegsfreiwilliger  im  Heere  dient.  Anfangs 
trennt  die  Beiden  die  unwillkürliche  Abneigung  des  höher  Gebildeten 
gegen  den  schlichten  Mann  des  Volkes;  aber,  je  mehr  die  Beiden 
sich  kennen  lernen,  um  so  mehr  fühlen  sie  sich  zu  einander  hin- 
gezogen. Der  gerade  und  ehrliche  Jean  nimmt  sich  des  nervös  über- 
reizten Maurice  an,  tröstet,  beruhigt  und  pflegt  ihn  während  der 
Leiden  der  Heereszüge  mit  väterlicher  Aufmerksamkeit.  Maurice 
dankt  ihm,  indem  er  ihn  trotz  aller  Ermattung  nach  einer  Ver- 
wundung aus  dem  Gefechte  trägt  und  auch  sonst  mit  gleicher  Auf- 
merksamkeit und  Aufopferung  für  ihn  sorgt.  Man  begleitet  die 
Beiden  auf  der  ganzen  Leidensfalirt  von  Mühlhausen  bis  Sedan 
und  in  ilirer  Theilnahme  an  den  Kämpfen  vor  Sedan.  Die 
Unruhe  Maurice's  und  sein  Bedürfniss,  zu  sehen  und  zu  hören, 
geben  dem  Verfasser  Gelegenheit,  die  verschiedenen  Seiten  des 
Schlachtentreibens  und  die  Kampffelder  zu  schildern.  Maurice's 
Verwandtschaft  mit  einem  Artilleristen  und  sein  Interesse  an  ihm 
geben  Veranlassung  zu  einer  anschaulichen  Schilderung  des  Artillerie- 
kampfs. Mit  Maurice  schaut  man  auch  dem  berühmten  Kavallerie- 
angriffe der  Margueritte'schen  Brigade  zu.  Um  Maurices  und  Jeans 
willen  wird  ferner  der  Leser  nach  der  Halbinsel  Iges  unter  die  dahin 
geführten  Kriegsgefangenen  geführt,  und  man  begleitet  sie  von  da  auf 
den  Transport  nach  Deutschland,  dem  sie  sich  indessen  gemeinsam 
entziehen.  Jean  wird  dabei  verwundet  und  tritt  in  die  Pflege  der 
Schwester  Maurices,  die  gleichzeitig  in  einem  Lazarethe  als  Kranken- 


Die  französische  NovelUstik  und  Eomanlitteratur.    II.        281 

pflegerin  thätig  ist,  was  Zola  Gelegenheit  gibt,  die  Lazarethverhält- 
iiisse  von  einer  neuen  Seite  zu  zeigen.  Vorher  hatte  er  bereits  den 
Krankenträgerdienst,  wie  ihn  Maurice  sah,  und  ein  Lazareth  in 
Sedan  ausführlich  geschildert.  Maurice,  der  nach  Paris  entwichen  ist, 
führt  uns  endlich  auch  in  den  Kommuneaufstand  hinein,  an  dem  theil- 
zunehmen  ihn  sein  exaltiertes  Wesen  verführt.  Auch  Jean  kommt 
nach  seiner  Heilung  als  Mitglied  des  Versailler  Belagerungsheeres  nach 
Paris.  In  tragischem  Konflikte  stossen  die  beiden  Freunde  zusammen : 
Jean  durchbohrt  den  von  ihm  nicht  erkannten  Maurice  mit  seinem 
Bajonette.  Ihr  brüderliches  Verhältniss  wird  dadurch  nicht  gestört : 
Jean  bringt  den  schwer  Verwundeten  durch  die  Wirrnisse  und  die 
Brände  von  Paris,  die  bei  dieser  Gelegenheit  zu  ergi-eifenJer 
Schilderung  gelangen ,  in  die  Wohnung  Henriettens ,  Maurice's 
Schwester,  die  grade  im  rechten  Augenblicke  ebenfalls  nach  Paris 
geeilt  ist.  Trotz  aller  Pflege  stirbt  aber  Maurice,  und  damit  ent- 
steht ein  neuer  Konflikt,  ein  romantischer  Widerstreit  zwischen 
Liebe  und  Pflicht,  wie  ihn  der  Corneille'sche  Cid  bringt.  Jean  und 
Henriette  haben,  während  diese  ihn  pflegte,  einander  herzlich  lieb 
gewonnen;  die  unverschuldete  Tötung  des  Zwillingsbruders  trennt 
sie  für  ewig.  Zola  hat  liier  den  oft  getadelten  Schluss  des  Cid 
vermieden,  der  auf  eine  spätere  Vermählung  hindeutet;  aber  sein 
Ausgang  lässt  den  Leser  ebenso  unbefriedigt,  wie  der  in  P.  A.  Lebruns 
Cid  d'Andalousie,  der  den  alten  Corneille  corrigieren  wollte.  Henriette 
spielt  in  dem  Romane  bereits  vorher  eine  wichtige  Rolle.  Sie  ist 
die  treue  aufopfernde  Schwester,  der  Maurice  die  Möglichkeit  seiner 
Erziehung  verdankte;  sie  war  die  Gattin  eines  redlichen  Mannes, 
eines  Buchhalters,  der  den  schlimmen  Verlauf  des  Kriegs  voraus- 
geahnt hatte.  In  Bazeilles  ein  Haus  besitzend,  war  er  vor  dem  Kampfe 
dahin  geeilt,  hatte  er  als  Zivilperson  an  der  Schlacht  rege  theil 
genommen,  und  war  er  deshalb  staudrechtlich  erschossen  worden. 
Henriette  war  ihm  trotz  aller  Kampfesschrecken  nachgeeilt;  sie 
wollte  mit  ihm  sterben,  wird  aber  aus  den  Armen  des  Verurtheilten 
durch  einen  bairischen  Soldaten  gerissen,  der  nachher  unter  ihrer  Pflege 
an  einem  grässlichen  Tode  endet.  Henriette  und  ihr  Mann  in  Bazeilles 
sind  die  Personen,  die  Zola  zur  kunstvollen  Ausmalung  des  viel  ge- 
schilderten wilden  Kampfes  in  und  um  dieses  Dorf  brauchte.  Hen- 
riette, die  innig  an  ihrem  Manne  hing,  und  die  —  abermals  ein 
bewusster  und  gesuchter  Kontrast  —  bald  darauf  eine  tiefe  Neigung 
zu  Jean  in  ihrem  Herzen  aufkeimen  sieht,  erinnert,  wenn  auch  nur 
schwach,  wieder  an  die  ungetreue  Wittwe  von  Ephesus,  die  schon 
durch  P.  Alexis  in  den  Medaner  Abenden  eine  kriegsgeschichtliche 
Bearbeitung  gefunden  hatte. 

In  der  Jean'schen  Korporalschaft,  die  in  sich  die  verschieden- 
artigsten   Bestandtheile    des    französischen    Heerkörpers    vereinigt, 


282  E.  Koschwitz, 

befinden  sich  noch  einige  weitere  Soldaten,  die  man  als  ebenso 
viele  Typen  aufzufassen  hat.  Zwei  darunter  sind  pariser  Arbeiter, 
von  jener  Verworfenheit  und  Ideallosigkeit,  die  als  charakteristisch 
für  die  Arbeiterbevölkerunii'  der  französischen  Hauptstadt  gegeben 
wird.  Sie  sind  das  zersetzende  Element,  stets  zum  Aufruhr  geneigt, 
schnell  bereit,  ihre  Vorgesetzten  als  Verräther  und  Feiglinge  zu  brand- 
marken, dabei  selbst  verrcätherisch,  feig  und  von  erbarmungsloser  Selbst- 
sucht. Zwischen  ihnen,  dem  bösen  Prinzip,  und  Jean,  dem  Vertreter 
des  guten  Prinzips,  werden  Pache,  ein  frommgläubiger  picardischer 
Bauer,  und  der  unendlich  einfältige  Riese  LapouUe  hin-  und  hergezogen, 
bis  sie  beide  dem  Verderben  anheimfallen.  Lapoulle  tötet  auf  An- 
stacheln der  Pariser  Pache,  um  ihm  auf  der  Halbinsel  Iges  etwas 
Brot  zu  entreissen;  dann  sucht  er,  über  seine  Missethat  entsetzt, 
dem  Schauplatze  seines  Verbrecliens  zu  entfliehen ;  er  Avill,  die  Maas 
durchschwimmend,  entweichen,  wird  aber  dabei  von  einer  preussi- 
schen  Kugel  getroifen.  Auch  Loubet  und  Chouteau,  die  beiden 
Pariser,  sind  treulos  gegen  einander;  bei  der  von  ihnen  gemeinsam 
unternommenen  Flucht  opfert  Chouteau  den  Gefährten,  um  selbst  mit 
heiler  Haut  der  Verfolgung  zu  entgehen.  Gegen  Ende  des  Romanes 
erscheint  er  wieder  im  pariser  Aufstande  als  Plünderer  und  Brand- 
stifter, von  einer  ebenbürtigen  Genossin  dabei  unterstützt.  Damit 
das  Bild  vollständig  werde,  treten  noch  auf:  ein  wackerer  Trom- 
peter, ein  schwermütliiger  Sergeant,  der  sein  Ende  voraussieht,  und 
endlich  auch  einige  Freischärler,  die  von  Zola  in  keiner  Weise 
geschmeichelt  werden.  Sie  erscheinen,  der  Wahrheit  getreu,  als 
Männer,  die  der  strengen  Mannszuclit  des  Soldatenstandes  ein  freies, 
vergnügtes  Räuberleben  vorzogen,  als  ein  Schrecken  der  Bauern,  die 
sie  plünderten,  deren  Felder  sie  verwüsteten  und  die  sie  nicht  nur 
nicht  vertheidigten,  sondern  den  strengen  Gegenmassregeln  des 
Feindes  aussetzten.  Wenn  sie  von  den  Bauern  niclit  öfters  aus- 
geliefert wurden,  so  geschah  dies  nur  aus  Furcht  vor  ihrer  heim- 
tückischen Rache,  falls  es  den  Preussen  nicht  gelang,  sie  zu  über- 
raschen. Die  von  Zola  vorgeführten  Gattungsexemplare  sind:  ein 
Wilddieb  und  Schmuggler,  der  würdige  Sohn  eines  Trunkenboldes  und 
einer  diebischen  Bettlerin:  ein  verlotterter  Marseiller  Kellner,  der 
nach  einem  Dicbstalile  nur  mit  Mühe  dem  Zuchthause  entgangen 
war,  und  ein  elienialiger  \'(dlzichuiigsbeamter.  der  um  seiner  Vor- 
liebe für  minderjährige  Mädchen  willen  ebenfalls  wiederholt  das 
Zuchthaus  gestreift  hatte.  Diese  drei  treten  unter  anderm  als 
Richter  eines  deutschen  Spions  auf,  den  sie  wie  ein  Schwein  ab- 
stechen. Als  ihnen  ernstliche  Gefahr  droht,  verschwinden  sie  spurlos 
aus  ihren  Waldverstecken  mit  sannnt  der  von  ihnen  geführten  Bande. 
Diesen  Militärpersonen,  denen  man  noch  einen  Bataillousarzt 
zurechnen  kann,    der  seiner  entsetzliclien  chirurgischen  Thätigkeit 


Die  französische  NovelUstik  und  Boinanlitteratur.    II.        283 

in  Sedan  obliegt,  stehen  eine  Anzahl  Zivilpersonen  ergänzend  zur 
Seite.  Vor  allem  ein  etwas  beschränkter  sedaner  Fabrikbesitzer, 
ein  Bonapartist,  der  aber,  wie  sein  Seitenstück  bei  J.  Bruno,  nachdem 
Napoleon  gefangen,  sein  früheres  Ideal  mehr  schmäht  als  alle  andern, 
der  aufgeregt  und  neugierig  in  Sedan  umhereilt,  aus  den  Häuser- 
giebeln nach  dem  Feinde  ausspäht  und  der  in  dieser  Weise  Zola  dazu 
dient,  um  Schilderungen  der  Kampfentwicklung  und  der  Wirrniss  in 
Sedan  passend  einführen  zu  können.  Sein  Haus  bildet  eine  Zufluchts- 
stätte für  fast  alle  unsere  Romanhelden.  Ihm  zur  Seite  stehen:  sein 
schon  genannter  Buchhalter  Weiss,  der  Gatte  Henriettens,  den  er  nach 
Bazeilles  begleitete,  um  ihn  dort  allein  zurückzulassen,  und  an  Frauen 
seine  patriotische  strenge  Mutter,  seine  leichtfertige  Frau,  die  auch 
in  den  Schrecknissen  des  Krieges  nichts  von  ihrer  Heiterkeit  und 
Vergnügungssucht  verliert,  und  Henriette.  Letztere  bildet  das  Binde- 
glied mit  einer  Bauernfamilie,  an  deren  Spitze  Fouchard,  ein  filziger 
Laudschlächter,  steht,  der  die  hungernden  französischen  Soldaten 
hartherzig  von  der  Thür  weist,  aber  mit  den  Preussen  vorzügliche  Ge- 
schäfte macht,  indem  er  ihnen  zu  hohen  Preisen  das  Fleisch  gefallenen 
Viehes  als  gut  verkauft.  Je  mehr  Deutsche  an  dieser  Kost  sterben, 
um  so  besser.  In  seinem  Dienste  befindet  sich  eine  hübsche  Magd 
Rosa,  die  den  Sohn  des  Bauern  liebt  und  von  ihm  wiedergeliebt 
wird.  Aber  der  Alte  verweigerte  die  Vermählung;  der  Sohn  verliess 
infolge  dessen  das  Haus,  und  die  Zurückgebliebene  wurde  das  Opfer  des 
bereits  erwähnten  deutschen  Spions,  von  dem  sie  ein  Kind  erhielt.  Der 
Krieg  bringt  den  Sohn  Fouchard's  einen  Augenblick  in  das  väterliche 
Haus  zurück;  er  verzeiht  Rosa,  fällt  aber  bald  darauf  im  Kampfe  bei 
vSedan.  Die  Magd  sucht  und  findet  ihn  auf  dem  Schlachtfelde,  das 
dabei  zur  Schilderung  kommt,  und  veranlasst  dann  die  Ermordung 
ihres  deutschen  Verführers.  Das  Kind  wohnt  der  Abschlachtung 
seines  Vaters  bei.  Auch  hier  liegen  wieder  romantische  Verwicklungen 
vor  mit  naturalistischem,  aber  nicht  immer  wahrscheinlichem  Aufputz. 
Obgleich  Zola  nur  auf  Schilderung  des  eigenen  Landes  und 
seiner  Sitten  unter  dem  zweiten  Kaiserreich  ausgeht,  so  konnte  er 
bei  dem  Kriegsromane  nicht  umhin,  auch  einige  Deutsche  einzu- 
führen und  sich  damit  auf  ein  ihm  wenig  bekanntes  Gebiet  zu 
wagen.  Zola  hat  niemals  die  Grenzen  seiner  französischen  Heimat 
überschritten.  Als  ich  vor  zwei  Jahren  Gelegenheit  hatte,  mit  ilim 
über  sein  damals  noch  in  der  Ausarbeitung  befindliches  Werk  zu 
sprechen,  kamen  wir  in  unserer  Unterhaltung  gerade  auch  auf  diesen 
Punkt.  Ich  drückte  dem  Verfasser  die  Hoffnung  aus,  er  werde  nicht, 
wie  die  Mehrzahl  der  Verfasser  von  Kriegsromanen,  die  Deutschen 
als  rohe  Barbaren,  wilde  Plünderer,  Räuber,  Frauenschänder  und 
insbesondere  als  Standuhrendiebe  schildern,  sondern  ihnen  mehr  Ge- 
rechtigkeit widerfahren  lassen.     Zola  meinte  darauf,  diese  Pendulen- 


284  E.  Koschwüz, 

erzählungren  seien  eine  blague;  er  habe  sich  auf  seiner  Eeise  nach 
dem  sedaner  Kriegsschauplatze  natürlich  auch  nach  den  Deutschen  er- 
kundigt und  sie  von  den  dortigen  Einwohnern  durchaus  anerkennend 
beurtheilen  hören.  Es  seien  nur  die  kleinen  Plünderungen  vorge- 
kommen, die  bei  jedem  Kriegszuge  unvermeidlich  sind.  Nur  die  Ge- 
fangenen seien  auf  der  Insel  von  Iges  und  bei  ihrer  Abführung  nach 
Deutschland  sehr  schlecht  behandelt  worden.  Man  habe  sie  Tage  lang 
in  entsetzlicher  Weise  hungern  lassen.  Ich  stellte  ihm  darauf  vor,  dass 
dies,  soweit  keine  üebertreibungen  seiner  Berichterstatter  vorlägen,  eben 
unvermeidlich  war.  Die  französische  Intendantur  war  ihrer  Aufgabe 
nicht  gewachsen  gewesen  und  hatte  nichts  dafür  gethan.  die  eignen 
Leute  zu  versorgen.  Den  deutschen  Proviantbeamten  fiel  die  unlösbare 
Aufgabe  zu,  plötzlich  für  80000  Mann  sorgen  zu  müssen,  ohne  dass 
jemand  diese  Nothwendigkeit  hatte  voraussehen  können.  Man  konnte 
doch  nicht  die  eigenen  Mannschaften  zu  Gunsten  des  gefangenen 
Heeres  hungern  lassen.  Zola  gestand  mir  die  Berechtigung  dieser 
Einwendungen  zu  —  aber  die  Thatsache  des  Hungerns  läge  nun 
einmal  vor  und  damit  ein  hohes  dichterisches  Motiv,  das  er  sich 
riicht  entgehen  lassen  könne.  Die  Qualen  der  französischen  Soldaten 
seien  die  Hölle  gewesen.  In  der  That  bildet,  ähnlich  wie  bei  Frau 
Gagneur  und  sonst,  die  Schilderung  der  Hungerqualen  der  ein- 
geschlossenen Franzosen  eine  der  ausgemaltesten  und  ergreifendsten 
Theile  des  Romans.  Uns  Deutschen  erscheint  die  Darstellung  über- 
trieben; ich  habe  selbst  Hunderte  der  bei  Sedan  Gefangenen  in 
recht  gut  erhaltener  Uniform  und  bei  blühender  Gesundheit,  keines- 
wegs abgezehrt ,  in  Deutschland  einziehen  sehen  und  keinen, 
mit  dem  ich  sprach,  etwas  von  den  ausgestandenen  Höllenqualen 
erzählen  hören.  Aber  Zola  hat  für  seine  Dai-stellung  französische 
und  belgisclie  Gewähi-smänner,  und  von  seinem  Standpunkte  aus  ist 
es  begreiflich,  dass  er  diese  Gelegenheit  benutzte,  um  eine  Schilderung 
zu  entwerfen ,  bei  deren  Lesung  ich  auch  deutsche  Frauen  zu 
Thränen  gerührt  sah. 

Die  wenigen  von  Zola  eingeführten  deutschen  Romanträger 
sind  durchweg  verzeichnet.  Sein  deutscher  Spion,  Goliath  Steinberg, 
bei  dessen  Einführung  ihm  Kriegsnovellen  wie  P.  Feval's  Madame 
Joyeux  u.  ä.  vorgeschwebt  zu  haben  scheinen,  ist  eine  unmögliche 
Persönliclikeit.  Es  ist  undenkbar  anzunelnnen,  die  deutsche  Heeres- 
leitung habe  bereits  Jahre  lang  vor  dem  Kriege  die  Schlacht  bei 
Sedan  vorausgesehen  und  deshalb  Spione  zur  Erforschung  des  dortigen 
Geländes  ausgesandt.  Auch  ist  Goliath  seiner  ganzen  Schilderung 
nach  ein  echter  und  rechter  Bauer:  Bauern  pflegt  man  wohl  aber 
nicht  zu  Spionen  zu  verwenden.  Wollte  Z(da  diesem  Goliath 
einige  Wahrscheinlichkeit  verleihen ,  se  musste  er  sich  begnügen, 
ihn   als   gewöhnliclien   Knecht   zu   schildern,    der,    bei    Beginn   des 


Die  französische  Novellistik  und  BomanlittercUur.    IL        285 

Feldzugs  zur  deutschen  Fahne  einberufen,  seine  Ortskenntniss  den 
deutschen  Führern  zur  Verfügung  stellt.  Dies  ist  freilich  keine 
Spionage  mehr;  denn,  wollte  mau  dies  vermeiden,  dann  müsste  man 
in  Frankreich  allen  wehrpflichtigen  Deutschen,  in  Deutschland  allen 
wehrpflichtigen  Franzosen  den  Zutritt  verweigern  oder  sie  nur  mit 
verbundenen  Augen  im  Auslande  herumreisen  lassen.  Oder  die 
Offiziere  müssten  auf  die  Führung  durch  ortskundige  Landsleute 
verzichten  und  sich  lieber  von  Ausländern  oder  landesunkundigen 
Stammesgenossen  führen  lassen.  Eins  wäre  so  unsinnig  wie  das 
andere. 

Sonst  treten  nur  noch  zwei  deutsche  Offiziere  in  Zola's  Romane 
auf,  beide  ebenfalls  nach  den  in  der  einschlägigen  französischen 
Litteratur  üblichen  Typen  ausgestaltet.  Der  eine,  v.  Grartlauben, 
der  bei  dem  oben  geschilderten  sedaner  Fabrikbesitzer  in  Quartier 
liegt  und  in  täppischer  Weise  dessen  Frau  den  Hof  macht,  erinnert 
an  die  entsprechenden  Persönlichkeiten  bei  Aimard,  Labarriere-Duprey 
und  Etievant  und  ist  nur  eine  gutmüthigere  und  daher  völlig  komische 
Figur.  Er  will  mit  aller  Gewalt  zeigen,  dass  er  kein  Barbar  ist 
und  dass  er  in  Paris  etwas  von  höflichen  Umgangsformen  gelernt 
habe.  Nur  weil  er  dort  einige  Personen  hat  Kaffee  ohne  Zucker 
trinken  sehen,  verzichtet  er  auch  auf  diese  Beigabe.  Es  ist  wirklich 
bedauerlich,  einen  Mann  wie  Zola  solche  Kindereien  vortragen  zu 
sehen.  Aber  er  folgt  auch  hier  nur  der  herkömmlichen  Auffassung, 
und  wir  finden  hier  wie  bei  Laurent  und  Gagueur  und  sonst  in 
der  von  uns  behandelten  Litteratur  eben  nur  die  naive  Auffassung 
verwendet,  als  ob  die  wahre  feine  Sitte  auch  von  den  Deutschen  in 
Paris  gesucht  würde.  Viele  französische  Provinzialen  sind  in  der 
That  von  der  gesellschaftlichen  üeberlegenheit  ihrer  pariser  Lands- 
leute überzeugt;  aber  die  pariser  Schriftsteller  haben  eine  zu  gute 
Meinung  von  ihrer  Stadt,  wenn  sie  die  gleiche  Selbstentsagung  auch 
bei  den  Ausländern  voraussetzen. 

Ebenso  misslungen  wie  v.  Gartlauben  ist  der  deutsche  Garde- 
hauptmann Günther,  der,  wiederum  in  Uebereinstimmung  mit  den  in 
unsrer  Litteratur  herkömmlichen  Schilderungen,  von  hartherzigem 
Dünkel  erfüllt  ist,  seine  französischen  Verwandten  nicht  mehr  kennen 
will  und  an  eine  vom  Himmel  den  Deutschen  gestellte  Mission 
glaubt,  den  in  Unsittlichkeit  und  Uebermuth  verkommenen  Franzosen 
eine  dauernde  Lehre  zu  geben,  wenn  nicht  sie  für  ewig  zur  Ohn- 
macht zu  zwingen.  Diesem  namentlich  den  Preussen  angedichteten 
militärischen  Pharisäerthum  begegnet  man  sehr  häufig  schon  in 
den  zur  Kriegszeit  von  den  deutschen  Soldaten  entworfenen  Be- 
schreibungen. 

Endlich  folgt  Zola  der  von  uns  u.  a.  bei  Cauvain,  bei  Frau 
Hager    und    Frau    Gagneur    angetroffenenen    Ueberlieferung    seiner 


286  E.  Koschuntz, 

Landsleute,  wenu  er  deutsche  Soldaten  die  hungrigen  französischen 
Gefanjrenen  verhöhnen  und  mit  Kolbenstösseu  misshandeln  lässt. 
Doch  erhebt  er  sich  trotz  seiner  Abhängigkeit  von  älteren  fran- 
zösischen Schilderungen  aucli  hier  vielfach  über  seine  Vorgänger. 
Er  vergisst  nicht,  bei  Beschreibung  einiger  durch  Deutsche  verübter 
Gewaltthätigkeiten  ein  paar  entschuldigende  Bemerkungen  ein- 
zuschalten und  sucht  sich  durchweg  vor  gehässigen  Uebertreibungen 
zu  hüten.  Die  den  Deutschen  angehangenen  Schimpfwörter  lässt  er 
von  französischen  Soldaten  ausstossen;  dies  ist  durchaus  berechtigt, 
weil  historisch;  auch  unsre  Krieger  hatten  für  ihre  Gegner  nicht 
immer  nur  verbindliche  Bezeichnungen  im  Munde.  Die  berüchtigten 
Stutzuhren,  deren  Nichtnennung  ihm  seine  Landsleute  nicht  ver- 
zielien  hätten,  eTscheinen  bei  Zola  nur  in  der  Form,  dass  zwei  oder 
drei  Mal  erzälilt  wird,  wie  fliehende  Bauern  vor  Allem  dieses  den 
Franzosen  ans  Herz  gewachsene  Ausstattungsstück  zu  bergen  suchten 
oder  es  allein  auf  der  Flucht  mitnahmen.  Es  bleibt  also  nur  die 
Furcht  vor  dem  deutschen  Uhrendiebstahl  übrig. 

Die  Zurückhaltung  und  die  Absicht,  wahr  und  korrekt  bei  der 
Deutschenscliilderung  zu  sein,  springt  am  meisten  in  die  Autren, 
wenn  man  Zola's  Roman  mit  den  vorher  geschilderten,  insbesondi'e 
auch  mit  dem  Gagneur'schen  Kriegsromane  vergleicht.  Und  wie 
^Q'SQW  die  Deutschen,  verhält  er  sich  gegen  Napoleon.  Man  findet 
bei  ihm  kaum  ein  direktes  Wort  des  Tadeins.  Er  lässt  die  That- 
sachen  für  sicli  selber  sprechen  und  begnügt  sich,  seinen  Helden 
die  Aufgabe  zu  übertragen,  diese  Thatsaclien  zu  schildern  und  ge- 
legentlich auch  ihre  Meinung  abzugeben. 

Den  Hauptwerth  in  Zola's  Roman  besitzen  seine  Sclülderungen  der 
französischen  Heeresverhältnisse,  der  Sedansclilacht  und  des  Kom- 
munistenaufstandes, und  die  kunstvolle  Art,  wie  sie  eiugeflochten  und 
gegeben  sind.  Hierin  ist  er  seinen  Vorgängern  am  meisten  überlegen. 
Z<da  hat  sicli  auch  keine  Mühe  verdriessen  lassen,  um  zu  diesem  Ziele 
zu  gelangen.  Mancher  seiner  Beschreibungen  und  Erzählungen  sieht 
man  es  deutlich  an,  dass  sie  auf  direkter  Anschauung  oder  auf  un- 
mittelbaren mündlichen  Mittheilungen  beruhen,  denen  er  nur  die  Form 
gegeben  hat.  Ln  Uebrigen  liatte  sich  Zola  eine  kleine  Bibliothek 
von  Kriegsdarstt'llungen  gesammelt  und  gewissenhaft  durcligelesen. 
Seine  Sprachunkeiiutniss  zwang  ihn,  sich  ausschliesslich  auf  fran- 
zösische Quellen  zu  stützen,  womit  sich  manche  Unrichtigkeiten  (so 
auch  die  Widerholung  der  Fabel,  das  Schloss  von  Saint-Cloud  sei  von 
den  l>eutsihen  in  Brand  geschossen  worden)  von  selbst  erklären. 
Es  wäre  leicht  und  interessant,  seinen  schriftlichen  Quellen  nach- 
zugehen und  zu  entwickeln,  wie  er  dieselben  ausgebeutet  und  was 
er  nach  mündlichen  Quellen  hinzugefügt  hat.  Doch  wollen  wir  uns 
diese  Aufgabe  liier  nicht  stellen.     Dafür  sei  noch  darauf  hingewiesen, 


Die  französische  Novellistik  und  liomanlitteratur.    IL        287 

dass  die  in  den  deutschen  Kritiken  dem  Verfasser  gemachten  Vor- 
würfe zum  Theil  unberechtigt  sind.  Wenn  man  Zola  vorwarf,  die 
französischen  Offiziere  leichtsinniger,  unfähiger  und  unwissender 
geschildert  zu  haben,  als  sie  in  Wirklichkeit  waren,  und  daraus 
folgerte,  es  fehle  ihm  an  wahrem  Patriotismus,  so  ist  dem  entgegen- 
zustellen, dass  es  in  seiner  künstlerischen  Absicht  lag,  die  zer- 
setzenden Wirkungen  der  Napoleonischen  Korruption  energisch  zur 
Anschauung  zu  bringen,  und  dass  er  in  den  einschlägigen  Schil- 
derungen nur  der  französischen  patriotischen  Tradition  folgte, 
die  den  Misserfolg  der  französchen  Waffen  eben  aus  der  Un- 
fähigkeit und  dem  Leichtsinn  der  französischen  Offiziere  erklärt. 
Auch  führte  er  neben  den  schlechten  auch  tüchtige  französische  Offi- 
ziere in  seinem  Romane  ein.  Und  wenn  man  Zola  die  Herabsetzung  der 
Deutschen  vorwarf,  so  ist  auch  dabei  vergessen,  welchen  Einfluss 
die  französische  Nationalauffassung  naturgemäss  auf  ihn,  dem  fremde 
Quellen  unzugänglich  waren,  ausüben  musste,  und  ist  übersehen, 
wie  hoch  er  sich  gerade  hierin  über  seine  Vorgänger  erhebt.  Auf 
alle  Fälle  wird  man  nach  Durchlesung  des  Vorstehenden  nicht  einen 
Augenblick  im  Zweifel  darüber  sein,  dass  sein  Roman  die  hervor- 
ragendste Leistung  ist,  die  die  französische  Romanlitteratur  über 
den  Krieg  von  1870 — 71  aufzuweisen  bat. 

Ein  weniger  gutes  Zeugniss  müssen  wir  dem  Verfasser  eines 
letzten  Romans  ausstellen ,  worin  der  Krieg  von  1870 — 71  nur 
den  Beweggrund  einer  zur  Schilderung  gebrachten  Unternehmung 
abgibt.  Wir  meinen  P.  Erasme's  Unsere  Unteroffiziere^),  eine  der 
tollsten  Ausgeburten  des  französischen  Rachegeistes.  Es  sollte  mit 
diesem  Buche  Descaves  Sous-offs  entgegengearbeitet  werden,  der  die 
französischen  Unteroffiziere  in  der  unvortheilhaftesten  Weise  schilderte 
und  dadurch  den  Ingrimm  aller  französischen  Patrioten  erregte ;  wir  be- 
zweifeln aber,  dass  Erasme  (wohl  ein  Pseudonym)  seinen  Zweck  auch 
nur  im  Geringsten  erreicht  hat.  Seine  Helden,  denen  ein  unversöhn- 
licher Deutschenhass  zugeschrieben  wird,  sind  gänzlich  unreife 
Burschen,  die  von  wirklicher  Soldatenehre  einen  sehr  mangelhaften 
Begriff  haben;  ihre  Abenteuer  sind  von  Anfang  bis  Ende  eine  Kette 
von  Unmöglichkeiten.  In  ihrer  Gesellschaft  tritt  eine  Art  Kamelien- 
dame auf,  eine  sich  bessernde  französische  Dirne,  die  eine  entfernte 
Aehnlichkeit  auch  mit  der  deutschen  Dirne  in  Millanvoyes  und 
Etievants  schöner  Spionin  zeigt  und  die  mit  allem  nur  denkbaren 
Mangel  an  Charakteristik  gezeichnet  ist.  Wie  ein  einheitlicher  Stil, 
ein  durchdachter  Plan  und  ein  überlegter  Aufbau,  so  fehlt  dem 
Romane  auch  die  Einlieit  des  Interesses.  Zwei  stofflich  ganz  ver- 
schiedene   Erzählungen,     die    mit    einander    nur    lose    verknüpft 

Nos  sous-officiers,  Paris  1890. 


288  E.  Koschuntz, 

sind,  innerlich  aber  gar  nichts  mit  einander  zu  thun  haben,  ziehen 
nicht  neben,  sondern  durch  einander  her.  Die  eine  Erzählung  be- 
richtet von  einein  Vicomte,  der  in  derselben  Weise,  wie  es  bei  den  hohl^ 
köpfigen  und  lüderlichen  jungen  Aristokraten  der  neueren  französischen 
Romanlitteratur  üblich  ist,  sein  Vermögen  verschleudert  hat,  der 
dann  von  den  Eltern  seiner  ersten  wahren  Liebe  zurückgewiesen 
wird  und  sich  aus  Verzweiflung  darüber  eine  Kugel  in  den  Kopf 
jagt.  Sein  Selbstmordversuch  misslingt.  Während  seiner  Krankheit 
macht  er  sich  Vorwürfe  wegen  seiner  müssig  und  unnütz  vergeudeten 
Jugend  und  nach  seiner  Wiederherstellung  tritt  er  als  einfacher 
Soldat  bei  den  in  Ronen  befindlichen  berittenen  Jägern  ein.  Zum 
Brigadier  ernannt  und  auf  einige  Tage  beurlaubt,  begibt  er  sich 
in  die  Nähe  des  Aufenthaltsortes  seiner  G-eliebten,  die  ihn 
nicht  vergessen  hat;  er  beleidigt  und  fordert  einen  dort  ange- 
troffenen, ihm  gefährlich  erscheinenden  Nebenbuhler  zum  Zweikampfe 
und  verwundet  ihn  bei  dem  sofort  ausgefochtenen  Streite  in 
lebensgefährlicher  Weise.  Sein  Gegner,  ein  Hauptmann  bei  dem- 
selben Regimente,  bei  dem  der  Vicomte  steht,  nimmt  edelmüthig 
seinen  Abschied,  den  er  vorausdatirt,  um  dem  Brigadier  jede  Un- 
annehmlichkeit wegen  seines  der  Mannszucht  widei-strebenden  Be- 
nehmens zu  ersparen.  So  ist  der  einzige  gefährliche  Nebenbuhler 
beseitigt.  Da  die  Geliebte  in  Sehnsucht  nach  unserem  Helden  hin- 
schmachtet, sehen  ihre  Eltern  ein,  dass  es  am  besten  ist,  sie  mit 
dem  von  iiinen  ehemals  Abgewiesenen  zu  vereinen.  Nachdem  der 
Vicomte,  der  inzwischen  in  Afrika  in  Dienst  getreten  ist,  dort  im 
tapferen  Kampfe  gegen  die  Araber  noch  eine  Verwundung  erlitten, 
findet  die  ersehnte  Verlobung  statt,  die  beide  Kranken  bald  gänzlich 
genesen  lässt. 

Diese  Wiederholung  eines  vei'brauchten  Romanstoft'es  besitzt 
natürlich  für  uns  nicht  das  geringste  Interesse.  Anders  liegt  es 
mit  der  zweiten  Erzählung,  deren  Träger  ein  Wachtmeister  und  ein 
anderer  Unteroffizier  desselben  Regimentes  sind,  in  dem  der  Vi- 
comte stand.  Der  Wachtmeister,  ein  Pfalzburger  namens  Kej'^ser, 
hat  als  dreizehnjähriger  Knabe  einem  Treffen  zwischen  Deutschen 
und  Franzosen  beigewohnt.  Eine  deutsche  Division  stand  einigen 
französischen  Infanterieregimentern  und  dem  Rnuener  Jägerregiment 
gegenüber.  Siegreich  trieb  die  französische  Minderzahl  die  Deutschen 
zurück;  da  überschüttet  die  deutsche  Artillerie  unerwartet  die  An- 
greifer mit  einem  solchen  Hairel  von  Geschossen,  dass  ihnen  ein 
weiteres  Vorgeiieii  unmöglich  wird.  Um  der  französischen  Infanterie 
Luft  zu  schaffen,  stürzen  sich  die  Chasseurs  ä  cheval  auf  die 
deutsche  Artillerie,  die  Resfinientsfahne  in  ihrer  Mitte.  Plötzlich 
verschwindet  die  Fahne.  Leiche  auf  Leiche  häuft  sich  über  sie. 
Die   ersten  Reiter  hatten  die  Fahne   noch   gesehen  und  wollten  sie 


Die  französische  NoveUistik  und  Bomanlitteratur.    IL        289 

aufraffen;  die  späteren  sahen  sie  nicht  mehr,  so  viele  Helden  lagen 
über  sie  hingestreckt.  Die  deutschen  Batterien  müssen  zurückweichen; 
die  französische  Infanterie  jagt  die  deutsche  vor  sich  her;  aber 
nutzlos ;  denn  die  Franzosen  stossen  später  auf  eine  dreifache  Mauer 
von  Feinden,  die  sie,  zehn  gegen  einen,  niederschmettern.  Der  Knabe 
hat  dies  alles  von  der  Mauer  einer  halbverbrannten  Scheune  aus 
gesehen.  Ein  Ulan  hatte  ihre  Besitzerin  vor  den  Augen  ihres 
Mannes  entehren  wollen;  dieser  hatte  einen  Revolver  ergriffen  und 
den  trunkenen  Frauenschänder  erschossen.  Dafür  war  er  selbst  ge- 
tötet und  sein  Landgut  in  Brand  gesteckt  worden.  Von  diesem 
interessanten  Mauertrümmer  aus  nahm  der  junge  Keyser  nach 
beendetem  Kampfe  seinen  Weg  auf  das  Schlachtfeld  mit  der  Ab- 
sicht, die  Fahne  aus  dem  Leichenhügel  hervorzusuchen  und  für  das 
Vaterland  zu  retten.  Er  wird  aber  dabei  von  einigen  Ulanen 
ertappt,  die  ihn  für  einen  Leichenplünderer  halten  und  ihn  mit 
einer  Kugel  niederstrecken;  sie  nehmen  selbst  mit  Hurrahruf  die 
Fahne  in  Besitz.  Der  Knabe,  der  nur  verwundet  war,  findet  die 
nöthige  Kraft,  um  sich  nach  Hause  zu  schleppen,  wo  er  unter  der 
elterlichen  Pflege  bald  der  Genesung  entgegen  geführt  wird. 

Die  hier  geschilderte  Episode  wiederholt  die  Umstände,  unter 
denen  die  einzige  deutsche  Fahne  bei  Dijon  am  24.  Januar  1871 
in  französische  Hände  gefallen  ist.  Es  ist  daher  werthvoll  zu  wissen, 
dass  nach  Ansicht  unseres  Verfassers  bez.  des  in  seinem  Namen 
sprechenden  Wachtmeisters  Keyser  eine  solche  Besitznahme  einer 
feindlichen  Fahne  ein  „feiger  Diebstahl"  ist. 

Später  hat  der  Vater  Keysers  einen  Aufstand  im  Elsass  an- 
zuzetteln unternommen.  Er  konnte  das  deutsche  Joch  nicht  ertragen, 
das  wie  ein  entehrendes  Brandmal  auf  ihm  lastete.  Der  Aufstandsver- 
such wurde  jedoch  durch  einen  elsasser  Bauer  verrathen,  und  der 
Vater  nebst  den  Mitschuldigen  erschossen.  Hierbei  hatte  der  junge 
Keyser  abermals  eine  Begegnung  mit  einem  Ulanen.  Während 
ihn  seine  Mutter  auf  die  Zitadelle  von  Pfalzburg  führte,  um  vom 
Vater  Abschied  zu  nehmen,  beleidigte  sie  ein  Ulan  durch  eine  un- 
anständige Geberde.  Der  Dreizehnjährige,  dies  bemerkend,  stürzte 
sich  auf  den  Deutschen,  rief  ihm  ein:  „Feigling,  Feigling,  zu  Tode 
mit  dem  Schurken!"  entgegen  und  spie  ihm  ins  Gesicht.  Der  Ulan 
stiess  ihn  einfach  zurück.  „Vielleicht  fürchtete  er,  dass  seine 
Handlung  zur  Kenntniss  seiner  Oberen  kam.  Diese  Heerde  mit 
Prügeln  für  den  Ruhm  dressirter  wilder  Thiere,  diese  unheimlichen 
Strolche,  deren  Volksname  Preusse  immer  den  unteren  Theil  unsers 
Individuums  bezeichnete,  da  sie  uns  bis  dahin  nur  diesen  Theil  ihrer 
Person  auf  unsern  Schlachtfeldern  gezeigt  hatten,  diese  Wesen  sind 
die  elendsten,  unreinsten,  wenn  man  sie  einzeln  bekämpft.  Sie  sind  nur 
tapfer,  wenn  sie  das  Sammelwesen  bilden,  das  man  Regiment  nennt." 

Ztschv.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV.  19 


290  E.  KoschwUz, 

Nach  diesen  Erlebnissen  ist  Keyser  von  begreiflichem  Deutseheu- 
liass  erfüllt,  der  ihn  auch  dahin  brachte,  kaum  erwachsen,  in  den 
Soldatenstand  einzutreten.  Er  hat  einen  Gesinnungsgenossen  an 
Jacques  Morin,  dem  seine  Mutter,  eine  Marketenderin,  während  der 
Schlacht  bei  Solferino  im  Bereiche  der  österreichischen  Kugeln  das 
Leben  gab.  Morin's  Vater  ist  in  der  Schlacht  bei  Spichern  gefallen; 
er  hat  seinen  Sohn  für  den  Soldatenstand  bestimmt,  und  die  Mutter 
liat  ihn  darin  bestärkt.  Die  beiden  Heldensöhne  haben  gehört,  dass 
die  Regimentsfahne,  deren  Verlust  Keyser  nicht  hatte  verhindern 
können,  von  den  Deutschen  nach  Pfalzburg  gebracht  worden  ist. 
Sie  ist  dort  im  Schulhause  untergebracht  und  dient  dazu,  „um  den 
elsasser  Kindern  zu  zeigen,  dass  sie  für  immer  preussisch  sind,  und 
dass  sie  dem  Kaiser  Wilhelm  Gehorsam  schulden",  dessen  Büste  sich  im 
Saale  befindet.  Eine  schwere  Kette  befestigt  die  Fahnenstange  an  die 
Mauer,  der  Stoif  hängt  zur  Erde  nieder,  und  der  Schulmeister  sagt  tag- 
täglich zur  ganzen  Klasse,  zu  den  Grossen,  wie  zu  den  Kleinen :  Seht 
Iderher!  Wenn  es  einem  von  euch  beliebt,  sich  vom  Platze  zu  rühren 
oder  es  unsenn  grossen  Kaiser  Willielm  au  Aclitung  fehlen  zu  lassen, 
so  wird  man  mit  ihm  verfahren,  wie  mit  der  franziisischen  Fahne, 
man  wird  ihm  eine  Kette  um  den  Leib  legen  und  ihn  in's  Gefängniss 
stecken  .  .  .  und  so  lange  diese  Fahne  in  unseren  Besitz  bleiben 
wird,  so  lange  werden  wir  Elsass-Lothringen  behalten.  —  Der  Schul- 
meister kettet  dann  die  Falmenstange  los,  tritt  mit  dem  Fuss  auf 
sie,  und  die  Schüler  müssen  dann  rufen:  ,,Es  lebe  der  Kaiser!"  „An 
den  ersten  Tagen  (wo  dieser  seltsame  Gebrauch  eingeführt 
wurde)  kamen  Bauern,  die  ihren  Eifer  zeigen  wollten,  zur 
Schule,  um  den  Schulmeister  oder  seinen  Unterlehrer,  den  grossen 
Wilfrid,  anzuhören  .  .  .  man  hat  sie  dafür  belohnt."  Unsre  beiden 
Helden  beschliessen,  die  so  gemissbrauchte  Fahne  den  Deutschen  ab- 
zunehmen, und  da  der  Rachekrieg  zu  lange  auf  sicli  warten  lässt, 
sie  einfiich,  sei  es  auch  mit  Mord  und  Todschlag,  nun  wirklich  zu 
stehlen.  Sie  nehmen  zu  dem  Zwecke  Urlaub,  machen  sich  in  Ver- 
kleidung nach  dem  Elsass  auf,  und  mit  Hilfe  der  oben  genannten 
Dirne  und  einem  ihrer  Liebhaber,  einem  Lieferanten,  gelingt  es  ihnen 
aucli,  trotz  ihres  Mangels  an  Heisepässen  nach  Pfalzburg  hineinzu- 
kommen. Sie  dringen  während  der  Mittagspause  in  das  Schul- 
haus ,  treten  in  das  Zimmer ,  wo  die  Fahne  sich  befindet ,  und 
treffen  dort  ausser  einigen  Kindern  den  Haupt-  und  einen  Unter- 
lehrer an,  der  mit  um  den  Leib  gebundenen  Prügel  in  der  Klasse 
auf-  und  abgeht.  Während  Keyser  raseh  die  Fahne  von  der  Stange 
absclineidet,  wirft  Morin  den  einen  Lehrer  zu  Buden,  erhält  aber 
von  dem  andern  einen  fürchterlichen  Schlag  mit  einem  Lineal  auf 
den  Kopf.  Keyser  befreit  Morin,  indem  er  dem  Schulmeister  die 
gypserne  Kaiserbüste  an  den  Kopf  wirft.  Wälirend  nun  die  Schulmeister 


Die  französische  Novellistik  und  Bomanlitteratur.    IL       291 

um  Hilfe  rufen,  entfliehen  die  beiden  Franzosen,  den  ihnen  nach- 
gesandten Revolverkugeln  der  deutschen  Schutzmänner  glücklich 
entgehend.  Sie  entkommen  in  ein  Waldesdickicht;  dort  muss 
Morin  zurückbleiben,  der  sich  auf  der  Flucht  einen  Fuss  verstaucht 
und  ein  Knie  ausgedreht  hat.  Keyser  setzt  auf  seine  Bitten  mit 
der  Fahne  allein  die  Flucht  fort.  Morin  wird  von  den  ihn  mit  Hilfe 
eines  Spürhundes  verfolgenden  Deutschen  aufgefunden;  einer  der- 
selben, ein  Polizist,  schlägt  ihn  ins  Gesicht  und  wird  dafür  von 
ihm  niedergeschossen.  Darauf  wird  Morin  nach  Zabern  gebracht. 
Obgleich  er  ein  Dieb  und  Mörder  ist  und  nicht  dem  Oflfizierstande  an- 
gehört, wird  er  auf  seine  Bitte  dennoch  als  Kriegsgefangener  behandelt 
und  auf  Ehrenwort  verpflichtet,  keinen  Fluchtversuch  zu  machen.  Vor 
dem  Kriegsgerichte  gesteht  er  sein  Unternehmen  und  behauptet  er, 
die  gestohlene  Fahne  verbrannt  zu  haben.  Er  wird  zum  Tode  ver- 
urtheilt  und  in  einen  Kerker  geworfen,  ohne  seines  Wortes  ent- 
bunden zu  werden.  Dort  sucht  ihn  die  ihn  beschützende 
Dirne  Margot  in  der  Nacht  vor  dem  Hinrichtungstage  auf. 
Sie  sucht  ihn  ebenso  vergebens  wie  der  bestochene  Kerker- 
meister zur  Flucht  zu  bewegen;  die  deutschen  Behörden  hätten 
die  Flucht  nicht  ungern  gesehen,  weil  sie  die  unangenehme  Sache 
möglichst  unterdrücken  wollten;  die  Ueberwachung  war  darum  eine 
lockere.  Aber  Morin,  durch  sein  Ehrenwort  gebunden,  widersteht 
allen  Versuchungen;  er  geht  kühn  dem  Tode  mit  offenen  Augen 
entgegen,  nachdem  ihm  allerdings  im  Kerker  die  Magenschwäche 
begegnet  ist,  die  den  Verurtheilten  gewöhnlich  kurz  vor  der  Hin- 
richtung widerfährt,  und  kommandiert  selbst  den  preussischen 
Soldaten,  die  wie  es  scheint  auch  auf  französisches  Kommando  ein- 
gerichtet sind,  die  ihn  vernichtende  Gewehrsalve.  Margot  ist  von 
der  Geistesstärke  Morins  so  gerührt,  dass  sie  beschliesst,  von  Stund 
an  ihr  unsittliches  Gewerbe  aufzugeben  und  sich  als  seine  Wittwe 
zu  betrachten.  Wirklich  heisst  sie  von  nun  an  im  Romane 
„Madame  Morin",  obgleich  sie  dazu  nicht  grössere  Rechte  hat,  wie 
etwa  sich  als  „Madame  Keyser"  oder  als  die  Frau  des  geschilderten 
Vicomtes  zu  bezeichnen. 

Der  Wachtmeister  Keyser  kommt  mit  dem  Fahnentuche  glück- 
lich zu  seinem  Regimente  zurück.  Sein  Oberst  fällt  ihm  um  den 
Hals  für  seine  kühne  That;  sein  General  heftet  ilim  den  eigenen 
Orden  an  die  Brust.  Alle  Welt  beglückwünscht  ihn.  Niemand  von 
der  ganzen  Romangesellschaft  hat  eine  Ahnung  davon,  dass  es  un- 
ehrenhaft ist,  eine  im  Felde  verlorene  Fahne  durch  Diebeshände 
zurückholen  zu  lassen;  der  Verfasser  scheint  vielmehr  zu  meinen, 
dass  es  glorreich  und  elirenvoU  für  Frankreich  wäre,  eine  Bande 
gewandter  Spitzbuben  nach  Deutschland  zu  senden ,  um  die  er- 
oberten  Fahnen   dem   theuern  Vaterlande   durch   Diebstahl   wieder- 

19* 


292     E.  Koschwitz,  Die  franz.  Novellistik  u.  Romanlitteratur.  IL 

Zugewinnen.  Bei  den  mangelhaften  Ehrbegriffen,  die  der  Verfasser 
seinen  Romanhelden  zuschreibt,  ist  es  auch  nicht  verwunderlich,  dass 
niemand  von  ihnen  daran  denkt,  dass  eine  so  zurückerhaltene  Fahne 
dem  Feinde  wieder  ausgeliefert  werden  müsse. 

Noch  wunderbarer  aber  ist,  dass  eine  geistige  Verirrung  wie 
der  Erasme'sche  Roman  in  Frankreich  nicht  nur  Verleger  und 
Drucker,  sondern  auch  Leser  findet.  Das  in  meinem  Besitz  befind- 
liche Exemplar,  das  ich  bei  einem  deutschen  Antiquar  auffand,  hat 
vorher  einer  Amienser  Leihbibliothek  angehört  und  dort,  wie  sein 
Aussehen  bestätigt,  sogar  eine  eifrige  Leserschaft  gefunden.  — 

Damit  wollen  wir  von  unsrer  Erzählungslitteratur  Abscliied 
nehmen,  von  der  eine  wichtige  Gattung  hoffentlich  nicht  übei-sehen 
wurde.  Allgemeine  Betrachtungen  anzuknüpfen,  liegt,  wie  schon  in 
der  Einleitung  bemerkt,  nicht  in  unsrer  Absicht;  nur  das  eine 
Urtheil  bleibe  nicht  vorenthalten,  dass  uns  die  Mehrzahl  der 
vorgeführten  Novellen  und  Romane  eines  grossen  Volkes  schlechter- 
dings unwürdig  erscheint.  —  Sollten  die  vorstehenden  Zeilen  dazu 
beitragen ,  die  Weiterbildung  dieser  Art  von  Hetzlitteratur  in 
Frankreich  etwas  einzuschränken,  so  werde  ich  mich  für  die  oft 
recht  verdriessliche  Arbeit  der  Lesung  derartiger  Schriften  reichlich 
belohnt  fühlen. 

E.  Koschwitz. 


Lafontaine  als  Schulschriftsteller. 


Einen  Kanon  für  die  französische  Lektüre  an  unseren  Gym- 
nasien, der  für  die  einzelnen  Klassen  eine  Auswahl  der  zn  lesenden 
Schriftsteller  namhaft  machte,  giebt  es  znr  Zeit  noch  nicht.  Was 
in  den  Lehr-  und  Prüfungsordnungen  für  die  höheren  Schulen  in 
den  einzelnen  Staaten  darüber  gesagt  worden  ist,  beschränkt  sich, 
soweit  überhaupt  solche  Ordnungen  erlassen  worden  sind,  mehr  oder 
weniger  auf  einige  allgemeine  Andeutungen,  und  nur  hie  und  da, 
mehr  zufällig  als  beabsichtigt,  wird  ein  Schriftsteller  etwa  als 
Musterschriftsteller  oder  als  Mass  des  zu  Fordernden  angegeben. 
Das  ist  gewiss  ein  Übelstand,  der  Abhülfe  erheischt,  denn  die 
Stimmen,  dass  die  Festsetzung  eines  solchen  Kanons  weder  wünschens- 
wert, noch  überhaupt  möglich  sei,  „weil  es  unendlich  schwer 
sei,  bei  der  ungeheuren  Menge  der  litterarischen  Erzeug- 
nisse das  Trefflichste,  für  die  Schule  Geeignetste  und 
Richtige  herauszufinden  und  zu  bestimmen;  und  weil  jedes 
Jahr  etwas  Vorzüglicheres,  als  jetzt  vorhanden,  bringen 
könne ''^),  die  Stimmen,  sage  ich,  stehen  wohl  nur  ganz  vereinzelt 
da.  Diejenigen  aber,  die  der  Aufstellung  eines  Kanons  günstig  sind, 
sind  noch  nicht  einmal  über  die  Grundsätze  einig,  nach  denen  dabei 
verfahren  werden  müsste.  Der  eine  erklärt  die  Bevorzugung  der 
Autoren  des  17.  Jahrhunderts,  von  Moliere  abgesehen,  für  einen 
alten  Zopf  2),  ein  anderer  verlangt  in  einem  Athem,  dass  der  Schüler 
in  die  französische  Sprache  eingeführt  werde,  die  gegenwärtig  von 
den  gebildeten  Franzosen  gesprochen  werde,  will  aber  neuere  Dramen 
und  insbesondere  Lustspiele  von  der  Gymnasiallektüre  ausschliessen(!), 
im  Vordergrund  solle  die  historische  Lektüre  stehen^).    Von  einer 


^)  Verhandlungen    der    Direktoren  -  Versammlung    in    der   Provinz 
Sachsen  1886  (Bd.  25  der  Verh.  d.  Dir.- Vers,  in  Preussen)  S.  271. 

2)  Ebenda  S.  260. 

3)  Ebenda  S.  268  f. 


294  M.  F.  Blann, 

Klärung  der  Frage  sind  wir  also  noch  weit  entfernt.  So  wie  die 
Verhältnisse  liegen,  bleibt  die  Wahl  des  Lesestoffs  den  Lehrern  des 
Fachs  (ich  vermeide  absichtlich  das  Wort  Fachlehrer)  im  Einver- 
ständniss  mit  dem  Direktor  der  Anstalt  überlassen,  und  da  die  Zahl 
der  Gymnasien  in  Deutschland  sich  auf  399  beläuft,  wird  man  aller- 
dings eine  sehr  bunte  Auswahl  erwarten  dürfen.  So  ist  es  in  der 
That.  Denn  wollte  man  etwa  durch  Vergleichung  der  einzelnen  Pro- 
gramme eine  Norm  feststellen,  so  würde  man  zwar  linden,  dass  die 
klassischen  Schriftsteller,  Moliere  obenan,  ferner  Racine  und  Cor- 
neille am  häutigsten  gelesen  werden,  in  zweiter  Linie  Historiker 
wie  Michaud,  Voltaire,  Mignet,  Thiers,  aber  die  Zahl  der  Autoren, 
die  in  3.  Linie  aufmarschieren,  ist  so  scheckig  zusammengesetzt, 
dass  sie  geradezu  bedenklich  erscheinen  muss,  wie  sie  denn  auch 
bei  den  kompetentesten  Beurteilern,  bei  Franzosen,  die  sich  zum 
Studium  unseres  Schulwesens  längere  Zeit  in  verschiedenen  Teilen 
Deutschlands  aufgehalten  haben,  in  hohem  Masse  Staunen  und  \er- 
wunderung  erregt  hat.  Das  zähe  Festhalten  an  althergebrachtem 
(rebrauche,  die  Gewöhnung  an  gewisse  Schriftsteller,  die  Unbequem- 
lichkeit, sich  auf  Neuerungen  einzulassen,  in  Verbindung  mit  dem 
Umstände,  dass  der  Unterricht  nicht  immer,  namentlich  auch  auf 
der  unteren  Stufe  nicht  in  den  richtigen  Händen  ist,  haben  auf  dem 
Gebiete  der  französischen  Schullektüre  statt  einheitlichen  Betriebes 
ein  wüstes  Durcheinander  geschaffen.  Vergessen  vdv  dabei  nicht, 
dass  sich  auf  dem  grammatischen  Gebiete  die  alte  und  die  neue 
Methode')  scharf  in  den  Haaren  liegen,  so  muss  man  allerdings  ge- 
stehen, dass  der  französische  Unterricht  auf  den  Gymnasien  Deutsch- 
lands ein  beklagenswertes  Zerrbild  aufweist,  und  wenn  die  Klage 
des  Rektors  von  Schulpforta,  Volkmann,  auf  der  grossen  Berliner 
Schulkonferenz,  dass  die  Vermehrung  des  französischen  Unterrichts 
auf  der  untersten  Stufe  nicht  die  in  §  5  c  der  Erläuterungen  zu 
dem  Lehrplan  der  Gymnasien  erhofften  Früchte  gezeitigt  habe,  wirk- 
lich berechtigt  sein  sollte-),  so  könnte  sie  nur  in  den  angedeuteten  Um- 
ständen ihre  Erklärung  finden.  Ich  selbst  habe  einnml  Quinta  und 
Quarta  eines  Gymnasiums  nach  der  Lehmann'schoii  Anschauungs- 
methode traktiert,  in  den  Tertien  und  höher  liinauf  wurde  der  weit- 
schichtige Knebel-Probst  mit  seinen  eintönigen  Übungsbüchern  auf- 
gepfropft, in  den  Oberklassen  wurde  Marcillac's  Litteraturgeschichte 
ins  Deutsche  übertragen.  Daneben  wurde  auch  gelesen.  In  Ober- 
tertia musste   icli   im   Sommer  auf  höhere  Anordnung  aus  Fiüuier: 


')  —  die  beiläufig  nündestcns  so  alt  ist  wie  die  alte  ilethode  und 
schon  vor  unseren  liefurmern  wissenschaftlich  begründet  wurde  — 

^)  Vgl.  darüber  K.  M.  Hartmann,  Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Lit..  XIII, 
Seite  229. 


Lafontaine  als  Schulschriftsteller.  295 

,,Les  grandes  inventions"  die  Dampfmaschine  den  Schülern  mensch- 
lich näher  rücken,  welchen  Stoff  die  Eltern  zu  langweilig-  fanden,  und 
im  Winter  Jules  Verne,  Le  tour  du  nionde  en  80  joursf^)  Aber  nun 
war  die  Lektüre  den  Eltern  wieder  zu  lustig!  Nicht  bloss  im  Inter- 
esse der  Schüler  und  der  Schule,  sondern  auch  im  Interesse  unserer 
Disciplin  gegenüber  den  Schwesterdisciplinen  und  im  Interesse  unseres 
Standes  überhaupt  scheint  es  mir  geboten,  dass  wir  solchem  und 
ähnlichem  Wirrwarr  abzuhelfen  trachten,  und  wenn  ich  mir  nunmehr 
gestatte,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Frage  zu  lenken:  Soll  La- 
fontaine auf  dem  Gymnasium  gelesen  werden?  so  beab- 
sichtige ich  damit,  einen  Beitrag  zur  Lösung  der  weiteren  Frage 
zu  liefern:  Welche  Schriftsteller  sollen  überhaupt  auf  dem 
Gymnasium   gelesen  werden? 

Diese  zweite,  allgemeinere  Frage  ist  in  Flugschriften,  in  wissen- 
schaftlichen Zeitschriften,  in  Programmen  und  auf  den  Direktoren- 
Versammlungen  in  den  preussischen  Provinzen  vielfach  besprochen 
worden.  So  wird  auf  der  Direktoren-Konferenz  der  Provinz  Pommern 
im  Jahre  1879  die  Frage  der  Abgrenzung  der  Klassenpensen  im 
Französischen  behandelt,  für  Gymnasien  werden  wie  für  Realschulen 
die  wichtigsten  für  die  Schullektüre  in  Betracht  kommenden  Schrift- 
steller aufgezählt,  aber  Lafontaine  fehlt  darunter.  —  Auf  der  Direk- 
toren-Versammlung in  der  ßheinprovinz  im  Jahre  1887  referirt 
Dr.  Diehl,  Direktor  der  rheinischen  Eitterakademie  zu  Bedburg  über 
den  „französischen  Unterricht  für  Gj'mnasien  und  Progymnasien" 
und  führt  (S.  270  f.)  für  die  Klassen  II  und  I  eine  Eeihe  von  Autoren 
an,  aber  Lafontaine  wird  nicht  erwähnt,  und  der  Korreferent,  Gym- 
nasial-Direkter Dr.  Contzen  in  Essen  rühmt  (S.  299)  mit  Genug- 
tliuung,  dass  Fenelon,  Florian  und  andere  nicht  mit  in  das  Verzeichniss 
aufgenommen  seien.  —  In  den  Verhandlungen  der  1.  Direktoren- 
Versammlung  der  Provinz  Schleswig-Holstein  im  Jahre  1880  be- 
richtet Gymnasial-  und  Realschuldirektor  Hess  über  „einige  den 
französischen  Unterricht  betreffende  Punkte"  und  nennt 
neben  den  hauptsächlich  gelesenen  Schriftstellern  auch  Lafontaine, 
womit  der  Korreferent,  Rector  Prof.  Dr.  Seitz,  ganz  einverstanden 
ist,  indem  er  äussert:  „mit  den  klassischen  Fabeln  eines  La- 
fontaine, Florian,  Fenelon  wird  der  Schüler  schon  auf  der 
Mittelstufe  bekannt  gemacht  werden  können."  —  In  den 
Verhandlungen  der  2.  Direktoren -Versammlung  der  Provinz  Pommern 
im  Jahre  1888  heisst  es  von  Direktor  Fritzsche:  „Über  die  Be- 
handlung der  auf  Gymnasien  und  Realgymnasien  zu  lesenden 


^)  Wenn  dieses  Werk  in  einem  anderen  Gymnasium  als  Lektüre  in 
Prima  auftritt,  so  will  uns  der  Stoff  neben  Tacitus  und  Piaton  nicht  recht 
würdig  und  gleichwertig  erscheinen.  Dagegen  empfiehlt  er  sich  sehr  zur 
Privatlektüre. 


296  M.  F.  Mann, 

französischen  Schriftsteller  nnd  die  methodische  Behand- 
lung dieser  Lektüre":  Endlich  sind  die  Fabeldichter  zu 
erwähnen.  Es  werden  nur  ältere,  Lafontaine,  Fenelon, 
Florian,  zur  Sprache  gebracht,  von  den  neueren  keiner. 
Gegen  Lafontaine  erhebt  sich  keine  Stimme,  eine  ganze 
Anzahl  für  ihn.  Fenelon  und  Florian  haben  nur  vereinzelte 
Stimmen  für  sich.  —  Im  Programm  des  Königlichen  Andreanums 
zu  Hildesheim  Ostern  1892  schreibt  Timme  „über  die  Auswahl  von 
französischer  Lektüre  für  die  oberen  Realklassen" ,  aber  Lafontaine's 
gedenkt  er  mit  keiner  Silbe.  —  Nicht  viel  anders  verhält  sich  der 
Director  der  Realschule  1.0.  zu  Perleberg,  Vogel,  indem  er  im  Pro- 
gramm seiner  Anstalt  eine  Abhandlung:  Bemerkungen  zur  französi- 
schen und  englischen  Lektüre  in  den  oberen  Realschulklassen"  ver- 
öifentlicht  und  in  zaghafter  Weise  als  „lyrische"  (!)  Lektüre  für  IIb 
Lafontaine  in  Klanmiern  und  mit  Fragezeichen  versehen  ansetzt.  — 
Tendering  endlich  in  seiner  Abhandlung  Ein  Lehrplan  für  den  fran- 
zösischen Unterricht  am  G-ymnasium  (Ztschr.  f.  franz.  Spr,  u.  Litt., 
XII,  137  — 192)  nennt  Lafontaine  nicht.  Für  Ober-Secunda  z.  B. 
schlägt  er  S.  179  vor:  Segur,  Rist,  de  Nap.  et  de  la  grande  armee; 
Duruy,  Eist,  de  France  1550 — 1643;  Mignet,  Vie  de  Franklin;  Mignet, 
La  Germanie  au  6«  s.  und  für  die  Poesie:  Corneille,  Cid;  Racine, 
Athalie;  Racine,  Britannicus.     Soweit  meine  Gewährsmänner. 

Wer  auf  Grund  dieser  Zeugnisse,  ohne  besondere  Erfahi'ung  und 
Kenntniss  in  der  französischen  Litteratur  eine  Walü  treffen  sollte,  also 
etwa  ein  Probekandidat,  der  würde  schwerlich  auf  Lafontaine  verfallen, 
denn  selbst  das  günstigste  darunter,  das  von  Fritzsche  in  Pommern, 
ißt  eher  gleichgültig  als  befürwortend  gehalten,  jedenfalls  nicht  ge- 
tragen von  jener  Begeisterung  oline  die  nun  einmal  in  pädagogischen 
Dingen  der  rechte  Erfolg  sich  nicht  zeigen  will.  Hält  man  nun 
gegen  diese  deutliche  Kühle,  mit  der  die  Deutschen  Lafontaine 
gegenüberstehen,  die  Begeisterung  der  Franzosen,  mit  der  sie  ihn 
als  zweiten  Homer,  als  „unnachahmlich"  preisen  und  ihn  unbedenklich 
in  gleiche  Linie  mit  Moliere  stellen;  bedenkt  man  ferner,  dass  La- 
fontaine in  seinem  Yaterlande  volkstliümlich  ist  wie  kein  zweiter 
Dichter,  dass  seine  Fabeln  (neben  den  Fabeln  unseres  Lessing  und 
des  Phaedrus)  einen  Standard-Unterrichtsgegenstand  im  enseignement 
secondaire  classiqiie  der  französischen  Gymnasien  ausmachen,  so  muss 
allerdings  ein  auffälliger  Gegensatz  im  Verhalten  beider  Länder 
festgestellt  werden,  der  auch  dadurch  noch  keine  genügende  Er- 
klärung findet,  dass  die  neuere  Litteratur  der  Franzosen,  wenn  man 
von  den  Erzeugnissen  der  Jetztzeit  absieht,  in  Deutschland  ver- 
hältnissmässig  wenig  Beachtung  findet,  fast  eben  nur  in  den  Schulen, 
auf  den  Universitäten  kaum. 

Welches   sind   die   Gründe,    die   dieser   merkwürdigen   Nicht- 


Lafontaine  als  SchulschriftsteUer.  297 

beachtung  Lafontaines  in  unserem  Vaterlande  zu  Grunde  liegen, 
einer  Nichtbeachtung,  die  um  so  sonderbarer  ist,  als  ähnlich  wie 
in  Frankreich  in  Deutschland  im  vorigen  Jahrhundert  eine  Fabel- 
dichtung aufblüht,  die  notorisch  von  Lafontaine  beeinflusst  ist?  Und 
auch  das  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  ja  neben  den  Haupt- 
dichtern des  Zeitalters  Ludwigs  XIV.  auch  Dichter  zweiten  Ranges 
wie  Balzac,  Fontenelle  und  andere  bei  uns  Übersetzung  und  Nach- 
ahmung gefunden  haben. 

Ich  finde  die  Hauptursache  dieser  sonderbaren  Erscheinung  in 
den  folgenden  Thatsachen:  das  Culturleben  Deutschlands  gegen  Ende 
des  17.  und  im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  steht  durchaus  unter 
französischem  Einfluss.  Alles  richtet  sich  nach  dem  französi- 
schen Geschmack.  Auf  litterarischem  Gebiete  gelangt  nur  das  zur 
Geltung,  was  die  deutschen  Kunstrichter  in  blinder  Nachahmung 
ihrer  französischen  Genossen  als  mustergültig  hinstellen.  Derjenige 
Franzose  nun,  der  der  berufenste  Beurtheiler  der  Fabeln  Lafontaines 
gewesen  wäre,  da  er  sie  hat  entstehen  sehen,  Boileau,  erwähnt  in 
seinem  Art  poetique  weder  den  Dichter,  dem  er  befreundet  war, 
noch  die  Gattung,  in  der  er  sich  selber  versucht  hatte.  Wären  ihm 
diese  Versuche  gelungen,  so  würde  er  vielleicht  dem  Freunde  ein 
Denkmal  gesetzt  haben.  So  aber  schaut  er,  von  der  Gunst  des 
Hofes,  die  Lafontaine  fehlte,  umstrahlt,  verächtlich  auf  das  Aschen- 
brödel der  Dichtung  herab  und  stösst  es  aus  der  glänzenden  Ver- 
sammlung seines  Parnass.  Vielleicht  bestärkte  ihn  hierin  die  Ver- 
legenheit, das  neue  Kind  der  Musen  unterzubringen:  die  zahlreichen 
Fabulisten  Frankreichs  vor  Lafontaine  waren  weniger  Dichter,  als 
geschickte  Moralisten;  erst  durch  Lafontaine  erwächst  die  Fabel  zu 
jener  anmuthigen  Dichtung,  zu  der  der  Name  Fabel  allerdings  so 
wenig  passt,  dass  des  pedantischen  Boileau  Unterlassungssünde 
einigermassen  begreiflich  erscheint.  Hatte  doch  Patru  Lafontaines 
Plan,  Fabeln  zu  dichten,  überhaupt  gemissbilligt,  und  zwar  wegen 
der  Geringfügigkeit  der  Gattung,  so  wie  sie  die  damalige  Zeit 
kannte.  Jene  Fabeln  nun,  vom  König  und  damit  von  der  hohen 
Gesellschaft  scheel  angesehen,  von  Boileau  totgeschwiegen,  treten 
schüchtern  ihre  Wanderung  nach  Deutschland  an.  Ich  sage  schüchtern, 
denn  ihr  Verfasser,  noch  ganz  in  der  Richtung  seiner  Zeit  befangen, 
leugnet  in  der  Vorrede,  mit  der  er  sie  zunftgemäss  hinaussandte, 
angesichts  der  Fabeln  des  klassischen  Altertums  den  Wert  seiner 
eigenen.  Mit  solchem  Geleitsbriefe  versehen  überschreiten  sie  den 
Rhein;  unglücklicherweise  haben  sie  aber  schlechte  Quartiermacher 
gehabt:  die  deutschen  Übersetzungen  eines  Huuold  und  anderer  sind 
so  stümperhaft,  dass  sie  vom  Original  nur  abschrecken  können. 
Wo  sollen  bei  so  kläglichen  Leistungen  der  Übersetzungskunst,  die 
an  die  ursprünglichen  Dichtungen  nicht  einmal  anklingen,  auch  die 


298  M.  F.  Mann, 

Verehrer  herkommen?  Doch  nicht  genug  damit,  es  eitsteht  Lafontaine 
in  seinem  eigenen  Vaterlande  ein  Geg-ner  von  nicht  zu  unterschätzender 
Bedeutung-,  dessen  Ausfiihrunoen  gegen  unseren  Dichter  in  Deutscli- 
land  den  lebhaftesten  Widerhall  linden.  Es  ist  Lamotte,  der  im 
Jahre  1719  zu  Paris  seine  Fabeln  unter  dem  Titel  Fahles  nottreUes, 
die  bei  uns  bald  übersetzt  wurden,  herausgab.  Diesen  seinen  Fablea 
nouvelles  schickt  er  einen  „Discours  stir  la  fahle"  vorawii,  in  welchem 
er  auf  Grund  der  Lafontaine'schen  Dichtungen  nacli  ästhetisch- 
kritischen Gesichtsi)unkten  das  "Wesen  jener  Gattung  erörtert.  Als 
erste  Hauptforderung  an  das  Wesen  einer  ächten  Fabel  stellt  er  die 
Behandlung  des  Stoffes  in  der  Art  Lafontaines  hin.  Aber  Lamotte 
ist  ein  Geist  niederen  Ranges,  und  da  er  wohl  einsieht,  dass  er  sich 
in  der  Behandlung  mit  dem  Meister  nicht  messen  könne,  stellt  er 
willkürlich  als  zweite  Hauptforderung  eine  Bedingung  auf,  die  La- 
fontaine nur  in  wenigen  Fabeln  erfüllt  hat:  die  Ui-sprünglichkeit, 
die  Selbsterlindung  des  Stoffes.  Diese  Forderung  wird  nun  — 
merkwürdigerweise  —  von  den  deutschen  Aesthetikern  aufgegriffen 
und  so  sehr  von  Ramler,  Gottsched,  Mendelssohn  und  Lessing  als 
heiligstes  Gesetz  gepriesen,  dass  sie  seitdem,  wenn  auch  nicht  immer, 
so  doch  zumeist  streng  beobachtet  wird.  Wie  in  Franki'eich  die 
lange  Reihe  der  Jünger  Lafontaines,  so  wandeln  in  Deutschland 
die  Geliert,  die  Lichtwer,  die  Gleim  und  andere  die  Lamotte"schen 
Bahnen  und  thun  vermöge  ihres  grossen  Ansehens  dem  Franzosen 
bedeutend  Abbruch.  Dazu  tritt  noch  Lessing  auf  mit  seiner  be- 
kannten Fabeltheorie  und  wenn  er  auch  Lafontaine  nicht  niederzu- 
ringen vermag,  so  haben  doch  seine  Ausführungen  die  Verbreitung 
Lafontaines  ausserordentlich  gehindert.  —  Ich  habe  etwas  eingehender 
einige  hervorragende  Gründe  auseinandergesetzt,  weswegen  sich  La- 
fontaine bisher  nicht  recht  bei  uns  hat  einbürgern  können. M  Es 
scheinen  mir  noch  einige  iiiclit  unwesentliche  Momente  hinzuzukommen, 
die  auf  anderem  Gebiete  liegen.  Das  Wort  Fabel  erweckt  bei  uns 
stets  das  etwas  unbehagliche  Gefühl  einer  Lehre,  und  eben  dieser 
Lehre  wegen  giebt  man  die  Fabeln  schon  kleinen  Kindern  in  die 
Hand,  statt  den  grossen,  die  ei-st  ein  Verständniss  für  den  poetischen 
Wert  haben  könnten.  Um  Ethik  zu  lehren,  ist  doch  eigentlich  die 
Bibel  da.  Und  nun  ist  dieser  Lafontaine  manchmal  ein  recht  gott- 
loser ]\Iensch  gewesen  und  hat  auch,  ein  zweiter  Boccaz,  recht 
schlüpfrige  Geschichten  geschrieben.  Der  will  uns  mores  lehren? 
Lafontaine  als  Mensch  wird  uns  in  vieler  Hinsicht  ewig  ein  Rätsel 
Ideiben  und  ich  selber  kann  keine  Elirenrettung  versuchen:  aber  so 


')  Zum  Teil  auf  (inmd  der  treffhehen  Ahhamlhing:  Stein,  La- 
fontaintx  KinflnsA  auf  die  deutsche  Foheldichiiing  des  IS.  Jahrhunderts. 
1889.    Progi-."a95. 


Lafontaine  als  Schulschriftsteller.  299 

klar  es  ist,  dass  einst  Boccaccio  nicht  daran  gedaclit  liat,  dass 
später  einmal  frühreife  Tertianer  seinen  Dekameron  in  einer  Schund- 
ausgabe heimlich  lesen  würden,  so  sehr  muss  Lafontaine  in  dieser 
Beziehung  wie  der  Italiener  als  Kind  seiner  Zeit  aus  dieser  Zeit 
heraus  beurtheilt  werden,  und  der  Mensch  Lafontaine,  der  doch 
nebenbei  auch  ein  Bonhomme  par  excellence  sein  konnte,  darf  uns 
den  Genuss  des  Dichters  Lafontaine  nicht  verderben. 

Und  dieser  Lafontaine  bleibt  trotz  Boileau  und  Lessing  und 
air  der  engherzigen  Nörgler  diesseit  wie  jenseit  des  Wasgenwaldes 
der  grösste  Fabeldichter  der  Welt,  der  sich  immer  neue  Gebiete  er- 
obert und  auch  bei  uns  heimischer  werden  wird,  wenn  wir  nur 
ernstlich  den  Versuch  machen,  ihn  einigermassen  erschöpfend  —  also 
nicht  löffelweise  wie  in  den  Anthologien  und  Chrestomathien  —  mit 
unserer  reiferen  Jugend  durchzunehmen,  die  schon  einige  Kenntniss 
der  französischen  Litteratur  hat. 

Ist  die  Litteratur  eines  Volkes,  wie  Vogel  in  der  schon  er- 
wähnten Arbeit  sagt,  die  vollkommenste  Offenbarung  des  nationalen 
Geistes,  so  hat  zweifellos  die  Schullektüre  die  Aufgabe,  den  Schüler 
in  diesen  Geist  durch  diejenigen  Werke  einzuführen,  welche  die 
nationale  Eigenart  nach  Inhalt  und  Form  am  Vollendetsten  und  Ge- 
treusten wiederspiegeln.  Deshalb  wird  man  den  Cid,  die  Athalie, 
die  Femmes  savantes  lesen  müssen,  deshalb  wird  man  aus  unserem 
Jahrhundert  z.  B.  die  dramatischen  Werke  nicht  umgehen  können, 
in  denen  der  welterschütternde  Kampf  der  alten  und  der  neuen  Zeit 
nachweht  und  gewissermassen  zum  versöhnenden  Abschluss  gebracht 
wird;  aber,  ich  kenne  keinen  Dichter,  in  dem  das  eigeuthümliche 
Gepräge  des  französischen  Geistes  klassischer  zum  Ausdruck  käme, 
der  mit  einem  Wort  gallischer  wäre,  in  Wesen  und  Werken,  als 
Lafontaine;  so  gallisch,  dass  Taine  den  geistvollen  Versuch  gemacht 
hat,  seine  Eigenart  aus  der  Eigenart  seines  engeren  Heimathlandes 
heraus  zu  erklären.  Und  dieser  spezitisch  gallische  Zug  im  Wesen 
des  Dichters  findet  sein  Abbild,  seinen  vollendeten  Ausdruck  in 
seinen  Werken.  Wie  bei  Goethe,  können  die  Werke  nicht  ohne  den 
Dichter  verstanden  werden,  sie  sind  die  reinsten  Blüten  eines  idealen 
Egoismus,  ausgesprochener  Pantheismus  in  die  Welt  der  Dichter 
umgesetzt.  Und  auch  das  hat  Lafontaine  mit  dem  grossen  Deutschen 
gemein,  dass  er  in  erhabener  ßuhe  über  dieser  menschlichen  Comedy 
of  Errors  thront. 

Lafontaine  gehört  dem  17.  Jahrhundert  an.  Es  wird  das  für 
Frankreich  das  klassische  Jahrhundert  schlechthin  genannt.  Man 
könnte  es  ebenso  gut  das  Jahrhundert  der  Nachahmung  des  Alter- 
thums  nennen,  das  Jahrhundert  der  Conventionen ,  oder  treffender 
noch    das   Jahrhundert    der  Einheiten;    nicht   jener    abgedroschenen 


300  M.  F.  Mann, 

Einheiten  in  der  Tragödie,  sondern  der  Einheit  in  der  Litteratur, 
in  Staat  und  Kirche ,  die  freprediirt  wird  von  Boileau ,  Bossuet  und 
Fenelon.  Die  Einheit  im  Staatswesen,  so  wie  sie  Bossuet  vertiitt, 
findet  ihren  vornelimsten  Ausdruck  in  einem  Königthum  von  gött- 
lichem Ursprung.  Sein  Gott  ist  Ludwig  XIV.,  zu  A>rsailles,  der  ge- 
meinen Welt  entrückt,  baut  er  sich  sein  Himmelreicli.  Er,  der  seinen 
Unterthanen  das  berüchtigte  l'etat  c'est  moi  entgegenschleuderte,  er 
hätte,  falls  er  auf  litterarisch-künstlerischem  oder  religiösem  Gebiete 
auf  Widerstand  gestossen  wäre,  herniederdonnern  können:  VaH  c'est 
moi,  la  reliyion  c'est  moi.  Er  ist  Herr  über  Leben  und  Gut  seiner 
Unterthanen.  Von  seiner  göttlichen  Sendung  überzeugt,  will  er, 
dass  Alles  um  ihn  den  Glanz  der  Krone  zu  erhöhen  trachte.  Die 
Etikette  wird  die  vornehmste  und  verwickeiste  aller  Wissenschaften. 
Jeder  weiss  genau  den  Platz,  der  ihm  im  königlichen  Aufzuge  zu- 
gewiesen ist  und  die  Haltung,  die  er  vor  dem  König  zu  beobachten 
hat.  Auf  ein  Zeichen  von  ihm  bewegen  sie  sich,  schweigen,  sprechen, 
legen  dies  oder  das  Gewand  an,  kurz  der  Hof  ist  ein  Marionetten- 
theater, dessen  Puppen  von  dem  allmächtigen  Willen  des  Herrschers 
gelenkt  werden.  Man  streitet  sich  um  einen  Blick,  ein  Wort,  ein 
Lächeln  von  ihm,  wer  aber  fern  zu  bleiben  w'agt  oder  sein  Rückgrat 
nicht  tief  genug  beugen  kann,  oder  wer  gar  sich  ein  unkluges  Wort 
entschlüpfen  lässt,  der  ist  verloren.  Zwar  bewahrt  das  Bürgerthum 
in  den  grösseren  Städten  noch  einige  Unabhängigkeit,  umso  düsterer 
aller  sielit  es  auf  dem  platten  Lande  aus.  Die  materielle  Lage  des 
Bauernstandes  in  diesem  sugeuanuten  goldenen  Zeitalter,  dem  viel- 
gepriesenen siede  de  Louis  XIV,  war  erbärmlich,  manchmal,  bei 
besonderen  Notständen,  geradezu  grauenhaft.  Seine  geistige  Cultur 
war  gleich  null,  die  Volkssänger  waren  verstummt,  das  Volkstheater 
erstorben,  die  Adligen,  die  etwas  füi-  ihn  hätten  thun  können,  kamen 
nur  zu  ihm  ,  wenn  sie  Geld  erpressen  wollten ,  sonst  nicht.  In 
der  Provinz  zu  leben,  fern  vom  Glänze  des  Hofes,  galt  ja,  wie  wir 
von  der  Sevigne  wissen,  als  härteste  Verbannung. 

Und  was  wussten  denn  diese  Herren  z.  B.  von  der  Natur  ?^) 
Für  die  Edelleute  des  Hofes  und  der  Salons,  die  mit  dem  König 
schwelgten  und,  als  er  alt  wurde,  mit  ihm  beteten,  war  eine  Henne, 
wie  Taine  bemerkt,  ein  Eierreservoir,  eine  Kuh  ein  Milchmagazin, 
und  ein  Esel  war  nur  gut,  grüne  Waaren  auf  den  Markt  zu  schaffen, 
oder  Säcke  in  die  ^Mülile.  Ja  und  die  Wissenschaft  daclite  nicht 
anders.  Der  Cartesianer  Malebranche  versicherte  allen  Ernstes,  dass, 
wenn  er  seine  Hündin  schliiiiv.  ihre  Sclireie  nicht  Schmerzensschreie 


\)  Ein  merkwürdiges  t^piel  des  Zufalls  möciite  ich  übrigens  für  diese 
Zeit  des  keimenden  Xiiturgcfühls  hervnrhelien:  dass  die  Xamen  so  vieler 
grossen  Geister  der  Natur  entlehnt  sind:  Lafontaine.  Kacine,  La  Bruvere  u.  a. 


Lafontaine  ah  Sdmlsclirißst eller.  301 

seien,  sondern  Widerklänge,  Eesonnanzen  der  verabreichten  schallen- 
den Streiche,  die  aus  dem  hohlen  Leibe  widertönten. 

Aus  solchen  Verhältnissen  heraus  wird  man  erst  das  merk- 
würdige Gepräge  der  sogenannten  klassischen  Litteratur  des 
17.  Jahrhunderts  vei-stehen  können,  und  wenn  run  trotzdem  un- 
geahnt über  Nacht  ein  Lafontaine  ersteht,  so  ist  das  wie  der  Trieb 
eines  Keimes,  der  sich  durch  die  härteste  Scholle  einen  Weg  bahnt 
und  selbst  Steine  bei  Seite  schiebt,  es  ist  der  Trieb  eines  über- 
übermächtigeu  Grenius.  Seine  Nahrung  empfängt  er  aus  sich  selbst, 
befruchtend  wirkt  das  klassische  Alterthum  und  vor  allem  jene 
reiche  Litteratur  seines  Heimatlandes  im  Mittelalter,  bis  sich  jene 
herrliche  vielbewunderte  Blüte  entfaltet.  Wollte  man  diese  unseren 
Schülern  vorenthalten,  so  würde  nicht  nur  in  dem  Dichterviergestirn, 
das  die  eigentliche  E-egierungszeit  Ludwigs  XIV.  erhellt,  der  am 
eigenthümlichsteu  strahlende  Stern  fehlen,  man  würde  auch  einen 
Schriftsteller  totschweigen,  der  uns  erst  so  recht  das  Verstäudniss 
für  das  17.  Jahrhundert  erschliesst. 

In  den  Cretilden  seiner  heimatlichen  Provinz  streift  der  junge 
Lafontaine  halb  sinnend,  halb  träumend  umher,  und  nichts  zu  suchen, 
das  war  sein  Sinn ;  aber  es  erschliesst  sich  ihm,  im  Zeitalter  höfischer 
Etikette,  ein  Jahrhundert  vor  Jean  Jacques  Rousseau,  der  Sinn 
für  die  Natur.  Mit  ausserordentlich  feiner  Beobachtungsgabe  aus- 
gestattet, ohne  dass  er  sich  ihrer  bewusst  gewesen  wäre,  rindet  er, 
ein  Jahrhundert  vor  Buffon,  dass  die  Thiere  nicht  federbewegte 
Maschinen  sind,  sondern  mit  Willen  begabte,  vom  Trieb  der  Selbst- 
erhaltung geleitete  Lebewesen  wie  wir;  und  vor  Darwin  endlich 
erkennt  er,  dass  diese  Wesen  einen  beständigen  Kampf  ums  Dasein 
führen,  aber  nicht  einen  blind  wütenden,  sondern  einen,  der  sich 
nach  ewigen  Naturgesetzen  vollzieht,  sodass  die  Grattungen  sich  die 
Wage  halten.  Und  als  er  später  in  der  Hauptstadt,  wie  der 
Schmetterling  von  Blume  zu  Blume,  von  Grenuss  zu  Genuss  eilt, 
da  hat  er  reichlich  Gi^elegenheit,  die  Menschen  zu  beobachten, 
und  die  Parallele  zwischen  Mensch  und  Thier  wird  ihm  klar:  er, 
der  bisher  nur  gelegentlich  Verse  geschmiedet  hat,  wird  zum  ziel- 
bewussten  Dichter  und  schafft,  erst  schüchtern,  dann  seines  Pfundes 
inne  werdend,  jene  hundertaktige  Komödie,  wie  er  sie  selber  nennt, 
jene  Komödie  der  menschlichen  Irrungen,  von  der  jeder  einzelne 
Akt  wieder  ein  Kunstwerk  für  sich  ist,  die  Kleinmalerei  neben  der 
Darstellung  tragischer  Konflikte.  241  verschieden  Gegenstände 
machen  diese  Comedie  hiima'me  aus,  die  in  12  Büchern  und  9481 
Versen  wohl  alle  Lagen,  in  die  der  Mensch  kommen  kann,  und  alle 
Stände,  vom  König  bis  zum  Geringsten  herab,  behandelt  und  alle 
Saiten  anschlägt,  vom  erschütterndsten  Pathos  bis  zum  lustigsten  Spott. 

Und  was  soll  man  an  diesen  Dichtungen  am  meisten  bewundern? 


302  ilf.  F.  Mann, 

Die  Kunst  des  Dichters,  dass  er  übei'  jede  einzelne  eine  einheitliche 
Stimmung  zu  giessen  weiss?  Die  noch  grössere  Kunst,  die  für 
seine  Zeit  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden  kann,  dass  er, 
beredt  wie  kein  zweiter,  frei  von  Schwulst  und  Eifekthascherei, 
immer  die  Dinge  bei  ihrem  richtigen  Namen  zu  nennen  weiss  und 
das  richtige  .Wort  an  die  richtige  Stelle  setzt?  Oder  endlich  die 
grösste  Kunst,  dass  er  seine  Gedanken  in  Formen  giesst,  die  noch 
kein  zweiter  hat  nachahmen  können?  Und  was  spricht  in  dieser 
Form  am  meisten  an,  der  Wohllaut  der  Worte,  ihre  ungezwungene 
Aufeinanderfolge,  das  Spiel  der  Gegensätze  oder  der  reizende  Wechsel 
der  Masse?  Oder  besteht  der  Reiz  dieser  Fabeln  in  dem  Glanz 
der  Inscenierung,  wenn  ich  so  sagen  darf,  oder  gar  endlich  darin, 
dass  der  Dichter  häutig,  um  den  Groll  der  Getroffenen  abzulenken, 
sich  selber  als  Blitzableiter  in  die  Mitte  der  Handlung  stellt?  Denn 
das  ist  ja  wieder  ein  hervoi'stechender  Zug  seiner  Fabeln,  dass  La- 
fontaine die  Schwächen  der  Menschen  oder  seiner  Zeit  nicht  mit 
bitterem  Sarcasmus  geisselt,  sondern  mit  naivem  Humor.  Niemals 
ist  eine  liebenswürdigere  Satyre  geschrieben  worden;  statt  Un- 
behagen zu  empfinden,  geniessen  wir  sie  mit  Entzücken,  obwohl  wir 
selber  biossgestellt  werden. 

Ich  glaube,  man  wird  von  einem  Hauptzug  in  den  Fabeln 
Lafontaines  kaum  spreclien  können,  es  vereint  sich  eben  alles  zur 
Harmonie,  alles  athmet  den  esprif  gaulois  in  seiner  schönsten  Er- 
scheinungform. Und  das  erklärt  die  ausserordentliche  Beliebtheit 
des  Dichters  in  allen  Schichten  der  Bevölkerung  seines  Heimat- 
landes. Seine  Redewendungen  sind  in  die  Sprache  übergegangen, 
ohne  dass  man  sich  des  Ursprungs  noch  bewusst  ist,  die  besten 
Schriftsteller  eitleren  ihn  und  in  Zeiten,  wo  die  Wogen  des  poli- 
tischen Lebens  hoch  gehen,  mag  es  sich  um  Wahlen  handeln  oder 
mag  die  ,;Ma'nie  Frederic"  die  tapferen  französischen  Maler  nach 
Berlin  laden,  ir.  solchen  Zeiten,  da  liefert  Lafontaine  die  Schlaglicliter, 
die  das  Kampffeld  erhellen,  die  Waffen,  die  mit  sicherem  Stoss  den 
Gegner  treffen.  Diesen  Lafontaine,  den  gr(»ssen  Realisten  der  Blüte- 
zeit der  konventionellen  Dichtung,  den  ex'sten  Vorläufer  der  Re- 
volution, den  dürfen  wir  unseren  Secundanern  und  Primanern  nicht 
vorenthalten,  denn  nicht  Sprachgewandtheit  ist  das  vornehmste  Ziel 
des  französischen  Unterrichts  auf  den  Gj^nnasien,  sondern  Vei*ständniss 
für  (las  Culturleben  eines  edlen  Vidkes,  das  auf  vielen  Gebieten  mit 
uns  wetteifert  und  auf  manchen  uns  übertrifft.  Zur  Einfülu'ung  in 
dieses  Verständnis«  ist  wohl  kein  Schriftsteller  besser  geeignet  als 
Lafontaine.')  — 


^)  Ich  habe  seitilem  Gelegenheit  gehabt,   in  Pariser  Gymnasien  zu 
hospitieren  und  kann  nur  sagen,   dass  die  Stunden,   in  denen  Lafontaine 


Lafontaine  als  Schulschriftsteller.  303 

A  n  h  a  n  g. 

Die  vorhergehende  Arbeit  giebt  den  Wortlaut  eines  von  dem 
Unterzeichneten  auf  der  2.  Jahresversammlung  des  sächsischen 
Gymnasiallehrervereins  zu  Zwickau  Ostern  1891  in  der  neusprach- 
lichen Abtheilung  gehaltenen  Vortrages  wieder.  Um  die  ursprüng- 
liche Fassung  zu  bewahren,  wurden  die  seitdem  zur  Schullektüre 
erschienenen  Aufsätze  nicht  berücksichtigt.  Vielleicht  ist  aber  hier 
der  Ort,  über  einen  Vortrag  zu  berichten,  den  Dr.  Franz  vom 
Wettiner  Gymnasium  zu  Dresden  auf  der  diesjährigen  Versammlung 
desselben  Vereins  (zu  Ostern  in  Dresden)  in  der  Abtheilung  für 
Französisch  und  Englisch  über  „die  Verteilung  des  französischen  Lese- 
stoffes" gehalten  hat.  Dr.  Franz  stützte  sich  dabei  auf  eingehende 
Beratungen  einer  Fachkonferenz  der  Dresdner  Gesellschaft  für  neuere 
Philologie  und  stellte  unter  eingehender  Begründung  folgende  Leit- 
sätze und  folgenden  Kanon  auf: 

1.  Die  Aufstellung  eines  Kanons  der  französischen  Lektüre  am 
Gymnasium  ist  dringend  wünschenswerth. 

2.  Der  Kanon  kann  nicht  ein  für  alle  Mal  abgeschlossen  und  bindend 
sein  und  muss  für  die  einzelnen  Klassen  mehrere  Parallelglieder 
haben. 

3.  Für  die  Lektüre  sind  diejenigen  Werke  der  französischen  Litteratur 
auszuwählen,  die  durch  Lihalt  und  Form  und  durch  das  Mass 
der  Schwierigkeit  am  meisten  geeignet  sind  den  Schüler  zu 
fördern. 

4.  Es  ist  wünschenswerth,  dass  der  Schüler  mit  Werken  aus  ver- 
schiedenen Epochen  der  französischen  Litteratur  bekannt  wird, 
ebenso  dass  er  in  verschiedene  Litteraturgattungen  eingeführt 
wird. 

5.  Die  Lektüre  eines  Schriftwerkes  ist  womöglich  in  einem  Halbjahr 
zu  beenden. 

Untersekunda : 
Historiker:  Voltaire,  CJiarles  XII. 

Michaud,  Premiere  Croisade. 
Thiers,  Bonaparte  en  l^gypte. 
D'hombres  et  Munod,  Biographies  historiques. 
Duruy,  Biographles  dlwiuines  celebres  des  temps  anciens 
et  modernes. 


behandelt  und  deklamiert  wurde,  zu  den  genussreichsten  gehörten;  und  als 
einmal  in  einer  Abendgesellschaft  ein  Proiessor  vom  Tuiiservatoire  Le 
Savetier  et  le  Financier  vortrug,  war  man  sichtlich  ergritfen  von  dem 
Zauber  des  Stils.  Ich  selbst  hätte  nicht  gedacht,  dass  Lafontaine  solchen 
Eindruck  hervorrufen  könnte. 


304 


M.  F.  Mann, 


Erzählende  Werke: 

Souvestre,  An  Coin  du  feu;  Sous  la  Tonnelle. 

Maistre,  La  jenne  Siberienne ,  Le  Lepreux  de  la  cite 
auch  in  IIa  d'Ao^te,  Les  prm)iniers  du  Caucase. 

Erckmann-Chatrian,  Hisfoire  dhm  Consent  de  1813; 
Contes  des  hords  du  Ehin,  Waterloo. 

Obersekunda: 

Historiker:  Se<iur,  Histoire  de  Nap(jU;on  et  de  la  Grande  Armee  en  1812. 

Mignet,   Vie  de  Franklin. 

Thierrj',  Conquete  de  VAngleterre. 
Novellistisches:   Daudet   ) 


Coppee    i 


Ausgewählte  Erzählungen. 


Dramen : 

i  Feuillet,  Le  VUlage. 
auch      I    Scribe,  L.es  Boigts  de  fee. 
in  Ib     i    Auiiier,  le  Gcndre  de  M.  Poirier. 
I    M(»liere,  V Arare. 
Ausserdem  in  0))ersekunda  und  in  Prima: 

Gropp  und  Hausknecht,  Auswahl  französischer  Gedichte. 

Prima : 

Historiker:  Montesquieu,  Considerations. 

Voltaire,  Siede  de  Louis  XIV  (Auswahl). 
Mignet,  Histoire  de  la  JRerolution  fran<;aise. 
Mrae  de  Stael,  de  VAllemagne. 
Guizot,  Itevolution  d'Angleterre. 
Taine,   Origi)ies  de  la  Frame  contemporaine. 
Lanfrey,  Campagne  de  1806—1807,  Camp,  de  1809. 
Sarcey,  le  Siege  de  Faris. 
Dramen:   Moliere,   les  Femmes  savantes,   les  Precieuses   ridicules,   le 
Misanthrope,  le   Tartuffe. 
Corneille,  le  Cid;  Horaee. 
Racine,  Athalie.  Britatniicus,  Iphigenie. 
V.  Hugo,  Ifeniaui. 
Romane  und  Novellen:   Feuillet,  le  Rnnian  du»  Jeune  honwie  pauvre 

(als  Drama  auch  für  IIa). 
Daudet,  IjCttres  de  »lou  moulin. 
Souvestre,    Confcssions;   un   Philosophe  sous 
les  toits. 
Sonstiges:  Buffon,  Morceaux  choisis. 
Mirabeau,  Biscours. 

Mme  de  Sevigne,  Auswahl  von  Briefen. 
Der  gehaltvolle  Vortrag  des  Dr.  Franz  rief  eine  lebhafte  De- 
batte hervoi-,   in  deren  Verlaufe  noch  2  Thesen  von  Dr.  Hartmann- 


Lafontaine  als  ScJmlschriftsteller.  305 

Leipzig  angenommen  wurden,  die  nach  These  4  einzuschieben  sind. 
Sie  lauten: 

5.  Innerhalb  der  historischen  und  erzählenden  Prosa  sind  haupt- 
sächlich 1)  solche  Werke  zu  berücksichtigen,  die  sich  inhaltlich  an 
Frankreich  anlehnen. 

6.  Bei  Aufstellung  jeder  Klassenlektüre  ist  die  auf  einer  früheren 
Stufe  vorausgegangene  Lektüre  in  Berücksichtigung  zu  ziehen. 

Durch  die  Aufstellung  dieser  Thesen,  namentlich  aber  durch 
die  unter  5.,  die  einen  ganz  wesentlichen  Fortschritt  gegen  die  bis- 
herigen Zustände  erstrebt,  hat  sich  Dr.  Hartmann  ein  wirkliches 
Verdienst  erworben.  Von  allgemeinem  Interesse  sind  die  Gründe, 
die  er  für  sie  in's  Feld  führte. 

Redner  legte  dar,  dass  die  Thesen  des  Dr.  Franz  allein  noch 
nicht  ausreichten,  uns  aus  der  kaleidoskopischen  Buntheit  des  jetzt 
herrschenden  Lektürebetriebes  zu  retten,  und  dass  dabei  vor  allem 
nicht  Rücksicht  genommen  werde  auf  das  äusserst  knappe  Mass  von 
Zeit,  das  dem  Französischen  am  Gj'mnasium  zur  Verfügung  stünde. 
Gerade  der  Umstand,  dass  wir  nur  mit  2  wöchentlichen  Stunden 
rechnen  könnten,  in  die  sich  die  Lektüre  noch  mit  der  grammatischen 
Unterweisung  zu  teilen  habe,  sei  eine  dringende  Nötigung,  uns  in  der 
Lektüre  auf  ein  eng  begrenztes  Gebiet  zu  beschränken,  sie  möglichst 
um  ein  Centrum  sich  bewegen  zu  lassen,  wenn  anders  der  Unter- 
richt nicht  nur  sprachlich  formal  bildend  wirken  solle,  sondern 
auch  geistig  bildend  in  höherem  Sinne.  Dies  Centrum  könne  ver- 
nünftigerweise nur  Frankreich  sein.  Nur  wenn  die  Lektüre  sich 
möglichst  an  Frankreich  anlehne,  werde  es  möglich  sein,  auch  für 
geistige  Zusammenhänge  zu  sorgen,  den  Schülern  ein  verhältniss- 
mässig  abgerundetes,  einheitliches  Ganzes  zu  bieten,  dessen  einzelne 
Teile  zu  einander  in  Beziehung  stünden,  sich  gegenseitig  trügen 
und  in  ihrer  Wirkung  verstärkten.  Lasse  man  dagegen  die  Lektüre 
so  in  die  Weite  schweifen,  wie  es  der  vorgeschlagene  Kanon  noch 
zulasse,  durch  Schweden,  Russland,  Polen,  Sibirien,  Kaukasien, 
Italien,  England,  Amerika,  so  könne  man  wohl  im  einzelnen  ganz 
hübsch  anregen,  aber  verzichten  müsse  man  dann  darauf,  den 
Schülern  einen  wahrhaft  einheitlichen  Bildungsstolf  zu  übermitteln. 
Das  aber  sei  auch  im  französischen  Unterricht  notweiulig.  Darum 
müsse  man  unbedingt  zu  einer  Concentration  wenigstens  der  histori- 
schen und  erzählenden  Prosa  auf  Franki'eich  kommen. 

Das   sei   zugleich   auch   ein   eminent   praktisches   Ziel.     Denn 


*)  Dr.  Hartman!!  hatte  allerdings  vorgeschlagen:  Innerhalb  der 
historischen  und  erzählenden  Prosa  sind  ausschliesslich  solche  Werke 
zu  berücksichtigen,  etc.,  aber  die  Mehrheit  der  Versammlung  setzte  für 
ausschliesslich  hauptsächlich  ein. 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV.  20 


306  M.  F.  Mann, 

Deutschland  habe  ein  grosses  Interesse  daran,  seinen  Nachbar,  mit 
dem  es  seit  .Talirhunderten  die  mannichfachsten  Beziehnneen  unter- 
halte, ordentlich  zu  kennen.  Sowohl  positiv  wie  negativ  sei  aus 
diesem  Studium  unendlich  viel  zu  lei-nen. 

Redner  bemerkte  endlich,  dass  die  Lehrer  der  französischen 
Sprache  mit  der  Annahme  dieses  Princips  zugleich  auch  eine  höhere 
Missi(jn  erfüllen  könnten.  Er  erinnerte  an  die  Worte,  mit  denen 
der  verstorbene  sächsische  Unterriclitsrainister  v.  Gerber  im  Sept.  1888 
die  deutscheu  Neuphilologen  in  Dresden  begrüsste.  In  dieser  Be- 
grüssung  wies  v.  Gerber  darauf  hin,  dass  die  Neuphilologen  besonders 
berufen  seien,  die  in  neuerer  Zeit  scharf  zugespitzten  nationalen 
Gegensätze  zu  mildern  und  dadurch  an  der  geistigen  Annäherung 
der  grossen  Kulturvölker  zu  arbeiten.  Das  seien  goldene  Worte,  von 
denen  sich  alle  Neuphilologen  durchdringen  lassen  sollten.  Dann  aber 
besonders  wieder  würden  sie  in  diesem  Sinne  arbeiten,  wenn  sie 
bemüht  wären,  den  Schülern  vor  allem  die  Eigenart  des  Volkes  zu 
erschliessen,  dessen  Sprache  sie  lehren,  wenn  sie  daher  zurückkämen 
von  der  bisher  herrschenden  Zersplitterung  der  Lektüre,  und  sich  auf 
eine  ihrer  natürlichsten  und  nächstliegenden  Aufgaben  besännen.  — 

Nach  dieser  Begründung  wurden  die  schon  angeführten  Thesen 
einstimmig  angenommen  und  der  vorgeschlagene  Kanon  wurde  unter 
lebhaftem  Meinungsaustausch  durcli  Mehrheitsbeschluss  wie  folgt 
vereinfacht: 

Untersekunda. 

Historiker:  Michaud,  Premiere  Croisade, 

Thiers,  Bonaparte  en  Egypte. 
Erzählende  Werke :  Souvestre,   Au   Coin  du   feu;  Sons   la  Tonnelle. 
Erckmann-Chatrian,  Histoire  d"un  Consent  de  1813 ; 
Contes  des  bords  du  Rhin;  Waterloo. 

Obersekunda. 

Historiker:  Segur,  Histoire  de  Napoleon  et  de  la  Grande  Armee  en  1812. 

Novellistisches:  Daudet  1    ,  ..,,^     „    ■■^^ 

,,       .    >  Ausgewählte  Erzählungen. 
C  oppee  j 

j  Feuillet,  Le  Village, 

,    •    \   T^  s  Scribe,  Les  Doigts  de  fee, 
auch  in  1  B    I  ^r  !••        t  ■  \ 

[Monere,  L  Avare. 

Hierzu  von  Untersekunda  an:  Auswahl  französischer  Gedichte. 

Prima. 

Historiker:  Mignet.  Histoire  de  la  Revolution  fran^aise, 

Mme  de  Stael,  De  TAllemagne, 

Taine,  Origines  de  la  France  contemporaine, 

Lanfrey,  Campagne  de  1806, 

Sarcey,  Le  Siege  de  Paris. 


Lafontaine  als  Schulschriftsteller.  307 

Dramen:  Moliere,   les  Femmes  savantes,  les  Precieuses  ridicules,  le 
Misanthrope,  le  Tartuffe, 
Corneille,  le  Cid,  Horace, 
Racine,  Athalie,  Britanniens,  Ipliigenie, 
V.  Hugo,  Hernani. 

Augier-Sandeau,  Le  Gendre  de  M.  Poii'ier. 
Eomane  und  Novellen:  Feuillet,  le  Roman  d'un  jeune  homme  pauvre 
(als  Drama  auch  für  IIa), 
Daudet,  Lettres  de  mon  moulin, 
Souvestre,    Confessions;    un  Philosophe  sous 
les  toits. 
Sonstiges:  Mirabeau,  Discours. 

Mme  de  Sevigne,  Auswahl  von  Briefen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  Streichungen  nicht  ohne 
Widerspruch  erfolgten,  Voltaire's  Siecle  de  Louis  XIV  z.  B.  wurde 
nur  mit  einer  Stimme  Mehrheit  abgesetzt.  Der  Unterzeichnete 
möchte  in  der  historischen  Lektüre  noch  manches  geändert  wissen. 
So  kann  er  sich  für  Michaud's  Premiere  Croisade  gar  nicht  begeistern. 
Das  entsprechende  Kapitel  in  Michelet's  Histoire  de  France  (deren 
einzelne  Bände  allerdings  nicht  gleich  gelungen  sind)  ist  dem 
Michaud's  in  jeder  Beziehung  überlegen,  vor  allen  Dingen  auch  in 
der  geradezu  hinreissenden  Wärme  der  Darstellung.  Dies  beiläufig. 
In  der  angegebenen  Form  ist  der  zweite  Kanon  freilich  ein  Torso. 
Denn  zum  Aufbauen,  zur  Einfügung  von  Werken,  die  ausser  den 
stehengebliebenen  hervorragend  geeignet  erscheinen,  innerhalb  der 
gezogenen  Grenzen  uns  Land  und  Leute  jenseits  der  Vogesen  vor- 
zufüliren,  gebrach  es  an  Zeit.  Die  nächste  Versammlung  soll  das 
Fehlende  ersetzen. 

Leipzig.  M.  F.  Mann. 


20* 


Die  neue  Moliere-Uebersetzung  von  Ludwig  Fulda. 


„Moliere  und  kein  Ende!"  rief  vor  nunmehr  sieben  .Taliren 
eine  Flugschrift  in  das  Land  herein,  mit  der  eindringlichen  Auf- 
forderung an  die  deutschen  Molieristen,  Moliere  den  Franzosen  zu 
überlassen,  und  iliren  Forschertleiss  dafür  der  deutschen  Litteratm* 
zuzuwenden.  Man  kann  nicht  grade  sagen,  dass  jener  Ruf  Erfolg 
gehabt  hat.  Denn  das  Molierestudium  in  Deutschland  ist  unbeirrt 
durch  jene  Flugschrift  weitergeschritten  und  hat  seitdem  manche 
wertvolle  Frucht  gezeitigt.  Ja,  das  Interesse  für  den  Dichter  scheint 
neuerdings  über  die  eigentlich  gelehrten  Kreise  herauszudringen. 
Auf  den  deutschen  Bühnen  wenigstens  ist  Moliere  in  neuester  Zeit 
häufiger  erschienen  als  ehedem  und  mit  verständnisvoller  Würdigung 
aufgenommen  worden.  Dazu  veröffentlicht  nun  Ludwig  Fulda, 
nicht  einer  der  vom  Verfasser  der  erwähnten  Flugschrift  geschmähten 
Oberlehrer,  sondern  ein  Schriftsteller  von  Beruf,  Dichter  sogar,  eine 
Übertragung  der  Meisterwerke  Molieres,  die  ausgesprochenermassen 
gerade  den  Bedürfnissen  der  deutschen  Bühnen  entgegenkommt  und 
den  Anspruch  erliebt,  als  ein  sprachliches  Kunstwerk  genommen  zu 
werden.  Zur  Besprechung  eines  solchen  Werkes  reichen  ein  paar 
kurze  Bemerkungen  nicht  aus.  Ein  Übei'setzer,  der  an  seine  Auf- 
gabe als  Künstler  herangetreten  ist,  hat  wohl  das  Recht,  eine  ein- 
gehende Beurteilung  von  der  Kritik  zu  erwarten,  nach  seinem 
Verhältnisse  sowohl  zum  Originale,  als  dem  hauptsächlichsten  seiner 
Vorgänger.     Das  soll  der  Gegenstand  der  folgenden  Darlegung  sein. 

Mit  Recht  ist  Deutschland  stolz  auf  seine  Übersetzungslitteratur, 
namentlich  auf  seine  dichterischen  Übertragungen  fremder  Dichter- 
werke. Die  poetische  Wiedergabe  eines  in  Versform  geschriebenen 
Originals  ist  ja  die  höchste  Stufe  der  Üebersetzungskunst,  und  nur 
wenigen  ist  es  beschieden,  die  zu  dieser  hohen  Autgabe  erforderliche 
intime  Kenntnis  der  fremden  Sprache  mit  der  sicheren  Beherrschung 
der  eigenen  Sprache  zu  vei-binden.  Die  Meister  der  Übersetzungs- 
kunst   sind   Philologen    und   Künstler   in   einer   Pei-son.     Zu    ihnen 


K.A.M.  Hartmann,  Die  neue Moliere- Uebersetzung  v.  L.  Fulda.  309 

gehören  die  glänzenden  Namen  eines  F.  L.  v.  Stollberg,  Voss, 
Schleiermacher,  Donner,  Droysen,  eines  8inirock,  Jordan,  Schröter, 
eines  Gildemeister,  Herz,  Böttiger,  Dolim  und  anderer  Männer,  in 
deren  Werken  sich  die  Genien  zweier  Völker  die  Hände  zu  reichen 
scheinen.  Freilich  ragen  diese  Männer  ersten  Eanges  aus  einer 
weit  grösseren  Reihe  von  Namen  solcher  Übersetzer  hervor,  die  mit 
unzureichenden  Mitteln  an  ihre  Arbeit  herangegangen  sind,  die  man 
nicht  in  die  Reihe  der  Künstler  setzen  darf,  sondern  die  man 
richtiger  als  Handwerker,  als  Fabrikanten  bezeichnet.  Gerade  die 
französische  Litteratur  ist  nur  allzu  häufig  von  Übersetzern  dieser 
Art  heimgesucht  worden.  Und  das  ist  begreiflich.  Denn  keine 
andere  Sprache  wird  in  Deutschland  soviel  gelernt  als  gerade  die 
französische,  und  wolil  die  allermeisten  derer,  die  sie  gelernt  haben, 
glauben  sie  auch  zu  verstehen.  Man  braucht  aber  nur  einige  von 
den  Übersetzungen,  die  alljährlich  auf  den  Markt  geworfen  werden, 
näher  zu  prüfen,  um  zu  erkennen,  dass  auch  hier  nur  wenige  Aus- 
erwählte unter  den  vielen  Berufenen  sind.  Von  der  Unwissenheit 
und  dem  Ungeschick,  von  der  Flüchtigkeit  und  Gewissenlosigkeit, 
die  sich  auf  diesem  Gebiete  dem  Publikum  aufdrängt,  macht  sich  nur 
der  eine  richtige  Vorstellung,  der  Gelegenheit  gehabt  hat,  nähere 
Kenntnis  von  diesen  Fabrikaten  zu  nehmen.  Hier  liegt,  neben  den 
Zeitungen,  eine  der  Hauptquellen,  aus  denen  der  Verderbnis  unserer 
Schriftsprache  immer  neue  Nahrung  zugeführt  wird.  Um  so  mehr 
aber  ist  es  Pflicht  der  Kritik,  auf  wirklich  hervorragende  Leistungen 
der  Übersetzungskunst  nachdrücklich  hinzuweisen.  Eine  solche 
Leistung  ist  unstreitig  die  Arbeit  Fulda's:  Molieres  Meister icerhe 
in  deutscher  Übertragung.  Stuttgart  1892,  Verlag  der  Cotta'schen 
Buchhandlung.  Sie  giebt  den  Tartüff,  den  Misanthrop  und  die 
Gelehrten  Frauen  in  gebundener  Rede,  den  Geizigen  in  Prosa. 

Es  ist  eine  eigentümliche  Thatsache,  dass  sich  berufene  Über- 
setzer erst  verhältnismässig  spät  an  Moliere  gewagt  haben.  An 
Versuchen  allerdings  hat  es  schon  in  älterer  Zeit  nicht  gefehlt,  und 
zwar  gehen  diese  Versuche  noch  weiter  zurück,  als  Lacroix  in  seiner 
Bibliographie  Molieresque  (1875)  angiebt,  die  nur  bis  zum  Jahre  1694 
kommt.  Man  weiss  jetzt,  dass  der  erste  Versuch,  einige  Molieresche 
Lustspiele  zu  verdeutschen,  noch  bei  Lebzeiten  des  Dichters  unter- 
nommen ward,  im  Jahre  1670.  Freilich  ist  diese  überaus  unvoll- 
kommene Leistung  schon  damals  wenig  beachtet  worden,  und  war 
so  gut  wie  verschollen,  als  1694  in  Nürnberg  eine  neue  Moliere- 
Übersetzung  erschien,  unter  dem  von  Lacroix  nicht  mit  verzeichneten 
Titel : 

„Derer  Comödien  des  Herrn  von  Moliere,  Königlichen  Frautzö- 
sischen  Comödiantens  ohne  Hoffnung  seines  Gleichen  erster  Theil. 
So    hohen    wie    niederen    Standespersonen    zu    erbaulicher   Gemüts- 


310  K.  A.  Martin  Hartmann, 

belustigung,  der  Jugend  aber  welche  der  Frantzösischen  Sprach  be- 
gierig sein  mag,  zu  desto  geschwinder  und  leicliter  Begreiffung 
derselben  in  das  Teutsche  übersetzet  durch  J.  E.  P.  Mit  schönen 
Kupfern  gezieret  und  das  erste  Mal  also  gedruckt.  Nürnberg.  Zu 
finden  bey  Johann  Daniel  Taubern  Buchhändlern  1694.'" 

Auch  wenn  man  keine  unmittelbare  Kenntnis  dieser  ersten 
Übersetzungsversuche  hat,  darf  man  doch  von  vornherein  annehmen, 
dass  die  deutsche  Sprache  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
noch  entfernt  nicht  ausgebildet  genug  war,  um  dem  feinen  Tone 
der  Moliereschen  Lustspiele  gerecht  zu  werden.  Schon  der  Titel 
der  citierten  Übersetzung  lässt  vermuten,  dass  diese  sich  zum 
Original  ungefähr  ähnlich  verhält,  wie  ein  grob  ausgeführter  Holz- 
schnitt zu  einem  feinen  Stahlstich.  Und  was  ihre  Treue  betritft,  so 
urteilt  ein  zeitgenössischer  Kritiker  darüber  ziemlich  alisprechend : 
„Die  Comödien  des  Herrn  von  Moliere  sind  vor  Kurzem  das  erste 
Mal  in  teutscher  Sprach  an  das  Licht  gekommen,  aber  in  einer  so 
ungerathenen  Art  und  liundertfältig  verkehrtem  Wortverstand  des 
frantzösischen  Exemplars,  dass  es  kein  Wunder,  wenn  alle  verkehrte 
und  tibelständige  Wörter  von  der  schwartzen  Presse  auf  dem  Papier 
vor  Scham  gantz  roth  erschienen  wären.'' 

Man  darf  wohl  sagen,  dass  eine  wirklich  gute  Moliere-Über- 
setzung  vor  unserer  klassischen  Litteraturperiode  gar  nicht  möglich 
war.  Ehe  diese  Arbeit  in  Angriff  genommen  werden  konnte,  raussten 
erst  die  Heroen  unserer  Litteratur  kommen  und  der  deutschen 
Sprache  die  Gesclnneidigkeit  und  die  ^Vürde  geben,  die  sie  ebenbürtig 
an  die  Seite  anderer  Literatursprachen  gestellt  hat.  Freilich  war 
andererseits  gerade  die  Entwickelung  unserer  klassischen  Litteratur  wie 
auch  der  Verlauf  unserer  nationalen  Geschichte  dem  Erscheinen 
einer  guten  Moliere-Übertragung  nichts  weniger  als  günstig.  Denn 
diese  Entwickelung  geschali  bekanntlich  im  Gegensatz  zu  Frauki-eich, 
und  es  war  sehr  begreiflich,  wenn  die  Eraancipation  von  der  lange 
getrageneu  Führung  Frankreichs  sich  mit  einer  gewissen  Einseitig- 
keit vollzog,  die  ein  gerechtes  Urteil  nicht  immer  aufkonnnen  Hess. 
Die  grössten  Schöpfungen  der  klassischen  Litteratur  Frankreichs 
haben  unter  diesem  Verhältnis  zu  leiden  gehabt,  und  so  auch  die 
Werke  Molieres.  Lessing  hat  sicli  ja  in  seinen  jugendlichen  Ver- 
suchen an  Moliere  angelehnt,  und  nirgends  hat  er  Angriffe  gegen 
Moliere  gerichtet,  wie  gegen  Corneille  oder  Voltaire.  Aber  eine 
wirklich  begeisterte  Anerkennung  Molieres  sucht  man  bei  Lessing 
vergebens,  und  wie  Gottsched,  will  aucli  er  der  Komik  des  Destouches 
einen  höheren  und  feineren  Charakter  zumessen  als  der  Molieres. 
Was  Schiller  und  Croethe  anlangt,  so  hat  keiner  von  ihnen  es  unter- 
nommen, Moliere  für  unsere  Bühne  zu  erobern,  obwohl  sie  beide 
andere  französische  Dramen  übersetzt  haben.    Namentlich  von  Goethe 


Die  neue  IloUere-Uehersetzung  von  Ludwig  Fulda.  311 

ist  das  um  so  auffälliger,  als  er  Zeit  seines  Lebens  zu  den  auf- 
richtigsten Bewunderern  Molieres  gehört  hat.  Dass  die  nationale 
Bewegung  der  Freiheitski'iege  der  Einbürgerung  Molieres  in  Deutsch- 
land nicht  förderlich  sein  konnte,  leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein. 
Die  Generation,  die  bei  Jahn  und  Arndt  in  die  vSchule  gegangen 
war,  konnte  dem  Dichter  und  Schützling  Ludwigs  XIY.  unmöglich 
die  richtige  Würdigung  entgegenbringen. 

So  sind  thatsächlich  ein  Paar  Menschenalter  seit  unserem 
klassischen  Litteraturzeitalter  vergangen,  ehe  Deutschland  eineMoliere- 
Übersetzung  erhalten  hat,  die  einen  wirklich  litterarischeu  Wert 
beanspruchen  darf.  Das  ist  die  1865 — 1867  vom  Grafen  Baudissin 
herausgegebene.  Diese  Übersetzung  ist  ohne  Frage  eine  sehr  be- 
deutende Leistung.  Der  Verfasser  trat  mit  einer  gediegenen 
Kenntnis  der  französischen  Sprache  und  Litteratur  ausgerüstet  an 
seine  Aufgabe  und  hat  ein  Werk  geschaffen,  das  auf  jeder  Seite 
das  gewissenhafteste  Bemühen  verrät,  dem  Dichter  gerecht  zu 
werden,  ein  Bemühen,  das  in  vieler  Hinsicht  von  Erfolg  gekrönt 
gewesen  ist.  Seine  Vorgänger  hat  Graf  Baudissin  weit  überholt, 
selbst  Adolf  Laun,  der  ihm  verhältnismässig  noch  am  nächsten  steht. 
Lange  Zeit  hat  die  Baudissin" sehe  Übersetzung  als  die  beste  aller 
Moliere-Übersetzungen  gegolten,  und  der  Molierekenner  Humbert 
bezeichnet  sie  sogar  als  „herrlich".  Das  ist  wohl  etwas  über- 
schwänglich.  Auf  alle  Fälle  aber  darf  man  ihr  den  Euhm  einer  in 
besonderem  Grade  treuen  Übersetzung  nicht  absprechen.  Alles  was 
das  Original  enthält,  giebt  sie  klar  wieder,  in  gewissenhafter  Ver- 
deutschung des  Sinnes.  Und  das  war  immerhin  keine  leichte  Arbeit, 
wenn  man  bedenkt,  dass  Baudissin  die  Verskomödien  Molieres  in 
gebundener  Rede  Aviedergiebt.  Baudissin  hat  dazu,  nicht  wie  Laun, 
paarweise  gereimte  Alexandriner  gewählt,  sondern  reimlose  fünf- 
füssige  Jamben. 

Bei  aller  Anerkennung  jedoch  der  Verdienste  Baudissins, 
drängt  sich  dem  aufmerksam  prüfenden  Leser  die  Wahrnehmung  auf, 
dass  seine  Übertragung  in  Hinsicht  der  Form  weit  hinter  dem 
Original  zurückbleibt ,  dass  sie  in  Bezug  auf  die  sprachliche 
Wirkung  nur  ein  blasses  Abbild  des  französischen  Textes  ist.  Die 
Ursache  davon  dürfte  einmal  darin  liegen,  dass  Baudissin  dem 
Originale  gegenüber  nicht  frei  genug  dasteht.  In  dem  an  sich 
berechtigten  Streben  nach  Treue  hält  er  sich  mit  allzugrosser 
Aengstlichkeit  an  die  sprachliche  Form  des  französischen  Textes, 
und  bemüht  sich  diese  Form  so  genau  wiederzugeben,  dass  er  dabei 
den  Geist  unserer  Sprache  häutig  opfert.  Wie  oft  geht  der  bild- 
liche Ausdruck  beider  Sprachen  so  auseinander,  dass  die  umnittelbare, 
wörtliche  Übertragung  des  Bildes  der  einen  Sprache  in  die  andere 
nur  durch  einen  gewissen  gewaltsamen  Prozess  möglich  ist,  der  der 


312  K.  A.  Martin  Hartmann, 

Übersetzung  den  Reiz  des  Natürlichen  und  Ungezwungenen  nimmt. 
Von  diesem  Felder  hat  sich  auch  Baudissin  nicht  freigehalten,  und 
das  giebt  seinem  Stile  an  manchen  Stellen  einen  etwas  undeutschen 
Charakter.  Geht  man  bei  solchen  Stellen  Baudissins  auf  den  Urtext 
zurück,  so  findet  man  da  fast  stets  die  Erklärung,  dass  der  Ül:)er- 
setzer  allzu  peinlich  bemüht  gewesen  ist,  sich  der  französischen 
Sprachform  anzuschmiegen.  In  der  guten  Absicht  ferner,  nichts 
von  den  Worten  des  Dichters  verloren  gehen  zu  lassen,  lässt  Bau- 
dissin die  Übersetzung-  eines  einzelnen  Verses  auf  Kosten  der 
schlagenden  Wirkung  oft  allzu  sehr  in  die  Breite  laufen,  und  so 
hat  z.  B.  seine  Übertragung  des  Tartüff  etwa  hundert  Verszeilen  mehr 
als  das  Original.    Auch  das  kann  nicht  grade  als  ein  A'orzug  gelten. 

Zu  diesen  Nachteilen  gesellt  sich  noch  ein  anderer.  Indem 
Baudissin  als  Form  seiner  Übersetzung  den  Blankvers  wählte,  ver- 
zichtete er  für  die  Verskomödieu  auf  ein  Mittel,  das  bei  Moliere 
nichts  weniger  als  gleichgültig  ist,  auf  den  Reim,  das  Mittel,  das  den 
Accent,  das  Grundprincip  der  modernen  Metrik,  zu  vollster  Geltung 
bringt,  und  dadurch  der  Ausprägung  des  Gedankens  erhöhte  Wirk- 
samkeit verleiht.  Freilich,  das  kann  man  sich  nicht  verhelilen,  die 
Schwierigkeit  der  Übersetzungsaufgabe  steigert  sich  durch  die  Be- 
obachtung des  Reimes  ausserordentlich.  Sobald  sich  der  Übersetzer 
den  Zwang  des  Reimes  auferlegt,  engt  er  den  Kreis  der  sprachlichen 
Möglichkeiten  um  ein  Beträchtliches  ein,  und  wenn  er  mit  dieser 
Fessel  noch  anmutig  und  natürlich  einherzuschreiten  weiss,  so  darf 
man  wol  sagen,  dass  er  seiner  Aufgabe  in  ganz  besonderem  Grade 
gerecht  geworden  ist. 

Dies  hohe  Lob  gebührt  nun  der  Mcdiere-Übersetzung  von 
Ludwig  Fulda.  Bei  seiner  Arbeit  ging  er  zunächst  von  der  Er- 
wägung aus,  dass  die  Verskomitdien  nur  in  gebundener  Rede  übei- 
tragen  werden  können,  wenn  anders  ihr  Grundcharakter  nicht  ver- 
wischt werden  soll.  Den  Alexandriner  allerdings,  der  in  unserer 
Sprache  nur  zu  leicht  etwas  Steifes,  Hölzernes  hat,  wollte  er  nicht 
wählen,  und  Laun's  Vorgang  konnte  ihn  in  keiner  Weise  dazu  er- 
mutigen. Aber  ebenso  wenig  ersrliien  ihm  der  reimlose  fünffiissige 
Jambus  geeignet,  weil  er.  mit  Recht,  den  Reim  nicht  blos  als  eine 
bedeutungslose  akustische  Zierat  betrachtet,  sondern  als  eine  schlag- 
kräftige Erhöliung  des  Nachdrucks  einer  gelungenen  Gedanken- 
verbindung, als  eine  bedeutsame  Verstärkung  des  Witzes.  Freilich 
hat  die  konseciuente  paarweise  Verwendung  des  Reimes  im  Deutschen, 
namentlich  beim  Drama,  etwas  sehr  Eintöniges.  Fulda  suchte  diese 
Klippe  zu  vermeiden,  indem  er  zu  seiner  Verdeutschung  das  Vers- 
mass  des  Faust  verwandte,  dessen  5-,  4-  oder  6-füssige  Jamben 
bekanntlich  durch  freie,  mannigfache  Reiraverschlingungen  ver- 
bunden sind. 


Die  neue  MoUere-Uebersetzung  von  Ludwig  Fulda.  313 

Man  kann  sagen,  dass  Moliere  in  dieser  Form  der  Verdeutschung 
einen  vorzüglichen  Eindruck  macht,  und  zwar  darf  dieses  Urteil 
sowohl  vom  philologischen  Standpunkte,  als  namentlich  auch  vom 
sprachkünstlerischen  aus  gelten.  In  Bezug  auf  Treue  in  der  Wieder- 
gabe des  Sinnes  kann  man  Fulda  unbedenklich  an  Baudissins  Seite 
Stelleu,  nur  muss  man  die  Treue  vor  allem  auf  den  Geist  des  Textes 
beziehen,  und  nicht  auf  die  Form.  Fulda  versteht  es,  mit  sicherem 
Griff  so  zu  sagen  den  Gedankenkern  einer  Stelle  herauszuschälen, 
und  diesen  Kern  in  freier  Gestaltung  mit  der  angemessenen  deutschen 
Form  zu  umkleiden,  der  man  es  anmerkt,  dass  der  Verfasser  geübt 
ist  in  der  Handhabung  des  dichterischen  Wortes.  Bei  Baudissin 
steht  der  Künstler  durchaus  nicht  immer  auf  der  Höhe  des  Phi- 
lologen, Fulda  dagegen  ist  ein  mit  feinem  Sprachgefühl  ausgestatteter 
Künstler.  An  stilistischer  Lesbarkeit  und  an  Sprechbarkeit  steht 
seine  Uliersetzung  weit  über  der  des  Grafen  Baudissin.  Fulda's 
Sprache  ist  überaus  flüssig,  und  verfügt  ebenso  glücklich  über  den 
feinen  Salonton  wie  über  den  derben  volkstümlichen  Ton.  Sie  hat 
einen  echt  deutschen  Charakter,  sie  hat  etwas  markiges,  wie  es  der 
gediegenen  Natur  Molieres  entspricht,  aber  doch  auch  zugleich  etwas 
überaus  fein  gebildetes.  Selbst  die  Wortspiele  des  Originals  werden 
in  glücklicher  Weise  verdeutscht.  Eigentüuiliche  französische 
Wendungen  bildet  Fulda  nicht  mühsam  nach,  sondern  ersetzt  sie 
durch  echt  deutsche  Wendungen,  die,  wenn  auch  von  einer  anderen 
Seite  aus,  dem  Sinne  ebenso  schlagend  und  treffend  gerecht  werden. 
Sein  Stil  ist  darum  in  weit  höherem  Grade  idiomatisch  als  der  seines 
Vorgängers.  Selbst  ein  Dichter,  der  mit  mehreren  Schauspielen  an 
die  Öffentlichkeit  getreten  ist,  weiss  Fulda  sehr  wohl,  das  der  Stil 
ein  Pass  ist,  ohne  den  kein  Litteraturwerk  sich  allgemeine  Geltung 
verschaffen  kann,  und  grade  in  dieser  Hinsicht  hat  er  hohe  An- 
forderungen au  sich  gestellt.  An  gar  manchen  Stellen  rauscht  der 
Strom  seiner  Sprache  gradezu  in  stolzer  Schönheit  einher,  so  dass 
auch  die  Kenner  des  Originals  sich  unwillkürlich  gepackt  und  fort- 
gerissen fühlen.  Das  ist  ein  hohes  Lob,  aber  es  ist  durchaus  ver- 
dient, und  wer  sich  die  Mühe  nimmt,  die  beiden  Übersetzungen 
unter  sich  und  jede  von  ihnen  mit  dem  Original  zu  vergleichen,  der 
wird  es  unterschreiben. 

Aus  einer  reichen  Fülle  von  Beispielen  sei  hier  nur  einiges 
angeführt,  um  die  Vorzüge  der  Fulda'schen  Übersetzung  nach  der 
sprachlichen  Seite  in  das  rechte  Licht  zu  setzen. 

Zu  Anfang  des  Tartüff  lässt  Baudissin  die  Schwiegermutter 
folgendermassen  sprechen,  nachdem  Elmire  gefragt  liat:  Warum  so 
eilig  fort? 

„Weil  ihr  samt  und  sonders 
Mich  ärgert,  und  sich  keiner  mehr  bemüht. 


314  A'.  A.  Martin  Hart  mann, 

Mir  zu  liefalleu.     Ja,  ich  bin  verdriesslich. 
Was  ich  auch  pred'ge,  Niemand  hört  auf  mich. 
Jeder  thut  was  er  will  und  führt  das  Wort: 
Niemand  gehorcht,  Ihr  alle  wollt  befehlen, 
S'ist  ivie  am  Hof  Petaud's,  des  Bettlerhönvjs.'^ 

Auf  den  letzteren  Vei-s  kam  es  hier  besonders  an.  Ohne 
Zweifel  mutet  er  deutsche  Leser  fremdartig  an.  Gelehrte  Leser 
wissen  ja,  dass  die  Bettler  in  Paris  früher  eine  Art  Gilde  bildeten, 
die  einen  König  Namens  Petaud  wählte,  dem  nur  ein  ganz  schatten- 
Ijaftes  Dasein  zukam.  Aber  beim  Durchschnittspublikum  unserer 
Theater  kann  man  ein  solches  Wissen  natürlich  nicht  voraussetzen, 
und  darum  hatte  Fulda  Recht,  wenn  er  auf  die  wörtliche  Wieder- 
gabe der  Stelle  verzichtete.  Sie  lautet  bei  ihm  im  Zusammenhange: 
Ich  kann  die  Wirtschaft  hier  nicht  länger  seh'n. 
•     Was  ich  auch  rede,  ihr  seid  taub  und  blind, 

Und  thut  das  Gegenteil,  mir  gi-ad  zum  Torte. 

Ein  andrer  halte  so  was  ausi 

Kein  Funke  von  Respekt,  und  Worte  hört  man,  Worte, 

Als  wäre  mau  im  Narrenhaus. 

Wie  Baudissin  hier  bemüht  war,  dem  Wortlaute  Molieres  allzu 
ängstlich  gerecht  zu  werden,  so  aucli  wenn  er  llis.  2,1  den  Alceste 
zu  Celimene  sagen  lässt: 

Ward  Euer  Herz  besiegt  durch  seiner  neuen 

Rheingrafen  ungeheures  Ellenmaass? 
Ein  aufmerksamer  deutscher  Leser  wird  hier  wohl  merken,  dass  das 
Wort  Rheingraf  irgend  einen  Teil  des  Kostüms  bezeichnet,  aber 
ohne  eine  gelehrte  Anmerkung  kann  er  doch  nicht  wissen,  dass 
darunter  eine  Art  besonders  weiter,  bauscliiger  Pluderhosen  zu  ver- 
stehen ist,  die  nach  ihrem  Ertinder,  einem  Rheingrafen,  im  Franzö- 
sischen rhingrave  genannt  werden.  Mit  Recht  hat  daher  Fulda 
diesen  Terminus  der  gelehrten  Kostümkunde  über  Bord  geworfen, 
und  gemeinverständlich  übersetzt: 

Erwarb  die  Schönheit  seiner  Pluderhosen 

Dem  treuen  Sklaven  Ihrer  Liebe  Lohn? 

Ferner:  Die  Kenner  der  Bühnengeschichte  wissen,  dass  bis  tief 
in  das  vorige  Jahrhundert  herein  der  Pariser  „Giggerle"  bei  Theater- 
vorstellungen vorn  auf  der  Bühne  selbst  zu  sitzen  liebte,  und  dem- 
gemäss  rühmt  sich  in  Mis.  3,1  der  eine  Marquis,  nach  Baudissin: 

Geist  hab  ich,  ohne  Zweifel,  und  Geschmack, 
Kann,  wenn  ein  neues  Stück  gegeben  wird, 
(Und  dafür  schwärm'  ich  stark)  mit  Kennermienen 
Vorn  auf  der  Bühne  sitzen. 


Bie  neue  MoUere-Uehersetziuuj  con  Lmhvhj  Fulda.  315 

Hier  ist  nun  freilieli  Baudissin  über  den  Muliere'schen  Text 
etwas  hinausgegangen,  denn  da  heisst  es  nur: 

J'ai  du  hon  gout 
A  faire  aux  nouveautes,  dont  je  suis  idolätre, 
Figure  de  savant  sur  Ics  hancs  du  thcäfre. 
Entschieden  mehr  entsprechend  sagt  Fulda  dafür: 
Und  in  Premieren  —  meine  Schwärmerei!  — 
Sitz'  icli  als  Kenner  auf  den,  ersten  Bänken. 
Der  idiomatische  Charakter  der  neuen  Übersetzung  möge  durch 
Gegenüberstellung    folgender    konki-eten    Beispiele    veranschaulicht 
werden : 
Mis.  1,  1  B.:  Und  keinen  Eurer  Eichter  wollt  Ihr  seh'n. 

F.:  Den  Richtern  würd'  ich  doch  Besuch  machen. 
(Aucun  Juge  par  vous  ne  sera  visite?) 
Mis.  1,  2  B.:  So  glaubt  Ihr  denn,  kein  and'rer  habe  Geist? 
F.:  So  haben  Sie  vielleicht  den  Geist  gepachtet? 
(Croyez  vous  donc  avoir  tant  d'esprit  en  partagef) 
Mis.  2,  4  B.:  Er  macht 

Aus  jedem  Strohhalm  Euch  ein  Phänomen. 
F.:  Er  macht  aus  allen  Mücken  Elephanten. 
(Be  Ja  moindre  vetille  il  fait  une  merveiUe) 
Mis.   3,    1    und   an  anderer   Stelle   lässt  B.  die  stutzerhaften 
Marquis  Parbleu   sagen,    während   F.  dafür  treffend  und   spracli- 
rein  sagt:  Auf  Ehre! 

Mis.  3,  1  B.:  So  glaubst  Du  hier  recht   gut  zu  steh'n,  Marquis? 
F.:  So  glaubst  Du  hier  der  Hahn  im  Korb  zu  sein? 
(Tu  penses  donc,  Marquis,  etre  fort  Men  ici?) 
Mis.  3,  5  B.:  Nur  eines  Wink's  bedarfs,  dass  Ihr  dran  denkt, 
So  könnt'  ich  mehr  als  einen  Faden  schürzen. 
F. :  Man  wird,  sobald  Sie  nur  ein  Zeichen  geben, 
Gleich  alle  Hebel  in  Bewegung  setzen. 
(Pour  peu  que  d'y  songer  vous  nous  fassiez  les  mines, 
On  peut  pour  vous  servir  remuer  des  machines). 
Mis.  4,  2  B.:  Allzu  gewiss  ist  leider  ilir  Verrat, 

Von  ihrer  Hand  geschrieben  hab'  ich  hier 
Ihn  in  der  Tasche. 
F.:  Ihr  falsches  Spiel  steht  leider  felsenfest; 

Ich  hab'  es  schwarz  auf  weiss  von  ihr  geschrieben. 
(C'est  de  sa  trahison  n^etre  que  trop  certain, 
Que  l'avoir  dans  ma  poche,  ecrite  de  sa  main.) 
Mis.  4,  3  B.:  Ach  Zauberin!     F.:  Ja,  Schlange!  (traitresse) 

il  B. :  Nein,  wie  man  lieben  soll,  liebt  Ihr  mich  nicht! 
F.:  Nein,  Ihre  Liebe  ist  die  rechte  nicht! 

(Non,  vous  ne  m  aimezpoini  comme  ilfaut  que  Von  aime.) 


316  A'.  A.  Martin  HaHmann, 

Mis.  5,  2  B.:  Wie  fern 

Von  aller  Einsicht  Ihr  Euch  beide  zeitrt! 
F.:  Sie  alle  beide  sind  nicht  recht  bei  Sinn! 

(Ah!  que  vous  Umoignez,  tous  deux,  peu  de  raison!) 
Mis.  5,  2  B.:  Eu'r  grosses  Ziel  ist,  alle  Welt  zu  schonen! 
F.:  Liebäugeln  möchten  Sie  mit  allen  Leuten. 

(Conserver  tont  Je  nionde  est  rotre  granäe  etude.) 
Mis.  5,  2  B. :  Was  Ihr  gesprochen,  wiederhoF  ich  ihr. 

F.:  Buchstäblich  muss  icli  alles  unterschreiben. 
(Et  je  Ini  dis  id  meine  chose  que  von.'*.) 
Dass  die  Fulda'sche  Uebersetzung  der  ihres  Vorgängers  über- 
haupt in  stilistischer  Hinsicht  weit  überlegen  ist,   Hesse  sich  eben- 
falls   an    zahlreichen    Einzelfällen     nachweisen.      Hier    nur    einige 
wenige : 

Mis.  2,  1  B. :  Weil  er  für  meinen  Rechtsstreit,  wie  er  schwört, 
Was  er  von  Freunden  zählt,  verwenden  will. 
F.:  Weil  sein  Prozess,  wie  er  mir  oft  beschwor, 
Auf  seiner  Freunde  Beistand  rechnen  kann. 
Mis.  2,  5  B.:  Muss  unser  Freund  nicht  ewig  opponieren? 
Hat  er  jemals  der  Mehrlieit  sich  gefügt? 
Und  flammt  nicht  stets  der  Geist  des  Widerspruchs, 
Den  ihm  der  Himmel  mitgab,  in  ihm  auf? 
F. :  Wann  war'  es  uns  bei  Herrn  Alceste  geglückt, 
Dass  er  ein  heri-schend  Urteil  anerkennt, 
Und  dass  er  jemals  unterdrückt 
Sein  angebor'nes  Widerspruchstalent? 
il  B.:  So  wird  ein  übermässig  Liebender 

Die  Fehler  selbst  an  der  Geliebten  lieben. 
F.:  So  wird  die  schlimmsten  Fehler  seiner  Holden 
Ein  leidenschaftlich  Liebender  vergolden. 
Mis.  3,  3  B. :  Was  will  sie  mir? 

F.:  Was  will  denn  die  von  mir? 
{Qne  nie  reut  cette  fennnrf) 
Mis.  3,  5  B. :  Was  auch,  wer  tadelt,  sich  ei'warten  mag. 
Auf  solclien  Ausfall  war  ich  nicht  gefasst. 
F.:  Obgleich  ein  Mahnwort  stets  gefährlich  war, 
So  dürft'  ich  einen  bess'i'en  Lohn  erhoffen. 
Mis.  4,  1  B. :  Sympathie  der  Herzen.     F.:  Wahlverwandtschaft. 
Mis.  4,  3  B.:  —  aller  List  und  Sorgfalt 

Zum  Trotz,  und  Eu'rer  Kunst  Euch   zu  verstellen, 
Warnte  mich  mein  Geschick  vor  diesem  Sturz. 
F.:  Mein  guter  Geist  hat  mich  gewarnt. 

Trotz  air  der  List,  mit  der  Sie  mich  umgarnt. 


Die  neue  3Iolwre-Uebcrset.zimg  von  Ludwig  Fulda.  317 

Mis.  4,  3  B.:  Wie!  solchem  überwältigend  lastenden 

Beweise  trotzt  Ihr?  Was  er  mir  enthüllt 
Von  Zärtlichkeiten  für  Oronte,  es  sollte 
Mich  nicht  empören  und  Euch  Schande  bringen? 
F.:  Wie  soll  es  hier  noch  eine  Ausflucht  geben? 

Soll  ich  als  Treubruch  nicht  den  Brief  betrachten, 
Der  für  Oront  von  Honig  überquillt? 
Mis.  5,  3  B.:  Zeigt  uns,  zeigt,  wie  die  beiden  Schalen  steh'n. 
F.:  Heraus  mit  Hirem  Spruch!  Die  Maske  fort! 
(II  f mit,  ü  fallt  parier,  et  Idcher  la  balance!) 
Mis.  5,  6  B.:  Bei  Gott!  Nichts  Aehnliches  ward  je  erhört! 

F.:  Fürwahr,  das  ist  ein  unerhörter  Streich! 
Mis.  5,  7  B. :  Wie!  Eh'  ich  alt're,  mich  der  Welt  entziehen? 
F.:  So  jung  soll  ich  der  Welt  den  Eücken  dreh'n? 
(Moi,  renoncer  au  monde  avant  que  de  vieüUrf) 
Fem.  Sav.  1,  1  B.  (Henriette): 

Ich  aber  wdll  mich  nicht  so  hoch  versteigen, 
Ich  will  an  Ilijynens  ird'schem  Glück  mich  ft'eu'n. 
F.:  Indessen  ich  mit  einem  schlichten  Platz 
Im  Hause  meines  Gatten  mich  bescheide. 
iL  B.    (Heiu'iette):  Du  hast  dem  Hymen  ja  für  alle  Zeit 
Entsagt  und  Dich  der  Weisheit  ganz  ergeben. 
F.:  Du  hassest  ja  die  Ehe  unversöhnlich, 
Und  hegst  nur  Liebe  zur  Philosophie. 
il.  1,  2  B  (Henriette):  Und  wie  Du  selbst,  Miner vens  Schülerin, 
Dergleichen  Schwachheit  tief  verachten  musst. 
F.:  Des  niederen  Volks  Schwachheit  kümmert  wenig 
Die  ernste  Schülerin  der  Wissenschaft, 
il.  3,  2  B.  (Henriette) :  Apoll  erhört  nicht  jeden,  der  ihn  ruft. 
F. :  Und  nicht  auf  Wunsch  entsteht  die  Dichterflamme, 
il.  1,  1  B. :  Was  hilft  ein  Vorbild,  wenn  man  sich  beschränkt. 
Ihm  wie  es  spuckt  und  hustet  abzusehn! 
F.:  Doch  glaube  nicht,  dass  Du  ihr  ähnlich  seist. 

Wenn  Du  ihr  Bäuspern  und  ihr  Spucken  angenonmien. 

Nun  heisst  es  zwar  im  Original: 

Et  ce  n'est  poinf  du  tout  la  p)reyidre  pour  modele, 
Ma  S(eiir,  que  de  fousser  et  de  cracher  comme  eile. 

Nachdem  aber  einmal  Schiller  mit  Verwertung  dieser  Stelle 
seinem  Wallenstein'schen  Jäger  das  geflügelte  Wort  in  den  Mund 
gelegt  hat: 

Wie  er  räuspert  und  wie  er  spuckt 
Das  habt  ihr  ihm  glücklich  abgeguckt, 


318  K.  Ä.  Martin  Hatimann, 

ist  es  einem  Deutscheu  Uebersetzer  jeuer  Stelle  der  Femmes  savautes 
nicht  mehr  erlaubt,  tousser  durch  husten  zu  übertragen. 
Fem.  sav.  1,  3  B.:  Der  Schulfuchs,  dessen  allzeit  teile  Feder 

Den  ganzen  Markt  mit  schaaleu  Blättern  füllt. 
F. :  Dem  Schulfuchs,  der  mit  feilen  Handwerkskniffen 
Gesinnungslose  Bücher  schmiert. 
il.  1,  5  B.:  (Clitaiulre  über  Belise:) 

Mag  sie  zum  Henker  gehn,  die  Träumerin! 
F.:  Verwünschte  Gans,  ich  red'  es  ihr  nicht  aus! 
(Diantre  soit  de  la  folle  avec  ses  visions) ! 
il.  2,  9  B. :  Du  selbst  erhebst  sie  zur  Gebieterin, 

Die  wie  ein  Thier  Dich  an  der  Nase  führt. 
F.:  Und  weil  sie  weiss:  Er  schweigt,  sobald  ich  spreche, 
So  tanzt  sie  auf  der  Nase  Dir  herum, 
il.  3,  2  B.:  Ich  war  —  für  Euch  bestochen. 

F.:  Ich  war  für  Sie  als  Dichter  eingenommen, 
il.  4,  2  B.:  (Clitandre): 

Ja,  Fräulein,  Ihr  besasst  mein  ganzes  Herz; 
Es  hat  zwei  Jahre  treu  für  Euch  geglüht, 
Und  weiht  Euch,   was  ihm   irgend  möglicli  schien, 
An  Dienst,  an  Sorgfalt,  an  Respekt  und  Eifer. 
Doch  war's  vergeblich:  Ihr  A-erwerft  mein  Opfer, 
Und  weigert  mir,  was  ich  so  heiss  erfleht. 
F.:  Ja,  Ihr  Besitz  war  einst  mein  höchstes  Ziel; 
Zwei  Jahre  hab'  ich  unentwegt  gerungen 
Mit  Ritterdiensten,  Opfern,  Huldigungen, 
Und  keine  Lasten  dünkten  mich  zu  viel. 
Doch  ob  ich  seufzte,  flehte,  bat,  beschwor, 
Sie  blieben  unerbittlich  nach  wie  vor. 
il.  4,  3  B. :  —  Ich  kann  nur  rückwärtsweichend 

Mich  noch  verteid'gen. 
F.:  Ich  habe  Not,  mich  meiner  Haut  zu  wehren, 
il.  4,  1  B.:  So  edler  Flamme  muss  ich  dankbar  sein. 
F.:  So  edler  Neigung  muss  ich  dankbar  sein. 
(Je  suis  fort  redccable  d  vos  feux  (jenereux). 
il.  5,  3  B.    (Martine,  das  Dienstmädchen): 

Und  brächt'  er  zehnmal  mir  den  Abschied. 
F.:  Und  würd  ich  drum  sogleich  hinausgefegt. 
Fem.  sav.  5,  4  B.:  Zeige,  o  zeig'  noch  eine  gröss're  Seele 

Uiul  trotze  so  wie  ich.  dem  schlimmen  Glück. 
F.:    0  lerne  Heldeinnut  von  Deinem  Weibe, 

Und  zeig'  dem  Schicksal  eine  Stirn  von  Erz. 
(Faites,  Jaites  paraUre  wie  äme  moins  commune 
A  braver,  comme  moi,  Ics  traits  de  Ja  fortune). 


Die  neue  Moliere-Uebersetsung  von  Ludwig  Fulda.  319 

In  einem  Punkte  befindet  sich  Fulda  in  bewusstem  Gegensatz 
zu  Baudissin  wie  zu  den  meisten  übrigen  Uebersetzern,  in  der 
Wiedergabe  des  Fürworts  der  Anrede  vo^lS  und  votre.  Baudissin  sagt 
dafür  Ihr  und  Euer,  denn  er  betrachtet  es  als  einen  störenden 
Anachronismus,  wenn  die  Zeitgenossen  Ludwigs  XIV.  sich  der  An- 
rede Sie  bedienen,  und  meint,  dass  wir  auch  durch  die  Uebersetzung 
an  das  17.  Jahrliundert  erinnert  werden  müssten.  Einen  andern 
Standpunkt  vertritt  Fulda.  Er  übersetzt  vous  durch  die  moderne 
Anrede  Sie  und  macht  zu  Gunsten  dieser  Uebertragung  geltend, 
dass  die  Anrede  vous  in  Frankreich  noch  jetzt  die  allgemein  übliche 
ist,  während  Ihr  als  Anrede  in  Deutschland  veraltet  sei.  Die  Bau- 
dissin'sche  Uebersetzung  würde  also  nichts  anderes  bedeuten,  als  das 
Hereintragen  eines  vereinzelten  und  darum  störenden  Archaismus. 
Diese  Argumentation  ist  sicher  durchaus  zutreffend.  Wenn  die 
Baudissin'sche  Uebersetzung  trotz  aller  aufgewandten  Sorgfalt  den 
Leser  etwas  fremdartig  anmutet,  so  dürfte  dieser  Eindruck  wohl 
auch  auf  Rechnung  seiner  Wiedergabe  des  Fürwortes  vous  zu  setzen 
sein.  Man  kann  sich  des  Gefühls  nicht  erwelu^en,  dass  die  Anrede 
Ihr  etwas  allzu  altfränkisches  hat,  das  zu  dem  sonstigen  feinen 
Ton  der  Moliere'schen  Lustspiele  nicht  stimmt.  Das  17.  Jahrhundert 
in  Frankreich  und  das  17.  Jahrhundert  in  Deutschland  ist  etwas 
sehr  verschiedenes.  In  Bezug  auf  Gesellschaft  und  Bildung  war 
Frankreich  damals  unserem  Vaterlande  entschieden  voraus,  und 
daher  sind  die  gesellschaftlichen  Formen,  wie  sie  in  den  zwei 
Ländern  zu  jener  Zeit  üblich  waren,  durchaus  nicht  ohne  Weiteres 
übertragbar.  Das  unangemessene  der  Baudissin'schen  Uebersetzung 
des  Fürwortes  vous  muss  sich  jedem  Leser  besonders  in  solchen 
Sätzen  aufdrängen,  wo  zugleich  die  Anrede:  Mein  Herr,  oder:  Meine 
Herren  vorkommt.  Einem  Satze  wie:  Meine  Herren,  Ihr  seit  ge- 
kommen," den  sich  Baudissin  unbedenklich  gestattet,  fehlt  für  unser 
Gefühl  unbedingt  die  Einheit  des  Stils. 

Hat  Fulda  in  dieser  Hinsicht  ohne  Frage  das  Eichtige  ge- 
troffen, so  kann  man  es  dagegen  kaum  billigen,  dass  er  die  Anrede 
Madame  gegenüber  verheirateten  Frauen  einfach  in  den  deutschen 
Text  herübergenommen  hat.  Das  kurze  Madam  ist  ja  allerdings 
metrisch  sehr  gut  zu  verwenden,  und  diese  Kücksicht  scheint  wol 
für  Fulda  bestimmend  gewesen  zu  sein,  denn  in  der  Anrede  des  in 
Prosa  verfassten  Briefes,  der  im  5.  Akt  der  Femmes  savantes  ver- 
lesen wird,  setzt  er  für  Madame:  Verehrte  Frau.  Gegenüber  un- 
verheirateten Damen  nimmt  Fulda  auch  für  Madame  einen  deutschen 
Ausdruck,  den  allgemein  üblichen:  Mein  Fräulein.  Dem  entsprechend 
hätte  auch  im  Falle  der  Anrede  an  verheiratete  Frauen  der  nun  einmal 
herrschende  Sprachgebrauch  Berücksichtigung  finden  sollen,  mochte 
nun:  Verehrte  Frau  gesagt  werden,  oder  Gnäd'ge  Frau,  oder  Gnädigste. 


320  K.  Ä.  Martin  Hartmann, 

Nach  diesen  Bemerkuniien  über  den  sprachlichen  Charakter 
der  Fulda'schen  Uebersetzunii-  erübrigt  es  noch,  ein  Wort  über  die 
Behandlung  des  Verses  zu  sagen.  Darüber  kann  zunächst  für 
keinen  aufmerksamen  Leser  ein  Zweifel  bestehn,  dass  die  Fulda'schen 
Verse  weit  formvollendeter  und  darum  auch  weit  wirkungsvoller 
sind  als  die  Baudissin's.  Bei  letzterem  muss  man  doch  manche 
Verse  mit  in  den  Kauf  nehmen,  wo  Wortton  und  Verston  im  Wider- 
streit stehen,  und  wo  daher  der  Charakter  des  Verses  etwas  un- 
ebenes, holpriges  gewinnt.  Solche  Fehler  sind  bei  Fulda  ganz  un- 
erhört. Seine  Verse  haben  durchweg  einen  natürlichen,  ungezwungenen 
Tonfall,  etwas  dem  Ohre  sich  gefällig  einsclimeichelndes  und  sind 
daher  in  hohem  Giade  sprechbar.  Und  was  ihnen  noch  einen  ganz 
besonderen  Reiz  verleiht,  das  ist  die  Anwendung  des  Reimes,  der, 
wie  schon  bemerkt,  nicht  regelmässig  paarweise  auftritt,  sondern  in 
freier,  mannichfaltiger  Verschlingung.  Der  Reim  wird  von  Fulda 
im  Allgemeinen  ganz  meisterlich  gehandhabt,  und  berührt  auch  den 
oberflächlichsten  Leser  wohlthuend  durch  eine  bemerkenswerte  Rein- 
heit, man  möchte  sagen,  durch  eine  klassische  Reinheit,  wenn  nicht 
gerade  unsere  klassischen  Dichter  so  viele  Verstösse  gegen  die  Rein- 
heit des  Reimes  aufzuweisen  hätten.  In  Bezug  auf  Reinheit  des 
Reimes  reicht  Fulda  nahe  an  Platen  heran.  Reime  zwischen  e  und 
ä  lässt  er  allenfalls  zu,  dagegen  verschmäht  er  grundsätzlich  solche 
zwischen  ih  und  üh,  zwischen  eh  und  öh,  zwischen  eu  und 
ei.  Ein  einziges  JLal  nur  reimt  er  mir  mit  dafür,  aber  da  offen- 
bar mit  bewusster  Absicht.  Denn  diesen  Reim  wendet  er  in  der 
Wiedergabe  des  bekannten  Volksliedes  des  Misanthrope  an: 

Si  le  roi  m'avait  donne 
Paris  sa  yrand  rille 
Et  qu'il  me  fallüt  quitter 
L^amour  de  m'amie. 
Je  dir  als  au  roi  Henri: 
Pieprenez  votre  Paris! 
Paime  mieiix  m^imie,  6  gm, 
J'aime  mieux  m'amie! 

Das  heisst  bei  Fulda: 

Und  gäbe  der  König  Heinrich  mii- 
Seine  grosse  Stadt  Paris 
Und  wollte  haben,  dass  ich  dafür 
Meine  Herzallerliebste  verliess'. 
Ich  spräclie:  König  Heinerich, 
Behalte  Dein  Paris  für  Dich, 
Und  ich,  Juche,  behalte  fein 
Die  Herzallerliebste  mein! 


Die  neue  Moliere-Uehersetzung  von  Ludivig  Fulda.  321 

Da  in  dem  Original  selbst,  nacli  der  Weise  des  Volksliedes, 
der  Reim  unvollkommen  ist  und  mehr  zur  einfachen  Assonanz  neigt, 
so  hat  Fulda  als  treuer  Uebersetzer  auch  seinerseits  hier  mit  be- 
wusster  Absicht  einen  unvollkommenen  Reim  zur  Anvsrendung 
gebracht. 

Nur  an  einigen  Beispielen  möge  noch  gezeigt  werden,  wie  vor- 
trefflich es  Fulda  versteht,  den  Gedanken  durch  den  Reim  zu  heben, 
und  ilim  eine  geradezu  epigrammatische  Ausprägung  zu  geben,  in- 
dem er  ihn  auf  bedeutungsschwere  Worte  fallen  lässt.  So  wenn 
er  den  Alceste  sagen  lässt  (Mis.  1,  2): 

Verzeihlich  ist  nur  dann  ein  schlechtes  Buch, 
Wenn  der  Verfasser  nagt  am  Hungertuch! 

Das  ist  eine  schlagkräftige  Form,  die  sich  dem  Gedächtnis  ein- 
prägt und  gegen  die  Baudissins  Uebersetzung  doch  weit  matter  klingt : 

„Ein  schlechtes  Buch  ist  nur 
Verzeihlich,  wenn  der  Autor  schrieb  um's  Brot." 

Wie  kraftvoll  klingt  es  ferner,  wenn  Alceste  im  5.  Akte  aus- 
ruft, als  er  die  Nachricht  vom  Verluste  seines  Prozesses  er- 
halten hat: 

Ich  appelliere  nicht. 
Ich  bin  empfindlich  zwar  getroffen. 
Doch  unverändert  lass  ich  den  Beschluss. 
Das  Unrecht  liegt  in  ihm  so  prächtig  offen, 
Dass  man  der  Nachwelt  ihn  erhalten  muss 
Als  ew'gen  Markstein,  als  Erinn'rungssäule 
An  unseres  Jahrhunderts  Sittenfäule. 
Er  kostet  mich  wol  zwanzig  tausend  Franken, 
Doch  für  das  Geld  erwerb'  ich  mir  das  Recht 
Zu  fluchen  auf  das  menschliche  Geschlecht 
Und  ihm  mit  unversöhntem  Hass  zu  danken. 

Das  sind  Verse  von  fast  ehernem  Klang.  Und  nicht  minder 
schön  sagt  Alceste  gegen  Ende  des  5.  Aktes: 

Ich,  den  Verrat  und  Unrecht  rings  umwindet, 
Ich  werde  diesem  Lasterpfuhl  entgeh' n 
Und  fern  von  hier  nach  einem  W*inkel  späh'n 
Wo  Redlichkeit  noch  eine  Freistatt  findet. 

Nicht  entfernt  reicht  Baudissin  an  die  knappe,  packende  Kraft 
dieser  Verse  heran,  wenn  er  sagt: 

Von  Ungerechtigkeit  erdrückt,  verraten 
Von  allen  Seiten,  will  ich  einem  Schlund 
Entflieh',  in  dem  das  Laster  triumphiert, 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV'.  21 


322  K.  A.  JMartin  Hatimann, 

Und  einen  abgele^'nen  Winkel  mir 
Auf  Erden  snchen,  avo  ich  Freiheit  habe 
Ein  P^lirenmann  zu  bleiben. 

Wenn  aber  die  Behandlung-  des  Reims  mit  seiner  strengen 
Reinheit  und  Prägnanz  bei  Fulda  liohe  Anerkennung  verdient,  so 
darf  doch  anderseits  nicht  vei'sclnviegen  werden,  dass  an  vereinzelten 
Stellen  in  Folge  des  Reims  ein  Wort  an  den  Schluss  des  Verses 
getreten  ist,  das  dem  Sinn  oder  dem  Sprachgebrauche  streng  ge- 
nommen nicht  entspricht.  So  wenn  Fulda  im  Tart.  1,  6  sagt: 
Da  giebt  es  Kniffe  nicht  und  Sonderbünde. 

Das  letzte  Wort  reimt  mit  „Sünde",  und  soll  tntrUjues  wieder- 
geben. 

Etwas  seltsam  fühlt  sich  der  Leser  berührt,  wenn  er  Mis.  1,  1 
nach  Fulda  liest: 

Nie  soll  des  Herzens  echter  Wiederhall 
Mit  leeren  Floskeln  sich  verriegeln 

für  den  französischen  Text: 

Et  qiic  HOS  sentiments 
Ne  se  inasquent  Jamals  soiis  de  aains  compUnients. 

Der  Ausdruck  „verriegeln"  dürfte  wohl  nui-  dem  Reime  mit 
„spiegeln"  sein  Dasein  verdanken. 

Im  2.  Akte  der  Fci>uues  savantcs  ruft  Chrysale  der  Martine  zu: 
Meine  Frau  hat  Recht,  du  Ratte. 

Schlägt  man  dazu  den  Urtext  auf,  so  ündet  man  für  Ratte 
coquine,  und  begreift  dann,  dass  die  Ratte  lediglich  durch  den  Reim 
mit  Gatte  hervorgerufen  ist. 

Auch  nicht  ganz  sprachgerecht  ist  es,  wenn  am  Anfange  des- 
selben Lustspiels  Armande  sagt: 

Gleich  mir  erweise  die  ererbte  Kraft, 
Damit  wir  Dich  nicht  allzusehr  verdunkeln, 
Und  ahne,  was  uns  für  Genüsse  funkeln. 
Wenn  wir  verliebt  sind  in  die  Wissenschaft. 

W^enn  hier  Genüsse  Jemandem  „funkeln"  statt  winken,  so 
thun  sie  dies  wol  nur  wegen  des  vorhergehenden  „verdunkeln." 

In  demselben  Lustspiel  2,2  sagt  Chrysale  von  Clitandre's 
Vater:  Ein  Edelmann  vitn  reinster  Tugend.  Das  reimt  nun  zwar 
sehr  gut  mit  Jugend,  stinnnt  aber  doch  gar  nicht  zu  der  Charakteristik, 
die  (.'hrysale  im  weiteren  Verlaufe  vun  diesem  ]\Ianne  entwirft. 

Nicht  ganz  deutsch  ist  es,  wenn  Fuhla  die  Armande  in  den 
Fem.  sav.  4,2  sagen  lässt: 


Die  neue  2Ioliere-ü eher  Setzung  von  Ludwig  Fulda.  323 

„Der  Geist  erhebt  sich  iu  befreiten  Flügen.  Dieser  Plural 
Flügen  steht  sicher  nur  deshalb  da,  weil  das  entsprechende  Eeim- 
wort  Genügen  heisst. 

Das  sind  unzweifelhaft  Unvollkommenheiten ,  die  bei  einer 
neuen  Auflage  beseitigt  werden  sollten,  ebenso  wie  der  gegen  Ende 
der  4.  Szene  des  4.  Aktes  vom  Misanthrope  stehende  Über- 
setzungsfehler. Unerwähnt  durften  sie  bei  dieser  Beurteilung  schon 
um  deswillen  nicht  bleiben ,  weil  es  sich  um  eine  Übersetzung 
handelt,  die  mit  dem  Ansprüche  eines  Kunstwerkes  auftritt.  Fulda 
selbst  wünscht  an  seine  Arbeit  einen  strengen  Massstab  augelegt  zu 
sehen,  und  tritt  mit  nachdrücklichen  Worten  dafür  ein,  dass  die 
Aulgabe  des  Übersetzens  als  eine  künstlerische  Arbeit  bei  uns  wieder 
zu  Eliren  kommt.  Darum  handelt  die  Kritik  wohl  nur  in  seinem 
Geiste,  wenn  sie  auch  auf  solche  Stellen  hinweist,  an  denen  das 
Übersetzungsideal  des  Verfassers  noch  nicht  voll  verwirklicht  worden 
ist.  Glücklicherweise  handelt  es  sich  hier  nur  um  ganz  wenige 
Stellen.  Denn  was  will  das  halbe  Dutzend  derartiger  Fälle,  die  sich 
bei  prüfender  Vergleichung  ergeben,  bei  einer  Gesamtmasse  von  un- 
gefähr 6000  Yerszeilen  bedeuten?  Sie  vermögen  das  Gesamturteil 
in  keiner  Weise  zu  beeinträchtigen,  und  dies  kann  man  nach  alle- 
dem, was  im  Einzelnen  ausgeführt  worden  ist,  nur  dahin  zusammen- 
fassen: Die  Fulda'sche  Moliere-Übersetzuug  gehört  unstreitig  zu  den 
wei'tvoUsten  Erscheinungen,  die  das  Gebiet  unserer  Übersetzungs- 
litteratur  seit  lange  hervorgebracht  hat. 

K.  A.  Martin  Hartmann. 


21* 


Zeitschrift 


für 


französische  Sprache  und  Litteratur 

unter  besonderer  Mitwirkung  ihrer  Begründer 

Dr.  G.  Koerting  umi  Dr.  E.  Koschwitz 

Professor  a.  d.  Universität  z.  Kiel        Professor  a.  J.  Universität  z,  üreifswald 

herausgegeben 
von 

Dr.  D.  Behrens^ 


Professor  an  der  Universität  zu  Giessen. 


Band  XV. 
Zweite  Hälfte:  Referate  und  Rezensionen. 


Berlin. 

Verlag  von  Wilhelm  Grünau. 
1893. 


INHALT. 


Keferate  und  Rezensionen. 

Seite 
Allain,    E.     L'oeuvre     scolaire     de     la    revolutiun     1789 — 1802. 

(E.  Stengel.) 175 

Alton,  J.     Anseis  von  Karthago.     (D.  Behrens.) 191 

Argenis.    Politischer  Roman  vom  Anfang  des  XVII.  Jahrliimderts. 

(F.  Heuckenkamp.) 46 

Bcrard,  A.     Les  Vaiulois.     (H.  Haupt.) 181^ 

Bcrtuch,   A.     Mireio.     Provenzalische    Dichtung    von    Fr.  Mistral. 

(B.  Schneider.) 105 

Beyer,  Franz.     Ergänzungsheft  zu  Beyer-Passy,  Elenientarbuch  des 

gesprochenen  Französisch.     (J.  Block.) 128 

—  —   und  Paul  Passy.     Elementarbuch   des  gesprochenen   Fran- 

zösisch.    (J.  Block.) 128 

Bijvanck,    W.  G.  G.     Un  poete  inconnu  de  la  societe   de  Franruis 

Villon.     (F.  Heuckenkamp.) 117 

Bock,  F.    Wesentliche  Merkmale  der  verbesserten  Öprachunterriclits- 

Methode.     (E.  von  Sallwürk.) 119 

Bunnefon,  P.     Montaigne.     (W.  Baldcnperger.j 202 

Brcymann,  H.     a)  Französische  Grammatik  für  den  Scliulgeliramh. 

Erster  Theil.    b)  Ergänzixngcn  zum  französischen  Unterricht 

am  Gymnasium.     (A.  Rambeau.) 13H 

—  —  und  //.  Möller,     aj  Französisches  Elementarbuch,    b)  Fran- 

zösisches Übungsbuch.    Erster  Teil,    c)  Französisches  Übungs- 
buch für  Gymnasien.     Erster  Teil.     (A.  Rambeau.)  .     .     .       133 


Seite 
Brunut,  F.    La  Doctrinc  de  Malheibe  d'apres  son  coniiiientaire  sur 

Desportes.     (F.  Kalepky.) 29 

Bidlrkh,  G.     Übei"  Charles  d'Urleans   und   die  ihm  ziigiscliriebeno 

englische  Übersetzung  seiner  Gediclite.  (K.  ilahrenhultz/i  2U2 
Carncl,  D.  Le  dialecte  flaniand  de  France.  (Th.  Siebs.)  .  .  .  98 
Denifle,  H.  Les  universites  fran^aisos  au  moyen-age.  (E.  Ste'ngel.)  174 
Dorfeid,  K.    Beiträge  zur  Geschichte  des  französischen  Unterrichts 

in  Deutschland.     (J.  Sarrazin.) 182 

Boutrepont,  G.     Etüde  linguisticjue  sur  Jacques   de  Heuiricmirt  et 

son  epoque.     (E.  Go  er  lieh.)       49 

Dupv/y,   A,     Histoire   de  la   litterature  frangaise   au  XYII^'   siecle. 

(E.  Stengel.) 212 

Ellinger,  J.     Andre    Cheniers    Gedichte,    ein    Bild    seines    Lebens. 

(R.   Mahrenholtz.) 231 

Erdmann,  H.     Molieres  Psyche.     (R.  Mahrenholtz.) 218 

Feiler,  A.  De  la  ponctuation  frangalse.  (C.  Dorfeid.)  .  .  .  .  ö9 
Floris  et  Liriope.    Altfranzösischer  Roman  des  XIII.  Jahrliunderts, 

lirsgb.  von   W.  Zingerle.     (J.  Stürz ing er.) 15 

Floris   et  Ldriope.     Altfranzösischer  Roman    des   Robert  de  Blnis. 

hrsgb.  von  ./.   Ulrich.     (J.  Stürzinger) 15 

Foerster,  W.  Die  Appendix  Probi.  (ti.  Gundermann.)  ....  184 
Fournel,  V.  Le  theatre  au  XVIIe  siecle.  (R.  Mahrenholtz.)  214 
Fran^ms  de  Sales.  Oeuvres.  Edition  complete.  (E.  Ritter.)  .  .  2U(i 
Fulda,    L.     Moliere's    Meisterwerke    in    deutscher    Übertragung. 

(R.  Mahrenholtz.)       217 

Hartmann,  G.     Merope  im  italienischen  und  französischen  Drama. 

(A.  L.  Stiefel.) 4ü 

Hertel.    Über  den  Wert  mundartlicher  Untersuchungen.    (A.  Leitz- 

mann.) 48 

Hoenncher,  E.     L'echo  frangais.     {V.  Dorfeid.) 59 

Jörss,  P.  Über  den  (lenuswcchsel  lateinischer  Maskulina  und  Fe- 
minina im  Französischen,     i  K.  Armbruster.) 241 

Kraft,  Ph.   Konjugationswechsel  im  Neufranzösisclien  von  150Ü — 18UU 

nach  Zeugnissen  von  Grammatikern.  (M.  Friedwagner.)  51 
Krumme,    W.     Das  höhere  Schulwesen   im   Auslande    wäluend  der 

letzten  20  Jahre.     (E.  von  Sallwürk.) 118 

Kurth,  G.  Histoire  poetique  des  Merovingicns.  (W.  Golther.)  .  187 
JAunartine,  Mwc  V.  de.  Lettres  ä  Lamartine.  (P.  Voelkel.)  .  .  236 
Lambert,  Fr.    Studien  zu  Rousseaus  Emile  I.    (H.  .Mahrenholtz.)      229 

Lavisse,  E.     Etudes  et  etudiants.     (J.  Sarrazin.) 178 

Lloyd,   K.  J.     Some   researches   into    the   nature    uf  vuncl-sound. 

(H.  Pipping.) 157 

Lot,  F.     L'en.seignement  superieur  (n  Fninec.     (E.  Stengel.)   .     .       175 


Seite 
Mangold,    W.     Archivalische  Notizen    zur  franzüs.   Litteratur   und 
Kulturgeschichte    des    XYII.    Jahrhunderts.      (R.    Mahren- 

holtz.) 217 

Meissner,  Fr.    Der  Einfluss  deutschen  Geistes  auf  die  französische 

Litteratur  des  19.  Jalirhunderts  bis  1870.     (Th.  Süpfle.)     .       232 
Metzger,     A.      Les     dernieres     annees     de    madanie     de     Warens. 

(E.  Ritter.) 222 

Morillot,  P.     Le  roman  en  France  depuis  1610  juscju'ä  nos  jours. 

(H.  J.  Heller.) 210 

Mozin-Pescliier.    Petit  dictionnaire   classique  fran^ais  -  allemand  et 

allemand-franQais.     (A.  Rambeau.) 133 

Mühlan,  A.     Jean  Chapelain.     (R.  Mahrenholtz.)        219 

Müller,  E.     Das  Rolandslied.     Ein  altfranzösisches  Epos  übersetzt. 

(E.  Weber.) 57 

Muyden,  G.   von  und   E.  B.  Lang.     Dictionnaire   de  poche  et  de 

voyage  iran(;ais-allemand  et  allemand-franCj^ais.  (A.  Rambeau.)       133 

Phonetische  Studien.     (A.  Lange,  H.  Pipping.) 120.       157 

Prou,  M.     Manuel  de  paleographie.     (G.  Gundermann.)       ...         13 
Begeh    E.     Eiserner    Bestand.     Das    Notwendigste    aus    der    fran- 
zösischen Syntax.     (A.  Rambeau.) 133 

Bicard.  A.     Manuel  d'histoire  de   la  litterature  fran(^aise.     (M.  F. 

Mann.) 139 

Bisop,  A.     Studien  zur  Geschichte  der  französischen  Konjugation 

auf  ir.     (M.  Friedwagner.) 51 

Bossi,  A.     Rabelais  ecrivain  militaire.     (J.  Frank.) 24 

Sabatier,    FranQois.      Goethe,    le    Faust.      Traduit    en    frangais. 

(Th.  Süpfle.) 234 

Sammlung  französischer  und   englischer  Textausgaben  zum  Schul- 
gebrauch.    (W.  Mangold.)         60 

Sarccy,  Fr.     Le  Siege  de  Paris.     (J.  Sarrazin.) 60 

Scharschmidt,  0.  E.    Estienne  Pasquier's  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete 
der  französischen  Sprachgeschichte  und  Grammatik.    (J.  El- 

linger.) 102 

Schwan,  E.    Grammatik  des  Altfranzösischen.    2.  Aufl.    W.  Meyer- 

Lübke.) 85 

Steffens,  G.     Rotrou-Studien  I.     (A.  L.  Stiefel.) 35 

Studies  and  notes  in  philology  and  litterature.     (F.  Hol thausen.)       171 
Sudre,  L.     Les  sources  du  roman  de  Renard.     (W.  Golther.)   .     .       189 

Tiersot,  J.     Rouget  de  Lisle.     (R.  Mahrenholtz.) 230 

Toynhce,  P.  Specimens  of  old  French  (IX— XV  centuries).  (J.  V i s in g).        96 
Ungeivitter.     Xavier    de    Maistre,    sein    Lelien    und    seine    Werke. 

(E.  Dannheisser.) 58 


Seite 

Visiiig,  J.     Fransk  Spr^klära.     (P.  E.  Lind  ström.) 250 

Volkmann,  L.    Die  l^Iethodik  des  Schulunterrichts  in  den  modernen 

Fremdsprachen,  gegründet  auf   die  Metiiodik   des  deutschen 

Unterrichts.     (E.  von  Sallwürk.) 118 

Waeizoiät,  St.     Die  Aufgabe  des  neusprachlichen  Unterrichts  und 

die  Vorbildung  der  Lelirer.     (E.  Stengel.) 1 

MiSZELLEN. 

Bcrtuch,  A.     Ein  neu-provenzalisches  Sirventes 267 

Circulare  der  T^niversität  Genf 278 

Friedwagner,  M.    Aus  der  romanisclien  Sektion  der  42.  Versammlung 

deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in  Wien 205 

Küschwitz,  E.     Ein  neuprovenzalisches  Kommerslied 61 

Mahrcnholtz,  B.     Hippolyte  Adolphe  Taine 141 

Mahrenhnltz.  li.     Ein  deutscher  Offizier  an  der  Seite  französischer 

( Chauvinisten 270 

Verein   für  das  Sludium  der  neueren  Sprachen  in  Hamhurg-Altona  272 

NOVITÄTENVKRZEICHNIS 68.      146.  276 


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Referate  und  Rezensionen. 


Waetzoldt,  Stephan.  Die  Aufgabe  des  neusprachliclien  Unterrichts 
und  die  Vorbildung  der  Lehrer.  Berlin  1892.  R.  Gaertners 
Verlagsbuchhandlung'  (H.  Heyfelder).     8".     48  S. 

Der  mit  stürmischem  Beifall  seitens  des  fünften  allgemeinen 
deutschen  Neuphilologentages  zu  Berlin  aufgenommene  Vortrag  des 
Herrn  Stephan  Waetzoldt,  Direktors  einer  Berliner  höheren  Mäd- 
chenschule und  ausserordentlichen  Professors  für  Neufranzösisch  an 
der  Universität  Berlin  liegt  nunmehr  in  vervollständigter  und  er- 
weiterter Form  im  Drucke  vor.  Ich  fürchte  aber,  dass  die  Broschüre 
von  den  melu'  „kritisch- abwägenden  als  künstlerisch  emptindenden" 
(S.  26)  Lesern  weit  kühler  aufgenommen  werden  Avird. 

Gern  werden  auch  sie  die  ansprechende  und  gefällige  Form 
und  den  warmen  Ton  der  Ausführungen  des  Herrn  Verfassers  an- 
erkennen. Aber  wie  steht  es  mit  dem  Inhalt?  Es  wird  ja  recht 
vieles  zweifellos  Richtige  in  dem  Vortrage  nachdrücklich  hervor- 
gehoben, schade  nur,  dass  es  von  keiner  sachkundigen  Seite  geleugnet 
wird,  es  werden  auch  mancherlei  sehr  beachtenswerte  Vorschläge  und 
Forderungen  aufgestellt,  schade  nur,  dass  es  gute  alte  Bekannte  sind, 
und  doppelt  schade,  dass  das  Alles  hier  vorgetragen  wird,  als  sei 
es  eben  funkelnagelneu  dem  Kopfe  W.'s  entsprungen.  Daneben 
findet  sich  eine  Anzahl  unrichtige  und  schiefe  Behauptungen,  nebel- 
hafte Projekte  und  uferlose  Forderungen.  Das  schwere  Geschütz 
seiner  Beschwerden  hat  W.  meiner  Ansicht  nach  zum  grossen  Teil 
in  ganz  falscher  Richtung  abgefeuert  und  dadurch  weniger  die 
feindliche  Position  als  die  neuphilologische  Sache  selbst  geschädigt. 
Die  von  ihm  möglicherweise  an  einer  oder  auch  an  einigen 
Universitäten  gemachten  Beobachtungen  hat  er  flugs  auf  die  Ge- 
samtheit oder  die  überwiegende  Melu-zahl  übertragen  und  auf  Grund 
ganz  unzureichender  Informationen  giebt  er  durchaus  irrige  Be- 
schreibungen von  den  bestehenden  Universitätseinrichtungen.  Will 
man  über  solche  Dinge  sprechen  «nd  schreiben  —  und  ich  bestreite 
nicht  im  mindesten,   dass  eine   oifene  Aussprache   darüber   sehr   er- 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV^.  I 


2  Referate  und  JRezensionen.     E.  Stengel, 

wünscht  sei  —  so  muss  man  sich  znvor  in  loco  gründlich  nni- 
schauen  und  niclit  auf  nichtssagende  Notizen  der  Universitäts- 
kataloge billige  Luftschlösser  bauen. 

Der  Herr  Verfasser  möge  es  mir  nicht  verübeln,  wenn  ich 
hier  so  rückhaltslos  meine  kritischen  Bedenken  zum  Ausdruck  bringe. 
Ich  halte  mich  dazu  aber  um  so  mehr  für  berechtigt,  als  ich 
ja  mit  anderen  meiner  Special-Kollegen  auch  gleich  beim  ersten  An- 
hören diesen  Bedenken  schon  einen  nicht  misszuverstehenden  Aus- 
druck gegeben  habe,  und  als  der  Vorbildung  unserer  neusprach- 
lichen Lehrer,  auf  deren  Förderung  es  W.  und  mir  doch  in  erster 
Linie  ankommen  muss,  eine  offene  Auseinandersetzung  der  Meinungs- 
verschiedenheiten nur  erspriesslich  sein  kann.  Bemerken  möchte  ich 
gleich  hier  noch,  dass  die  in  der  Vorbemerkung  W.'s  angeführte 
Aeusserung  von  mir,  „dass  die  deutsche  Wissenschaft  Gefahr  laufe", 
nicht  sowohl  mit  Bezug  auf  W.'s  eigene  Ansichten  und  Wünsche 
gethan  war,  als  mit  Bezug  auf  die  von  ihm  erwähnten  und  gebilligten 
Bestimmungen  für  das  damals  in  Aussicht  genommene  Zwischen- 
examen. Auffälliger  Weise  ist  der  betreffende  Passus  in  der  jetzt 
vorliegenden  vervollständigten  und  erweiterten  Fassung  nirgends  zu 
linden.  Man  hört  ja  freilich  neuerdings  von  jenem  verhängnisvollen 
Projekte  nichts  mehr,  wie  auch  die  neue  Prüfungs-Ordnung  immer  noch 
nicht  das  Licht  der  Welt  erblickt  hat.  (Diejenigen,  welche  näheres 
über  jene  Pläne  zu  erfahren  wünschen,  verweise  ich  auf  Prof. 
Delbrücks  Aufsatz  in  den  Preuss.  Jahrb.  LXX.  8.  236  ft\.  ab- 
gedruckt auch  im  Päd.  Wochenbl.  I.  367  f.) 

W.  geht  bei  seinen  Ausführungen  von  den  neuen  preussischen 
-Lehrplänen  und  Lehraufgaben"  aus.  Auf  eine  Kritik  derselben 
will  er  verzichten,  weil  es  sich  nur  noch  de  lege  lata  handele. 
Nur  die  praktische  Frage:  „Welche  Vorbildung  müssen  die  Lehrer 
haben,  die  die  neuen  Unterrichtsziele  im  Französischen  und 
Englischen  zu  erreichen  im  Stande  sein  sollen?"  hat  er  sich  vor- 
genommen zu  beantworten.  Ganz  so  praktisch,  wie  sie  aussieht, 
ist  die  Frage  nun  allerdings  nicht,  wenigstens  nicht  für  den,  welcher 
glaubt,  dass  die  neuen  Unterrichtsziele  unter  den  derzeitigen  Ver- 
hältnissen mit  den  aufgestellten  Lehrplänen  überhaupt  nicht  zu  er- 
reichen sein  werden. 

AV.  scheint  selbst  einige  Zweifel  in  dieser  Hinsicht  zu  hegen, 
er  hilft  sich  darüber  aber  hinweg,  da  „es  nicht  den  Anschein  habe, 
als  ob  die  preussisclie  Unterrichtsverwaltung  gewillt  wäre,  von 
ihren  Forderungen  etwas  nachzulassen"  (S.  11).  So  lautet  denn 
seine  Antwort  mit  einem  entschiedenen:  Entweder  —  oder.  „Ent- 
weder bleibt  Alles  beim  Alten,  oder  die  Vorbildung  der  Lehrer  muss 
auf  die  nunmehrigen  Unterrichtsziele  Eücksicht  nehmen." 

Sieht  das  nicht  a'anz  so  aus.   als  wenn  die  bisherigen  Unter- 


S.  Waetzoläi,  Die  Aufgabe  des  neuspracMiclien  Unterrichts  etc.     3 

richtsziele  und  die  derzeitige  Vorbildung  der  Lehrer  sich  wechsel- 
seitig bedingt,  als  wenn  die  heutigen  akademischen  Vorlesungen  und 
Seminarübungen  über  romanische  und  englische  Philologie  den  Lehr- 
gang und  die  Anlagen  der  Ahn'schen,  Plötz'schen  und  anderer  Lehr- 
bücher verschuldet  hätten?  Die  Eeformbewegung  im  neusprachlichen 
Unterricht  müsste  hiernach  vom  Himmel  herabgefallen  und  erst 
durch  die  Verfasser  der  neuen  Lehrpläne  aller  Augen  auf  ihr  im 
Verborgenen  blühendes  Dasein  gelenkt  sein.  Die  nächste  und  be- 
sonders schwierige  Aufgabe  wäre  nun  nur:  die  Universitätslehrer, 
welche  statt  als  Führer  den  Weg  in  die  Zukunft  zu  suchen,  in 
kühler  Ueberlegenheit  die  Beziehungen  zu  den  Forderungen  der  Zeit 
immer  mehr  verlieren  und  mit  kleinem  Gefolge  verlassene  Strassen 
ziehen,  dahin  zu  bringen,  dass  sie  diejenigen  materiellen  und  for- 
mellen Wandlungen  ilu^es  Unterrichts  vornehmen,  die  veränderte 
Lebens-  und  Beruf sbedingungen  dringend  erheischen.     (S.  16). 

Aber  gemach,  das  ganze  Kartenhaus  fällt  in  sich  zusammen, 
wenn  man  sich  der  einfachen  Thatsache  erinnert,  dass  jene  Lehr- 
bücher und  mit  ihnen  die  sogenannte  alte  oder  besser  grammatistische 
Lehrmethode  aus  Zeiten  stammen,  in  welchen  die  romanische  und 
englische  Philologie  auf  deutschen  Hochschulen  noch  keine  Stätte 
gefunden  hatten,  und  dass  umgekehrt  die  veränderten  Anschauungen 
über  die  Art,  wie  die  lebenden  Fremdsprachen  zu  lehren  seien,  un- 
mittelbar auf  die  veränderte  sprachAvissenschaftliche  Betrachtungs- 
weise zurückweisen,  wie  sie  sich  in  den  letzten  Dezennien  Bahn 
gebrochen  hat  und  besonders  auch  in  neuphilologischen  Vorlesungen 
zur  Geltung  gekommen  ist.  Professoren  waren  es  also  doch  wohl, 
welche  hier  „als  Führer  den  Weg  in  die  Zukunft  gesucht  haben," 
Wenn  demnach  die  Unterrichtsverwaltung  nun  ihrerseits  diesen 
Weg  einschlägt,  so  braucht  selbst  dann  nicht  alles  beim  Alten  zu 
bleiben,  wenn  die  Vorbildung  der  neusprachlichen  Lehrer  sich  auch 
in  Zukunft  in  dem  bisherigen  Rahmen  bewegen  würde.  Man  bedenke 
nur:  Eine  bisher  von  Schulräten,  Direktoren  und  älteren  Kollegen 
auf  das  Stärkste  perhorreszierte  Methode  wird  mit  einem  Male 
seitens  der  höchsten  Unterrichtsverwaltung  nicht  nur  empfohlen, 
sondern,  wenigstens  im  Prinzip,  geradezu  vorgeschrieben.  Muss  da 
nicht  das  mutige,  hier  und  da  sogar  etwas  himmelstürmerisch  auf- 
tretende Häuflein  derer,  welche  schon  seit  Jahren  für  dieselbe  ein- 
traten, ganz  von  selbst  reichlichen  Zuwachs  erhalten?  Werden  nicht 
wenigstens  alle  die,  welche  bislang  wollten,  aber  den  Umständen 
nach  nicht  konnten  —  „welche  Methode  ein  junger  Lehrer  an- 
wendet, das  hängt,"  wie  W.  treffend  S.  37  zugesteht,  „eigentlich 
weniger  von  ihm  selbst  und  seiner  Ueberzeuguug  ab,  als  von  seinem 
Direktor,  von  den  Konferenzbeschlüssen,  vom  Provinzial-Schul- 
Kollegium.    von    den   eine-eführten    Lehrmitteln,    von    den  Gewohn- 

1* 


4  Referate  und  Rezensionen.     E.  Stengel, 

heiten  der  älteren  Kollegen"  —  alles  daran  setzen,   um  künftig  der 
gesprochenen  Sprache  im  Unterricht  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen '? 

Wer  an  der  Anziehungskraft  der  offiziell  gebilligten  Lehi- 
weise  noch  zweifeln  sollte,  der  erkundige  sich  nur  über  den  Ver- 
lauf der  Sonderbesprechungen,  welche  die  Reformanhänger  gelegent- 
lich des  fünften  Neuphilologentages  abliielten.  Es  liegt  auch  nicht 
der  mindeste  Anlass  für  die  Befürchtung  vor,  dass  sich  etwa  der 
bestgeschulte  neuphilologische  Nachwuchs  ablehnend  oder  indifferent 
gegen  die  neue  Lehrmethode  verhalten  sollte,  ich  glaube  vielmehr 
dreist  das  Gegenteil  behaupten  zu  können. 

W.'s  kategorisches  Entweder-Oder  halte  ich  also  nicht  für 
zutreffend.  Gleichwohl  wird  man  zugeben  müssen,  dass  bei  der 
jetzigen  Vorbildung  der  Neuphilologen  eine  allgemeine  Durch- 
führung der  neuen  Lehraufgaben  unmöglich  ist,  und  dass  an  vielen 
Stellen  zunächst  und  noch  für  recht  lange  Zeit  wohl  alles  beim 
Alten  bleiben  wird.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  liegt  das  sogar 
im  Interesse  der  Sache  selbst. 

Die  neue  Methode  steht  noch  in  ihren  Anfängen,  sie  muss  sich 
noch  von  manchen  persönlichen  Liebliabereien,  von  manchen  Schlacken 
befreien  und  für  den  gesamten  Unterricht  ausgestalten.  Unbewusst 
wird  noch  jetzt  vieles  aus  der  alten  Lehrweise  weiter  fortgeschleppt, 
was  im  Widei-spruch  mit  den  neuen  Forderungen  steht.  Vor  allem 
aber  bleibt  das  Problem  zu  lösen,  wie  die  grosse  Zahl  neusprach- 
licher  Lehrer,  welche  unser  höheres  Schulwesen  erfordert,  mit  den 
theoretischen  und  praktischen  Kenntnissen  und  Fähigkeiten  aus- 
zustatten sein  wird,  die  die  neue  Methode  bedingt,  und  denen  die 
Erfolge  einiger  hervorragender  Talente  mit  dieser  Methode  zuzu- 
schreiben sind.  Dieses  Problem  wird,  fürchte  ich,  trotz  der  gut- 
gemeinten Vorschläge  auch  sobald  noch  nicht  gelöst  werden,  zumal 
das  dafür  unbedingt  erforderliche  Kleingeld  jetzt  und  in  Zukunft 
nicht  so  leicht  verfügbar  sein  wird. 

Vorsichtige  Leute  werden  und  müssen  dalier  eine  sofortige 
allgemeine  Einführung  der  neuen  Lehrweise  für  undurchführbar 
erklären,  und  W.  selbst  sagt  S.  11:  „Eines  ist  gewiss:  Besser  ein 
französischer  und  englischer  Unterricht  in  der  alten  Weise,  die  doch 
aucli  ihre  Vorzüge  hatte  .  .  .,  als  ein  Unterricht  nach  den  neuen 
Forderungen  der  Lehrpläne  in  der  Hand  von  Lehrern,  die  ihm  praktisch 
und  methodisch  nicht  gewachsen  sind."  Mit  Schrecken  sehe  auch 
ich  schon  den  Schwann  von  neugebackenen  Reformern  und  Reform- 
büchern in  unsere  Schulen  einziehen,  welche,  statt  sich  auf  das  wirk- 
lich Erreiclibare  zu  beschränken,  ihren  Unterricht  mit  allerhand 
Firlefanz  und  hohlem  Blendwerk  ausstaffieren  werden.  So  manchem 
Herren  Schulrat  und  Direktor  wie  insbesondere  dem  verehrlichen 
Publikum  werden  solche  oberfiächliche  Faiseurs  natürlich  weit  mehr 


S.  Waetsoldt,  Die  Avfgdbe  des  neusprachlicJien  Unterrichts  etc.     5 

imponieren,  als  schlichte  Lehrer,  welche  ihren  Schülern  nichts  als 
eine  solide  sprachliche  Bildung  verschaffen  wollen.  Bei  einzelnen 
philologisch  denkenden  Vorgesetzten  aber  könnte  doch  die  Spreu 
jener  Maitres  leicht  als  die  natürliche  Frucht  der  ganzen  Reform 
gelten. 

Zur  Warnung  sei  hier  gleich  im  Voraus  ein  bezeichnender 
Ausspruch  des  kühl  überlegenen  Altphilologen  ü.  von  Wilamowitz- 
Moellendorff  in  seiner  Festrede  „Philologie  und  Schulreform"  S.  6  f. 
angeführt:  „Die  Hoffnung  auf  neue  Methoden  soll  doch  wol  nicht 
über  das  Elementare  hinaus  gelten.  Die  Sprachkenntnis,  die  ein 
Portier  in  einem  Schweizer  Hotel  braucht,  kann  man  eintrichtern, 
und  da  mag  eine  neue  Methode  ein  par  Lektionen  sparen ;  aber  um 
die  lebendige  Rede  eines  Plato  oder  Montesquieu  (also  wirklich?) 
oder  Groethe  zu  verstehen,  muss  man  sich  ihrer  Sprache  geistig  be- 
mächtigt haben,  und  in  die  Seele  reicht  kein  Nürnberger  Trichter." 
Da  haben  wir  freilich  wieder  die  philologischen  Scheuklappen,  wie 
sie  im  Buche  stehen,  v.  Wilamowitz  vermag  sich  eben  der  alten 
Anschauungen  nicht  zu  entschlagen  und  spricht  sogar  das  kühne 
Paradoxon  gelassen  aus:  „Schwimmen  lernt  man  im  Wasser,  reiten 
auf  dem  Pferde,  eine  Sprache  durch  sprechen.  Sprechen  aber  lernt 
man  in  jeder  gebildeten  Rede,  seit  es  eine  Schrift  giebt  mit  der 
Feder,  nicht  mit  dem  Munde.  Nur  indem  man  die  Gedanken  aus 
dem  vertrauten  heimischen  Kleide  herausnimmt  und  in  das  der 
fremden  Sprache  kleidet,  lernt  man  in  dieser  denken."  Ja  freilich 
im  Istuto  archeologico  auf  dem  Kapitol  in  Rom  pflegt  man 
so  italienisch  zu  lernen,  die  Musik  des  in  den  dortigen  Sitzungen 
geleisteten  Italienisch  ist  aber  auch  nur  für  eingefleischte  Archäologen 
zu  gemessen.  Grleichviel,  es  giebt  und  wird  noch  lange  viele  Leute 
geben,  die  ebenso  wie  v.  Wilamowitz  denken,  und  die  auch  jeden 
Anhaltspunkt  bereitwilligst  ergreifen  werden,  um  die  neue  Methode 
zu  diskreditieren. 

Hier  galt  es  also  die  Regierung,  welche  sich  die  Einführung 
der  veränderten  Lehrweise  offenbar  viel  zu  leicht  vorstellt,  vor  vor- 
eiligen Schritten  zu  warnen.  W.  sagt  (S.  7)  nur:  „Ich  kenne  keinen 
zweiten  Fall,  in  dem  von  höchster  Stelle  herab  amtlich  ein  Lehr- 
verfahren empfohlen  worden  wäre,  zu  dessen  Anwendung  ein  grösserer 
Teil  der  Lehrer  nicht  genügend  vorgebildet  und  daher  unzureichend 
befähigt  ist"  und  führt  das  auf  S.  10  noch  etwas  näher  aus.  Er 
hat  sich  aber  nicht  entschliessen  können,  der  Regierung  zuzurufen, 
sie  möge  nur  ruliig,  vor  der  Hand  wenigstens,  die  Pflöcke  des 
Sprungseils  für  die  neuphilologischen  Lehrer  um  eine  ganze  Anzahl 
Löcher  zurückstecken,  gleichzeitig  aber  tüchtig  in  den  Beutel  greifen, 
um  mehr  und  mehr  Lehrern  die  Erwerbung  gründlicherer  Sprach- 
fertigkeit  in  den  fremden  Sprachen    zu  ermöglichen.     6  Stipendien 


6  Referate  und  Rezensionen.     E.  Stengel, 

zu  1000  M.  oder,  wie  W.  angiebt,  12  zu  500  M.  die  für  ganz 
Preussen  seit  kurzem  ausgesetzt  sind,  können  nur  wie  der  Tropfen 
auf  den  lieissen  Stein  wirken. 

Einem  Vorgehen  in  diesem  Sinne  hätten  auch  sämtliche 
neuphilologische  Universitätslelirer  bereitwilligst  zugestimmt;  denn  sind 
erst  die  erforderlichen  Mittel  Üüssig  zu  machen,  so  wird  sich  eine 
Verständigung  über  die  zur  Erreichung  des  gewünschten  Zieles  ein- 
zuschlagenden Wege  unschwer  erreichen  lassen.  Statt  dessen  hat 
W.  seine  ganze  Polemik  gegen  die  Professoren  gerichtet  und  damit 
die  so  wie  so,  gleichviel  aus  welchen  Gründen,  vorhandenen  Gegen- 
sätze zwischen  Theorie  und  Praxis  unnützer  Weise  verschärft, 
während  alle  Bemühungen  von  beiden  Seiten  darauf  gerichtet  sein 
sollten  diese  Gegensätze,  wenn  nicht  zu  tilgen,  doch,  soviel  wie  mög- 
lich, zu  mildern.  S.  30  behauptet  W.  schlankweg:  „Schwer  zu 
verstehen  ist,  wie  sich  die  meisten  Universitätslehrer  des  Faches 
gegen  die  Einiichtung  praktischer  Seminare  mit  eigenen  Zwecken 
sträuben  können."  Als  einzigen  Beweis  hierfür  führt  er  eine 
Aeusserung  von  Prof.  A.  Tobler  in  der  Dezember-Konferenz  an,  der 
ich  keineswegs  voll  zustimme,  die  aber  doch  schliesslich  nur  besagt: 
„Sollte  den  Studenten  solche  Anleitung  ununterbrochen  gegeben 
werden,  so  wäre  eine  beträchtliche  Vermehrung  des  Lehrpersonals 
um  nicht  leicht  zu  beschaffende  Kräfte  erforderlich."  Meines 
Wissens  ist  aber  an  die  TTniversitätslehrer  des  Faches  überhaupt 
noch  von  keiner  Seite  her  die  Frage  gestellt  worden,  wie  sie  über  die 
Eini'ichtung  solcher  praktischer  Seminare  dächten. 

Ich  kann  mir  nun  zwar  vorstellen,  dass  je  nach  der  Art  wie 
die  Ausführung  des  Projektes  geplant  würde,  der  eine  oder  andere 
oder  auch  alle  lebhafte  Bedenken  geltend  machen  könnten.  Alle 
würden  sich  z.  B.  wohl  sträuben,  wenn  ihnen  so  ganz  nebenbei 
zu  den  bisherigen  Pflichten  die  neue  noch  mit  aufgehalst  werden 
sollte,  oder  wenn  es  sich  um  Errichtung  selbständiger  praktischer 
Seminare  handelte,  wie  W\  die  Forderung  in  seiner  ersten  These 
formuliert  hat.  Die  Selbständigkeit  würde  eben  nur  zu  oft  einen 
Gegensatz  zu  den  bisherigen  romanisch-englisi-lien  Seminaren  — 
die  übrigens  nicht  nur  wissenschaftliche,  sondern  aiuh  praktische 
Zwecke   verfolgen  —  zeitigen. 

Warum  verlangt  W.  aber  diese  Selbständigkeit?  Weil  die 
Universitätslehrer  angeblich  moderne  Sprach-  und  Litteratur-Studien 
geringschätzig  behandeln.  S.  18  lässt  er  sich  darüber  wie  fdlgt 
aus:  „Der  Neuphilologe  sielit  von  vornherein  vergangene  und  ent- 
legene Sprach-  und  Litteraturzustände  in  den  Mittelpunkt  seines 
Studiums  gerückt  ....  denen  gegenüber  der  Betrieb  der  lebenden 
Sprache  und  der  klassischen  Litteratui'  Englands  und  Frank- 
reichs  nicht   gleichwertig  erachtet   und   nicht  hinreichend  gefördert 


S.  Waetzoldt,  Die  Aufgabe  des  neiispraclükhcn  Unterrichts  etc.     7 

und  begünstigt  wird."  Wie  ein  goldener  Faden  zielit  sicli  diese 
Annalime  dnrcli  den  ganzen  Vortrag  liiudurcli  und  der  grosse  Bei- 
fall, welcher  ilim  von  der  Mehrzahl  der  Hörer  gezollt  wurde,  er- 
klärt sich  sicher  nicht  zum  mindesten  daraus,  dass  weite  Kreise  der 
Lehrer  diese  Annahme  für  vollkummeu  berechtigt  halten.  Und  doch 
ist  sie  als  eine  völlig  irrige  zu  bezeichnen,  und  es  ist  hier  eine  ver- 
hängnisvolle Verwechslung  untergelaufen. 

Die  modernen  Sprach-  und  Litteraturstudieu  werden  von  den 
Universitätslehrern  im  Gegenteil  für  sehr  schwierig  gehalten,  für 
viel  zu  kompliziert  jedenfalls,  um  mit  ihnen  den  Anfang  macheu  zu 
können.  Geringschätzig  behandelt  wird  nur  die  dilettantische  Art 
und  Weise,  in  welcher  besonders  früher  auf  dem  Gebiete  der 
modernen  Litteratur  herumästhetisiert  (vgl.  S.  35)  und  über  moderne 
Sprachformen  und  Redeweisen  herumphantasiert  wurde,  vor  allem 
wenn  derartige  Ergüsse  subjektiven  Emptindeus  und  derartige  Aus- 
geburten planlosen  Herumtastens  sich  für  ernste  wissenschaftliche 
Forschung  auszugeben  anmassen.    Denn  um  wieder  mit  Vi.  zu  reden: 

., Wissenschaftlich  ist  [litterarische  wie]  sprachliche  Bildung 
nur,  wenn  sie  historisch  ist;  der  Entwickeluugsgedanke  beherrscht 
und  durchdringt  das  gesamte  wissenschaftlich^  Denken  unserer 
Tage"  (S.  23).  ^ 

Warum  ihm  aber  „die  geringe  Anzahl  von  Vorlesungen  und 
Uebungen  über  neuere  Litteratur,  im  besonderen  auch  über  die- 
jenigen Autoren,  die  in  der  Schule  gelesen  werden",  befremdend 
erscheint,  ist  mir  trotz  jeuer  Verwechslung  unbegreiflich.  Bemerkt 
er  doch  selbst  einesteils  S.  34  ganz  tretfend:  „Die  Entwicklung 
der  romanischen  Philologie  in  Deutschland  macht  die  Betonung  der 
mittelalterlichen  Litteratur  wohl  erklärlich.  Von  der  Romantik 
ausgehend,  als  jüngere  Schwester  der  Germanistik,  suchte  die 
Romanistik  auf  ähnlichen  Wegen  ähnliche  Ziele.  .  .  .  Hier  ist  auch 
trotz  der  erdrückenden  Fülle  an  ausgegrabenem  und  gedeutetem 
Material  noch  Arbeit  für  lauge  Zeit.  Hier  ist  auch  rein  französischer 
Boden  ....  Philologische  Methode,  Quellenkunde  und 
Textkritik  ist  au  den  Denkmälern  des  Mittelalters  besser 
zu  lehren  und  zu  lernen,  als  an  modernen  Schriftwerken. 
Urteile  über  Wesen  und  Wirkung  jener  Geisteserzeug- 
uisse  sind  sicherer  zu  gewinnen,  denn  ihre  Epoche  liegt  ab- 
geschlossen vor  uns;  Kämpfe  und  Meinungen  der  Gegenwart  spielen 
dort  nicht  mehr  hinein.",  anderntheils  S.  26:  „Nun  haben  wir  aber 
keine  Professuren  für  französische  Sprache  und  Litteratur,  sondern 
nur  solche  für  romanische  Philologie.  Das  Arbeits-  und  Lehr- 
gebiet des  Dozenten  ist  aber  ein  sehr  umfängliches."  .  .  .  und  end- 
lich S.  25:  „Wer  seine  Lebensarbeit  geschichtlich-kritischer  Forschung 
gewidmet   hat,    wird  kaum   in   der   Lage   sein,   der   gegenwärtigen 


8  Referate  nnd  Rezensionen.     E.  Stengel, 

Sprache  und  Litteratur  auf  Schritt  und  Tritt  zu  folgen  .  .  .  dazu 
ist  die  Forderung  zu  hoch." 

An  einer  anderen  Stelle  (S.  36)  gesteht  W.  sogar  offen  zu, 
dass  der  Ausdehnung  wissenschaltlicher  Forschung  auf  die  neueren 
Phasen  der  französischen  Litteratur  recht  bedenkliche  äussere 
Schwierigkeiten  entgegen  stehen:  „Freilich-,  heisst  es  da,  „noch  ist 
es  meist  unmöglich,  mit  Hilfe  der  Bücherschätze,  die  unsere  öffent- 
lichen Bibliotheken  bieten,  solche  Aufgaben  (sc.  aus  der  neueren 
franz.  Litteratur)  zu  lösen.''  Man  traut  aber  seinen  Augen  kaum, 
wenn  W.  ganz  gelassen  fortfährt:  „Aber  es  braucht  ja  nicht  gleich 
eine  Dissertation  lierauszuspringen!"  Wir  sollen  also  allen  Ernstes 
unsere  Schüler  im  wissenschaftlichen  Arbeiten  an  Stoffen  unter- 
weisen, in  denen  weder  sie  noch  wir  selbst  über  die  ersten  Anfänge 
hinauszukommen  vermögen?  Nein,  da  muss  ich  wenigstens  mich 
schönstens  dafür  bedanken.  Die  unweigerliche  Voraussetzung  dafür, 
dass  Vorlesungen  wissenschaftlichen  Nutzen  für  die  Hörer  haben 
sollen,  scheint  mir  die  volle  Beherrschung  des  einschlägigen  Quellen- 
materials seitens  des  Dozenten  zu  bilden.  Auf  dem  Gebiete  der 
neueren  Litteraturen  ist  aber  das  Quellenmaterial  ein  viel  umfang- 
reicheres und  undurchsichtigeres  als  auf  dem  der  mittelalterlichen. 
Hier  steckt  also  der  wahre  und  durchaus  berechtigte  Grund  dafür, 
dass  die  mittelalterliche  Litteratur  an  deutschen  Universitäten  bis 
jetzt  in  den  Vordergrund  gestellt  wird. 

Es  wird  aber  schon  die  Zeit  kommen,  wo  auch  hier  ein 
Wandel  eintritt.  An  Anzeichen  dazu  fehlt  es  nicht.  ^\^  giebt 
auch  das  wieder  selbst  zu,  denn  S.  24  sagt  er:  „Innerhalb  der 
letzten  Jahre  hat  die  Zahl  der  neuphilologischen  Dozenten  um 
etwas  zugenommen,  eine  weitere  Arbeitsteilung  auch  auf  diesem  Ge- 
biet lässt  sich  spüren.  Die  Zahl  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Hebungen 
gegenüber  den  Vorlesungen  steigt;  die  Methode  des  Universitäts- 
unterrichts möchte  sich  augenscheinlich  hie  und  da  erneuern.  Etwas 
häufiger  als  noch  vor  wenigen  Jahren  begegnet  man,  wenn  man 
die  Vorlesungsverzeichnisse  der  deutschen  Universitäten  durchsieht, 
in  letzter  Zeit  auch  Gegenständen  aus  dem  Gebiet  der  neueren 
französischen   und    englischen  Sprache  und  Litteratur." 

Also  nur  Geduld,  meine  Herren!  Rom  ist  auch  nicht  in  einem 
Jahre  gebaut.  Es  steht  mit  der  neuereu  französischen  Litteratur 
„so  wie  es  mit  der  neueren  deutschen  an  unseren  Universitäten 
stand,  ehe  Männer  wie  Scherer  sie  wissenscliattlich  ehrlich  machten."^ 
(S.  36.)  Möge  bald  eine  wissenschaftlich  gut  geschulte  junge 
Generation  von  Komanisten  und  Anglizisten  erstehen,  die  ihr  Studien- 
gebiet auf  diese  Periode  verpflanzt.  Es  wird  ihr  ebenso  wie  der 
älteren  unschwer  gelingen,  sich  Bürgerrecht  und  Lehrstühle 
an  den  deutschen  Hochschulen  zu  erwerben.     Seitens  der  Fakultäten 


S.  Waefzoldf,  Die  Aufgabe  des  neusjpracMichen  Unterrichts  etc.     9 

werden  sie  volles  Entgegenkommen  finden.  Aber  noch  fehlt  es  an 
Aspiranten.  Ich  bin  wenigstens  in  den  20  Jahren  meiner  Professoren- 
thätigkeit  noch  nie  in  die  Lage  gekommen,  das  Habilitationsgesuch 
eines  Romanisten,  der  vorwiegend  sich  mit  neuerer  französischer 
Sprache  und  Litteratur  beschäftigen  wollte,  zu  begutacliten. 

Höchst  bedenklich  würde  ich  es  daher  halten,  wollte  die  Re- 
gierung, wie  man  wohl  verlangt  hat,  ohne  weiteres  mit  der  Gründung 
von  neufranzösischen  Professuren  vorgehen.  Wäre  sie  dann  doch 
gezwungen,  die  Lehrstühle  zum  grössten  Teil  mit  wissenschaftlich 
durchaus  noch  nicht  hinreichend  bewährten  Kräften  zu  besetzen 
und  das  würde  im  eigensten  Literesse  der  neufranzösischen  Studien 
zu  bedauern  sein.  W.  scheint  auch  nicht  zu  wissen,  welchen 
schwierigen  Stand  manche  Vertreter  mehr  praktischer  Fächer,  wie 
z.  B.  der  praktischen  Theologie,  der  inneren  Medizin  an  den  Universitäten 
haben.  Vestigia  terrent.  Auch  für  die  neuere  Sprache  und 
Litteratur  brauchen  wir  ganze  Leute,  voUgiltige  Vertreter  der 
Wissenschaft.  Und  wenn  W.  S.  34  fragt:  „Muss  das  philologisch- 
kritische Interesse  das  litterarisch-ästhetische  in  jedem  Falle  über- 
wiegen, damit  der  Gegenstand  akademischer  Behandlung  wert  sei?" 
so  bin  ich  keinen  Augenblick  im  Zweifel,  mit    „Ja"    zu  antworten. 

Natürlich  darf  aus  dieser  Bejahung  mit  nichten  die  Kon- 
sequenz gezogen  werden,  welche  W.  daraus  folgern  zu  müssen 
glaubt.  Auch  ich  bedauere  es,  dass  die  Verhältnisse  aus  den  oben 
dargelegten  Gründen  zur  Zeit  den  künftigen  Lehrer  der  neuen 
Fremdsprachen  noch  nötigen,  die  beste  ja  oft  die  einzige  gründliche 
Arbeit  Gegenständen  zu  widmen,  die  ihrer  künftigen  Lebens- 
aufgabe fern  liegen.  Ich  erwarte  indessen  mit  Zuversicht,  dass  die 
Entwicklung  unserer  Wissenschaft  hier  Abhilfe  schafien  wird  und 
bestreite  nui-,  dass  der  Machtspruch  irgend  eines  neuen  Prüfuugs- 
reglements  ebenso  wenig  wie  der  gute  Wille  eines  Einzelnen  an  den 
thatsächlichen  Verhältnissen  im  Handumdrehen  etwas  wesentliches  zu 
ändern  im  Stande  ist.  Ein  neues  Prüfungsregiement  wird  natürlich  sehr 
wohl  die  herkömmliche  wissenschaftliche  Ausbildung  unterbinden  können, 
aber  an  ihre  Stelle  eine  gleichwertige  anders  geartete  Ausbildung 
zu  setzen,  wird  es  nicht  vermögen.  Noch  kein  Zauberlehrling, 
bekleide  er  auch  eine  noch  so  massgebende  Stelle  in  der  Unterrichts- 
verwaltung, hat  es  fertig  gebracht  einen  Wissenscliaftszweig  zu 
schaffen.  Solche  Organismen  wollen  ihre  Zeit  liaben,  mau  mag  sie 
pflegen  und  dadurch  kräftigen,  aber  dekretieren  lässt  sich  ihr  Wachs- 
tum nicht.  In  der  jetzt  so  weit  verbreiteten  Neigung  zum 
Dekretieren  liegt  geradezu  eine  Gefahr  für  eine  gesunde  Entwick- 
lung unserer  Wissenschaft.  Unzweifelhaft  würde  bei  Einführung 
eines  Prüfungsreglements,  wie  mau  es  letzten  Sommer  noch  plante, 
die  selbst  nach  W.  notwendige  Anleitung  der  Studierenden  zu  wissen- 


10  Referate  und  Rezensionen.     E.  Stengel, 

schaftliclier  Forschung  für  die  grosse  Mehrzahl  vöUifr  illusorisch 
werden.  Ist  doch  schon  unter  den  jetzt  geltenden  Bestimmungen 
eine  im  heutigen  Sinne  genügende  fachwissenschaftliche  Ausbildung, 
wenn  nicht  unmöglich,  doch  jedenfalls  nur  sehr  schwer  zu  erreichen. 
Und  das  schlimmste  dabei  ist,  dass  die  den  Fachwissenschaften  ent- 
zogene Kraft  nicht  einmal  der  praktischen  zu  Gute  kommt,  son- 
dern auf  Einpauken  von  Examen-. ,Cram",  welcher  von  höchst 
problematischem  Werte  für  die  spcätere  Lehrthätigkeit  ist,  verwandt 
werden  muss.  Die  Prüfung  in  der  sogenannten  allgemeinen  Bildung 
nämlich  und  die  in  den  Nebenfächern,  welche  sich  früher  nament- 
lich bei  uns  in  bescheidenen  Cxrenzen  hielt,  hat  durch  das  Gosslersche 
B,eglement  einen  Umfang  und  eine  Bedeutung  erhalten,  die  jede 
solide  Fachausbildung  und  besonders  die  der  Neuphilologen  zu  unter- 
binden geeignet  ist.  Durch  dieses  Reglement  wird  es  ja  nicht  nur 
jedem  einzelnen  Examinator  anheimgegeben,  völlig  selbständig  über 
den  Ausfall  der  von  ihm  vorgenommenen  Prüfung  zu  entscheiden, 
sondern  es  darf  auch  keinem  Kandidaten  überhaupt  ein  Zeuguiss 
ausgestellt  werden,  der  auch  nur  in  einem  Fache  der  allgemeinen 
Bildung  den  Anforderungen  seines  Examinators  nicht  zu  entsprechen 
vermochte.  Um  ein  einfaches  Lehrerzeugnis  ausgestellt  zu  erhalten, 
bedarf  es  also  für  den  Neuphilologen  ausser  des  Nacliweises  allgemeiner 
Bildung  in  Philosophie,  Pädagogik,  Religion  und  Deutsch,  der  Zu- 
erkennung  der  Lehrbetähignng  für  Latein  in  den  unteren,  für  ein 
weiteres  Nebenfach  in  den  mittleren  und  für  die  beiden  Hauptfacher 
gleichfalls  in  den  mittleren  Klassen.  Mag  der  Kandidat  in  seinen 
Hauptfächern  auch  die  besten  Kenntnisse  aufweisen  und  die  volle 
Fakultas  zugesprochen  bekommen,  er  bleibt  unrettbar  durchgefallen, 
wenn  er  ein  Manko  irgendwo  anderwärts  aufzuweisen  hat.  AVer 
sich  dagegen  eben  noch  glücklich  an  den  Klippen  der  allgemeinen 
Bildung  und  Nebenfächer  vorbeigedi'ückt  und  dazu  auch  in  den  beiden 
Haupttächern  zur  Not  die  Lehrbefähigung  für  mittlere  Klassen  er- 
worben hat,  der  bekommt  anstandslos  sein  Zeugnis  und  darf  sofort 
den  Vorbereitungsdienst  antreten. 

Setzt  eine  solche  Einrichtung  nicht  geradezu  eine  Prämie  auf 
die  Vernachlässigung  der  Haupttächer  zu  Gunsten  der  übrigen 
Prüfungsgegenstände?  Und  das  geplante  neue  Prüfungsreglement? 
Es  wollte  nach  dem,  was  W.  seinerzeit  daraus  mitteilen  konnte  — 
jetzt  aber  im  Druck  weggelassen  hat  — ,  den  gegenwärtigen  ]\Iiss- 
stand  nur  noch  verschärfen.  Wollte  es  doch  eine  Zwischenprüfung 
in  der  Mitte  der  Studienzeit  für  gewisse  Nebenfächer  einrichten, 
die  für  alle  Kandidaten  verbindlich  sein  sollten,  und  in  denen  auch 
jeder  Kandidat  die  Lehrbefähigung  für  die  mittleren  Klassen  nach- 
weisen sollte!  Zu  diesen  für  Philologen  wie  Naturwissenschaftler 
gleich  verbindlichen  Fächern  zählte  auch  Religion! 


S.  Waetzöldt,  Die  Aufgabe  des  neuspracMichen  Unterrichts  etc.   11 

W.  fand  gegen  dieses  haarsträubende  Projekt  durchaus  nichts 
einzuwenden  und  deutete  auch  mit  keinem  Worte  auf  die  für  die 
Ausbildung  des  gesamten  höheren  Lehrerstandes  verhängnisvollen,  oben 
erörterten  Einrichtungen  hin,  wie  sie  schon  jetzt  zu  Eecht  bestehen. 
Ja  nicht  genug,  während  der  Kandidat  des  höheren  Lehramtes 
schon  jetzt  den  an  ihn  gestellten  Forderungen  nur  höchst  mangel- 
haft gerecht  zu  werden  vermag  —  und  zwar,  wie  hervorgehoben 
werden  muss,  trotz  durchschnittlich  weit  eifrigeren  Studiums  als 
namentlich  bei  Juristen  üblich  ist  —  glaubt  W.  an  den  Neuphilologen 
noch  eine  ganze  Reihe  weiterer  Anforderungen  stellen  zu  dürfen, 
Antorderungen,  die  sich  zwar  recht  hübsch  anhören,  die  aber  bei 
den  jetzigen  und  hoffentlich  auch  künftigen  Anschauungen  von 
üniversitätsbildung  nimmermehr  in  gleicher  Weise  und  gleichzeitig 
von  jedem  einzelnen  Kandidaten  der  neueren  Philologie  erfüllt 
werden  können. 

Sollte  der  Staat  glauben,  dass  auch  diesen  Anforderungen  W.'s 
von  allen  neuphilologischen  Kandidaten  entsprochen  werden  müsse, 
so  bliebe  ihm  allerdings  nichts  übrig,  als  die  Errichtung  von  eigenen 
Fachschulen,  unsere  heutigen  Universitäten  sind  dafür  völlig  un- 
brauchbar. Freilich  wäre  es,  um  wiederum  mit  W.  zu  sprechen, 
„ein  eigenes  Verhängnis,  müsste  man  in  einer  Zeit,  wo  die  fran- 
zösische Unterrichtsverwaltung  immer  neue  Anstrengungen  macht, 
die  zerstreuten  Fakultäten  nach  deutscher  Art  zu  Universitäten  zu 
einigen  ...  in  dem  eigentlichen  Lande  der  Universitäten  an  die 
Errichtung  von  Fachschulen  für  Gymnasiallehrer  gehen."     (S.  19.) 

Ich  muss  es  mir  versagen  noch  weiter,  wie  bisher,  ins  Einzelne 
meine  W.  entgegengesetzten  Anordnungen  darzulegen.  Das  bisher 
Gesagte  dürfte  genügen.  Ich  will  daher  nur  noch  kurz  folgendes 
bemerken:  W.'s  Vorschlag  in  These  3,  wonach  „bei  der  Meldung 
zur  Prüfung  für  das  höhere  Lehramt  in  der  Regel  der  Nachweis 
eines  mehrmonatlichen  Aufenthaltes  im  Auslande  zu  erbringen"  sein 
soll,  scheint  mir  aus  nachstehenden  Gründen  undurchführbar:  1.  wegen 
des  Kostenpunktes  (Wollte  man  alle  die,  welche  noch  nicht  im  Aus- 
lande waren,  von  der  Prüfung  ausschliessen ,  so  würde  sehr  bald 
der  erforderliche  Nachwuchs  ausbleiben),  2.  wegen  der  oben  be- 
sprochenen Prüfungs  -  Bestimmungen  hinsichtlich  der  Nebenfächer 
und  der  allgemeinen  Bildung  (Soll  der  Aufenthalt  im  Auslande  für 
die  praktische  Sprachausbildung  von  nachhaltigem  Nutzen  sein ,  so 
muss  aller  Fleiss  und  alles  Interesse  auf  die  Erlernung  der  fremden 
Sprache  verwandt,  die  für  jene  anderen  Wissenszweige  erforderlichen 
Studien  also  vernachlässigt  und  damit  die  Gefahr  eines  gänzlichen 
Durchfalls  nur  um  so  wahrscheinlicher  werden),  3.  wegen  der  in 
Genf,  Lausaune  und  Neuchätel  drohenden  Ueberfüllung  mit  deutschen 
Neuphilologen,   durch  welche  die  Erreichung  wirklicher   praktischer 


12  Beferate  und  Rezensionen.    E.  Stengel, 

Feistigkeit  im  Französischen  für  die  meisten  Studierenden  ebenso 
unmöglich  werden  würde,  wie  derzeit  in  Deutschland  selbst. 

In  These  4  verlangt  W. :  „Lehramtskandidaten  mit  der  Be- 
fähigung zum  neusprachlichen  Unterricht  auf  der  Oberstufe  haben 
die  Hälfte  des  Probejahres  im  Auslande  zuzubringen.'-  Auch  dieses 
Verlangen  wird  sich  so  leicht  nicht  ausführen  lassen.  Der  Herr 
Minister  hat  ja  inzwischen  angeordnet,  dass  die  zweite  Hälfte  des 
Probejahres  von  neuphilologischen  Kandidaten  im  Auslande  zu- 
gebracht werden  darf  (vergl.  Pädag.  Wochenblatt  II.  No.  9);  anzu- 
ordnen, dass  es  dort  verbracht  werden  müsse,  steht  solange  ausser 
seiner  Macht,  als  er  nicht  über  die  für  Ausführung  einer  solchen 
Forderung  nötigen  Mittel  verfügen  kann  und  damit  wird  es  noch 
lange  gute  Wege  haben. 

W.'s  Thesen  5  und  7  wird  jedermann  ohne  Bedenken  zu- 
stimmen. Leider  ist  es  ja  manchen  Provinzial- Schul -Kollegien 
gegenüber  noch  nötig  die  eigentlich  selbstverständliche  These  7  aus- 
drücklicli  aufzustellen.  Dagegen  kann  ich  mich  für  These  6  nicht  er- 
wärmen. Vierwöchentliche  Ferienkurse  für  Neuphilologen  etwa 
in  Berlin  würden  Geldmittel  seitens  des  Staates  und  der  Teil- 
nehmer beanspruchen,  welche  in  zu  grellem  Missverhältnisse  mit 
den  daraus  (namentlich  für  die  ^'ervollkommnung  in  der  Sprach- 
fertigkeit) zu  erhoffenden  Nutzen  ständen.  Wären  die  nötigen  Mittel 
flüssig  zu  machen,  so  würden  sie  jedenfalls  nutzbringender  angelegt, 
indem  möglichst  vielen  Lehren  wiederholt  Beisteuern  zu  einer  Aus- 
landsreise gewährt  und  im  Auslande  selbst  tür  ihre  geeignete  Unter- 
kunft und  für  jedwede  sonstige  Förderung  ihrer  Zwecke  Sorge  ge- 
tragen würde.  Leute,  welche  zu  steif  geworden  sind,  um  eine  Reise 
ins  Ausland  zu  wagen,  werden  sicher  auch  in  Berlin  in  vier  Wochen 
nichts  Wesentliches  an  ihren  französischen  Sprachkenntnissen  ver- 
bessern. 

Ich  schliesse  diese  meine  schon  allzu  lange  Besprechung  von 
W.'s  Vortrag  mit  dem  Wunsche,  dass  bei  künftigen  Erörterungen  der 
jedenfalls  hochwichtigen  Frage  nie  ausser  Augen  gelassen  wei'den 
möge,  dass  historisch  gewordene  Verhältnisse  im  Handumdrehen  nicht 
zu  ändern  sind,  und  dass  man  für  Missstände,  die  sich  aus  diesen 
Verhältnissen  ergeben,  nicht  einseitig  nacli  einem  Prügeljungen 
suchen  soll,  dem  man  alle  Verantwortunsr  auflastet,  wälirend  er  doch 
meistenteils  ganz  unscliuldig  an  allem  wirklichen  oder  eingebildeten 
Unheil  ist.  Wenn  ich  im  Vorstehenden  mich  dagegen  verwahrt  habe, 
dass  W.  den  neuphilologischen  Universitätslehrern  eine  ähnliche  Rolle 
zudiktierte,  so  will  ich  darum  doch  keineswegs  behaupten,  dass  unsere 
Thätigkeit  über  jede  Kritik  erhaben  wäre. 

Wir  wissen  es  sehr  gut.  dass  die  Ausgestaltung  der  romani- 
schen Philologie   noch  recht  viel  zu  wünschen  übrig  lässt,  dass  die 


S,  Waetzoldt,  Die  Aufgabe  des  neusprachlichen  Unterrichts  etc.   13 

Ausbildung  der  Lehrer  der  neueren  Fremdsprachen  auch  in  wissen- 
schaftliclier  Hinsicht  noch  sehr  verbesserungsbedürftig  ist.  Nicht 
Engherzigkeit  aber  ist  es,  welclies  die  meisten  von  uns  davon  abhcält, 
das  Gebiet  der  Realien  mit  in  den  Kreis  ihrer  engeren  Studien  ein- 
zubeziehen.  Eine  wissenschaftliche  Vertiefung  in  das  so  vielgestaltige 
öffentliche  und  private  Leben  der  mittelalterlichen  und  modernen 
Völker  ist  eben  für  den,  dessen  nächste  Aufgabe  die  Erforschung 
ihrer  Sprachen  und  Literaturen  ist  und  bleiben  muss,  ein  Ding  der 
Unmöglichkeit.  Nm-  selbst  Erforschtes  oder  wenigstens  Nachgeprüftes 
vorzutragen,  ist  aber  die  Aufgabe  des  Dozenten.  Ist  W.  im  Stande 
es  durchzusetzen,  dass  auch  für  die  romanischen  und  englischen  Re- 
alien Lelu'stühle  errichtet  werden,  so  werden  ihm  alle  derzeitigen 
Vertreter  der  neueren  Philologie  an  unseren  Universitäten  zu  grossem 
Danke  verpflichtet  sein.  Solange  aber  muss  er  mit  gelegentlichen 
Ausblicken,  an  denen  es  übrigens  wohl  kein  Dozent  fehlen  lässt, 
zufrieden  sein.  Überhaupt  sollte  nicht  vergessen  werden,  welche 
ganz  bedeutenden  Fortschritte  die  neuere  Philologie  seit  1870  ge- 
macht hat  und  wieviel  kläglicher  es  vor  dieser  Zeit  selbst,  was  die 
praktische  Ausbildung  der  Neusprachler  anlangt,  an  deutschen 
Universitäten  aussah.  Auch  ohne  das  Schreckgespenst  einer  neu- 
philologischen  Ecole  normale  wird  also  zweifellos  im  20steii  Jahr- 
hundert im  neuphilologischen  Universitätsbetrieb  manches,  auch  was 
die  unmittelbare  Vorbereitung  zum  Lehrerberufe  anlangt,  besser 
werden.  Dahin  nach  Kräften  und  in  voller  Eintracht  zu  wirken 
muss  und  wird  stets  eine  Hauptaufgabe  der  neuphilologischen  Pro- 
fessoren und  Schulmänner  und  unseres  beide  Gruppen  zusammen- 
haltenden Verbandes  bilden.  Das  ist  ja  auch  das,  was  der  Verfasser 
erstrebt  und  für  sein  redliches  Bemühen  darf  auch  ich,  trotz  tief- 
gehender Meinungsverschiedenheiten  über  die  einzuschlagenden  Wege 
ihm  meinen  Dank  nicht  vorenthalten. 

E.  Stengel. 


Prou,  Maurice.  Manuel  de  paleographie.  Becueil  de  fac-simiUs 
d'ecritures  du  XII^  au  XVII^  siede  (manuscrits  latins  et 
Jrangais)  accompagnes  de  transcriptions.  Paris,  1892.  Al- 
phonse  Picard.     XII  planches.     Folio.     6  Frcs. 

Aus  dem  Titel  manuel  de  paleographie  —  eine  Vorrede  fehlt  — 
darf  man  wohl  schliessen,  dass  diese  Facsimiles  das  im  Jahre  1890 
unter  gleichem  Titel  erschienene  Handbuch  desselben  Verfassers  er- 
gänzen sollen,  das  in  dieser  Zschr.  XII  ^  225  ff.  besprochen  wurde. 
Die  Schriftproben  sind  durch  Photocullographie  vortrefflich  wieder- 
gegeben und,  was  eine  löbliche  Zugabe  ist,   auf  den  Nebenblättern 


14  Referate  und  Rezensionen.     J.  Stürzinger,  • 

im  ganzen  richtig  umschrieben:  aufgefallen  ist  mir,  dass  die  Um- 
schrift von  pl.  X.  auf  den  2  letzten  Zeilen  nicht  vollständig  ist  und 
dass  Prou  bei  seinen  Lesern  sehr  wenig  Sprachkenntnis  voraussetzen 
muss,  da  er  in  den  französischen  Texten  pl.  V,  VI  u.  a.  gegen  die 
Originale  Accente  setzt.  Das  ist  nicht  „ti-anscription''.  Die  12 
Tafeln  mit  etwa  20  Proben  sollen  die  Schrift  im  12.  — 17.  Jahr- 
hundert darstellen.  Vernünftigerweise  sind  sie  fast  alle  datierten 
Originalen  entnommen:  das  ist  in  der  That  der  einzige  Weg.  den 
Schüler  zur  richtigen  Schätzung  von  nicht  datierter  Schrift  hinzu- 
leiten. Die  Originale  sind  mit  einer  Ausnahme  alle  in  Frankreich 
entstanden  und  jetzt  zumeist  in  der  Bibliotheque  Nationale  auf- 
bewahrt, häufiger  in  lateinischer  als  in  französischer  Sprache  ab- 
gefasst  und  die  Mehrzahl  ihrem  Charakter  entsprechend  nicht  in 
Buchschrift,  sondern  in  Cursive  (Verträge,  Notizen,  Rechnungen 
dgl.)  geschrieben. 

Durch  die  Auswahl  und  Zahl  der  Proben  bin  ich  arg  ent- 
täuscht worden.  Auch  wenn  diese  Sammlung  ausschliesslich  für 
französische  Unterrichtszwecke  berechnet  ist,  so  muss  doch  ihre 
Dürftigkeit  stark  auffallen.  Mag  die  Beschränkung  auf  die  an  Hand- 
schriften reichsten  Jahrhunderte  XII— XVII  immerhin  gelten,  durch 
die  ausgewählten  Proben  wird  weder  die  Bücher-  noch  die  Urkunden- 
schrift mit  ihrer  Mannigfaltigkeit  in  Frankreich  selbst  auch  nur  an- 
nähernd zur  Anschauung  gebracht.  Die  ausserfranzösischen  Sclirift- 
gattungen  werden  ganz  beiseite  gelassen,  obwohl  ihnen  der  französische 
Student  in  den  reichen  Bibliothek-  und  Archivschätzen  seines  Vater- 
landes auf  Schritt  und  Tritt  begegnet.  Solch  ein  enger  Standpunkt 
Hesse  auf  ein  recht  tiefes  Niveau  der  i)aläographischen  Studien  in 
Prou's  Heimat  schliessen,  wenn  man  nicht  wüsste,  dass  Frankreich, 
wo  die  Wiege  der  Paläographie  gestanden  hat,  auch  heute  noch  die 
hervorragendsten  Vertreter  dieser  Wissenschaft  stellt.  Die  Ent- 
schuldigung, ein  möglich;>t  billiges  Lehrmittel  zu  schaffen,  kann 
nicht  vorwalten,  denn  sonst  hätte  man  die  Umschrift  gewiss  nicht 
so  unnütz  vornehm  ausgestattet.  In  Deutschland  hat  Prous  Aus- 
wahl schwerlich  Absatz  zu  erwarten.  Denn  wer  nicht  so  glücklich 
ist,  die  mustergültigen  Blätter  der  Palaeographical  Societj^  benutzen 
zu  können,  wird  in  Arndts  Sehr ifftaf ein  und  für  die  jüngste  Zeit  in 
Thommen's  Sc] iriffj) rohen  ^Basel  1888)  immer  noch  ein  weiteres 
Uebungsfeld  für  seine  Studien  linden. 

G.  Gundermann. 


Floris  et  Liriope.  Alifranzösischer  Roman.  15 

rioris  et  Liriope.  Alffranzösischer  Roman  des  Robert  de  Blois. 
Zum  1.  Mal  herausgegeben  von  Dr.  W.  vonZingerle. 
Leipzig  (Reisland)  1891.  Kl.  8°  XXX,  52.  =  Altfranzö- 
sische Bibliothek,  zwölfter  Band. 

Floris  und  Liriope.  Ein  attfransösischer  Roman  des  XIII.  JaJir- 
lumdetis  zusammen  mit  der  Chanson  d'Amors  und  den 
lyrischen  Gedichten.  Nach  den  beiden  Haupthandschriften 
herausgegeben  von  Dr.  J.  Ulrich.  Berlin  (Mayer  &  Müller) 
1891.  8",  II,  150.  [=  Robert  von  Blois'  sämmtliche  Werke 
herausgegeben  von  Dr.  J.  Ulrich.     Band  IL*)] 

Robert  von  Blois'  Romanz  de  Floris  et  de  Florie  et  de  Liriope, 
eine  erweiterte  Bearbeitung  der  Narcissussage  Ovid's,  liegt  uns 
hier  in  zwei  gleichzeitig  erschienenen  Ausgaben  vor.  Keine  der 
beiden  kann  als  endgültige,  berechtigte  Ansprüche  befriedigende 
bezeichnet  werden.  Die  von  Zingerle  beruht  auf  ungenügender 
Materialkenntnis  und  hat  infolgedessen  unnöthige  Aenderungen  und 
sehr  oft  widersinnige  Interpunktion.  Die  Ulrich's  gibt  zwar  das 
handschrittliche  Material,  aber  in  unzuverlässiger  Weise.  Bei  dem 
geringen  Umfang  des  Textes  (1760  Achtsilbler)  und  dem  einfachen 
Handschriftenverhältnis  war  die  Aufgabe  keine  schwierige.  Der 
Roman  ist  nämlich  nur  in  2  Pariser  Handschriften  überliefert,  in 
A  (=  Arsenalhandschrift  5201)  und  N  (Biblwtheque  Nationale,  f.  frg. 
24301).  In  A  ist  der  Text  besser,  wenn  auch  nicht  tadel-  oder 
ganz  lückenlos  erhalten  (es  scheinen  die  V.  29 — 30  u.  310  zu  fehlen). 
N  hat  dagegen  verschiedene  Lücken  von  19  Versen  im  Ganzen,  sinn- 
verwirrende Umstellungen  von  einzelnen  Versen,  wie  750 — 60  zwischen 
724  und  725  oder  von  Worten  wie  1409  (^1398  Z),  wodurch  die 
Interpolation  von  V.  1400  (Z)  veranslasst  wurde,  und  die  Lesarten 
von  N  sind  fast  durchweg  schlechter  als  die  von  A. 

Von  diesen  zwei  Handschriften  bringt  nun  Zingerle  die  schlechtere 
(N)  zum  Abdruck,  von  der  besseren  wird  nur  ein  Bruchteil  der  Les- 
arten in  den  Fussnoten  gegeben  und  fast  gar  nicht  verwertet. 
Dieses  Verfahren  sucht  Zingerle  dadurch  zu  entschuldigen,  dass  er 
erst  spät  Kenntniss  von  der  Handschrift  A  bekommen  und  sich  dann 
mit  einer  Kollation  Ulrich's  habe  begnügen  müssen,  als  ob  es  nicht 
eines  Herausgebers  erste  Pflicht  wäre,  das  handschriftliche  Material 
zu  kennen  und  zu  sammeln.  Schwer  begreiflich  bleibt  es  immer, 
wie  diese  Handschrift  A  dem  Herausgeber  hat  entgehen  können,  da 


*)  Für  die  Anzeige  dieser  beiden  Ausgaben  beabsichtigte  ich  die 
wichtige  Arsenalhandschrift  während  der  Ferien  in  Paris  zu  vergleichen 
und  desshalb  wurde  die  Besprechung  verschoben.  Krankheit  hat  leider 
dieses  Vorhaben  vereitelt. 


16  Referate  und  Rezensioneyi.    J.  Stürzinger, 

dieselbe  schon  von  Roquefort  (De  Väat  de  la  poesie)  zur  Beurteilung- 
von  Robert  de  Blois  benutzt  und  neuerdings  1887  von  P.  Meyer  in 
der  Bomania  p.  24 — 72  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Werke 
Robert's  ausführlich  beschrieben  wui'de. 

Dass  Zingerle  über  den  Wert  und  das  Verhältniss  der  beiden 
Handschriften  nichts  sagt,  mag  man  unter  diesen  Umständen  als  Vorsicht 
deuten,  denn  die  Kollation  scheint  eine  sehr  unzulängliche  gewesen 
zu  sein,  wenigstens  sind  ganze  Verse,  die  A  mehr  hat,  wie  die 
zwei  111  und  112,  583  und  584,  die  vier  828  bis  831  und  1187, 
und  eine  Reihe  von  andern  Sinnvarianten  unter  den  Lesarten  von 
A  nicht  verzeichnet.  Allein  auch  die  aufgeführten  Lesarten  hätte 
ein  Herausgeber,  dem  es  um  das  Verständniss  seines  Textes  zu  thun 
gewesen,  gewiss  aufmerksamer  benutzt.  Zingerle  hat  meist  nur  bei 
nebensächlichen  orthographischen  Aenderungen  A  in  den  Text  auf- 
genommen, so  44  mit  A  <£fs  für  cef,  bl  rosiers  für  rosier,  58  einer  & 
für  cMer,  123  vnes  für  vne,  223  oscur  für  ocur,  226  hrunez  für  hrunet, 
252  graues  für  grade,  271  hiens  für  bien,  485  coH  für  cor,  604  envers 
für  enver  u.  s.  w.  und  bei  handgreiflichen  Versehen  N  korrigiert  wie 
221  blonde  (A)  für  blöde  (N),  354  Fusf  norrie  ( :  compaignie )  für 
Fussent  norri,  500  fait  für  fönt,  906  la  tür  U,  1203  pucele  für  du- 
chesce.  AVie  oft  aber  A  auch  sonst  den  Vorzug  verdient  hätte,  das 
hat  die  lange  Besserungsliste  Förster's  im  Archiv  für  neuere  Spraclioi 
LXXXVIII  p.  381 — 85  gezeigt.  Diese  eingehende  Reinigung  des 
Textes  von  Seiten  Förster's  überhebt  mich  der  Mühe,  eine  solche 
hier  zu  wiederholen. 

Ich  will  nur  noch  einiges  über  die  Beigaben  zum  Text  be- 
merken. Es  hätten  die  Lesarten  stets  mit  dem  Siegel  der  Hs. 
bezeichnet  werden  dürfen ;  daduixh  wären  wohl  verschiedene  Irrtümer 
vermieden  worden.  Z.  bezeichnet  nur  die  Lesarten  von  N.  Danach 
wären  z.  B.  565  fehlt .ya,  698  toiües  iouentes,  709  cor,  872  et  danioiselc, 
1269  fehlt  que  Lesarten  von  A,  nach  Ulrich's  Ausgabe  und  ein- 
geholter Bestätigung  aus  Paris  sind  es  aber  solclie  von  N. 

Die  Einleitung  bietet  weder  im  litterarhistorischen  Teil  (V  bis 
XIII)  noch  im  grammatischen  (XIV — XXX)  viel  Interessantes. 
Jener  entliält  eine  Inhaltsangabe  und  einen  Vergleich  mit  dem  Narcissus- 
Fableau  (edit.  Meon  IV  143),  dieser  Laut-  und  Formenlehre  des 
Textes  nach  dem  Ms.  N.,  letzterer  also  eine  Wiederholung  dessen, 
was  M.  Colvin  in  ihrer  Dissertation  auf  Grund  viel  ausgedehnteren 
Materials  bereits  gethan  hatte. 

Die  1^/2  Seiten  Anmerkungen  und  Wortverzeichniss  sind 
kaum  erwähnenswert;  unter  den  37  Wörtern  des  Verzeichnisses  sind 
18  allbekannte  aufgeführt,  die  mit  einem  Hinweis  auf  die  Lautlehre 
p.  XVI  hätten  abgethan  werden  können,  denn  sie  haben  sämtlich 
die   östliche  Schreibweise  von  vortonigem  a  für  es   und    umgekehrt 


Floris  et  Liriope.     Alifranzösischer  Roman.  17 

gemeinsam  (ahahi  =  esbahi,  acondire  =  escondire,  esseoir  =  asseoir) 
und  mit  Ausnahme  von  aj^ris  =  espris  konnte  keins  zu  Verwechs- 
lungen Anlass  bieten;  wohl  aber  hätten  die  nicht  aufgeführten 
acMs  =  echecs  263,  apert  =  espert  210,  211,  363,  384,  apertement 
=  esp.  868,  aprisier  =  esprisier  1021,  atraire  =  estraire  629  gerade 
aus  letzterem  Grund  erwähnt  werden  dürfen.  Statt  der  selbst- 
verständlichen contier  =  contoier,  dongier  =  dangier,  donree  =  denree, 
QU  =  el  (en  le),  hätten  wohl  eher  Worte  wie  fomerois  91,  wovon 
Cfodefroy  (ßimeras)  nur  ein  Beispiel  hat ;  norrois  383  (soi  faire  — ) 
Synonym  von  espeii,  legier,  in  welcher  Bedeutung  es  bei  Godefroy 
nicht  verzeichnet  ist,  ester  893  (hien  li  esta),  die  Form  ploge  für 
phiie  844  u.  a.  Aufnahme  verdient. 

So  ist  denn  durch  diese  Ausgabe  weder  das  Werkchen  Eobert's 
in  kritisch  gesicherter  oder  auch  nur  in  lesbarer  Form  dargestellt, 
noch  in  litterarischer  und  grammatisch-lexikalischer  Beziehung  Erheb- 
liches geleistet  worden.  Das  einzige  was  sich  der  Ausgabe  nach- 
rühmen lässt  ist,  dass  sie  die  minderwertige  Handschrift  N  getreuer 
wiedergibt  als  die  Ulrich's. 

Ulrich  bringt  die  beiden  Handschriften  A  und  N  nebeneinander 
zum  Abdruck.  Seine  Abänderungen  beschränken  sich  auf  die  still- 
schweigende Auflösung  der  Abkürzungen,  die  Regularisierung  des 
Gebrauchs  der  v,  u,  i  und  j,  die  Anwendung  grosser  Buchstaben, 
der  Klammern  (  )  [  ]  und  der  Interpunktionszeichen. 

Er  verzichtet  also  ebenfalls  darauf,  uns  einen  gesicherten 
Text  zu  geben.  Von  dem  Herausgeber  sämtlicher  Werke  Robert 
de  Blois'  muss  das  eigentlich  verwundern,  da  er  doch  wohl  im 
Besitz  des  ganzen  handschriftlichen  Vorrats  sein  wird  und  daher  allein 
im  Stande  ist,  diese  letzte  Aufgabe  zu  lösen.  Nun  sich  aber  ü. 
damit  begnügt,  das  Material  zu  liefern,  so  wollen  wir  zufrieden 
sein,  wenn  dieses  als  zuverlässig  sich  erweist.  Ich  fürchte,  dass 
dies  nicht  der  Fall  ist.  Eine  Vergleichung  des  Textes  von  N  bei  Zingerle 
und  Ulrich  hat  solche  Verschiedenheiten  zu  Tage  gefördert,  dass  ich 
mir  durch  gütige  Vermittlung  von  A.  Thomas  die  wichtigsten  Sinn- 
varianten in  der  Handschrift  habe  nachprüten  lassen  und  das  Resultat 
ist  nicht  zu  Gunsten  Ulrich's  ausgefallen,  wie  die  Collation  hier 
zeigen  wird. 
Vers       34    bei  Z  fehlt  U,  steht  im  Ms.  =  Z. 

„          84    par  saison  U]  j^a/'  raison  Z  =  N. 

126     u.  125  umgestellt  U]  =  123  u.  124  Z  =  N. 
250    de  paradis  U]  de  ßors  de  lis  Z  240  =  N. 

„        268     romanes  U  (-j-  1)]  romans  Z  264  =  N. 
270     Conter  ü]   Toutes  Z  266  =  NA. 

„        313     et  drois  (—  1)  ü]  et  adrois  Z  309  =  N. 

Ztsclir.  f.  frz.  .Snr.  ;i.  Litt.    XV-.  2 


18  Referate  und  Rezensionen.    J.  Stürzinger, 

Vers     335  semblance  et  ßgure  U]  semblance  figure  Z  331  =  N. 

„       443  est  U]  cest  Z  439  =  N. 

445  Qu'il  U]  N'ü  Z  441  =  N. 

,        464  ve[oi]r  U]  avoc  Z  460  =  N. 

475  la  U]  sa  Z  471  =  N. 

499  fut  ü  i  U]  fut  l  il  Z  495  =  C. 

502  croi  U]  voi  Z  498  =  N. 

„       569  je  poroie  U]  ie  ja  poroie  Z  565,  N  =  U. 

„        628  et  si  respont  U]  par  lui  respont  Z  622  =  N. 

„       674  Lasse  U]  Biaus  ßz  Z  668  =  N. 

„        706  toutes  joventes  ü]  tonte  jouente  Ti  698,  N  ^  U. 

717  c'or  U]  car  Z  709,  N  =  U. 

„        726  Tonte  ausi  U]   Tom^  awsi  Z  719,  N  Toe^^  a«(ssi. 

812  ta  U]  Zrt  Z  806  =  N. 

840  gralle  UJ  graice  Z  830  =  N. 

877  fist  U]  fZis^  Z  867  =  N. 

„        882  et  damoisele  U]  Za  dam.  Z  872,  N  =  ü. 

929  es  U]  es<  Z  919  =  N. 

„      1010  teig  U]  t'ain  Z  1000  =  N. 

„      1101  m'estorra  ü]  mestoura  Z  1091  =  N. 

„      1102  porra  grantir  U]  poroit  garent.  Z  1092  =  N. 

„     1124  ce  U]  ie  Z  1114,  N  =  U. 

„     1164  Ie  ü]  se  Z  1154  =  N. 

„      1232  dewo«e  ü]  fiewoie  Z  1232  =  N. 

,      1241  vient  U]  vi)ü  Z  1231  =  N. 

„      1258  failUer  U]  faillir  Z  1248  =  N. 

„      1279  li  mot  U]  li  que  mot  Z  1269,  N  =  U. 

„      1316  ke  tort  a  U]  k'ele  a  tort  Z  1304  =  N. 
„      1410^  fehlt  U]  Z  1400  =  N. 

„      1473  di  U]  de  Z  1463  =  N. 

„      1480  hon  U]  hien  Z  1470  =  N. 

„      1550  verge  presis  U]  rierge  preist  Z  1540  =  N. 

„      1555  Si  en  U]  S'en  Z  1545,  N  =  U. 

„      1556  ies  U]  Ses  Z  1546  =  N. 

„     1560  est  U]  cest  Z  1550  =  N. 

„      1572  de  U]  (?efs)  Z  1562  =  N. 

„      1574  o?t  U]  et  Z  1564  =  N. 

„      1717  a7  U]  o/Z  Z  1705  =  N. 

Einzelne  dieser  Abweichungen  (250,  335,  674,  812,  1102,  1316, 
1410^,  1572)  scheinen  allerdings  Aenderungen  nach  A  zu  sein  (dar- 
über gibt  nichts  Aufschluss,  übrigens  wäre  dies  Verfahren  nicht  zu 
billigen),  allein  der  groben  Versehen  bleiben  auch  so  genug,  dass  der 
Abdruck   als  zuverlässig  nicht  bezeichnet  werden  kann;   und  nimmt 

man  dann  die   noch   zahlreicheren   orthographischen  Abweichungen 


i 


Floris  et  Liriope.     Altfranzösisclicr  Roman.  19 

hinzu,  die,  nach  einer  Kollation  der  ersten  150  Verse  zu  schliessen, 
zum  g-rössten  Teil  wieder  Versehen  Ulrich's  sein  dürften,  so  wird 
ein  solcher  Abdruck  für  sprachgeschichtliche  Untersuchungen,  für 
die  er  doch  allein  gemacht  sein  kann,  unbrauchbar. 

Ob  es  mit  dem  Abdruck  der  Handschrift  A  besser  bestellt  ist, 
will  ich  aus  Mangel  an  Kontrolle  dahingestellt  sein  lassen.  Dass 
aber  auch  da  nicht  alles  glatt  ist,  zeigt  das  ziemlich  lange  Druck- 
fehlerverzeichnis, das  wohl  leicht  hätte  vermehrt  werden  können; 
denn  Druckfehler  dürften  sein:  116,  121  fut  für  Just,  1S9  Je  loux 
für  je  lou,  181  eüst  (-f-  1)  für  eust,  263  escri  für  escrit,  264  Nomnee 
für  Nonmee,  461  Ion  für  Ions,  521  donc  für  dont,  687  ne  nie  m'ocie 
{-\-  1)  für  ne  mocie,  712  vousist  für  vausist,  720  Vient  für  Vien, 
vuis  für  vuü,  722  mol  für  mal,  810  perdirai  für  perderal,  953  cn 
für  en,  978  gant  für  graut,  998  fains  für  fain,  999  ßt  für  ßsf, 
1025  Gins  für  Ains,  1050  son  chies  (acc.)  für  s.  ckief,  1124  w»  an^ 
für  un  an,  1167  e^s  für  est,  1208  propre  für  porpre,  1275  O^t  larmes 
für  £Vi  larmes,  1321  ^ois  (=  potui)  für  ^oi,  1388  (?isJs^  für  (^esi^t, 
1504  vienneut  für  vlennent,  1512  persist^  für  presist,  1534  espanuie 
für  espanie  oder  espannie,  1538  estandue  für  estandii,  1551  sosfrit 
für  sosfris,  1555  ^retos  /or^  für  ^efas  /ors,  1586  sors  für  sor  (jedoch 
auch  wieder  im  Conte  d'amor  18),  1661  forteresee  für  forteresce, 
1689  Ois  (=  habui )  für  0/,  1726  fo  für  ^m.  Auf  jeden  Fall  sind 
es  Fehler,  die  als  solche  hätten  gekennzeichnet  werden  dürfen. 

Eine  kritische  Ausgabe  wird  die  Handschrift  A  zu  Grunde 
legen.  Mit  Eücksicht  auf  eine  solche  mögen  hier  noch  weitere  Vor- 
schläge zu  Abänderungen  dieses  A- Textes  stehen.  Die  Felüer  von 
N  übergehe  ich  ganz. 

2  le]  la  N,  4  je]  fen  N,  10  kein  Komma  (die  Interpunktion 
ist  im  Allgemeinen  sinnentsprecheud,  im  Einzelnen  aber  sehr  oft 
inkonsequent.  Bald  steht  ein  Komma  vor  que  „dass"  8,  114,  159, 
202,  209,  249,  261,  279,  290  etc.,  vor  dem  Relalivpron.  99,  400, 
468,  548,  vor  ne  „u.  nicht"  32,  151,  332,  vor  dem  Nachsatz  si  171, 
1584,  1594,  1599,  bald  nicht:  13,  149,  153,  193,  205,  207,  240  etc., 
4,  10,  403,  743,  754,  777  u.  s.  w.,  12,  77,  82,  147,  156,  262,  295 
etc.,  163,  183,  200,  409,  489,  494.  Solche  und  ähnliche  Ungleich- 
heiten sollen  hier  nicht  weiter  verzeichnet  werden.  Es  wird 
genügen  zu  bemerken,  dass  vor  si  stets  eine  Interpunktion  zu 
stehen  hätte,  vor  den  andern  nach  romanisch-englischem  Gebrauch 
besser  keine.  Die  fehlenden  Verse  29  und  30  sind  nach  N  aufzu- 
nehmen. Mit  29  schliesst  die  Einleitung.  Vers  30,  Trop  puet  d'or- 
goil  'en  dame  avoir,  enthält  gleichsam  die  Uebei-schrift  der  zunächst 
folgenden  Erzählung  vom  Stolz  der  Liriope,  der  Mutter  des  Nar  cissus ; 
also  Punkt  am  Schluss.  Auch  würde  sich  empfehlen  ein  neues 
Alinea  mit  30  zu  beginnen.  —  35  Punkt  oder  ;   statt  Komma.   — 

2* 


20  Beferate  und  Rezensionen.     J.  Stürzinger, 

54  aj  et  'S.  —  11  Q'üJ  Que  il  zweisilbig  wie  das  Metrum  verlangt 
und  die  Handschrift  wohl  hat.  U.  dürfte  die  Abbreviatur  durch  den 
Apostroph  ersetzt  haben.  —  138  estuet]  estut  N.  —  177  ne]  neu  N. 
Nach  188  Komma.  204  tans]  sen  N.  211 — 12  boti  otivrier  (n.  pl.) 
■.mestier,  ebenso  225  U  chevol,  245  Li  dent  (n.  x)l.).  Solche  selbst- 
verständliche Verbesserungen  übergehe  ich  im  Folgenden.  215  nature 
ist  personifiziert,  also  Nature.  Die  Verwendung  der  grossen  Buch- 
staben ist  überhaupt  ungleichmässig.  281,  286,  573  iJeu(s),  da- 
gegen 585,  594,  694,  733,  734,  769,  789  und  bis  zum  Schluss  nur 
noch  deu(s).  216  Punkt  statt  Komma.  —  231  (ßien  ai]  que  n'ai. 
262  ne  ai]  nH  a  N.  280  chose]  bontes  N,  ne  i]  neu  i  N.;  282 
faillitj  f ausist  N.  298  N  hat  offenbar  an  dem  ungenauen  Reim  requise: 
eslite  Anstoss  genommen  und  daher  in  requise:  a  derise  geändert.  — 
471/2  hat  N  aus  Rücksicht  auf  den  ungewöhnlichen  Reim  amistie: 
maiUiee  ebenfalls  umgestaltet.  310  natürlich  einzuschieben  X.  313 
droiz  ( — 1)]  adroiz  N  wie  714.  324  acompJist]  acompli  N.  363  kein 
Komma  vor  ne  que,  das  ja  „ebenso  wenig  wie"  bedeutet.  376  sot] 
suet  N.  408  sauraj  aura  N  oder  vielmehr  avra  wie  überall  mit  v  zu 
schreiben  wäre,  nicht  bloss  1725  savroiz  und  1151  avroiz.  421  hieyi] 
a  N.  —  432  kein  Komma.  —  445  escordej  esforde  oder  destorde  wie 
N.  463  estuet/  estut  N.  469  Komma  vor  s^amie  soit,  das  ich  für 
Bedingungssatz  halte,  und  deshalb  vorzöge  s'amie  estoit  zu  lesen. 
473  Que  qu'ele  face  passt  besser  zum  Vorigen  als  die  allerdings 
gebräuchlichere,  aber  nichts  sagende  Wendung  Qui  ke  le  saiche  von 
N.  —  485  wird  mit  Förster  tresala  für  tressailla,  das  A  und  N 
haben,  zu  lesen  sein,  wenn  auch  neufranzösisch  ein  tressaiUe  vor- 
kommt, denn  dieses  Wort  scheint  nicht  alt  zu  sein.  Nach  491 
Komma  vor  Que  „denn".  499  w'//  i,  die  Frage  ist  auf  jeden  Fall 
bejahend:  „War  es  (das  Herz)  zuvor  da?",  ne  als  „und"  „oder"  zu 
fassen,  scheint  mir  wenig  passend.  549  kein  Komma  nach  profit. 
552  n'est  müe  ( —  1)],  n^est  il  mie  N.  554  personej  parsonie  N.  571 
Komma  vor  que  „denn".  Nach  585  Punkt.  605  kein  Komma  vor 
qice  (quam).  622  vuil  ist  offenbar  von  N  in  ruis  abgeändert,  um 
genauem  Reim  mit  puis  zu  haben.  631  HelasJ  He  las,  cf.  las  434, 
437,  1611.  640  Qu'il  (—  1)]  Que  il  oder  Si  qiCil  N.  Nach  667  kein 
Komma.  675  ne  fais  tu,j  entweder  non  fais,  tu  (faire  ist  verbum 
vic.)  oder  mit  N  nel  fais,  tu.  Das  tu  gehört  auf  alle  Fälle  zum 
Folgenden.  701  Ausrufungszeicheu  am  Schluss  statt  702,  wo  Punkt 
am  Platz.  717  ?  statt  !,  que  ne  heisst  „warum  nicht"  wie  737. 
757  vientj  vint  N.  —  786/7  par  droit  deussiens  avec  toi  nos  vies 
fenirj  entweder  arec  toi  durch  ensamble  zu  ersetzen  oder  die  Kon- 
struktion mit  N  zu  ändern  in  p.  d.  deussc  avee  toi  nia  vie  f.,  ein 
süU'lies  Doppel-Anakoluth  wobei  im  letzten  Anakoluth  wieder  zur 
ursprünglichen  Konstruktion  zurückgekehrt  wird,  ist  mir  unbekannt 


Floris  et  Lirlope.     Altfranzösischer  Roman.  21 

und  unwahrscheinlich.  —  788  degurpirj  departir  N  wie  der  Sinn  und 
Vers  791  verlangen.  816  retorftj.  818  und  819  !  am  Schluss.  825  se 
non  ( — 1)]  se  ce  non  N.  828  te  aßs  ( —  1)]  t'en  aß.  —  845  Punkt  statt  ! 

—  852  üj  vielleicht  U  für  le  U;  ü  haben  A  und  N;  es  ist  aber  die 
Schwester  Florie  die,  welche  anordnet  (devise),  il  passt  also  nicht 
zu  devise.  —  871  ne  besser  n'en  wie  N.  —  873  Mais  granz  chose 
est  faire  Vestuet  ist  ein  Satz,  siehe  Förster's  Bemerkung;  zu  dem  Aus- 
druck. 883  und  884  nach  N.  —  885  piiet  il,]  piiet,  iL  —  892  Qiiil  (—  1)] 
Que  il  N.  —  896  (jiiil  (—  1)]  ciii  il  N.  —  904  Punkt  statt  ?  und  "  am 
Schluss.  —  910  gehört  zu  911,  daher  keine  Interpunktion  am  Schluss. 
dagegen  .  nach  909.  —  912  ,  statt  .,  Verse  910 — 16  bilden  eine 
Periode.  —  924  ele  metj  ele  i  met  N.  —  938  ne]  n'en  N.  —  952  .  am 
Schluss.  —  968  ,  statt  :  —  978  la]  les  N  wie  979  und  980  beweisen. 

—  991  besser  kein  Komma,  Andui  gehört  sowohl  zu  901  als  auch  zu 
902.  1000  !  statt  .  —  1004  2Iais  amors]  31.  s'amors  N  und  dann 
,  nach  1005  .  —  1010  tainj  t'ain.  —  1013  n'an]  nan.  —  1044  braz 
et  hraz]  braz  a  b.  N;  mit  et  könnte  in  A  auch  a  gemeint  sein,  da 
vortoniges  a  und  e  vertauscht  werden.  —  1060  que  ( — D]  tant  com 
N,  daher  Inversion  in  1061.  1084  avoir  ne  por  cite]  besser 
amor  ne  p.  chleiie  N.  —  1116  Qn'  ( —  1)]  Quant  N.  —  1128  , 
statt  .  —  1148  !  statt  .  —  1151  ,  statt  .  —  1154  lors]  lues  N  — 
1158  ."  statt  ?  —  1166  duel  i—  1)]  dolor  N.  —  1167  ne  eis]  nen 
est  N.  —  1172  mien]  muez  N,  walirscheinlich  bloss  Druckfehler  für 
miez.  —  1201 — 4  N  scheint  an  dem  bachiler  (1201)  Anstoss  genommen 
zu  haben,  weil  1182  Floris  Chevaliers  geworden,  setzt  also  Chevalier 
ein  und  dies  veranlasst,  der  Reime  wegen,  die  Umstellung  von 
1202  und  1203  und  die  Abänderung  von  1204.  Ich  gebe  A  den 
Vorzug,  da  es  auf  den  bachiler  und  nicht  auf  den  Chevalier  ankommt 
und  die  Stellung  1202/3  natürlicher  ist.  —  1206  et  vor  jambes  zu 
streichen  N.  —  1243  si  gaitier  ( —  1)]  si  pres  g.  N.  —  1247  lors]  lues 
N.  —  1259—60  steht  in  N  erst  nach  1262.  Die  Stellung  in  A  ist 
vorzuziehen,  da  1259 — 60  die  Erklärung  zu  1258  enthält.  —  1271 
ceanz]  leanz  N  wie  1273.  —  1286  mal]  mar  N.  —  1291  Voir  ce 
dist  eil,  na]  Voir,  ce  dist,  eil  ne.  1293  fait]  vaut  N.  —  1294:  premiers] 
prives  X.  —  1320  lij  le  N.  —  1326"  am  Schluss.   —  1334  sot]  suet  N. 

—  1347  taint  (=  crient  N)  scheint  also  lat.  timet  zu  entsprechen. 
Verlesen  kann  es  kaum  sein,  da  es  in  der  Cfianson  d'amors  in  unserer 
Handschrift  wiederholt  begegnet  146,  147  (faint  ist  Druckfehler),  151, 
153,  154,  155,  156  wo  die  andern  3  Handschriften  crient  oder  doute 
haben.  Also  wäre  dem  Dialekt  des  Schreibers  (oder  Dichters?)  ein 
Bruchstück  mehr  von  dem  Vb.  timere  bekannt  als  die  bis  jetzt  nach- 
gewiesenen ne  tame(i)r  u.  ne  (vus)  tamez !  Uebrigens  wären  den 
von  Förster  zu  Erec  5045  und  von  G.  Paris  Rom.  XK  151  bei- 
gebrachten  Beispielen    noch    hinzuzufügen:    Anc.    Th.  frc.   (Michel) 


22  Beferate  und  Besensionen.    J.  Stürzinger, 

182*,  Montaiglon  Fahl.  V  378  (in  der  Berner  Hs.  des  Segretain 
moine)  und  Hunbant  863,  wo  ich  es  freilicli  nur  als  Oonjectur  ein- 
gesetzt habe.  —  1384  avenir  lor  estoit]  a  venir  l.  e.  oder  besser 
mit  N  avetiir  lor  devoit.  —  1391/2  vuet  :  suetj  vot :  sof.  —  1408  bienj, 
hien.  —  1423  encontre  esjoij  enfr'  eus  esjoi  N,  Förster  entreconjoi; 
esjoir  scheint  mir  passender  als  conjoir.  —  1439  piecaij  piec'ai.  —  1463 
ne  2met]  n'en  pout  N.  —  1466  seusf  qii'ü  [V]  aj^atienisfj  seust  qiCil 
U  ap.  (Foerster).  —  1480  ne  ont]  nen  o.  N.  —  1498  Qu'il]  Qu'ele  N.  — 
1536  besser  in  N.  —  1563  "  am  Schluss.  —  1565  vistemant  in  A 
ist  dem  platten  voiremant  von  N  vorzuzielien,  wenn  es  durch  das 
Folgende  auch  nicht  gerade  gefordert  wird.  —  1603 — 5  fehlen  in 
N,  die  absolut  nötig  sind.  Zu  Y.  1606  hat  dann  N  als  Reimvers 
den  nichtssagenden  Vers  1566  Se  li  escritiire  ne  ment  eingeschoben.  — 
1607  Vomhre]  s'omhre  N.  —  1618—19  sicher  besser  in  A,  1618  in 
N  ist  nicht  bloss  platt,  sondern  unsinnig  und  1619  mit  seiner  Be- 
schreibung des  cors  gehört  gewiss  nicht  zwischen  die  Beschreibung 
von  Stirn  und  Augen  hinein,  ausserdem  ist  der  Reim  massis  für 
niassif  verdächtig.  —  1622  N  besser.  —  1625,  1638  UelasJ  He  las. 
434,  1611  steht  ja  las  allein  in  demselben  Sinne.  —  1632  fodj 
fous  N.  —  1637  le  cors]  li  copz  N.  —  1641  vint]  vient  N.  —  1644 
La]  Sa  N.  —  1654  Avenist  A  besser  als  Arenissent  in  N,  es  handelt 
sich  ja  nur  um  ein  Wunder.  N  wird  durch  die  Schreibung  mer- 
veilles  si  grans  zum  Plur.  verleitet  worden  sein.  —  1664  me,  näher 
liegt  nos;  natürlich  kann  me  stehen  bleiben,  de  lui  ist  ja  leicht  zu 
ergänzen.  —  1677  Quant  je  plorois]  Et  kant  je  plor  N.  Die  süd- 
östliche Präsensform  auf  ois  ist  dem  Dichter  wohl  fremd.  —  1687 
Tele  que  lo  dongier]  Tel  quo  ele  d.  (F.).  —  1697  desperte]  desperse 
N.  1711  .  statt  ,  —  1721  es]  sui  N.  —  1722  "  am  Schluss.  — 
1726  "  am  Anfang.  —  1735  Et  (—  1)]  Tonte  und  kein  Komma 
N.  —  1757 — 58  dürfte  N  vorzuziehen  sein,  da  in  A  diese  nur 
1755/56  wiederholen  würden. 

Die  Chanson  d'amors  (eher  enscignemcns  d'anior),  die  p.  102 — 143 
folgt,  wird  wieder  in  Paralleltexten  nach  4  Handschr.  [es  sind  Ars. 
5201,  Bibl.  Nat.  frg.  837,  24301  u.  Brit.  Mus.  Addit.  10289  wie 
Tobler,  Dt.  Litztg.  April  1892  uns  verrät,  der  Herausgeber  hat  auch 
diese  unbezeichnet  gelassen]  abgedruckt.  Dieses  (ledicht  nimmt  sicli 
wie  eine  erweiterte  Bearbeitung  der  Liebesszenen  des  Flor,  et  Lir. 
aus.  Wörtliche  Anklänge  finden  sich  wenigstens  gar  viele  und  so 
genau  übereinstimmende,  dass  sie  für  die  Textkritik  des  Flor,  et  Lir. 
in  Betracht  kommen.  Man  vergl.  z.  B.  64 — 74  mit  Flor,  et  Lir. 
544 — 54,  wo  V.  72  u.  74  die  besseren  Lesarten  von  N  stützen, 
ebenso  32—33  mit  641—640.  39  mit  960,  40  mit  644.  955.  959. 
1005,  —  41—42  mit  841—42,  199  mit  386,  299  mit  441,  300—1 
mit  938  und  939,  311—12  mit  429—30. 


Floris  et  Liriope.     Altfransösischer  Roman.  23 

Diese  Ausgabe  ist  noch  weniger  abschliessend  als  die  des  Fl. 
et  Lir.,  da  hier  2  weitere  Handschriften  (Bibl.  nat.  fr§.  2236  und  Ars. 
3516  nach  P.  Meyer's  Tabelle,  Bomania  XVII,  43)  nicht  abgedruckt 
noch  benutzt  sind.  Uebrigens  hätte  der  Text  auch  hier  mit  Leichtig- 
keit kritisch  hergestellt  werden  können.  Die  4  Handschriften  (A 
=  Ars.  5201,  B  =  frg.  837,  C  =  frg.  24301,  D  =  Addit.  10289) 
gehören  zu  einer  Familie,  selbst  die  starken  und  häufigen  Diiferenzen 
in  D  können  von  einem  spätren  Kopisten  herrühren.,  der  Veraltetes 
im  Ausdruck  verjüngt  (cf.  42,  246),  sich  an  Stelle  des  Dichters 
setzt  (9),  es  öfter  besser  machen  will  und  nicht  wenige  Versehen 
begeht.  B  und  C  stehen  A  ganz  nahe;  wo  sie  von  ihm  abweichen, 
gehen  sie  meist  zusammen.  B  steht  A  noch  etwas  näher  als  C; 
A  selbst  bietet  auch  hier  wieder  den  besten  Text,  so  dass  diese 
Handschrift  wieder  zu  Grunde  zu  legen  wäre.  Besserungen  in  A 
wären  etwa  vorzunehmen:  12  comancemantj  comandement  BC  — 
23  lors]  lor  BCD  —  62  .  am  Schluss  —  64  efy  a  CD  —  72  nuns 
enj  mie  BC   —  76  ,  statt  ,   —  86  :  statt  ;   —  101  ,  am  Schluss. 

—  104  les]  le  D,  am  Schluss  ,  —  105  lorj  U  BCD  —  111  auj  a  BCD 

—  117  niaifsj  ( —  1)]  n'i  «BD.     A  hat  wohl  auch  niai  =  nH  a. 

—  124  nej  se  B  —  128  Ces  fait  plus  vüfejmant]  C.f.  ü  pl.  vilment 
BC  —  135  ,  vor  nest  —  140  lej  les  BCD  —  141  sej  s'en  B  — 
143 — 4  einzuschalten  nach  C  —  150  tot(e)  le  monde.  —  167  maintj 
mains  BC  —  213  ,  am  Schluss  —  219  sorvienent  (+  1)]  sorvient 
BC  —  262  ,  am  Schluss  —  265  !  statt  ?  —  267  !  statt  .  — 
271  NeJ  Non  BD  —  283  Qui'l  ne  set  ne  n'faj  apris(t)]  Que  il  ne 
set  ne  n'aprist.  —  284  ,  am  Schluss.  —  289,  ont]  fönt  —  316  !  statt  . 

—  332  essairesj  essaieres  BD  —  353  ajet  —  358  (1.  357)  amoit  Kjktiv- 
präsensform  wie  oben  Lir.  1677. 

Seite  147 — 150  folgen  Liebeslieder,  nur  nach  „einer  Pariser- 
handschrift"  [es  ist  Bibl.  nat.  frg.  845  nach  Tobler  l.  c.].  Warum 
bei  den  2  vorhergehenden  umfangreicheren  Texten  das  Material  mit 
allzubehaglicher  Breite  dem  Leser  zur  Verfügung  gestellt  wurde, 
bei  diesen  4  kurzen  Liedern  aber  nur  eine  Handschrift  veröffentlicht 
wird,  die  verschiedenen  andern  von  Raynaud  CJiansonniersfrg.  ver- 
zeichneten unberücksichtigt  blieben,  ist  nicht  ersichtlich.  Genügen 
kann  eine  solche  Ausgabe  natürlich  nicht;  zu  einer  Durchprüfung 
dieser  Texte  liegt  daher  keine  Veranlassung  vor.  Es  seien  nur  ein 
paar  oifenkundige  Versehen  herausgehoben.  I  9  revcnirj  revenir, 
27  entre  nies  bras  mi  a  mij  e.  m.  b.  nu  a  nu  —  III  18  on  vueile  oic 
non]  QU  V.  ou  n.  —  IV  36  ocirrentj  ocirront. 

Ulrich  bittet  die  Fachgenossen  mit  ihrem  Urteil  über  das  hier 
Gebotene  zurückzuhalten  bis  zum  Erscheinen  des  3.  Bändchens,  das 
den  Rest  der  Texte  (die  2  Enseignements  und  die  religiösen  Ge- 
dichte), eine  Untersuchung  über  die  Handschriften  und  die  Sprache 


24  'Referate  und  Rezensionen.    J.  Frank, 

des  Dichters  bringen  wird.  Da  dieses  3.  Bändchen  eine  Revision 
oder,  was  eben  zu  thun  übrig  bleibt,  eine  kritische  Ausgabe  der 
hier  besprochenen  Texte  nicht  in  Aussicht  stellt,  für  die  dann  selbst- 
verständlich das  ganze  handschriftliche  Material  verwertet  werden 
müsste,  so  kann  die  Veröffentlichung  dieses  3.  Bändchens  an  unserem 
Urteil  über  die  vorliegende  ungenügende  Ausgabe  nichts  ändern. 

J.  Stürzinger. 


Rossi,  Albert.     Rabelais  ecrivain  müitaire.    Paris  et  Limoges,  Henri 
Charles-Lavauzelle  editeur  1892.     151  S.     8^ 

Wenn  Schiller  einmal  von  der  französischen  Literatur  sagt: 
„Der  leidige  Anstand  in  Frankreich  hat  den  Naturmenschen  ver- 
schnitten. Ihr  Kothurn  ist  in  einen  tänzelnden  Schritt  verwandelt, 
zu  Paris  liebt  man  die  glänzenden  zierlichen  Puppen,  von  denen  die 
Kunst  alle  kühne  Natur  hinwegschliff;  man  wägt  die  Natur  nach 
Granen  und  schneidet  die  Speisen  des  Geistes  diätisch  vor.  den  zärt- 
lichen Magen  einer  schmächtigen  Marquise  zu  schonen",  so  findet 
diese  sonst  so  berechtigte  Wahrnehmung  auf  Rabelais,  den  prächtigen 
Menschen  der  vielseitigen  Renaissance,  gewiss  keine  Anwendung. 
Als  souveräner  Herrscher  im  Reiche  der  Dichtung  macht  er  nicht 
nur  von  seinem  Münzrecht  in  linguistischer  Beziehung  den  aus- 
gedehntesten Gebrauch,  sondern  er  wirft  mit  der  Auflehnung  der  ge- 
nialen Subjektivität  gegen  die  hergebrachten  überkommenen  Normen 
auch  sonst  die  bisher  üblichen  Kunstformen  über  den  Haufen  und 
lässt  seiner  überreichen  Schöpferkraft  volle  üngebundenheit.  Sein 
Werk  erhält  dadurch  zuweilen  allerdings  eine  bis  zum  Desultorischen 
gehende  aller  Selbstzucht  entbehrende  Stil-  und  Formlosigkeit;  wir 
entschuldigen  dieselbe  aber  recht  gerne  mit  Jean  Pauls  schönem 
Ausspruche,  es  gehöre  zu  den  Vorrechten  des  Humoristen,  wie  ein 
Pfarrer  die  heterogensten  Personen  mit  einander  zu  kopulieren. 
Denn  sein  Humor  quillt  überall  urwüchsig  und  frisch  hervor 
und  hat  bei  aller  bis  zum  Aeussersten  gehenden  Derbheit  nichts  von 
der  widerlichen  und  lüderlichen  Lüsternheit  des  halbverschleierten 
selbstgefälligen  Lasters,  da  er  nur  einer  unverbraucliten  naiven 
Lebensfülle  entspringt  und  schon  der  angewendeten  Dimen- 
sionen wegen  (wir  haben  es  ja  hier  mit  einem  Rieseugeschlechte  zu 
thun!)  in  seinem  Werke  minder  unanständig  erscheint.  Man  verzeiht 
es  ja  dem  Clown,  wenn  er  sich  überschlägt,  besonders,  wenn  er  sein 
lächerliches  Gewand,  wie  Rabelais,  nur  darum  gewählt  hat,  um  sich 
dadurch  die  Immunität  für  die  verwegenen  aber  tiefen  Wahrheiten 
zu  erwerben,  die  er  aussprechen  will.  Und  wenn  jemals,  so  steckte 
in  dem  buntscheckigen  Harlekinsgewande  Rabelais"  ein  echter  Weiser! 


Ä.  Rossi.     Rabelais  ecrivain  militaire.  25 

Als  Heros  des  gesunden  Menschenverstandes  sieht  sein  durchdringender 
Scharfblick  hinter  einer  ellenhohen  dicken  Mauer  durch  Jahrhunderte 
angehäufter  Vorurtheile  den  Kern  der  Dinge  und  seiner  Zeit  weit 
voraneilend  spricht  er  Wahrheiten  aus,  die  erst  in  unseren  Tagen, 
nachdem  der  veraltete  Schutt  hinweggeräumt  wurde,  wieder  zur 
Geltung  kommen.  So  hat  er  seine  Werke  den  hilflosen  Echos  fremder 
Weisheit  zum  bequemen  Plündern  hinterlassen ;  aber  auch  dem  ehr- 
lichen Literarhistoriker  als  Fundgrube,  die  nach  jeder  Richtung  hin 
reiche  Ausbeute  gewährt,  und  er  ist  thatsächlich  schon  von  den  ver- 
schiedensten Gesichtspunkten  als  Philosoph,  Erzieher,  Eeformator, 
Mediziner  und  Diplomat  behandelt  worden.  Nun  hat  er  durch 
Rossi  auch  die  Würdigung  als  Militärschriftsteller  gefunden. 
Wir  wollen  nun  versuchen,  die  wichtigsten  Ergebnisse  dieser 
Untersuchung,  wie  sie  sich  besonders  aus  der  Darstellung  des  Kampfes 
zwischen  Gargantua  und  Picrochole  gestalten,  hier  wiederzugeben. 
Wie  das  Einzelleben  ein  unausgesetzter  Kampf  ums  Dasein,  so  ist 
nach  Rabelais  auch  der  Krieg,  in  dem  der  Grosse  den  Kleinen  ver- 
schlingt, das  Ringen  ganzer  Völker  um  ihre  Existenzbedingungen. 
Seine  Ursache  ist  meistens  die  Magenfrage  und  der  heilige  Hunger 
nach  Gold  und  Macht  (messere  Gast  er,  de  la  panse  vient  la  dance  et 
oü  faim  regne  force  exule).  Er  ist  auch  nur  eine  Machtfrage,  ein 
Ausfluss  der  Bestie  im  Menschen.  Da  also  vor  und  in  demselben 
die  niedrigsten  Instinkte  und  Triebe  vorwalten  und  er  überdies  ein 
wahrer  Mörder  jeder  Civilisation  ist,  so  kann  ihm  R.  keine  besondere 
Achtung  abgewinnen  und  ihm  höchstens  die  Berechtigung  eines  not- 
wendigen Uebels  zuerkennen,  das  allerdings  wahrscheinlich  nie  auf- 
hören wird.  Besonders  die  mutwilligen  Eroberungskriege  sind  ihm 
ein  Gräuel  und  entschuldigen  kann  er  höchstens  Grandgousier  „ne 
voidant  prouoquer,  ains  appalser;  non  assaüir  mais  deß'endre;  non 
conquester  mais  garder".  Erst,  wenn  alle  Versuche  friedlicher  Ver- 
mittlung, besonders  die  der  Schiedsgerichte  (paranymple  et  mcdiateur) 
gescheitert  sind,  und  nachdem  eine  weitere  Nachgiebigkeit  den  Gegner 
nur  zu  weiteren  Herausforderungen  reizen  würde  (Oigyiez  villain,  il 
voHS  poindra,  Poignez'^)  villain,  il  vous  oindra)  dürfe  man  zum  Schwerte 
greifen.  Nichts  dürfe  ausseracht  gelassen  werden,  um  sich,  so  weit 
als  möglich,  den  Kriegserfolg  im  Vorhinein  zu  sichern :  es  müsse  mit 
sorgfältiger  Ausnutzung  aller  neuesten  Fortschritte  der  Technik 
eifrig  gerüstet  werden,  denn  das  eine  Schwert  hält  das  andere  in 
der  Scheide.  Besonders  seien  verlässliche  Bündnisse  mit  gefürchteten 
Mächten  zu  knüpfen  (en  sorfe  que,  de  tonte  memoire,  n'ha  este  priiice 
ny  ligiie  tant  efferee  ou  snperhe  qui  ait  ause  courir  sus,  ie  ne  di  point 


')  U  n'ya  paix  si  inique,  qui  ne  caille  mieux  qii'une  tres-juste  giierre 
heisät  es  in  der  Satyre  Menippee. 


26  Beferate  und  Besensionen.    J.  Frank. 

vos  terres,  niais  Celles  de  vos  confederez).  Die  allgemeine  Wehrpflicht 
sei  durchzuführen,  vor  allem  aber  müsse  die  wohldisziplinierte  Armee 
zu  einem  präzis  und  prompt  funktionierenden  nie  versagenden  In- 
strument (harmonie  d'orgues  et  concordance  dliorloges)  herausgebildet 
werden.  Nur  ein  nüchtern  unbefangener  (qui  trop  emhrasse  peii  ex- 
trainct),  vorsichtiger  (rien  ne  hasarder),  das  Menschenmaterial  schonender 
Feldherr  (foujours  vaincre  sans  perte  de  ses  soubdars.  Vexploki  sera 
faict  ä  nwindre  effusmi  de  sang  qiie  sera  possible),  der  mit  vortreft- 
lichen  taktischen  u.  strategischen,  tupo-  und  geographischen  Kenntnissen 
ausgerüstet  ist,  kann  seiner  Aufgabe  gewachsen  sein.  Das  Kom- 
mando muss  ein  einheitliclies  sein.  Der  Führer  muss  auch  das  Wesen 
der  menschlichen  Natur  ergründet  haben  ^)  und  darauf  bedacht  sein, 
durch  sorgfältige  Pflege  alles  dessen,  was  den  Heroismus  erhöhen 
kann,  die  moralische  Schwungkraft  der  Nation  ungeschwächt 
zu  erhalten;  als  Mittel  hierzu  macht  er  besonders  eine  erhebende 
Feier  der  patriotischen  Gedenktage  und  eine  liebevolle  Vertiefung 
in  die  vaterländische  Geschichte  namhaft  (Estimez  voiis  les  hommes 
par  nonibre  et  non  par  la  vetiu?).  Selbstverständlich  ist  aber  auch 
die  körperliche  Gewandtheit  und  Ausdauer  (bons  coeurs  associes  de 
boiis  bras)  zum  Gegenstand  besonderer  Fürsorge  zu  machen,  wozu 
die  eifrige  Betreibung  der  Jagd,  einer  Art  Krieg  im  Frieden,  sehr 
zweckdienlich  sei.  Die  Ueberzeugung,  dass  im  Kriege  nicht  nur  das 
allgemeine  Wohl,  sondern  auch  das  Heil  des  Einzelnen  auf  dem 
Spiele  stehe  (car  avec  le  comniun  est  aussi  le  propre  perdu),  muss  be- 
festigt werden,  so  dass  also  nicht  bloss  der  Idealist,  sondern  auch 
der  hartgesottene  Egoist  alles  an  den  Sieg  setze.  Gute  geordnete 
Finanzen  sind  stets  im  Auge  zu  behalten  (Les  nerfs  des  batailles  sont 
les  pecunes),  wenn  auch  das  Geldsammeln  recht  filzig  sein  mag 
(Villain  disons  nous,  parce  que  ung  noble  prince  nlia  Jamals  ung  sau. 
Thezaitrizer  est  faict  de  villain).  Die  innere  Einigkeit  aller  Bürger 
sei  eine  Grundbedingung  für  den  Kriegserfolg,  damit  nicht  ein  Teil 
der  nationalen  Kraft  durch  innere  \'erwickelungen  gebunden  werde. 
Eine  hohe  Ueberlegenheit  über  den  Gegner  verleihe  die  zur  Ueber- 
zeugung gewordene  öff'entliche  Meinung,  dass  der  zu  fühi'ende  Krieg 
einer  gerechten  Sache  gelte.  Man  müsse  im  Kriege  alle  Kräfte  in 
steter  Spannung  halten  und  sein  bestes  Können  einsetzen,  nicht 
aber  aufs  Beten  und  Heibeiflehen  der  göttlichen  Hilfe  sich  verlassen ; 
nur  den  Tapferen  leihen  die  Götter  ihren  starken  Arm  2)  (Un  veit- 
lant,  travaillanf,  soy  etiertnant,  tontes  choses  succedent  a  soubhayt  et 


')  Napoleon  I.  hält  sich  vor  Augen,  dass  er  nicht  auf  dem  Papiere, 
sondern  auf  der  kitzligen  Menschenhaut  arbeite. 

^)  Dasselbe  Motiv   gaben   bekanntlich   auch    die   bilderstürmenden 
Kaiser  an. 


A.  Bossi.     Babelais  ecrivain  militaire.  27 

bon  port.  Si  en  necessite  et  dangier  est  Vhomme  negligent,  euire  et 
paresseiix  sans  propous  il  implore  les  dieux).  Man  muss  den  Feind 
glauben  machen,  man  verfüge  über  viel  stärkere  Machtmittel  als 
dies  wirklich  der  Fall  ist  (En  qu'oy  faignoit  Pantagruel  avoir  armes 
sur  nier).  Die  Franzosen  seien,  meint  Rabelais,  (und  hierin  stimmt 
er  ganz  mit  Julius  Cäsar  überein),  bei  weitem  stärker  in  der  Offen- 
sive als  in  der  Defensive  (Seigneur,  teile  est  la  nature  et  la  complexion 
des  Francoys,  qu^ilz  ne  valent  qiCa  la  premiere  poincte.  Lors  Hz  sont  pires 
que  diables.  Mais  s''ils  seiournent;  ils  sont  moins  que  femmes),  eine 
Wahrnehmung,  die  sich  auch  im  Kriege  des  Jahres  1870  bestätigte 
und  deren  Ursache  mit  dem  nervösen  Temperament  dieser  Nation 
zusammenhängt;  sie  sind  daher  wenig  geeignet,  feste  Plätze  zu  be- 
haupten. Wohl  gibt  R.  den  lebenden  Mauern  wehrfähiger  Bürger 
vor  allen  anderen  den  Vorzug,  doch  könne  man  auch  die  steinernen 
Festungen  nicht  ganz  entbehren  und  müsse  sie  also  stets  in  Stand 
halten  (mais,  dist  Panurge,  si  faict  il  hon  auoir  quelque  visaige  de 
pierre,  quand  on  est  enualiy  de  ses  ennemys  et  ne  feust  ce  que  pour 
demander  qui  est  Ja  has).  Doch  sollte  sich  der  kommandierende  Ge- 
neral nie  mit  der  in  einer  Hauptfestung  belagerten  Armee  ein- 
schliessen  und  belagern  lassen.  Nur  das  konzentrierte  Geschützfeuer 
des  Belagerers  ist  wirkungsvoll.  Die  müssigen  Gaffer  (unsere 
Schlachtenbummler)  seien  dem  Kriege  fernzuhalten,  dagegen  sei  ein 
ausgebreiteter  Kundschafterdienst  zu  organisieren.  Die  Brieftauben 
können  wesentliche  Dienste  leisten  und,  wenn  auch  R.  den  Wert 
der  Aeronautik  im  Kriege  selbstverständlich  noch  nicht  schätzen 
konnte,  so  hat  er  doch  die  Luftschifffahrt  vorausgeahnt  (. . .  pourront 
les  humains  visiter  les  sources  des  gresles,  les  bondes  des  pluyes  et 
Vofficine  des  fouldres.  Pourront  enuahir  les  regions  de  la  Urne,  entrer 
le  territoire  des  signes  Celestes  etc.).  Räuberische  Plünderungen  und 
Brandschatzungen  im  Lande  des  Feindes  seien  hintanzuhalten  und 
alles  Requirierte  bar  zu  bezahlen.  Der  Pflege  der  Verwundeten  sei 
besondere  Sorgfalt  zu  widmen.  Alles  komme  darauf  an,  dass  der 
Feldherr  den  vielleicht  nie  mehr  wiederkelirenden  geeigneten  richtigen 
Moment  zum  Losschlagen  nicht  unbenutzt  vorübergehen  lasse  (car 
Voccasion  a  tons  ses  cheveux  au  front,  quand  eile  est  oidtre  passee, 
vous  ne  la  pouuez  plus  reuoquer;  eile  est  chauue  par  derriere  de  la 
teste  et  jamais  plus  ne  retourne).  Aber  selbst  bei  aller  Voraussicht  in 
den  Vorbereitungen  und  Wachsamkeit  in  den  Anordnungen,  trotz  aller 
Einfachheit  und  Klarheit  des  Planes  und  der  sicheren  Ausführung 
desselben,  trotz  aller  ausserordentlichen  Mannigfaltigkeit  in  den  tak- 
tischen Evolutionen,  trotz  aller  Kühnheit,  Ausdauer  und  plötzlicher 
mächtiger  Inspiration  während  der  Schlacht  von  Seiten  des  anführenden 
Feldherrn  könne  der  Sieg  ausbleiben ;  ein  anfängliches  einmaliges  Miss- 
lingen  dürfe   aber  den  Mutigen  nicht   niederschlagen.     Waftenstill- 


28  Referate  und  Rezensionen.     F.  KalepTcy, 

Standsvorschlägen  sei  grosses  Misstrauen  entgegenzubringen.  Dem 
überwältigten  Feinde  seien  goldene  Brücken  zu  bauen,  damit  man 
ihn  nicht  in  den  Verzweiflungskampf  treibe.  Die  Unterworfenen 
müsse  man  durch  milde  und  weise  Einrichtungen,  die  ein  mit  der 
Sprache  und  Sitte  des  Landes  wohlvertrauter  Statthalter  vor-  und 
nachsichtig  durchzuführen  habe,  in  schonendster  Weise  zu  gewinnen 
suchen.  Immer  von  Neuem  aber  preist  K.  den  Frieden  auf  Erden 
und  den  Menschen  ein  Wohlgefallen  als  die  Verwirklichung  des  gol- 
denen Zeitalters  und  singt  ihm  eine  herrliche  Hymne,  die  in  den 
Worten  ausklingt  (Paniagruel  livre  III  chap.  IV) :  Toiis  seront  hons, 
tous  seront  heaulx,  tous  seront  jusfes.  0  nionde  heureux!  0  gens  de 
cestuy  mondc  heureux!     0  heatz  troi/s  et  quatre  foys! 

Dies  sind  ungefähr  die  Gedanken  Rabelais'  über  das  Kriegs- 
wesen und  man  wird  zugeben,  dass  der  Dichter  selbst  auf  diesem 
ihm  entlegeneren  Gebiete  menschlicher  Thätigkeit  für  seine  Zeit  sehr 
geklärte  fortgesclmttene  Anschauungen  ausspricht  und  selbst  die 
wohlfeileren  alltäglichen  Wahrheiten  in  ein  eigenartiges  Gewand 
zu  kleiden  weiss.  Was  nun  die  Bearbeitung  Rossi's  betrifft, 
so  können  wir  ihr  nicht  viel  Gutes  nachsagen  und  nehmen  keinen 
Anstand  es  auszuspreclien,  dass  wir  es  nicht  mit  der  Bedeutung  des 
Rossi'schen  Buches,  sondern  nur  mit  der  Bedeutung  Rabelais'  ver- 
antworten könnten,  die  Zeit  und  Aufmerksamkeit  unserer  Leser  in 
ausgedehnterem  Masse  in  Anspruch  genommen  zu  haben.  Zunächst 
besteht  Rossi"s  Buch  zumeist  nur  aus  endlosen  Citaten,  die  der  Ver- 
fasser lediglich  mit  der  etwas  w'ässrigen  Brühe  seiner  Paraphrasen 
und  Approbation  übergiesst.  Aber  selbst  die  Antührungen  sind  ohne 
Sorgfalt  und  ohne  gründliche  Kenntnis  des  Rabelais'schen  Werkes 
durchgefülirt.  Nicht  nur  dass  das  Charakteristische  und  Wichtige 
neben  dem  Belanglosen  verschwimmt;  es  ist  vielmehi-  auch  manches 
bedeutsame  Kapitel  niclit  ausgebeutet.  So  ist  der  Kampf  Pantagruels 
mit  den  Dipsoden  ganz  übersehen  worden,  aus  dem  neben  anderen 
gewiss  folgende  Stelle  Erwähnung  verdient  hätte:  .  ,  .les  diahles  de 
rois  ici  ne  sont  que  veaidx  et  ne  s^avent  ni  ne  välent  rien,  sinon  a 
faire  des  maulx  es  pauvres  suhjects  et  ä  trouhler  tout  Je  monde  par 
guerre  pour  leur  inique  et  detestable  plaisir.  Auch  für  die  Würdi- 
gung des  soldatischen  Heldentums  von  Seiten  Rabelais"  vermissen 
wir  die  so  piächtige,  von  eclit  satirischem  Geiste  erfüllte  Stelle: 
Car  Je  vid  Alexandre  le  grand  qiii  repetassoit  des  vieüles  chausses,  et 
ainsi  gagnoit  sa  pauvre  vie.  Xerxes  crioit  la  moustarde.  R&niulus 
estoit  saulnier,  Nouma  clouatkr,  Tarquin  taquin,  Pisa  paysan,  Sylla 
riveran  etc.  etc.  .  .  En  cctte  facon,  ceulx  qui  avoient  estc  gros  seigneurs 
en  ce  monde  ici,  gagnoient  leur  pauvre  meschante  et  paillarde  vie  lä- 
bas.  Au  contraire  les  philosophes,  et  ceulx  qui  avoient  este  indigents 
en  ce  monde  de  par  de-lä  estoient  gros  seigneurs   en   leur  tour  etc. 


F.  Brunot.    La  Boctrine  de  Mdlherhe.  29 

Auch  dass  ßossi  bei  seinen  Citaten  die  etwas  gewürzteren  Stellen 
peinlich  ausmerzte,  wird  man  in  einem  in  erster  Linie  für  Militärs 
und  nicht  für  Pensionstöchter  bestimmten  Buche  nicht  gutheissen 
können.  Endlich  können  wir  am  Schlüsse  folgendes  nicht  unerwähnt 
lassen:  Rossi  citiert  (S.  71):  .  .  .  Bon  Joan  capitaine  desfrancs  topins, 
tira  ses  heures  de  sa  bragueUe,  et  cria  aasez  haidt,  ayros  ä  Ozos.  So 
transcribiert  Rossi:  ayioq  ö  ifeoc.  Sollte  Herr  Rossi  des  Griechischen 
so  ganz  unkundig  sein.'?? 

NiKOLSBURG.  Josef  Frank. 


Brunot,  Ferdinand.  La  Boctrine  de  3Ialherhe  d'apres  son  commen- 
taire  sur  Bespoiies.  Avec  5  Planches  hors  texte,  Paris, 
G.  Masson.  1891.  —  Annales  de  l'üniversite  de  Lyon. 
Tome  Premier.     XXII,  605  S.,  gr.  S«.     Preis  fr.  10. 

Der  Titel  des  vorliegenden  Werkes  wie  auch  sein  Umfang 
lassen  einen  zunächst  vermuten,  dass  in  ihm  das  Lehi'system 
Malherbes  vollständig  zur  Darstellung  komme.  Dem  ist  jedoch 
nicht  so;  vielmehr  hat  der  Verfasser,  wie  er  auf  S.  152  mitteilt, 
ein  umfangreiches  und  interessantes  Gebiet,  Malherbes  Retbrm- 
bestrebungen  auf  dem  Gebiet  der  poetischen  Technik,  nachdem  er 
bereits  das  Material  dafür  gesammelt  hatte,  Herrn  Allais  überlassen, 
„quipoursuit  des  rechenhes  approfondies  sur  ce  terrain."  Er  selbst  stellt 
sich  die  Aufgabe,  auf  der  Grundlage  des  Kommentars  zuDesportes  Mal- 
herbes  Ansichten  und  Vorschriften  über  Sprache  und  Dichtkunst  (mit  der 
erwähnten  Einschränkung)  zu  untersuchen  und  in  ein  System  zu 
bringen.  „Le  tout  apprendra  peu  de  chose  de  nouveau  sur  les 
tendances  et  la  nature  des  reformes  de  Malherhe,  qui  a  ete  etudie  et 
cmnpris  depuis  son  temps  jusqu.ä  nosjours.  Seulement  il  sera  peut- 
etre  de  quelque  utilite  de  trouver  kl  les  grandes  idees  sur  lesqueUes 
notre  xwesie  lyrique  a  vecu  pjendant  deux  cetUs  ans,  mises  en  ceiivre 
par  celui-lä  nieme  qui  leur  a  donne  Vautorite  et  eclairees  par  les 
appUcations  quHl  en  fait."  (Preface  S.  XI).  Diese  Aufgabe,  aus 
den  zusammenhangslosen  Randbemerkungen  Malherbes  zu  den  Ge- 
dichten Desportes'  die  Regeln  und  Grundsätze  abzuleiten,  aus  denen 
sie  hervorgehen,  oder  kurz  gesagt,  aus  ihnen  die  von  Malherbe 
selbst  ungeschrieben  gelassene  Grammatik  und  Poetik  zu  konstruieren, 
so  dass  auch  die  unscheinbarste  Meinungsäusserung  Malherbes  ihren 
Platz  in  diesem  System  findet  und  durch  den  Zusammenhang,  in 
den  sie  gestellt  ist,  ihre  Beleuchtung  oder  Deutung  erhält,  hat 
Brunot  in  vortrefilicher  Weise  gelöst.  Er  hat  die  Anmerkungen 
Malherbes  in  bisher  nicht  erreichter  Vollständigkeit  gesammelt,  sie 
richtig    beurteilt,    klar    und    übersichtlich    geordnet    und    sprach- 


30  Referate  und  Rezensionen.     F.  Kalepky, 

geschichtlich  beleuchtet.  Aber  er  hat  noch  weit  mehr  gethan.  Er 
hat  in  der  Einleitung  und  in  dem  Schlusskapitel  auf  der  Grund- 
lage eines  sehr  umfangreichen  Quellenmaterials  den  litterargeschicht- 
lichen  Hintergrund  für  die  Gestalten  jener  beiden  Männer  gezeich- 
net, in  denen  der  Gegensatz  zwischen  der  alten  und  der  neuen 
Richtung  der  Poesie  zum  deutlichsten  Ausdruck  gekommen  ist,  und 
die  Schicksale  geschildert,  die  ihre  Werke  und  Bestrebungen  gehabt 
haben.  Er  hat  in  einem  besonders  interessanten  Kapitel  eine  geist- 
volle Würdigung  des  Desportes  und  zu  gleicher  Zeit  eine  feinsinnige 
Charakteristik  Malherbes  gegeben,  nämlich  in  der  Weise,  dass  er 
an  der  Kritik,  die  der  letztere  den  zwar  nachlässigen,  aber  an- 
mutigen Gedichten  Desportes'  zu  teil  werden  lässt,  die  geistige 
Eigenart  des  Kritikers,  seinen  ausgebildeten  Sinn  für  das  Logische, 
Rhetorische,  Veruunftgemässe,  sowie  andrerseits  seine  Gleichgültig- 
keit gegen  das  eigentlich  Poetische  darthut.  Fügen  wir  noch  hinzu, 
dass  das  ganze  Werk  reich  ist  an  wertvollen  Beobachtungen  und 
Exkursen  über  grammatische,  stilistische  und  litteraturgeschichtliche 
Gegenstände,  dass  der  Verfasser  das  Einzelne  und  Kleine  mit  pein- 
licher Sorgfalt,  das  Allgemeine  und  Bedeutende  aber  aus  den 
höchsten  Gesichtspunkten  und  in  überaus  anschaulicher  und  fesselnder 
Darstellung  behandelt,  so  glauben  wir  diesem  wertvollen  Werke  als 
Ganzem  einigermassen  gerecht  geworden  zu  sein. 

Indem  wir  uns  nun  dem  Einzelnen  zuwenden,  sprechen  wir 
zunächst  über  die  Stellung  Brunots  zu  den  Quellen.  Er  giebt  ihr 
schon  im  Titel  seines  Werkes  Ausdruck.  Der  Kommentar  zu 
Desportes  ist  ihm  die  einzige  zuverlässige  Quelle,  aus  der  Malherbes 
Theorie  geschöpft  werden  kann.  Da  es  sich  in  der  That  leicht 
zeigen  lässt,  dass  Malherbe  in  seinen  eigenen  Erzeugnissen  gegen 
die  Regeln  verstösst,  die  er  aufstellt;  da  sein  hervorragendster 
Schüler,  Racan,  seinen  Meister  nicht  immer  richtig  verstanden  hat, 
wie  wir  gelegentlich  zeigen  werden;  und  da,  was  wir  aus  dem 
Lager  der  Gegner  Malherbes  über  seine  Vorschriften  erfahren,  erst 
recht  nicht  Anspruch  auf  unbedingte  Zuverlässigkeit  machen  kann: 
so  ist  es  unseres  Erachtens  wohl  liegründet,  wenn  Brunot  sich  für 
die  Aufstellung  von  Malherbes  Lehrsystem  ausschliesslich  auf  das 
authentische  Material  stützt,  das  wir  in  dem  Kommentar  besitzen, 
und  die  Ergebnisse  aus  anderen  Quellen  an  dem  Älassstabe  des  aus 
dem  Kommentar  Gewonnenen  prüft.  Dadurch  erhöht  sich  aber  auch 
die  Wichtigkeit  der  kleinsten  Einzelheit  dieses  Kommentars  und 
treibt  zu  genauester  materieller  Untersuchung  desselben  an.  Man 
glaubte  sich  nun  bisher  —  in  Deutschland  wenigstens,  und  so  weit 
uns  bekannt  ist  —  auf  den  Abdruck  desselben  hei  Laianne  ver- 
lassen zu  können.  Brunot  teilt  jedoch  zu  unserer  Ueberraschung 
mit,    dass   dieser  Abdruck    keineswegs    ein   getreues  Bild    von  dem 


F.  Brunot.    La  Doctrine  de  Malherbe.  31 

Kommentar  gebe,  dass  das  Original  desselben  nämlich  eine  grosse 
Zahl  von  unterstrichenen  Stellen  ohne  eine  beigefügte  Bemerkung 
zeige,  von  denen  Lalanne's  Abdruck  nichts  erwähnt.  „II  i/  a  lä 
un  millier  d'observaüons  inipUcites  ä  ajouter  aux  untres,  et  le  chiffre 
dit  assez  l'importance  de  l'omission."  Von  welcher  Wichtigkeit  diese 
Thatsache  ist,  braucht  nicht  auseinander  gesetzt  zu  werden;  ebenso 
sehr  aber  leuchtet  ein,  wie  schwierig  es  ist,  dieses  weitere  Material 
auszubeuten;  welche  Behutsamkeit,  welch  genaue  Bekanntschaft  mit 
Malherbes  Anschauungen  dazu  nötig  ist.  Von  dieser  Auslassung  ab- 
gesehen, ist  Laiannes  Abdruck  im  Ganzen  zuverlässig;  Brunot 
konstatiert  und  berichtigt  nur  drei  Fehler.  —  Für  die  Benutzung 
des  Kommentars  ist  ferner  von  Wichtigkeit,  das  Verhältnis  fest- 
zustellen, in  welchem  die  drei  Exemplare,  in  denen  er  vorliegt, 
zu  einander  stehen.  Schon  GroebedinkeP)  hat  sich  eingehend 
mit  dieser  Frage  beschäftigt,  lieber  seine  Arbeit  urteilt  Brunot: 
„Ce  travail  ne  manque  pas  de  remarques  justes ,  mais  Vauteiir 
n'ayant  pas  vu  les  manuscrits,  a  ete  induit  en  erreur  par  Vedition 
Laianne.  II  a  cru,  en  particulier,  qiie  Voriginal  etait  ecrit  sur  une 
ediüon  de  Lesportes  de  1609,  et  s''est  donne  un  mal  infini  pour 
expUquer  cette  etrangete.  Son  raisonnement,  cela  va  sans  dire,  s''eii 
est  trouve  entierement  vicie."  Brunot  zeigt  nun  in  unanfechtbarer, 
durch  fünf  Facsimiles  unterstützter  Beweisführung,  dass  A,  das  eine 
der  beiden  auf  der  Bibliotlieque  de  V Arsenal  in  Paris  befindlichen 
Exemplare,  eine  Kopie  des  Originals  und  ohne  Wichtigkeit  ist;  dass 
jedoch  B,  das  andere  Exemplar,  Anmerkungen  enthält,  die  auf  ver- 
loren gegangene,  in  das  Original  hineingelegte  Blätter  geschrieben 
gewesen  sein  müssen  und  deshalb  eine  wertvolle  Ergänzung  zu  der 
Originalhandschrift  bilden. 

Die  Frage  nach  dem  Zweck  des  Kommentars  beantwortet 
Brunot  mit  dem  Hinweis  auf  die  bekannte  Mitteilung  bei  Tallemant 
des  Eeaux  (ed.  P.  Paris  I  275).  Er  nimmt  au,  dass  Malherbe  von 
seiner  Absicht,  eine  Schrift  gegen  Desportes  zu  veröffentlichen, 
zu  der  diese  Randbemerkungen  das  Material  hätten  liefern  sollen, 
durch  den  Tod  Desportes'  und  durch  den  unverkennbaren 
Erfolg  seiner  Neuerungen  abgekommen  sei.  Brunot  giebt  als- 
dann eine  vortreffliche  Charakteristik  des  Kommentars  und  schafft 
sich,  indem  er  eine  kurze  Geschichte  der  litterarischen  Polemik  von 
der  Pleiade  bis  auf  Malherbe  giebt,  einen  sicheren  Standpunkt  für 
die  Beurteilung  der  Malherbeschen  Randglossen. 

Der  Kern  des  Werkes  gliedert  sich  in  drei  Abschnitte: 
1.  Be  la  Poesie  et  du  Style.     2.  Lu  Vocabulaire  poetique.     3.  De  la 


^)  Der  Versbau  bei  Philippe  Desportes  und  Frangois  de  Malherhe, 
Altenburg  1880. 


32  Beferate  und  Rezensionen.     F.  Kalepky, 

Grammaire.  Am  wertvollsten  ist  nach  nnserer  Meinung  der  erste 
Abschnitt.  Er  enthält  eine  auf  gründlicher  Durchdringung  des 
spröden  Materials  beruhende,  wohlthuend  abgerundete  Darstellung 
der  Ansichten  Malherbes  über  das  Wesen  der  Dichtkunst  und  die 
Erfordernisse  des  poetischen  Stils,  wobei  Brunot  stets  auf  die 
Doktrin  der  Pleiade  zurückgeht.  Zu  wesentlich  neuen  Ergebnissen 
gelangt  Brunot  nun  freilich  nicht,  wie  er  selbst  in  der  Vorrede 
aussagt;  sein  Verdienst  liegt  vielmehr,  abgesehen  von  der  vor- 
trefflichen Darstellung  dieses  schwierigen  Gegenstandes,  darin,  dass 
er  die  Theorie  Malherbes,  wie  man  sie  schon  früh  aus  seinen  Dich- 
tungen und  seinen  durch  Freund  und  Feind  überlieferten  Aeusserungen 
konstruiert  hat,  auf  die  einzige  völlig  zuverlässige  Basis  stellt  und 
sie  in  allen  Einzelheiten  vervollständigt  und  vertieft. 

Dasselbe  kann  von  dem  zweiten  Abschnitt  gesagt  werden, 
welcher  Malherbes  Verhältnis  zum  poetischen  Sprachschatz  behan- 
delt. Hier  war  die  Arbeit  weniger  schwierig,  die  Aufstellung  eines 
Systems  und  die  Einordnung  der  Thatsachen  in  dasselbe  leichter. 
Auch  hier  geht  Brunot  bei  jedem  Anlass  in  die  Tiefe;  wertvolle 
Exkurse,  treffende  Gleichnisse,  in  deren  Erfindung  Brunot  sehr 
geschickt  ist,  zieren  auch  dieses  Kapitel,  das  namentlich  für  den 
Lexikographen  von  Wert  ist. 

In  dem  dritten  Kapitel  stellt  Brunot  Malherbes  Aeusserungen 
über  grammatische  Fragen  dar.  Indem  er  sowohl  die  Vorgänger  als 
auch  die  Nachfolger  Malherbes  auf  diesem  Gebiete  gebührend  berücksich- 
tigt, lässt  seine  Darstellung  ersehen,  wie  weit  Malherbes  Vorschi'iften 
eine  Neuerung  bedeuteten,  wie  weit  sie  schon  vorhandene  Tendenzen  im 
Sprachgebrauche  befestigten  und  regelten,  und  wie  weit  es  ihm  gelang, 
seine  Ansichten  durchzusetzen.  In  dem  Abschnitt  „Bc  VOrthugraphe", 
der,  wie  es  scheint,  mehr  anhangsweise  diesem  Kapitel  beigegeben 
ist,  vermissen  wir  einige  Aeusserungen  Malherbes,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  er  nicht  duldet,  durch  willkürliche  Aenderung  der 
Orthographie  die  Verschiedenheit  in  der  Aussprache  zweier  im  Reim 
verbundener  Wörter  zu  verdecken.  Wenn  Brunot  Malherbes  Be- 
merkung anführt:  An  ne  doit  pas  etre  confondu  avcc  en:  on  ecrit 
absence  et  non  absance,  und  dazu  sagt:  Cest  le  commcntalre  du 
recit  de  Racan:  „II  ne  voulait  pas  qu'on  rimdt  indifferemment  aiix 
terminaisons  en  ant  et  ent,  comme  innocence  et  puissance,  appa- 
rent  et  conquerand,  grand  et  jyrend;  et  voidait  qu'on  rimdt  pour 
les  yeux  aussi  bien  qice  pour  les  oreilles",  —  so  muss  dies  bei  dem 
nicht  genauer  unterrichteten  Leser  den  Irrtum  erwecken,  als  habe 
Malherbe  ausser  dem  Gleichklaug  der  reimenden  Vokale  auch  noch 
gleiche  Schreibung  derselben  verlangt,  eine  Ansicht,  die  —  vermut- 
lich einzig  und  allein  auf  Grund  der  angeführten  Worte  Racans  — 
allerdings  bis  auf  die  neueste  Zeit  geherrscht   hat,   dann  aber  von 


F.  Brunot.    La  Dodrine  de  Malherbe.  33 

Bellanger  und  Johannesson  berichtigt  worden  ist.  Dieser  Gegen- 
stand greift  nun  freilich  schon  auf  das  Gebiet  der  poetischen  Technik 
hinüber,  welches  Brunot  aus  dem  Rahmen  seiner  Arbeit  ausgeschieden 
hat;  doch  hätte  er  wohlgethan,  jeder  falschen  Auffassung  seiner 
Bemerkung  zu  Malherbes  Glosse  durch  einen  Hinweis  auf  die  i\.us- 
führungen  der  oben  genannten  beiden  Forscher  vorzubeugen. 

Wie  verhält  es  sich  nun  thatsächlich  mit  dem  uns  von  Eacan 
überlieferten  Verbot  Malherbes,  an  auf  en  zu  reimen?  —  Johannesson 
hält  dafür,  dass,  von  dem  Schlusssatze  abgesehen  (dessen  Echtheit 
übrigens,  wie  Johannesson  zeigt,  nicht  ganz  zweifellos  ist),  Racans 
Mitteilung,  trotz  allem  was  ihr  entgegensteht,  richtig  sei.  Für 
Tobler  (Votn  französischen  Versbau^  S.  113  Anm.  2)  ist  die  Frage 
noch  eine  offene;  doch  hält  er  es  (gegen  Johannesson)  für  das 
Wahrscheinliche,  dass  Malherbe  „arg  missverstanden  und  die  Nach- 
welt durch  ganz  verkehrte  Reden  Racans  irregeführt  worden  sei.'" 
Dass  dem  wirklich  so  ist,  wie  Tobler  annimmt,  gedenkt  Referent 
bei  gegebener  Veranlassung  nachzuweisen.  Hier  würde  es  zu  weit 
führen. 

Die  Einleitung  und  das  Schlusskapitel  (Le  Siicces  de  Malherhe) 
sind  reich  an  Ergebnissen  für  die  genauere  Kenntnis  der' litterarischen 
Verhältnisse  und  Persönlichkeiten  am  Anfang  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts. Bemerkenswert  ist  aber,  dass  auch  Brunot,  dem  ein 
ausserordentlich  reiches  Quellenmaterial  vorgelegen  hat,  das  Dunkel 
nicht  hat  erhellen  können,  welches  über  gewissen.  Malherbes  Reformen 
vorbereitenden,  litterarischen  Tendenzen  liegt,  deren  Träger  Personen 
aus  den  Hofkreisen  gewesen  sein  müssen.  Von  Wichtigkeit  ist  seine 
Mitteilung,  dass  die  Elegie  Vauquelin's  des  Yvetaux  über  Desportes" 
Werke  schon  im  Jahre  1600  in  diese  letzteren  eingefügt  worden 
ist  und  ihr  polemischer  Teil  sich  demnach  nicht  auf  Malherbe 
beziehen  kann,  der  erst  1605  an  den  Hof  gekommen  ist. 

Es  erhöht  den  Wert  solcher  Arbeiten,  wie  die  vorliegende 
ist,  wesentlich,  wenn  ihre  Ergebnisse,  deren  Aufzählung  immer  noch 
eine  wenig  übersehbare  Reihe  verschiedenartiger  und  unanschaulicher 
Einzelheiten  bilden  würde,  in  glücklich  erfundenen  Bildern  und  Ver- 
gleichen zu  einem  anschaulichen  Ganzen  zusammengefasst  werden, 
mittelst  dessen  man  sich  der  mannigfachen  einzelnen  Tliatsachen 
und  Beobachtungen  erinnert,  sie  rasch  überblickt  und  in  concreter 
Gestalt  anschaut.  Die  Wissenschaft  darf  —  um  im  Bilde  zu 
sprechen,  —  ihre  erworbenen  Baarvorräte  an  Einzelerkenntiüssen 
nicht  als  Kupfermünzen  weiterschleppen;  sie  muss  suchen,  sie  zu 
goldenen  Schaumünzen  auszuprägen.  Brunot  ist  ein  Meister  in  dieser 
Kunst.  Als  Beweis  dessen  und  zugleich  zu  wirkliclier  Bereicherung 
derjenigen,  welche  unsere  eben  dargetliane  Ansicht  teilen,  sei  uns 
gestattet,  unsere  Besprechung  mit  dem  schönen  Gleichnis  abzuschliessen, 

Ztschr   f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV-'.  '^ 


34  Beferate  und  Rezensionen.    A.  L.  Stiefel,' 

in  welchem  Brunot  Ronsard's  und  Malherbe's  Bemühungen  um  die 
Vervollkommnung  ihrer  Muttersprache  einander  entgegenstellt.  An 
ein  kurzes  Wort  La  Bruyeres  anknüpfend,  tährt  er  fort :  C'est  bien, 
en  effet,  aux  grands  edißces  rcUgieux  du  Moyen  Age  que  le  monumeid 
de  la  poesie  frangaise,  fei  que  le  XV I*^  siede  l'avait  entrepris,  devait 
ressembler.  D'' immenses  colonnes  quittant  le  sol  et  projetant  comme  des 
bras  des  arcs  temeraires  dessinaient  wie  nef  immense,  si  hardie  qii'on 
n'arrivait  pas  ä  joindre  la  voüte,  ni  ä  assurer  les  murs,  tont  en  les 
appwjant  ä  de  lourds  et  mdladroiis  cuntreforts.  Tont  aiäour  le  sol 
etait  joncM  de  materiaux  rares,  de  marbres  et  de  porpliyres  qii'on 
etait  alle  chercJier  au  loin  ou  dans  les  profondeurs  du  sol  national. 
TJne  legion  d''artistes,  attendant  Vachevement  de  la  nef,  avait  commence 
ä  en  faire  jaillir  les  ornements:  clochetons,  pinacles,  colonncttes,  figurines 
et  bas-reliefs,  oü  se  rencontraient  dans  un  melange  singidier  les  Sou- 
venirs anciens  et  les  impirations  personnelles,  les  seines  mythologiques 
et  les  legendes  chretiennes,  le  convenu  et  le  reel,  tout  cela  imagine  avec 
un  art  ä  la  fois  delicat  et  maladroit,  erudit  et  naif,  entasse  avec  une 
piete  absurde  et  touchante. 

Apres  qu'on  eut  attendu  quelque  tenips  Varchitecte  de  genie  qni 
allait  choisir  dans  ce  fouillis,  faire  la  Synthese  de  ces  membres  epars, 
un  peu  de  lassitude  etait  venue  chez  le  travailleur,  puis  beauconp 
d'incredidite  dans  le  public. 

A  ce  moment  un  nouvel  arrivant parait,  cpris  avant  toid  de  V utile; 
ä  Vimmense  vaisseau  sans  toiture  il  enseigne  qu'il  faut  substituer  wie 
simple  maison  bien  couvertc,  ample  cncore,  mais  debarrassee  de  taute 
cette  Vegetation  de  pierre  qui  en  comprofnet  Vequilibre.  II  la  plante 
sur  des  pieds  larges  et  unis.  Aux  roses  immenses,  aux  balustrades 
denfelecs  il  snbstitue  de  grands  murs  droits,  faits  de  pierres  de  taille 
bien  cquarries,  bien  rapportces,  bien  cimentees,  au  travers  desqurls 
s^ouvrent  de  larges  baies,  dont  les  verres  blancs  jettcnt  au  dcdans  des 
flots  de  lumiere;  gä  et  lä  quelques  groupes  d' ornements:  aux  cJiapiteaux 
une  poignee  de  fleurs,  aux  clcfs  de  imde  une  serie  de  figures,  toujours 
les  memes,  masquent  la  nudite  monotone  de  Vensemble. 

Et  la  foule,  seduite  par  la  grandcur  simple  et  correctc  d'une 
construction  qui  ne  depasse  plus  la  moyenne  de  ses  goiits,  abandonne  le 
vieux  chantier  oü  ne  Vavait  attiree  qu'une  curiosite  ä  demi  sympathique, 
Celle  qu'on  a  pour  les  clioses  imcomprises.  Bientöt  il  ne  reste  plus 
lä  que  quelques  fidelcs,  dont  la  foi  s'cxhale  en  regrets  sans  pouvoir  se 
realiser  en  efforts,  et  peu  ä  pcu  la  vie  s'en  va,  les  materiaux  deviennent 
decombres,  l'ebauche  n'est  plus  qiCune  riiine. 

Felix  Kalepky. 


Gr.  Steffens.     Eotrou-SiucUeii.     I.  35 

Steffens,   Georg;.     Rotrou-Studien.     I.     Jean  de  Rotrou  ah  Nach- 
ahmer Lope  de  Vega's.   Berlin,  W.  Gronau  1891.    104  S.   8^. 

In  einer  Einleitung  (S.  3 — 32)  bringt  der  Verfasser  einzelne 
biographische  Notizen,  „eine  kritische  Znsammenstellung  der  wich- 
tigsten Schriften  über  den  Dichter"  und  bespricht  zuletzt  die  Zahl 
seiner  Stücke,  um  sich  sogleich,  ohne  Uebergang,  zu  Rotrous  Bague 
de  VOid)U  zu  wenden.  Er  gibt  zuerst  ausführlich  den  Inlialt  des 
spanischen  Stückes,  dann  vergleichend  denjenigen  der  französischen 
Nachbildung  an  und  reiht  hieran  einige  Bemerkungen  über  die  Auf- 
führung und  über  den  Druck  des  letzteren  u.  s.  w.  Das  gleiche  Ver- 
fahren beobachtet  er  für  die  übrigen  Stücke,  als  deren  Vorbilder  er 
Lope  de  Vega  kennt.  Es  sind  dies  Les  Occasions  perdues  (occasion 
perdida),  L'heurcuse  Constance  (El  poder  vencido  y  el  amor  pre- 
miado  und  Mir  ad  a  quien  äldbais)  und  Laure  persecidee  (Laura  per- 
segnida).  Nur  wenige  Worte  sind  gewidmet  La  helle  Alfrede  und 
Do)i  Lope  de  Cardone,  deren  Quellen  Steffens  nicht  kennt  und  bei 
denen  er  die  falschen  Angaben  Schacks  zurückweist,  L'heureux  Kaii- 
frage,  Don  Bern,  de  Cabrere,  über  die  er  nichts  Neues  mitzuteilen 
weiss,  und  Belissaire,  als  dessen  Quelle  er  Mira  de  Amescuas  El 
Capitan  Belisario  bezeichnet. 

Die  Arbeit  ist  nicht  ohne  Verdienst.  Die  kritische  Besprechung 
der  Eotrou-Schriften  zeigt  hinlängliche  Vertrautheit  mit  der  ein- 
einschlägigen  Litteratur  und  enthält  manches  treffende  Urteil.  Das 
Verhältnis  der  Rotrou'schen  Stücke  zu  den  Vorbildern  ist  im  all- 
gemeinen richtig  dargestellt.  Neu  daran  sind  allerdings  nur  die 
Quellen  zu  L'heureuse  Constance  und  Belissaire.  Die  Abhandlung 
entspricht  jedenfalls  den  Anforderungen,  die  man  an  eine  Erstliugs- 
arbeit  stellen  kann.  Wenn  ich  sie  gleichwohl  in  der  Form  und  im 
Inhalte  als  nicht  ganz  befriedigend  bezeichnen  muss,  so  liegt  das 
darin,  dass  der  Verfasser  sich  ein  Thema  gewählt  hat,  das  über  die 
Kräfte  eines  Anfängers  hinausgeht.  Wer  das  "S'erhältnis  zweier 
Dichter  von  der  Bedeutung  Lupes  und  Eotrous  in  befriedigender 
Weise  darstellen  will,  muss  mehr  als  eine  bloss  oberflächliche  Kenntnis 
derselben  besitzen,  und  zu  verlangen,  dass  einer  das  monstruo  de  la 
naiuraleza  nach  einigen  Semestern  Universitätsstudium  kenne,  das 
wäre  eine  unerhörte  Forderung. 

Was  zunächst  die  Einleitung  betrifft,  so  hat  sie  gar  keinen 
Bezug  auf  den  vom  Titelblatt  angekündigten  Inhalt,  und  bietet 
selbst  nicht  einmal  den  so  leicht  zu  findenden  Uebergang  dazu. 
Dann  enthält  sie  einige  Lücken  und  mehrere  Ungenauigkeiten  und 
Irrtümer.  Ich  merke  hier  folgendes  an:  S.  übersah  von  den  Er- 
wähnungen des  Dichters  durch  Zeitgenossen  eine  Aeusserung  des 
Tallemant  de  ßeaux  (Historiettes,  Band  X,  S.  188  ed.  Garnier  freres 

3* 


36  Referate  und  Rezensionen.    A.  L.  Stiefel, 

Paris),  einen  Brief  Chapelains  v.  22.  Jänner  1637,  den  er  übrigens 
bei  Person  {Venceslas  p.  145)  und  Chardon  (p.  105/106)  hätte  be- 
merken müssen,  und  Sorels  Bihlioth.  fran<^.  (1664),  p.  153;  ferner 
liätten  in  seiner  Bibliograpliie  wohl  noch  Platz  finden  dürfen:  Chap- 
puzeau  Thedtre  franrais  (1674),  die  Anecdofes  dramatiques  (1775), 
Mouhys  Tablettes  dramat.  (1752)  und  Abrege  de  l'Hist.  du  Thedtre 
franrais  (1780),  Delisle  de  Salles'  Recueil  des  meilleures  jiieces  dramat. 
(1780/81  2.  3.  5.  u.  7.  B.),  Blin  de  St.  More  Essai  sur  la  Vie  de  J. 
Rotrou,  Picard  Galerie  frang.,  II.  B.,  Vaperau  Dict.  Univ.  des  Litt. 
(1884),  besonders  aber  H.  Lucas  Hist.  du  Thedf.  fr.  (2.  edit.  1863), 
Tivier  Hist.  de  la  litt.  dram.  (1873),  von  gelegentlichen  Erwäh- 
nungen in  Arbeiten  über  zeitgenössische  u.  a.  französische  Dichter 
(wie  Bernage  über  Garnier,  G.  Bizos  über  Mairet  u.  s.  w.)  zu 
schweigen.  Diese  alle  verdienten  eine  Erwähnung  wenigstens  ebenso 
gut  als  viele  von  S.  besprochene.  —  Das  Urteil,  das  S.  (S.  13)  über 
Dom  Liron  fällt,  ist  zu  streng;  man  vergl.  dagegen  Person  (H.  du 
Venceslas,  p.  108)  und  Chardon  (p.  14—17).  —  S.  18  A.  sagt  S.: 
„Arges  Befremden  muss  erregen,  dass  J.  F.  Laharpe  Li/cee  ou  cours 
de  litter.  etc.,  Toulouse  1813,  Tome  III  Cap.  II,  entit.  „Le  thedtre 
franrais  et  P.  Corneille"'  Rotrou's  mit  keiner  Silbe  Erwähnung  thut." 
Diese  Bemerkung  muss  ihrerseits  arges  Befremden  erregen,  denn 
nicht  nur  erwähnt  Laharpe  Rotrou  in  diesem  Kapitel,  wenn  auch 
nur  mit  wenigen  Worten,  sondern  er  widmete  ihm  —  d.  h.  seinem 
Venceslas  —  in  einem  späteren  Kapitel  20  Seiten  (vergl.  Ausg. 
Paris  an  VII.  V.  B.  S.  289—309).  Das  „Li/cee"  ist  übrigens  nicht, 
wie  S.  zu  glauben  scheint,  erst  1813  erschienen.  —  Zu  S.  19  ist  zu 
bemerken,  dass  St.  Marc  Girardin  doch  etwas  mehr  bietet  als  die 
Inhaltsangabe  des  Cosroes;  S.  hätte  nur  den  später  erschienenen 
V.  Band  seines  Buches  ansehen  sollen.  —  Zu  S.  23:  Lotheissens  Be- 
merkungen über  R.,  so  geistvoll  sie  S.  auch  findet,  sind  oberflächlich 
und  enthalten  genug  Uniichtigkeiten.  —  Zu  S.  24:  L'Hist.  du  Ven- 
ceslas ist  nicht  Person's  erste,  sondern  seine  zweite  Quelluntersuchung. 
—  Zu  S.  29  A.:  die  5  Stücke  Lisimene,  Bon  Alvare  de  Lune,  Florante, 
Thebdide,  Amarillis  schreibt,  schon  lange  vor  Beauchamps,  Chappu- 
zeau  Rotrou  zu  und  nennt  Lisimene  unmittelbar  nach  Celimene;  eine 
Verwechslung  jenes  Stückes  mit  diesem,  wie  S.  glaubt,  dürfte  also 
kaum  vorliegen.  —  S.  30  gibt  sich  S.  alle  erdenkliche  Mühe,  um  zu 
beweisen,  dass  LMllustre  Amazone  nicht  von  R.  ist.  Er  hat  nicht 
bemerkt,  dass  der  von  ihm  selbst  angeführte  Raynouard  im  Journal 
des  Savants  von  1823  diesen  Beweis  ganz  überzeugend  schon  geführt 
hatte.  —  Dass  „der  Hauptanteil  der  Verfasserschaft  an  der  Amarillis 
Tristan  l'Hermite  zufällt"  (S.  30)  ist  unrichtig;  von  diesem  sind 
nach  Viollet  Le  Duc  nur  Jes  morceauz  de  chant  et  plusieurs  dialogues 
de  satyres'^    und  selbst  das  bezweifle  ich   noch.  —  S.  hat  übrigens 


G.  Steffens.     Rotrou- Studien.     I.  37 

bei  der  Betrachtung  der  Zahl  der  von  R.  geschriebenen  Stücke  R.'s 
eigene  Angabe  im  advertissement  seines  3.  Dramas  (gedr.  1634) 
„cette  cadette  de  trenfe  sceurs"  zu  erwähnen  und  zu  erwägen  unter- 
lassen, offenbar  weil  sie  ihm  unbekannt  war.  —  Florante  (S.  29) 
ist,  trotz  Chardon,  allem  Anschein  nach,  nicht  identisch  mit  Celt- 
tnene  (S.  Rigal-Hardy,  p.  684). 

Wenn  ich  nun  zur  eigentlichen  Arbeit  übergehe,  so  ist  vor 
allem  zu  bemerken,  dass  Steffens  sein  Thema  in  keiner  Weise  er- 
schöpft hat.  Die  Zahl  der  Stücke,  die  Rotrou  dem  „Phönix 
der  Dichter"  verdankt,  ist  erheblich  grösser,  besonders  ist 
zu  beachten,  dass  der  Franzose  oft  mehr  als  zwei  Stücke  zu  einem 
contaminierte.  Ich  werde  das  demnächst  in  meiner  eigenen  Arbeit 
über  die  spanischen  Quellen  des  Dichters  zeigen.  Hier  sei  nur  er- 
wähnt, dass  R.  für  seine  Heureuse  Constarice,  ausser  den  beiden  von 
8.  besprochenen,  mir  übrigens  längst  bekannten  Lope"schen  Stücken 
noch  ein  drittes  des  gleichen  Meisters  mitverschmolzen  hat.  Ganz 
unbegreiflich  ist  es,  dass  S.  den  St.  Genest  von  seiner  Betrachtung 
ausgeschlossen  hat.  Wenn  Person  auch  dessen  Verhältnis  zu  Lope's 
Lo  Fingido  Verdadero  schon  besprochen  hatte,  so  ist  einmal  seine 
Analyse  viel  zu  oberflächlich  und  dann  durfte,  wo  es  sich  um  das 
vollständige  Verhältnis  zwischen  R.  und  L.  d.V.  handelte,  das  Stück 
nicht  wegbleiben.  Ferner  vermisst  man  bei  der  Darstellung  des 
Verhältnisses  zwischen  Originalen  und  Nachbildungen  ein  zusammen- 
fassendes Urteil.  Bei  den  spanischen  Stücken  wäre  die  beiläufige 
Angabe  der  Entstehungszeit,  der  mutmasslichen  Quelle,  oder  wenig- 
stens der  etwaigen  nochmaligen  Bearbeitung  des  gleichen  Stoffes 
seitens  des  Dichters,  wenn  auch  nicht  gerade  nötig,  doch  wünschens- 
wert gewesen.  Die  Wiedergabe  der  Textesstellen,  besonders  der 
spanischen,  lässt  viel  zu  wünschen  übrig;  das  meiste  indes  wird  auf 
Rechnung  des  Setzers  zu  stellen  sein. 

Im  einzelnen  habe  ich  noch  anzumerken:  La  Bague  de  V Ouhli 
ist  das  erste  Stück  im  französischen  Drama,  das  nachweislich  auf 
eine  spanische  dramat.  Vorlage  zurückgeht,  es  ist  also  gewisser- 
massen  von  epochemachender  Bedeutung.  Wenn  S.  bei  seiner  un- 
genügenden Bekar.ntschaft  mit  dem  franz.  Drama  dies  auch  ent- 
gehen musste,  so  hätte  er  doch  den  Umstand,  dass  das  Stück  jeden- 
falls Rotrou's  erste  Nachahmung  eines  spanischen  Dramas  ist, 
betonen  und  die  Ursachen  erwägen  müssen,  welche  R.  auf  Lope  de 
Vega  führten.  Sie  liegen  nicht  so  tief,  als  dass  er  nicht  darauf 
hätte  kommen  können.  Ferner  durfte  er  nicht  übersehen,  dass  in 
den  ersten  Nachbildungen  Rotrous  neben  dem  spanischen  Einfiuss 
sich  noch  ein  anderer  geltend  machte,  der  auf  die  Gestaltung  der 
Stücke  einwirkte  und  manche  Abweichung  R.'s  von  seinen  Vor- 
bildern erklärt  —  derjenige  der  Pastoraldichtung.  —  S.  38  erwähnt 


38  Referate  und  Rezensionen.     A.  L.  Stiefel, 

S.,  dass  R.'s  2.  Stück  Person  und  Viollet  le  Duc  in  das  Jahr  1628 
setzen  und  fügt  hinzu  (A  1) :  Ebenso  die  Gebr.  Parfaict.  S.  102  bei 
der  Zeitangabe  von  L.  pers.  nennt  er  gleichfalls  zuerst  jene  beiden 
und  dann  Parfaict.  Er  hätte  wissen  sollen,  dass  letztere  die  Quellen 
für  alle  späteren  Litterarhistoriker  sind,  dass  alle  Daten  auf  sie 
zurückgehen.  —  Es  ist  ungenau,  von  einer  Gesammt  aus  gäbe  der 
Lope'schen  Comedias  zu  sprechen,  wie  St.  (S.  33,  50,  63  u.  s.  w.) 
thut,  denn  die  bekannte  grosse  Sammlung  Lope'scher  Comedias  ent- 
hält noch  nicht  den  5.  Teil  seiner  sämtlichen  Comedias.  —  La 
Bague  de  VOubli  ist  sicher  von  1628;  das  hätte  S.  aus  dem  von 
ihm  selbst  angeführten  Avis  au  lecfeur  vor  dem  Stücke  schliessen 
müssen;  Brillon's  Daten  sind  ganz  falsch  und  wertlos.  —  Das 
Personenverhältnis  zwischen  Occasions  perdnes  und  Quelle  ist  (S.  56) 
ungenau  angegeben  und  der  Ort  der  Handlung  vei'wechselt.  — 
Mehrere  Einzelheiten  in  den  Inhaltsangaben  sind  ungenau  oder  un- 
richtig und  wichtige  Umstände  einige  Male  ausgelassen.  So  ist 
z.  B.  in  Lope's  Laura  pers.  Porcia  nicht  die  Infantin  von  Ungarn 
(S.  93),  sie  ist  ferner  nicht  mit  Orauteo  vermählt  worden  (S.  95 
und  96),  wie  könnte  sie  sonst  zuletzt  dessen  Vater  die  Hand  reichen. 
S.  99  fehlt  bei  R.'s  L.  p.  die  Angabe,  dass  der  Prinz  schon  vor 
Lydie's  Geständnis  Verdacht  gegen  Octave  geschöpft  hatte.  Im 
2.  Akt  von  Heurense  Co)ist.  übersah  S.,  dass  die  3.  Scene  aus  El 
poder  venc.  genommen  ist,  u.  dgl.  m.  —  Ferner  hätte  man  gewünscht, 
dass  der  Verfasser  den  von  R.  vorgenommenen  Aenderungen  etwas 
tiefer  auf  den  Grund  gegangen  wäre.  So  gibt  z.  B.  S.  nicht  an, 
warum  R.  in  den  Occ.  perd.  den  Anfang  der  IL  jornada  Lopes  weg- 
liess.  Es  geschah,  um  den  Ortswechsel  zu  vermeiden.  Wenn  R. 
sich  in  dem  Stück  auch  nicht  dem  Regelzwange  fügen  wollte,  so 
hatte  er  hier  doch  die  Absicht,  einem  entbehrlichen  Scenenwechsel 
auszuweichen.  Ferner  hätte  der  Dialog  bei  beiden  Dichtern  eine 
eingehende  vergleichende  Betrachtung  verdient.  So  ist  z.  B.  dem 
Franzosen  Lopes  Dialog  oft  zu  kurz,  zu  rasch,  jener  liebt  Tiraden; 
was  Lope  mit  wenigen  Worten  ausdrückt,  giebt  R.  bisweilen  Stoff 
zu  ebenso  vielen  und  noch  mehr  Versen.  Hier  ein  Beispiel:  Bei 
Lope  (in  Occ.  perd.)  sagt  die  Königin  nach  Beendigung  der  langen 
Geschichte,  die  ihr  der  Held  von  sich  erzählt:  ,,es  notable",  bei  R. 
werden  diese  2  Worte  zu  8  Versen  ausgesponnen.  —  Oberflächlich 
ist  die  Bemerkung  über  Lopes  FA  (jallardo  Cntalau  (S.  88).  Ich 
bemerke  dagegen,  dass  das  Stück  thatsächlich  eine  Quelle  R.'s  ist. 

—  Lopes  Don  Manuel  de  Soitsa  o  ei  naufragio  prodigioso  y  principe 
irocado  war  gewiss  nicht  die  Quelle  zu  R.'s  Heureux  Naufrage 
(S.  89).  S.  hat  entweder  das  französische  Stück  nicht  gelesen,  oder 
den  2.  Titel  des  spanischen  Stückes  (princ.  trocado)  nicht   erwogen. 

—  Ebensowenig  kann  —  trotz  Schack  (II  683),  Steffens Gewährs- 


G.  Steffens.    Rotrou- Studien.    I.  39 

mann,  den  er  übrigens  nicht  nennt  —  La  adversa  fortuna  de  B.  B. 
de  Cabrera  die  Vorlage  zu  E.'s  D.  B.  Cabrere  sein.  (S.  89).  Merk- 
würdigerweise citierte  S.  den  Catälogo  Barreras  S.  451  und  über- 
sah, dass  auf  dieser  Seite  sowie  S.  456  u,  483  dicht  hinter  La 
adversa  f.  auch  La  prospera  f.  de  D.  B.  de  Cabrera  angegeben  ist. 
Dass  dieses  ganz  sicher  die  Quelle  zu  Rotrou's  Stück  ist,  will  ich 
hier  einstweilen  bemerken.  S.  hat  das  französische  Stück  nicht 
gelesen,  sonst  hätte  er  nicht  von  La  adversa  förtuna  etc.  gesprochen. 

—  Rotrou's  Occasions  perd.  fallen  nicht,  wie  „gewöhnlich"  (d.  h.  nach 
Parfaict)  angegeben  wird,  in  das  Jahr  1631,  sondern  wahrscheinlich 
1633.  —  S.  63  sagt  S.  „Die  Heureuse  Constance"  ist  das  erste  der 
Stücke,  in  welchem  Rotrou  (nach  der  Weise  des  Plautus  und 
Terenz)  zwei  Stücke  in  eines  contaminierte.  Drei  Fehler  in  einem 
Athem!  Denn  1.  ist  H.  C.  nicht  das  erste  Beispiel  einer  Contamination 
bei  R.,  2.  sind  hier  drei  Stücke  verschmolzen,  und  3.  wissen  wir 
zwar  von  Terenz,  aber  nicht  von  Plautus,  dass  er  contaminierte. 
Hätte  sich  S.  begnügt,  meine  Bemerkung  im  Litterbl.  f.  g.  u.  r.  Ph. 
(1884  S.  287  Z.  12)  genau  zu  kopieren,  ohne  mich  ergänzen  zu 
wollen,  so  wäre  ihm  dieser  Schnitzer  erspart  geblieben.  —  S.  91 
gibt  sich  S.  Mühe,  die  falschen  Ansichten  über  die  Vorlage  von 
R.'s  Laiire  persecutee  zu  widerlegen.  Er  scheint  sich  dabei  für  den 
ersten  zu  halten,  der  die  Quelle  richtig  erkannt  hat.  Nun  habe  ich 
aber  bereits  1884  gelegentlich  der  Besprechung  von  Hemous 
Rotrou  Tlieätre  clioisi    (Ltbl.  f.   g.   u.   r.   Philol.   S.   400)    Puibusque 

—  der  Steffens  nicht  einmal  dem  Namen  nach  bekannt  zu  sein 
scheint  —  als  den  Urheber  des  Irrtums,  und  Lopes  Laura  pers.  als 
die  wahre  Quelle  bezeichnet.  Ebendaselbst  habe  ich  auch  die  gleich- 
falls auf  Paihusque  zurückgehenden  Irrtümer  bezüglich  der  Quellen 
zu  R.'s  Belle  Alfrede  und  Lope  de  Cardone,  womit  sich  S.  S.  88 
und  103  beschäftigt,  als  ob  er  etwas  ganz  Neues  brächte,  berichtigt. 
Diesen  Artikel,  sowie  einen  über  Chardon-Rotrou  (Ltbl.  1886  Sp.  143 
bis  45)  hat  S.  übersehen,  desgleichen  eine  Notiz  in  der  gleichen 
Ztschr.  (1884  Sp.  251),  worin  angekündigt  wird,  dass  ich  eine 
Arbeit  über  Rotrous  Quellen  zu  veröffentlichen  gedenke.  Den  An- 
spruch, den  S.  (S.  1)  erhebt,  dass  seine  Arbeit  „in  Deutschland  die 
erste  ist,  die  sich  mit  R.  nach  der  litterarhistorisclien  Seite  hin  ein- 
gehender beschäftigt",  kann  ich  nicht  gelten  lassen,  nachdem  meine 
eigenen  Arbeiten  über  R.  ins  Jahr  1878  zurückgehen  und  der  von 
mir  veröffentlichte  Teil  4 — 5  Monate  vor  der  seinigen  aus  dem 
Druck  kam.  —  Auf  S.  84  meiner  Abhandlung  (Unbek.  ital.  Quellen 
J.  R.'s)  habe  ich  —  freilich  ohne  Namen  anzugeben  —  die  Quelle 
zu  R.'s  Belissaire  angedeutet.  —  Daselbst  (S.  63,  A.')  habe  ich 
auch  wiederholt,  dass  Lope's  Laura  pers.  das  Vorbild  R.'s  ist  und 
habe    die   Quellen  Lopes,    sowie    einige    weitere  Bearbeitungen    des 


40  JReferate  und  Rezensionen.     A.  L.  Stie/el, 

Stoffes  aus  seiner  Feder  genannt.     Diesen  will   ich    hier    noch   an- 
fügen: Nunca  mucJio  costö  pocö  und  Nadle  se  conoce. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  sind  die  vom  Verfasser  augeführten 
Textesstellen  nicht  sehr  korrekt,  sie  wimmeln  von  Fehlern,  So  weit 
dies  auf  Druckversehen  beruht,  bin  ich  der  Letzte,  ihm  daraus  einen 
Vorwurf  zu  machen;  es  ist  für  manche  Augen,  z.  B.  für  die 
meinigen,  oft  wirklich  schwer,  bei  kleinem  Drucke  zumal,  alle 
Sünden  des  Setzers  zu  bemerken  und  gut  zu  machen.  Merkwürdig 
ist  nur,  dass  der  weitaus  grösste  Teil  der  Unrichtigkeiten  auf  das 
Spanische  entfällt.  Einige  Male  scheint  St.  Lope  de  Vega  miss- 
verstanden oder  seine  Druckfehler  wiederholt  zu  haben.  So  schreibt 
er  z.  B.  (S.  58)  que  im  dulce  hahlar  es  piedra  y  man  del  alma;  es 
muss  heissen:  es  piedra  unan  del  alma.  St.  scheint  die  Bedeutung 
von  piedra  iman  (Magnet)  nicht  gewusst  zu  haben  und  ändert  daher 
piedra  y  man. 

A.  L.  Stiefel. 


Hartmann,  Gottfried.  Merope  im  italienischen  und  französischen 
Drama.  (Münchener  Beiträge  zur  roman.  und  engl.  Phi- 
lologie herausgegeben  von  H.  Breymann  und  E,  Koppel 
IV.  Heft)  Erlangen  &  Leipzig  A.  Deichert'sche  Verlagh- 
buchh.     (Georg  Böhme)  1892.     96  S.  8«. 

Über  das  interessante  Thema  besitzen  wir  bereits  zwei  Ar- 
beiten: Gust.  Wendt  Die  italienischen  und  franz.  Bearbeitungen  der 
Meropefahel  (Jena  1876)  und  Grizzi  La  21erope  e  la  Tragedia 
(Roma  1891).  Da  diese  nur  die  wichtigeren  Erscheinungen  berück- 
sichtigen, so  hielt  es  der  Verfasser  der  vorliegenden  Abhandlung 
nicht  für  überflüssig,  den  Stoff  einer  nochmaligen  Bearbeitung  zu 
unterziehen.  Er  suchte,  wie  er  selbst  sagt,  „die  Entwicklung  der 
Meropefabel  an  der  Hand  der  Kritik  zu  verfolgen,  soweit  diese 
sachlich  oder  persönlich  von  Interesse  .  .  .  ist,"  Letzteres  muss 
man  bei  der  Beurteilung  beachten,  weil  es  sich  aus  dem  Titel 
nicht  gerade  entnehmen  lässt. 

In  der  Einleitung  berührt  der  Verfasser  kurz  Euripides' 
Kresphontes  und  führt  die  bekannten  Stellen  aus  Hygin,  Pausanias 
und  Apollodor  an,  welche  die  Meropefabel  betreffen.  Hierauf  er- 
scheinen die  ersten  Bearbeiter  der  Fabel,  die  Italiener  des  Cinque- 
cento: Cavallerinu,  Liviera,  Torelli.  Hartmann  gibt  von  diesen 
dreien  zusammen  unter  dem  Titel  Historisches  zuerst  einige  aus 
den  bekannten  Compendien  geschöpfte  biographische  Notizen,  dann 
unter    dem    Titel    Motive    und    Kritik    die    Resultate    seines    ver- 


Gr.  Hartmann.    Merope  im  italienischen  und  franz.  Drama.      41 

gleichenden  Studiums  ihrer  Meropestücke ,  ohne  Inhaltsangaben, 
nach  den  „Motiven"  verteilt:  Thronerbe  und  Usurpator,  Mutter  und 
Sohn,  Zwang  zur  Ehe,  Chor,  Form;  eine  Synthese  schliesst  das 
Ganze  ab.  Jedem  einzelnen  „Motiv"  sind  die  Ansichten  der  be- 
deutenderen Kunstrichter  darüber  beigegeben.  Ähnlich  ist  das  Ver- 
fahren in  den  folgenden  Kapiteln,  wovon  das  II.  die  Franzosen 
unter  Ludwig  XIV  (Gilbert,  J.  de  La  Chapelle  und  La  Grange  de 
Chancel)  das  III.  Apostolo  Zeno  und  das  IV.  und  ausführlichste 
Maffei  und  seine  Nachfolger  (Voltaire,  Pierre  Clement,  Altieri, 
Giovanni  Martina  und  Daniel  Solimbergo)  behandelt.  Ein  Anhang 
bespricht  „neuere  Bearbeitungen  ausserhalb  Italiens  u.  Frankreichs" 
(von  Almeida  Garrett,  Matthew  Arnold,  Hermann  Hersch,  Max  Eemy 
und  P.  V.  F.  Wichmann)  und  bringt  Stellen  aus  verschiedenen 
Meropedramen  zum  Abdruck. 

An  Hartmauus  Arbeit  muss  eifriges  Studium  und  Vertraut- 
heit mit  der  einschlägigen  Literatur  gerühmt  werden.  Seine  Aus- 
führungen sind  in  vielen  Fällen  treffend.  Weniger  gefällt  mir  seine 
Methode  und  ganz  entscliiedenen  Tadel  muss  ich  gegen  die  Dar- 
stellung aussprechen.  Hartmann  beginnt  seine  Abhandlung  mit 
einer  Berufung  auf  M.  Carrieres  Poetik  und  kommt  wiederholt  auf 
Lessing  zu  sprechen,  aber  ein  Blick  auf  seine  Arbeit  zeigt,  dass  er 
sowohl  den  Dichter -Dramaturgen,  als  den  geistvollen  Aesthetiker 
ganz  ohne  Nutzen  für  Form  und  Stil  seiner  Arbeit  gelesen  hat. 
Ein  Thema  wie  das  vorliegende,  so  trefflich  geeignet,  den  wech- 
selnden Geschmack  und  die  Theorien  in  der  Tragödie  während 
4  Jahrhunderte  an  einem  und  demselben  Stoffe  zu  veranschaulichen 
und  selbst  gewissermassen  Geist  und  Eigentümlichkeiten  der  Jahr- 
hunderie  und  Völker  abzuspiegeln,  musste  das  Interesse  des  Lesers 
durch  eine  klare  fesselnde  Darstellung  vom  ersten  bis  zum  letzten 
Augenblick  festhalten.  Eines  solchen  Erfolges  kann  sich  Hart- 
manns Arbeit  in  gar  keiner  Weise  rühmen.  Sein  pedantischer 
Schematismus  wird  jeden  Leser  von  einigem  Geschmack  abstossen. 
Jenes  Zerfetzen  und  Auseinanderreissen  der  Stücke  in  einzelne 
Motive,  das  Durcheinanderwürteln  der  verschiedenen  Stücke  und 
der  darüber  geschriebenen  Kritiken,  ohne  dass  auch  nur  eine 
Inhaltsangabe  geboten  wird,  kann  nur  die  verworrendsten  Vor- 
stellungen erwecken,  aber  nimmermehr  uns  ein  auch  noch  so 
schwaches  Bild  von  der  Entwicklungsgeschichte  der  Fabel  geben. 
Wer  die  besprochenen  Stücke  nicht  alle  sorgfältig  gelesen  hat, 
wird  überhaupt  aus  dem  Büchlein  nicht  klug  werden.  Glaubte 
aber  Haitmann  etwa,  dass  die  (zum  teil  äusserst  seltenen)  Stücke 
in  allen  Händen  seien?  Gleichwohl  wäre  die  Sache  noch  nicht  so 
schlimm,  wenn  er  es  verstanden  hätte,  ein  lesbares  Deutsch  zu 
schreiben.     Sein  Satzbau  ist  aber  so  schwerfällig,  so  verworren  und 


42  JReferate  und  Rezensionen.    A.  L.  Stiefel, 

verschachtelt  und  selbst  oft  unlogisch,    dass  man  die  Sätze  wieder- 
holt lesen  muss,  bis  man  weiss,  was  etwa  gemeint  sein  könnte. 

Gegen  seine  Abgliederung  in  vier  Kapitel  habe  ich  nichts 
einzuwenden;  hierin  hat  er  das  Verhältnis  der  Bearbeitungen  zu 
einander  richtig  erkannt.  Ich  finde  es  auch  ganz  am  Platze,  dass 
er  alle  antiken  Nachrichten  über  die  Erzählung  mitteilte,  obwohl 
für  die  modernen  Dramatiker  eigentlich  nur  Hygin^)  in  Betracht 
kommt.  Aber  meines  Erachtens  hätte  er  dann,  von  letzterem  aus- 
gehend, zum  ersten  Bearbeiter  übergehen  und  durch  eine  Inhalts- 
angabe zeigen  müssen,  was  dieser  aus  der  Fabel  —  die  selbst  nichts 
als  ein  Auszug  aus  des  Euripides  Kresphontes  sein  soll  —  auf  den 
Traditionen  der  damaligen  italienischen  Tragödie  fussend,  gemacht 
hat.2)  An  Cavallerino  hatten  sich  der  Reihe  nach  die  beiden  anderen 
durch  ihn  angeregten  Italiener  anzuschliessen,  wobei  der  Inhalt 
ihrer  Stücke  jedenfalls  insoweit  anzugeben  oder  anzudeuten  war, 
als  sie  von  jenem  und  unter  sich  abweichen.  Erst  dann  Hess  sich 
eine  kurze  vergleichende  Betrachtung  der  hervoi-stechendsten  Cha- 
raktere und  Motive  anknüpfen,  die  auf  volles  Verständnis  bei  dem 
Leser  rechnen  durfte.  Ähnlich  musste  bei  den  anderen  Gruppen 
verfahren  werden.  So  war  z.  B.  bei  den  älteren  franz.  Bearbeitungen 
von  Gilbert  auszugehen  und  da  auf  ihn  offenbar  La  Chapelle  und 
La  Grange  beruhen ,  wiederum  durch  eine  Inhaltsangabe  seine 
charakteristische  Auffassung  des  Stoffes  klarzulegen.  Daneben  war 
es  von  Interesse,  zu  untersuchen,  ob  er  und  seine  unmittelbaren 
Nachfolger  etwa  die  älteren  Italiener  kannten  —  eine  Frage,  wo- 
rüber H.  kein  Wort  sagt.  An  die  Franzosen  und  zugleich  an  die 
Cinquecentisten  knüpft  Zeno  an,  und  an  ihn  und  alle  jene  Maftei, 
der  wiederum  alle  Späteren  nach  sich  zieht.  Liess  man  die  biograph. 
und  bibliographischen  Notizen,  Aufführungsdaten  u.  s.  w.  etwa  als 
Fussnoten  folgen,  so  ergab  sich  in  zusammenhängender  Darstellung 
eine  anschauliche  Entwicklungsgeschichte  des  Stoffes. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  bei  so  vielen  Stücken, 
über  welche  die  berufensten  Kunstrichter  oft  die  entgegengesetztesten 
Urteile  fällen,  auch  H.  mit  seinen  Behauptungen  und  Ansichten 
vielfach  Anfechtungen  erfahren  muss,  um  so  mehr  als  er  es  häufig 
an  der  nötigen  Begründung  hat  fehlen  lassen.  Indes  auf  Einzelheiten 
einzugehen,  welche  meist  breitere  Auseinandersetzungen  erfordern, 
verbietet  mir  der   für   eine   Anzeiae   aestattete  bescheidene   Raum. 


^)  Dass  jedoch  dem  einen  oder  anderen  Bearbeiter  der  FaLel  auch 
Pausanias  oder  Apollodor  l)ekannr  gewesen,  beweisen  die  Namen  Aepytus 
(Zeno  u.  a.),  Kypsehis  (Liviera)  und  ähnliche  Kleinigkeiten. 

2)  Auch  die  (alt.)  Kommentare  zu  Aristot.  Poetik,  deren  Einfluss 
auf  die  Merope  H.  nur  andeutet,  hätten  herangezogen  werden  müssen. 


G.  Hartmann.    Merope  im  italienischemmd  franz.  Drama.       43 

Ich  leugne  auch  nicht,  dass  mir  hierzu  die  ganze  Arbeit  Hartmann's 
viel  zu  wenig  ansprechend  ist.  Ich  begnüge  mich  daher,  hier  einige 
Ergänzungen  und  Berichtigungen  vorzutragen. 

Zu  S.  5:  Cavallerinos  Ino  erschien  erst  1583  (und  nicht  1582), 
wie  Hartmann  aus  AUacci  hätte  lernen  können.  —  Ebendas.  An- 
merkung 1:  Statt  Allacci  354,  lies  755  und  (Anmerk.  4)  statt  410 
lies  228.  —  Ebendas.:  Von  Signorellis  Storia  crit.  etc.  gibt  es  eine 
jüngere  und  umfassendere  Ausgabe  als  die  von  1787,  welche  1813 
in  10  bezw.  11  Bänden  ersclüen.  —  S.  6  erwähnt  H.  nach  Quadrio, 
dass  Livieras  S.  G-mstina  ,,in  einer  Sammlung  von  Ciotti  Della 
Corona  ovvero  Ghirlanda  etc."  gedruckt  worden.  Er  gibt  kein 
Datum  an,  weil  —  dieses  (1606)  einige  Zeilen  weiter  unten  steht 
und  übersali  die  noch  weiter  unten  stehende  Bemerkung  Quadrios 
„Questi  fre  Volumi  erano  gia  stati  inqyressi  in  Serravalle  dl  Venezia 
da  M.  Claseri  nel  1005  etc."  —  Ebendas.  ist  eine  Stelle  aus  Klein 
(Gesch.  d.  Dramas  Y,  461)  fast  wörtlich  ohne  Quellenangabe  be- 
nützt. —  Daselbst:  Statt  Klein  ^,  lies  Klein  ^.  —  Ebend.  sagt  H. : 
„Der  Tancred  (Torellis)  nach  Gaspary  aus  dsr  Grismonda  des  Grafen 
von  Camerano  hervorgegangen  und  schon  1597  erschienen."  Hätte  sich 
H.  den  oft  von  ihm  zitierten  Fontanini-Zeno  (I,  481)  etwas  genauer 
angesehen,  so  hätte  er  gefunden,  1.)  dass  das  Stück  schon  1587  und 
zwar  zu  Paris,  allerdings  unter  dem  Namen  Gismonda,  aber  dem 
Tasso  zugeschrieben  erschien,  dass  jedoch  2.)  sein  wahrer  Name  J7 
Tancredi  ist,  unter  welchem  es  die  Drucke  von  1597  an  dem 
Ottaviano  Asinari  Graf  von  Camerano  zuschreiben,  während  der  wirk- 
liche Verfasser  Federigo  Asinari  G.  v.  Camerano  sein  soll.  —  Ebend.: 
Eine  Ausg.  der  Torelli'schen  Merope,  Yen.  1714  (bei  Alvise  Pavino), 
welche  H.  nach  Allacci  angibt,  existiert  gewiss  nicht,  wahrscheinlich 
liegt  eine  Verwechslung  mit  einer  Ausgabe  der  Merope  von  Matfei 
oder  Zeuo  vor.  Die  Drammaturgia  von  1755  muss  gleich  derjenigen 
von  1666  mit  grosser  A'orsicht  benutzt  werden.  So  ist  z.  B.  Col.  899 
die  Torelli'sche  Merope  im  Teatro  ital.  (1723)  dem  Maft'ei  zu- 
geschrieben. —  Dieses  Teatro  ital.  erschien,  was  H.  unbekannt  ge- 
blieben ist,  1746  in  neuer  Ausgabe  zu  Venedig  (bei  Orlandini).  — 
S.  14  behauptet  H.,  dass  die  3  ältesten  Meropestücke  „unter  dem 
Eindruck  .  .  .  teilweise  von  Guarinis  berauschendem  Pastor  fido  ge- 
schrieben wurden."  Nun  erschien  der  Telefonte  1582,  der  Cresfonte 
entstand  1583  (gedr.  1588)  und  die  erste  Merope  war  1589  schon 
gedruckt,  während  der  Fastor  fido  erst  1590  den  Druck  verliess. 
Wenn  nun  der  P.  f.  auch  schon  einige  Jalire  vorher  in  Freundes- 
kreisen des  Dichters  zirkulierte,  so  haben  wir  docli  keine  Anlmlts- 
punkte,  dass  etwa  Torelli  —  die  anderen  kommen  überhaupt  nicht 
in  Betracht  —  dazu  gehörte.  Der  berauschende  Eindruck  ervveist 
sich  also  bei  näherer  Besichtigung  als  ein  Phantasierausch.  —  Über 


44  'Referate  und  Rezensionen.     Ä.  L.  Stiefel, 

Gilbert  sagt  H.  (S.  15):  „Von  Gabriel  Gilbert  wissen  wir  nur,  dass 
er  zuerst  Sekretär  etc."  Er  scheint  Goujet  Bihl.  franr.  nur  von 
Hörensagen  zu  kennen,  denn  bei  diesem  (18,  86  ff.)  hätte  er  seine 
Angaben  ergänzen  und  berichtigen  können.  Besonders  die  Daten 
bedürfen  vielfach  der  Korrektur.  So  ist  z.  B.  Marguerite  de  France 
nicht  von  1642  —  H.  lässt  unentschieden,  ob  er  hier,  sowie  bei  den 
folgenden  Daten,  die  Zeit  des  ersten  Druckes  oder  der  ersten  Auf- 
führung meint  — ,  sondern  bereits  1641  gedruckt  [cf.  Gnujet  18,455, 
Bibl.  du  Thedtre  fr.  III,  17  (Hartmann  ganz  unbekannt)  und  Beau- 
champs  II,  204  (Ausg.  8°)],  das  acheve  d'impr.  ist  vom  Dez.  1640; 
HippoUte  ist  1646  gedruckt  und  niclit  1647;  Les  Äinours  de  Diane 
etc.  1657  (bzw.  1661)  und  nicht  1651  (u.  1681);  Les  Anwurs  d'Ovide 
1663  und  nicht  1660.  TJieagene  wurde  1662  und  Le  courtisan  parfait 
1668  aufgeführt.  —  S.  16  verweist  H.  bezüglich  der  ungedruckten 
Stücke  Gilberts  auf  Parfaict  IX,  247 ;  aber  an  dieser  Stelle  ist  nur 
von  Gilberts  Les  arnours  d'Angelique  et  de  Medor  die  Rede.  —  Zu 
S.  18  ist  zu  bemerken:  Der  Dichter  schrieb  sich  nicht  Joseph  de 
(^'hancel  de  la  Grange,  sondern,  nach  den  mir  vorliegenden  Stücken 
sowie  den  literarhistor.  Werken  zu  .schliessen,  J.  (de)  La  Grange  (de) 
Chancel.  —  Die  biographischen  Angaben  über  diesen  Dichter  sind 
dürftig  und  ungenau.  H.  sagt  z.  B.  (S.  19):  „Infolge  seiner 
Philippiques  gegen  den  Regenten  ....  kam  (er^  .  .  .  nach  Ste. 
Marguerite,  von  wo  er  sich  nach  Holland  flüchtete."'  La  Grange 
flüchtete  sich  aber  von  St.  Marg.  nach  Sardinien,  dann  nach  Genua, 
dann  nach  Spanien  und  zuletzt  nach  Hdllaud.  —  Ebendas.  sagt  H.: 
,,Oreste  et  Pylade  aufgef.  u.  gedr.  1698."  Das  Stück  wurde  im 
Dez.  1697  aufgeführt  und,  ausser  1698  (Paris),  auch  1700  (Amst.) 
gedruckt.  —  Ino  et  MeUceiie  wurde  1713  aiügeführt.  —  Ebend. 
lesen  Avir:  ..Amasis  (aufgef.)  am  13.  Dez.  1701  mit  11  Wieder- 
liolnngen,  welclie  infolge  des  strengen  Winters  erst  am  29.  Januar 
1731  fortgesetzt  wurden."  Also  hat  der  strenge  Winter  30  Jahre 
fortgedauert!  H.  will  natürlich  sagen,  dass  das  Stück  in  jenem 
Winter  nicht  mehr  gespielt  wurde  und  erst  wieder  1731  auf  die  Bühne 
kam.  —  Den  von  H.  angeführten  Stücken  La  Grange's  wären  nacli 
den  Anecdotes  dramatiques  III,  257  —  ein  H.  unbekanntes  Buch  — 
noch  hinzuzufügen:  Les  Jeux  Olympiqucs,  Orphec,  F//rame  d-  Thisbe, 
la  Mort  d'Uli/sse  und  le  Crime  imni.  —  Zu  S.  20:  ^Man  vermisst 
den  bestimmten  Hinweis  darauf,  dass  La  Chapelle  den  Telephonte 
seines  Vorgängers  zum  Vorbild  hatte,  und  es  blieb  H.  unbekannt, 
dass  jener  auch  Gilberts  Chrespltunte  dazu  bsnützte.  —  Zu  S.  29  ff. : 
Von  dem  Erfolg,  den  Zenos  Melodrama  Merope  hatte,  macht  K. 
durchaus  ungenügende  Angaben.  Es  schrieben  noch  Musik  dazu 
(ausser  den  von  H.  Genannten):  Terradeglias  (Florenz  1743  autgef.), 
Perez  (Genua  1751\  Sciroli  (Neapel  1751),  Scarlatti  (Neapel  1755), 


Cr.  Haiimann.    Merope  im  italienischen  und  franz.  Drama.      45 

Gassmann  (1759),  Latilla  (1763),  Sala  (1769),  Poissl  (München  1825), 
Nasolini  (1805),  Bianchi  (London  1799),  ferner  Bioni,  Alberti, 
Caldara,  Treu,  Finazzi,  Lotti,  Menaghetti,  Porta,  Vinci,  Vivaldi. 
Ob  dem  einen  oder  andern  nicht  ein  sonstiger  Text  vorlag,  will  ich 
liier  nicht  untersuchen;  ich  überlasse  die  Verantwortung  meinen 
Clewährsmännern  Clement  und  Larousse  BicUonn.  Lyrique  (s.  v. 
Merope).  —  S.  33  ist  von  einer  „Reihe  von  Nachbildungen 
(Maifeis)  —  man  nennt  deren  mehr  als  60"  die  Rede,  offenbar  ein 
Missverständnis;  es  sind  wohl  60  Drucke  gemeint.  —  Ebend.  heisst 
es:  ,,1718  erscheint  die  Mer.  in  Paris  .  .  mit  einer  Übersetzung  in 
Prosa  etc."  Es  ist  dagegen  zu  erinnern,  dass  sie  schon  ein  Jahr 
früher  erschien.  —  S.  34  ist,  nach  Moland  und  Grässe,  eine  engl. 
Übers,  der  Maffei'schen  Merope  von  Aaron  Hill  erwähnt.  Nach  der 
Bio(jr.  dram.  Ill,  36  (Lond.  1812)  soll  die  Hill'sche  Merope  eine  Be- 
arbeitung des  Voltaire'schen  Stückes  sein.  —  S.  35  heisst  es: 
,,K.  V.  Eeinhardstöttner  (hat)  einen  Teil  der  Merope  übersetzt  etc." 
Der  Wallishausser'sche  Theaterkat.  N.  F.  No.  6  verzeichnet  sub.  3392 
eine  vollständige  Bühnenübers.  desselben.  —  Zu  S.  38:  J.  Feitamas 
Bearbeitung  lallt  (Druck)  auf  das  Jahr  1746.  —  Zu  S.  39:  P.  Clement 
soll  nach  Vapereau  auch  eine  Komödie  aus  dem  Engl,  übersetzt 
haben:  La  double  Metamorphose  (Paris  1749).  Ferner  erwähnt  dieser: 
Pieces  posthumes  (Amst.  1766),  eine  Angabe  die  jedenfalls  der  Richtig- 
stellung bedarf,  da  Clement  ja  erst  1767  starb.  —  Unbekannt  ge- 
blieben sind  H. :  eine  engl.  Bearbeitung  des  Maifei'schen  Stückes  von 
G.  Jeffreys  (1731—1767),  die  engl.  Übers,  des  Voltaire'schen  von 
J.  Theobald,  die  Merope  von  Paul  Weidmann  (Wien  1772),  die 
holländische  Übers,  von  Maffei's  Stück  v.  Ph.  Zweerts  (1746),  des 
Voltaire'schen  v.  Uylenbroek  (1779,  1791,  1803),  ein  1707  gedr. 
anonym.  Telephon  Koning  van  Messene  (wahrsch.  nach  Gilbert  oder 
La  Chapelle);  vielleicht  gehört  hierher  auch  der  Äniosis  des  Holländers 
J.  Nomsz  (1767)  (nach  La  Grange?),  jedenfalls  aber  ein  span.  Stück 
Merope  y  Polifonte  von  Don  Antonio  Bazo,  (18.  Jahrh.)  u.  endlich 
eine  ital.  Merope,  welche,  nach  Cooper-W^alker  (Hist.  Memoir.  on  Ital. 
Tragedy),  der  Verfasser  der  Bibliuteca  Italiana,  N.  F.  Haym,  ge- 
schrieben haben  soll. 

Die  vorstehenden  Bemerkungen  ergeben  noch  einige  weitere 
Mängel  der  Hartmann'schen  Schrift:  Der  Verfasser  hat  seine  Hilfs- 
werke öfters  allzuflüchtig  benützt,  und,  was  besonders  bedauert 
werden  muss,  er  ist  in  seinen  Daten  u.  Citaten,  überhaupt  in  den 
Ziffern  durchaus  nicht  zuverlässig.  Ich  habe  oben  nur  einige  Bei- 
spiele davon  gegeben,  aber  ich  will  gleich  hier  hinzufügen,  dass  be- 
sonders Bände-  u.  Seitenzahlen  etc.  durchweg  noch  der  strengsten 
Kontrolle  bedürfen. 

Um  eine  Vorstellung  von  H.'s  Styl  zu  geben,   greife  ich   ein 


46  Referate  und  Rezensionen.    F.  Heuckenkamp, 

paar  Sätze  heraus.  Wir  lesen  8.  8:  „Nach  der  von  einem  Servo 
dürftig:  berichteten  Erkenuungsszene  erscheinen  Mutter  und  Sohn, 
jene  um  sich  von  diesem  über  ihr  Verhalten  zu  Pfte  unterweisen 
zu  lassen  —  III,  5  Clie  possio  far!  Servar  silenzio  —  als  würdijre 
Mutter,  die  dem  fingierten  Zorne  ebenso  gut  als  der  wirklichen 
Freude  Thränen  entlocken  und  zum  Schein  im  —  IV.  Akt  den,  der 
nur  unbedacht  ihren  Sohn  getötet,  als  solchen  vor  Pfte  aufnehmen 
will."  —  S.  10:  „Erst  Torelli  hat  dieses  Verhältnis  zu  einem 
wirklichen  Faktor  der  Handlung  herausgehoben,  indem  seine  Mer. 
noch  nicht  mit  Pfte  vermählt  ist,  vielmehr  nach  zehn  Jahren,  am 
Tage  der  Einlösung  ihres  Versprechens,  der  Königin  im  I.  Akt  durch 
den  gewiegten  und  ihr  gewogenen  Hofmann  Gabria,  im  11.  von  Pfte 
selbst  die  Ehe  angetragen  wird."  —  S.  11:  „Tadelt  Carmignani 
die  plötzliche  Liebenswürdigkeit  Pfte's  bei  Liviera,  lobt  Signorelli 
die  Stimmung  Mer. 's  gegenüber  dem  Eheantrag  bei  Torelli,  so  er- 
kennt Klein  ihren  Entschluss,  den  Tyrannen  zu  töten,  um  so  mehr 
an,  als  sie  ihm  schliesslich  gerecht  wurde,  und  nicht  infolge  einer 
geheimen  Liebe  nach  Tieckschem  Begriffe  —  scyreiamode  e  scipi- 
tamente  innamorata,  nennt  sie  Alvaro  —  sondern  in  orthodoxer  Be- 
folgung des  Aristoteles,  um  den  Tyrannen  nicht  zu  schlecht  er- 
scheinen zu  lassen."  —  S.  48:  „Das  Teatro  mod.  appl.  hält  ]\Iaflfei's 
Egisto  für  inkonsequent  besonders  wenn  er  der  rachedurstigen  j\Ier. 
nachgeht,  ebenso  der  auch  von  Geoffroy  verurteilte  Eg.  \'oltaires 
—  der  übrigens  von  vorn  herein  sein  Publikum  günstig  für  den 
Königssohn  gestimmt  hat  —  zumal  wenn  er  vorzeitig  gegen  den 
Tyrannen  aufbraust,  am  besten  gezeichnet  erscheint  aber  dem  ge- 
nannten Sammelwerke  Alfieris  Eg.,  obwohl  er  keinen  ganzen  Akt 
hindurch  von  der  Bühne  fernbleiben  dürfte." 

Nürnberg.  A.  L.  Stiefel. 


Argenis.     Politischer  Roman  vom  Anfang  des  XVII.  Jahrhunderts. 
Aus  dem  Lateinischen  des  Johann  Barclay  übersetzt  von 
Dr.    Gustav    Waltz.      München    (Bassermann)    1891    8*^ 
XV  -I-  684  Seiten.     M.  7,50. 
Die  Neigung,   einen  politischen  Roman  des   17.  Jalu'hunderts 
zu  lesen,   der  in  lateinischer  Sprache  geschrieben  ist,  dürfte  heut- 
zutage  nicht   sehr   verbreitet    sein   und    man   kann    deshalb   Herrn 
Waltz  nur  zu  Dank  verptlichtet  sein,  dass  er  sich  der  Mühe  unter- 
zogen hat,  die  Argenis  des  Barclay  durch  seine  Uebertragung  aufs 
neue  zugänglich  zu  machen.     Denn  dass  dieses  Buch  auch  heute  noch 
zum   mindesten   die   Aufmerksamkeit   aller  derer   verdient,   die  sich 
mit  Staats-  oder  Kulturgeschiclite  des  17.  Jahrhunderts  beschäftigen, 
geht  schon  daraus  hervor,   dass  sich   die  Argenis   seit  ihrem  ersten 


Argenis.    Politischer  Roman  vom  Anfang  des  X  VII.  Jahrh.      47 

Erscheinen  im  Jahre  1621  ausserordentlich  rasch  das  Interesse  der 
gesamten  Kulturvölker  Europas  erworben  hat.  Das  Werk  wurde 
nicht  nur  in  seiner  lateinischen  Form  immer  wieder  neu  aufgelegt, 
sondern  es  erschien  auch  alsbald  in  französischer,  englischer, 
italienischer,  spanischer  und  deutscher  Uebersetzung. 

Dass  der  Roman,  der  die  politische  Zeitgeschichte  Frank- 
reichs behandelt,  in  Frankreich  fünf  Uebersetzer  gefunden  hat,  ist 
nicht  auffallend;  aber  auch  bei  uns  ist  er  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert nicht  weniger  als  vier  mal  übertragen  worden.  Die  erste 
deutscheUebersetzungausdem  Jahr  1644  rührt  von  keinem  geringeren 
als  von  Opitz  her  und  nach  diesem  haben  Talander,  d.  i.  Aug.  Bohse 
(1700),  sodann  ein  Augsburger  Anonymus  (1770)  und  endlich  I.  C.  L. 
Haken  (1794)  Barclay 's  Werk  immer  wieder  durch  ihre  Ueber- 
setzungen  einem  weiteren  Kreis  der  Gebildeten  zugänglich  gemacht. 

Es  wäre  nun  wohl  Sache  des  neuesten  üebersetzers  gewesen, 
das  Verhältnis  zu  seinen  Vorgängern  in  einer  Einleitung  kurz  zu 
beleuchten.  Herr  W.  hat  dies  leider  unterlassen  und  ich  kann 
meinerseits  hier  nur  bemerken,  dass  seine  Uebertragung  vor  der- 
jenigen des  Opitz  schon  insofern  den  Vorzug  verdient,  als  letztere 
unvollständig  ist  und  willkürliche  Aenderungen  zeigt:  Opitz  lässt  den 
grössten  Teil  der  eingestreuten  Verse  unübersetzt.  Die  späteren  Ueber- 
setzer habe  ich  leider  nirgends  auftreiben  können,  so  darf  denn  die 
neue  Uebersetzung  schon  um  der  Seltenheit  der  früheren  willen  be- 
rechtigt erscheinen. 

Was  nun  das  Verhältnis  der  Uebersetzung  zum  lateinischen 
Original  betrifft,  so  erscheint  sie,  nach  den  von  mir  gemachten 
Stichproben,  durchaus  zuverlässig,  ohne  durch  eine  zu  ängstliche 
Anlehnung  an  den  lateinischen  Text  unsere  eigene  Sprache  zu  ver- 
unglimpfen. Leider  gibt  Herr  W.  nicht  an,  welche  Ausgabe  der 
Argenis  er  seiner  Ausgabe  zu  Grunde  gelegt  hat,  doch  scheint  er 
der  von  Bugnotius  besorgten  Ausgabe  gefolgt  zu  sein. 

Die  Einleitung  hätte  vielleicht  etwas  umfänglicher  gestaltet 
werden  dürfen.  Sie  erstreckt  sich  nur  auf  2^2  Seiten,  auf  denen 
man  natürlich  über  die  Persönlichkeit  Barclay's  und  über  seine 
litterarische  Thätigkeit  nur  mangelhaft  orientiert  werden  kann. 
Bessere  bibliographische  Notizen,  ein  näheres  Eingehen  auf  die 
Werke  Barclay's  würden  den  Wert  des  Buches  gewiss  erhöht  haben, 
auch  ein  Kapitel-Verzeichnis  hätte  man  zur  besseren  Orientierung 
des  Lesers  nicht  weglassen  sollen.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  uns 
Herr  W.  auch  noch  mit  einer  Uebersetzung  von  Barclay's  Euphormio 
erfreute,  einem  realistischen  Roman  von  hohem  kulturhistorischen 
Interesse,  der  gewiss  heute  noch  manchen  Leser  finden  würde. 

F.  Heuckenkamp. 


48  Referate  und  Bezensionen.     E.  Goerlicli, 

Hertel,  Dr.,   Ueber  den  Wert  nmndartlicher  Untersuchungen.  Greiz, 
1892.     11  Seiten.     Greizer  CTymnasialprogramm. 

Der  Verfasser  behandelt  in  etwas  überscliwcänglichem  Stil  die 
Frage,  welchen  Gewinn  die  wissenschaftliche  Beschäftigung  und 
liebevolle  Vertiefung  in  die  deutschen  Mundarten  dem  Historiker, 
dem  Mythologen,  dem  Sprachforscher,  dem  Schriftsteller,  ja  jedem 
Gebildeten  bringen  kann.  Begeisterung  für  sein  Thema  kann  man 
Hertel  nicht  absprechen,  doch  geht  ihm  darüber  zuweilen  die  Kenntnis 
aus,  so  dass  Phrasen  den  Mangel  an  positivem  Wissen  ersetzen  müssen. 
Neues  ist  nirgends  gegeben  und  wissenschaftlich  daher  das  kleine 
Programm  völlig  belanglos,  wenn  es  auch  seines  Eindrucks  auf 
Schüler  und  Laien  sicher  nicht  verfehlt  haben  wird. 

Ein  paar  Proben  von  den  eigenartigen  Anschauungen  des 
Verfassers  seien  noch  gegeben.  S.  1  behauptet  Hertel,  dass  Schillers 
Gedankenflug  zur  Erweiterung  der  Kluft  zwischen  Gebildeten  und 
Volk  beigetragen  habe:  des  Dichters  der  Räuber,  von  Cabale  und 
Liebe,  des  ,seid  umschlungen,  Millionen',  des  Teil!  —  Auf  S.  1  wird 
auch  sehr  verächtlich  von  der  Philosophie  gesprochen,  den  , philoso- 
phischen Wolkenwanderungen  eines  Kant,  Hegel  und  Schelling': 
über  die  Philosophie  der  beiden  letzteren  sich  so  ironisch  zu  äussern, 
will  ich  dem  Verfasser  nicht  einmal  so  übel  nehmen,  aber  wie  kommt 
Kant  in  diese  Gesellschaft?  —  S.  2  behauptet  der  Verfasser,  dass 
die  Gebildeten  in  Deutschland  allüberall  eine  Sprache  redeten:  ist 
wirklich  die  Sprache  eines  gebildeten  Hamburgers  oder  Hannoveraners 
der  eines  Karlsruhers  oder  Müncheners  gleich?  —  Ueber  Sprach- 
leben und  spraclüiche  Vorgänge  hat  der  "N'erfasser  eigentümliche,  zu- 
weilen recht  mystische  Anschauung-en,  obwohl  er  andererseits  mit 
den  Begriffen  Lautgesetz  und  Analogie  paradiert,  für  welche  letztere 
er  S.  6  als  Grund  ihrer  Glaubwürdigkeit  die  sehr  bei'uhigende  That- 
saclie  anführt:  ,die  neueste  Sprachlehre  des  Griechischen  und  La- 
teinischen (!)  von  Professor  Brugmann  wimmelt  geradezu  vtai  der- 
artigen Deutungen'.  So  ist  z.  B.  S.  H  von  einer  , Verdickung'  von 
2  w  >  ni  au,  S.  5  von  einer  , Vergröberung'  von  rs  >  rs'  die  Rede. 
Das  Köstlichste  dieser  Art  ist  die  mystische  Weisheit,  die  S.  6  ver- 
kündet wird:  .das  spitze,  leichte,  oberflächliche  deutet  die  Sprache 
durch  den  Laut  i  an,  während  das  a  dem  AVort  den  Begritf  des 
reinen,  festen,  geordneten  und  das  dumpfe  u  den  des  geheimen,  un- 
ordentlichen verleiht'.  Man  wende  diese  Regel  einmal  auf  deutsclie 
Ablaute  an:  binden  (spitz,  leicht,  oberflächlich),  das  Band  (rein, 
fest,  geordnet),  der  Bund  (geheim,  unordentlich)!  Dass  solche 
lächerliche  Deutungsversuche  der  Lautindividualität  immer  wieder 
auftauchen,  die  doch  so  falsch  und  thöricht  sind  wie  die  ebenso  oft 
wiederholten  Deutungen  des  Charakters  der  einzelnen  musikalischen 


G.  Doufrepont.  jßtude  linguistique  sur  Jacques  de  Hemricourt.    49 

Tonarten!  —  S.  6  ist  eine  hübsche  Verdeutschung  für  das  Wort 
Conjunctiv  gegeben,  die  ich  unsern  Puristen  angelegentlich  empfehle : 
jBrudermodus'.  —  Sehr  paradox  ist  endlich  die  Behauptung,  S.  10, 
dass  für  einen  Mann  aus  dem  Volke  das  Verständnis  der  mittelhoch- 
deutscheu  Poesie  bei  weitem  nicht  so  schwierig  sei  als  das  Ein- 
dringen in  unsere  neuere  Dichtung.  —  Weiteres  hiernach  anzuführen, 
hiesse  die  Geduld  des  Lesers  missbrauchen. 

Albert  Leitzmann. 


Doutrepoiit,  Gr.,  £tude  linguistique  sur  Jacques  de  Hemricourt  et  son 
epoque.  pExtrait  du  tome  XL  VI  des  Memoires  couronnes 
et  autres  Memoires  publies  par  l'Academie  royale  du 
Belgique.  —  1891.]     92  S.     8». 

Unsere  Kenntnis  der  wallonischen  Mundart  ist  in  den  letzten 
Jahren  sehr  gefördert  worden.  Den  Untersuchungen  Suchiers, 
Wilmottes  und  Hornings  reiht  sich  die  vorliegende  Darstellung  der 
Sprache  des  Lütticher  Geschichtsschreibers  Jacques  de  Hemricourt 
würdig  an.  D.  legt  seiner  Untersuchung  zwei  Werke  aus  dem 
Ende  des  XIV.  Jahrhunderts  zu  Grunde:  Le  Miroir  des  Nobles  de 
Hesbaye  und  V Abrege  des  Guerres  d'Awans  et  de  Waroux  und  giebt 
zunächst  Mitteilungen  über  das  Alter  und  die  Geschichte  der  von 
ihm  benutzten  Lütticher  Handschrift.  Bei  der  Prüfung  des  Ver- 
hältnisses dieser  Handschrift  zu  der  von  Salbray  in  seiner  Brüsseler 
Ausgabe  vom  Jahre  1673  veröffentlichten  Handschrift  der  beiden 
genannten  Geschichtswerke  gelangt  er  zu  dem  Resultat,  dass  die 
von  Salbray  benutzte  Handschrift,  wenn  sie  auch  mit  der  seinigen 
einer  gemeinsamen  Quelle  entstammt,  doch  etwas  älter  war. 

D.  begnügt  sich  aber  nicht  damit,  die  sprachlichen  Eigen- 
thümlichkeiten  seiner  Denkmäler  festzustellen;  er  will  eine  Dar- 
stellung der  Wallonischen  Mundart  im  XIV.  Jahrhundert  geben  und 
zielit  daher  ältere  und  gleichalterige  Texte  in  den  Bereich  seiner 
Untersucliung,  so  vor  allem  die  Geste  de  Liege  von  Jean  des  Pres. 
Auch  ist  lobend  anzuerkennen,  dass  er  die  modernen  Patoisfonnen 
zur  Beleuchtung  und  Erklärung  der  älteren  Formen  gebührend  be- 
rücksichtigt hat. 

Die  Arbeit  ist  mit  grosser  Sachkenntnis  angefertigt  und  zeugt 
von  einem  tiefen  Verständnis  in  der  Auffassung  lautlicher  Erschein- 
ungen. Allerdings  ist  D.  auch  nicht  im  Stande,  über  den  lautlichen 
Wert  einer  grossen  Reihe  orthograplüscher  Schreibungen  Aufschluss 
zu  geben  wie  z.  B.  über  den  phonetischen  Wert  der  Entwickelungen 
des  e  zu  ei,  oi,  ce.  —  Auch  ist  mir  an   anderen  Stellen   seine  Aus- 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV^.  4 


50  Beferate  und  Rezensionen.    M.  Friedwagner, 

einandersetzung  nicht  recht  klar.  Denn,  wenn  nach  ihm  [§  36]  en 
zum  Ausdruck  der  Nasalirung'  für  an  und  in  eintritt,  so  ist  damit 
noch  nicht  die  in  den  Texten  auftretende  Schreibweise  an  und  on 
erklärt,  welche  letztere  ausdrücklich  für  volksthümlich  (populaire) 
erklärt  wird.  —  Ferner  ist  doch  wohl  kaum  anzunehmen,  dass  tf, 
ue  in  noef,  vcelent,  puelent,  ferner  in  duelh,  oez  =  ou  gelautet  haben. 
—  Ebenso  verstehe  ich  nicht,  warum  der  Verfasser  eine  verschiedene 
Entwicklung  für  c  vor  a  im  Anlaut  und  im  Inlaut  nach  einem 
Konsonanten  annehmen  will,  und  warum  er  cangier  von  der  allge- 
meinen Eegel  ausnelimen  will.  Ich  denke  mir,  es  war  eine  doppelte 
Aussprache  vorhanden,  besonders  unter  den  Gebildeten,  die  dem 
Einflüsse  des  Centralfranz.  mehr  ausgesetzt  waren  als  das  gewöhn- 
liche Volk.  D.  sagt  ja  auch  selbst  in  seiner  Einleitung,  dass 
Hemricourt  mit  der  literarischen  Sprache  sehr  vertraut  war  und 
sich  bemühte,  gutes  Franz.  zu  sprechen  und  zu  sclireiben.  —  Was 
die  Entwickelung  des  lat.  au  zu  ou  [§  73]  anbetrifft,  so  sehe  ich  in 
dem  ou  nicht  eine  ältere  Entwickelungsstufe  als  die  zu  o,  sondern 
eine  jüngere,  d.  i.  eine  Weiterentwickelung  des  ursprünglichen  o  in 
Oll,  vergl.  Fra)iz.  Stud.  V  58  u.  VII  101. 

Doch  sollen  diese  unwesentlichen  Ausstellungen  den  Wert  der 
verdienstlichen  Arbeit  nicht  beeinträchtigen.  Meiner  Ansicht  nach 
hätte  der  Verfasser  sich  aber  seine  Arbeit  wesentlich  erleichtern 
können.  Man  sieht  nicht  recht  ein,  wozu  die  zahlreichen  Belege 
für  Lauterscheinungen  dienen  sollen,  die  doch  gemeinfranzösisch 
sind,  oder  die  in  allen  östlichen  Mundarten  anzutreffen  sind.  Seine 
Darstellung  wäre  doch  viel  einfacher  und  übersichtlicher  geworden, 
wenn  er  die  dialectischen  Züge  seiner  Texte,  die  diese  mit  den  öst- 
lichen Mundarten  gemeinsam  haben,  zusammengestellt  und  in  einer 
besonderen  Rubrik  die  der  Lütticher  Mundart  eigentümlichen  Merk- 
male besonders  erwähnt  hätte.  Dadurch  wäre  der  Wert  der  Arbeit 
gestiegen  und  die  Benutzung  wesentlich  erleichtert  worden.  Auch 
werden  viele  Ersclieinungen  für  wallonisch  ausgegeben,  die  auch 
sonst  häufig  vorkommen:  z.  B,  die  Vorliebe  für  vortoniges  a,  für 
vortoniges  i,  für  die  Gruppe  nr  statt  ndr,  Ausfall  von  n  vor  einem 
Konsonanten  u.  a.  m. 

Die  vorliegende  Arbeit  lässt  von  der  in  Aussicht  gestellten 
kritischen  Ausgabe  der  benutzten  Texte  nur  Gutes  erwarten. 

Dortmund.  Ewald  Goerlich. 


Studien  zur  Geschichte  der  französischen  Konjugation  auf  -ir.     51 

Risop,  Alfred,  Studien  zur  Geschichte  der  französischen  Konjugation 
auf  -ir.     Halle  a.  S.,  Niemeyer,  1891.    132  S.   8».   M.  2.80. 

Kraft,  Philipp,  Konjugationsicechsel  im  Neufranzösischen  von  1500 
bis  1800  nach  Zeugnissen  von  Grammatiken.  Separatabdruck 
aus  dem  Osterprogr.  des  Realgymnasiums  des  Johanneums. 
Hamburg,  1892.     51  S.     Gr.  4°. 

Eine  zusammenfassende  Arbeit  über  den  Konjugations- 
wechsel im  Französischen  konnte  von  vorneherein  auf  lebhaftes 
Interesse  rechnen;  denn  nur  bei  einer  vollständigen  Übersicht  über 
die  hiehergeliörigen  Erscheinungen  können  die  wirkenden  Kräfte 
erkannt,  ihre  Machtverhältnisse  nur  aus  der  längeren  oder  kürzeren 
Zeit,  in  welcher  so  entstandene  Gebilde  lebensfähig  waren,  beur- 
theilt  werden.  Die  beiden  Schriften  behandeln  nun  diese  Wandlungen 
der  Flexion  in  ausführlicher  Weise  und  ergänzen  sich  insofern,  als 
erstere  sich  vorzugsweise  den  Fällen  zuwendet,  welche  die  Kon- 
jugation auf  -ir  betreffen,  aber  dafür  den  ganzen  Zeitraum  sprach- 
lichen Lebens  umfasst  und  überall  die  Ursachen  des  Wechsels  zu 
erforschen  sucht,  letztere  hingegen  auch  die  Veränderungen  in  den 
übrigen  Konjugationen,  jedoch  nur  während  einer  verhältnismässig 
kurzen  Periode  und  in  melu*  statistischer  Weise  zur  Darstellung 
bringt. 

ßisop  hat  bereits  durch  seine  Abhandlung  über  „die  analogische 
W^irksamkeit  in  der  Entwickelung  der  franz.  Konjugation"  (Z.f.  vom. 
Phil.,  VIl.  45 ff.)  seine  Kompetenz  auf  diesem  Gebiete  erwiesen. 
Vorliegende  Schrift  (deren  erster  Theil  schon  als  Berliner  Dissertation 
1890  erschienen)  ist  derjenigen  Krafts  auch  nicht  nur  deshalb  voraus- 
zustellen, weil  sie  von  den  ältesten  Sprachperioden  ausgeht,  sondern 
weil  sie  grundlegend  für  dieselbe  gewesen  ist  und  Kraft  in  vielen 
Fällen  sich  begnügen  konnte ,  auf  erstere  hinzuweisen.  Eisops 
„Studien"  bieten  mehr  als  der  Titel  sagt;  denn  nicht  nur  über 
Gewinnste  und  Verluste  der  Konjugation  auf  -ir  wird  unter  An- 
führung zahlreicher,  oft  neuer  und  immer  dem  Gesammtgebiete  der 
französischen  Literatur  entnommener  Belege  gehandelt,  sondern  auch 
auf  die  übrigen  Konjugationen  fällt  neues  Licht.  —  Der  Verfasser 
zeigt  uns  das  analog.  Princip  im  Kampfe  mit  der  Macht  der 
historischen  Tradition  (die  „centripetale"  mit  der  „centrifugalen" 
Gewalt)  und  untersucht  die  Ursachen,  warum  diese  meist  unterlegen, 
jenes  schliesslich  mit  wenigen  Ausnahmen  siegreich  gewesen  ist, 
wobei  der  Einfluss  der  Grammatiker  seit  dem  XVI.  Jahrhundert 
gebührende  Berücksichtigung  findet.  Die  Schrift  zertallt  dem  ent- 
sprechend in  zwei  Teile.  Der  erste  liandelt  von  der  centrifugalen 
Gewalt,  welche  das  Gebiet  der  Konjugation  auf  -ir  teils  eine  Zeit 
lang  einschränkte,   teils   dauernd  erweiterte.     Die  Verluste  ergeben 


52  Referate  und  Rezensionen.    M.  Friedtcagner, 

sich  als  Folge  des  verallgemeinerten  Gebrauches  von  Formen,  welche 
—  für  sich  allein  betrachtet  —  die  Art  der  Konjugation  nicht  un- 
zweideutig erkennen  lassen,  was  bei  den  nicht  inch.  Verben  vielfach 
der  Fall  ist.  So  konnte  das  Fut.  zum  Anstoss  für  die  Umbildung 
des  Inf.  werden:  istre,  ferre,  assaudre,  faudre,  cueldre  u.  a.  neben 
issir,  ferir,  assailUr,  faillir,  cueilUr  sind  auf  diese  Weise  entstanden; 
auch  coverre,  offerre,  sofferre  werden  so  gedeutet.  Häutiger  noch 
als  das  Fut.  wird  das  Praes.  (nach  il  couvre  ein  couvra,  nach  il  gront 
ein  (frondre  =  grondir  wie  il  respont  :respondre  etc.),  und  wo  hier  schon 
inch.  Flexion  eingetreten  war,  das  Perf.  {aprofondi  :  aprofondre  wie 
fondi:fondre)  beim  Uebertritt  des  Inf.  ursächlich  gewirkt  haben; 
auch  die  gleichzeitige  Einwirkung  des  Perf.  und  Fut.  ist  bisweilen 
bei  der  Entstehung  neuer  Formen  (emplire  aus  emplir;  selbst  das  Part, 
pf.  fem.  emplite  ist  belegt)  anzunehmen.  Aber  derartige  Verluste  der 
Konj.  auf  -ir  beschränken  sich  doch  nur  auf  eine  geringe  Zahl  von 
Verben  und  sind  auch  im  Verlauf  der  Zeit  in  der  Schriftsprache 
ausnahmslos  (bruiref)  wieder  rückgängig  gemacht  worden.  Dieselben 
Ursachen  nun,  denen  diese  zeitweiligen  Verluste  zuzuschreiben  sind, 
haben  andrerseits  wieder  zu  einer  Bereicherung  der  Konj.  auf  -ir 
Anlass  gegeben.  So  wurde  die  gleiche  Gestalt  des  Perf.  der  Konj. 
auf  -ir  und  -re  zum  Ausgangspunkte  einer  solchen  Gebietserweiterung 
der  ersteren  (vgl.  die  Inf.  rompir,  vainquir,  nasquir,  beneesquir), 
desgleichen  das  Fut.  (vgl.  desconfir,  confir,  sougir,  cloußr,  occir, 
circoncir).  Der  Uebergang  beschränkte  sich  aber  nicht  immer  auf 
den  Inf.;  auch  das  Part.  pf.  (desconß ,  sougi,  dy  =  dictum, 
vielleicht  auch  Icndi  als  Bezeiclinung  der  Messe  von  St- Denis),  das 
Perf.  (desconfi,  escondi  neben  -ist)  und  selbst  das  Praes.  der  ob- 
genannten  Verba  auf  -re  zeigen  bisweilen  Angleichung  an  die  Konj. 
auf  -ir.  Ob  diese  Wandlungen  dem  Einflüsse  des  neu  gebildeten 
Inf.  oder  anderen  Umständen  zuzuschreiben  sind ,  wird  in  jedem 
einzelnen  Falle  untei'sncht.  Im  Anschluss  daran  wei'den  heneir  und 
male'ir  und  deren  Entwickelung  ausführlich  besprochen  und  tür  die 
des  ersteren  das  form-  und  bedeutungsverwandte  espeneir  (expoenitere) 
als  Vorbild  hingestellt.  Ein  Ueberblick  über  die  Verbalflexion  in 
der  neufrz.  Schriftsprache  zeigt  uns,  dass  eine  Verminderung  der 
Zeitwörter  auf  -ir  durch  Uebertritt  in  eine  andere  Konjug.  zwar 
nicht  stattgefunden  hat,  wohl  aber  einzelne  archaische  Fonnen 
(meurt;  moururent,  coururent;  couru,  vetu,  offert  etc.)  dem  Streben 
nach  Angleichung  an  die  Inehoativclasse  erfolgreich  Widerstand 
leisteten.  Die  Mundarten  hingegen  haben  dieser  verallgemeinernden 
Tendenz  vielfach  nachgegeben  (vgl.  Perf.  accourit,  Part.  pf.  couvri, 
ovri  etc.). 

Der   zweite  Teil   der  „Studien"   handelt  von   den  Wirkungen 
der  centripetalen  Gewalt.    Zunächst  zeigt  sicli  dieselbe  im  Futurum. 


Studien  zur  Geschichte  der  französischen  Konjugation  auf  -ir.     53 

Hier  trat  —  ausgenommen  die  Fälle,  wo  der  auf  Mut.  4-  Liqu.  aus- 
gehende Stamm  ein  sog.  Stütz-e  verlangte  —  ursprünglich  Synkope 
des  charakt.  -i-  vor  betonter  Endung  ein,  was  wohl  mit  Darmesteters 
Ausführungen  (Rom.,  V.  140 ff.)  im  Widerspruch  steht,  aber  von 
Risop  dui'ch  eine  grosse  Zahl  von  Belegen  ausser  Zweifel  gestellt 
wird  (vgl.  das  45  Verba  umfassende  Verzeichnis  auf  S.  48ff. ,  aus 
welchem  wir  nur  die  Formen  partrai,  partra,  partrait,  repentrai 
herausgreifen).  Von  diesem  synkopierten  Fut.  zeigen  aber  nur  noch 
fuir,  venir,  tenir,  mourir  und  die  Neubildungen  courir  und  querir 
als  letzte  Reste  ursprüngliche  Formen.  Eine  grössere  Zahl  dagegen, 
vielleicht  alle  nicht  inchoat.  Verba  auf  -ir,  zeigen  auf  älterem  Gebiete 
im  Fut.  zwischen  Stamm  und  Endung  Einschub  von  -e-,  dessen 
Ursprung  als  Stützvokal  gegenüber  Darmesteter  schon  deshalb  nicht 
anzunehmen  ist,  weil  dasselbe  auch  bei  solchen  Stämmen  auftritt, 
wo  es  nach  dem  „Gesetze"  nicht  notwendig  wäre,  vgl.  einerseits 
cueillera,  saillerai,  faillerai,  houillerai,  andrerseits  vestera,  repenteraU, 
menteray,  senteront,  partera,  convertera.  Während  die  zuletzt  ge- 
nannte Gruppe  mit  prenderai,  meterai  auf  eine  Stufe  zu  stellen  und 
wie  diese  zu  erklären  ist  (weil  ptrendrai : prenderai  auch  paiirai  :par- 
terai),  sind  cueiUera  etc.  anders  aufzufassen.  Risop  glaubt,  dass 
diese  Formen  mit  jenen  des  Praes.  und  Imper.  (cueille,  saille,  de- 
faille,  bouille)  gleichen  Wesens  seien,  weil  der  Inf.  cueilUer  erst  im 
XIV.  Jahrhunderte  vorkommt  und  von  den  übrigen  Verben  ein  solcher 
überhaupt  nicht  belegt  ist;  er  erklärt  demnach  mit  Chabaneau  diese 
Praes.-  (und  zum  erstenmal  die  Fut.-)  Formen  als  das  Ergebnis 
der  Bemühung,  den  Stamm  coil,  sail,  fail,  bouil,  wie  er  in  der 
Mehrzahl  der  übrigen  Formen  vorMegt,  auch  in  denjenigen  des 
Praes. ,  wo  ihm  infolge  der  Lautverhältnisse  Entstellung  drohte 
(2.  3.  Sg.  Praes.  Ind.),  möglichst  concret  zum  iVusdruck  zu  bringen, 
wozu  er  eines  Stützvokals  bedurfte.  (Anders  E.  Görlich,  Götf.  gel. 
Anz.,  15.  Febr.  1892,  S.  159;  vgl.  aber  Meyer-Lübke,  LiteraturU. 
f.  germ.  u.  rom.  Phil,  1892,  Sp.  155  ff.)  Die  Annäherung  an  die 
Konj.  auf  -er  sei  also  keine  bewusste  gewesen;  der  Inf.  cueillier 
(vgl.  auch  die  Perf.  cueilla,  assaiUierent  etc.)  sei  nicht  die  Ver- 
anlassung, wie  bisher  behauptet  worden,  sondern  erst  die  Folge  der 
erwähnten  Gestaltung  des  Praes.  und  Fut.  Wenn  endlich  schon  in 
der  ältesten  Zeit  Futurformen  auf  -irai  auch  bei  nicht  inch.  ^'erben 
anzutreffen  sind,  so  linden  dieselben  in  dem  Streben  nach  Anschluss 
an  den  Inf.  ihre  Erklärung.  —  Der  letzte  Abschnitt  des  Buches  ist 
der  Inchuativflexion  gewidmet.  Hier  forscht  der  Verfasser  nach 
den  Ursachen  ihrer  Einführung  in  den  Fällen,  wo  das  Schrift- 
italienische und  Altprov.  sie  im  allgemeinen  nicht  kennt,  nämlich 
in  der  1.  2.  PI.  Praes.  Ind.,  im  Imper.  PL  und  Part.  pr.  einerseits 
und   im  Impf,   andrerseits.     Die  Veranlassung   dazu  war   im   ersten 


54  Referate  und  Rezensionen.     M.  Friedwagner, 

Falle  das  Streben,  auch  in  der  Konj.  auf  -ir  die  Endung  in  der 
1.  und  2.  PI.  zu  betonen,  wodurch  eine  Uebereinstimmung  in  den 
Betonungsverhältnissen  aller  Konj. -Arten  herbeigeführt  wurde;  die 
Einführung  im  Impf,  aber  ist  daraus  zu  erklären,  dass  man 
gewohnt  war,  den  Praes. -  Stamm ,  wie  er  in  der  1.  2.  PI.  sich 
darbietet,  auch  im  Impf,  zu  sehen  (am-ons  :  am-oie,  oho  puniss- 
ons  :  puniss-oie).  Dieser  Wandel  fand  noch  in  vorhistor.  Zeit  der 
Sprache  statt.  Weiter  behandelt  der  Verf.  das  Eindringen  des 
Inchoativsuffixes  in  urspr.  reine  Verba  (deutscher  und  lat.  Her- 
kunft), die  er  vollzählig  verzeichnet  (Seite  95 — 118),  und  stellt 
schliesslich  jene  vereinzelten  Fälle  zusammen,  wo  dasselbe  auch 
ausserhalb  der  aus  dem  Praes. -Stamm  gebildeten  Formen  auftritt 
(Fut.  garistra,  Perf.  dialektisch  Je  setitisnis  etc.).  Die  altfrz.  Perf. 
garesis,  norresimes  u.  a.  m.  werden  als  analoge  Bildungen  zu  desis, 
presimes  erklärt.  —  Ein  Wortregister  erleichtert  die  rasche  Auf- 
findung der  einzelnen  Verba. 

Wir  fürchten,  mit  der  Darlegung  des  Inhalts  dieser  „Studien" 
einen  zu  breiten  Raum  zu  beanspruchen,  und  dennoch  haben  wir 
uns  auf  das  W^esentlichste  beschränkt.  Daraus  mag  die  Fülle  des 
verarbeiteten  Stoffes  und  die  Möglichkeit  vielfacher  Belehrung  er- 
sehen werden.  Der  weite  Blick  des  Verf.,  welcher  alle  verwandten 
Erscheinungen  nmfasst  und  vor  übereilten  Schlüssen  bewahrt,  die 
Reichhaltigkeit  des  vorgelegten,  teilweise  neuen  Materials,  endlich 
die  Disposition  des  Ganzen  rechtfertigen  die  Anerkennung,  welche 
die  Schrift  bisher  in  der  Kritik  gefunden  hat. 

Kraft  hat  es  auf  die  Anregung  Stengels  hin  unternommen, 
die  Fälle  von  Konjugationswechsel  im  Neufrz.  an  der  Hand  einer 
Auswahl  von  89  (Trammatiken  oder  gram.  Werken  zusammenzustellen 
und  damit  einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  frz.  Grammatik  nach 
dem  Gesichtspunkte  zu  liefern,  dass  ihre  Ergebnisse  auch  der  ge- 
schichtlichen Erforschung  der  (neueren)  Sprache  zugute  kommen. 
Von  diesem  besonderen  Standpunkte  ist  die  Schrift  zu  beurteilen. 
Die  Heranziehung  von  direkten  Quellen,  sowie  eine  mehr  oder 
minder  weitgehende  Berücksichtigung  der  neueren  Mundarten,  was 
bei  einer  derartigen  Arbeit  grösseren  Stils  unerlässlich  wäre,  sind, 
als  mit  dem  Hauptzweck  der  Arbeit  nicht  recht  vereinbar,  aus- 
geschlossen worden.  Wie  aber  der  Verf.  die  Belege  mit  Recht  vom 
Texte  ausscheidet  und  als  Anmerkungen  bringt,  so  würden  auch 
derartige  Zusätze  den  Gang  der  Untersuchung  nicht  gestört  haben; 
auch  (»ftere  Hinweise  auf  die  ältere  Sprache  und  kurze  Andeutungen 
über  das  Alter  der  schon  vor  1500  bestehenden  Formen,  sowie  Er- 
klärungsversuche der  behandelten  Erscheinungen  wären  erwünscht 
gewesen.  Wird  also  einerseits  ein  gelegentliches  Zurückgreifen  über 
die  gesteckte  Zeitgrenze  ungern  vermisst,  so  begreift  man  andrerseits 


Studien  zur  Geschidde  der  fransösisclien  Konjugation  auf  -ir.     55 

schwer,  warum  nicht  auch  unser  Jahrhundert,  etwa  bis  zum  Jahre 
1878,  dem  Datum  der  letzten  Ausgabe  des  Dktionnaire  de  VAcademie 
frang.,  noch  herangezogen  worden  ist.  Bei  einer  späteren  derartigen 
Arbeit  wäre  ferner  die  Angabe  der  Verwandtschaftsverhältnisse  der 
benutzten  Grammatiken  in  Gestalt  eines  Stammbaumes  angezeigt. 
Man  muss  jedoch  zugeben,  dass  der  Verf.  ein  ohnehin  schon  schwer 
zu  überblickendes  Material  zu  bewältigen  hatte  und  sich  umsomehr 
eine  Beschränkung  auferlegen  musste,  als  er  einen  ungebahnten 
Weg  zu  beschreiten  unternalnn.  Sein  Fleiss,  sowie  der  Nutzen  der 
angestellten  Untersuchung  sind  rückhaltlos  anzuerkennen,  und  wir 
sehen  der  in  Aussicht  gestellten  Fortsetzung,  welche  sich  mit 
Stämmen  und  Zeiten  beschäftigen  soll,  mit  Interesse  entgegen.  — 
Im  besonderen  wäre  zu  bemerken: 

Unter  1]  vermisst  man  eine  nähere  Angabe  jener  Verba  auf 
-ir  und  -re,  welche  nach  Palsgraves  Zeugnis  vorübergehend  zu  der 
Konj.  auf  -er  übertraten. 

Unter  49  ff.]  werden  courir,  querir,  bouillir,  gesir,  issir,  tistre- 
tissir-tisser,  se  repentir,  sentir,  oMr  als  Beispiele  von  „nicht  inch.  Verben 
auf  -ir  angeführt,  welche  bleibend  einzelne  Formen  der  regelmässigen 
Konj.  auf  -ir  anbilden".  Courir  und  querir  sind  aber  doch  nicht  Aus- 
gangspunkt, sondern  bereits  Ergebnis  der  Anbildung,  welche  sich  dazu 
noch  auf  den  Inf.  beschränkt;  sie  gehörten  unter  B,  2,  a  (courre: 
courir,  querre :  querir,  ebenso  tistre  :  tissir).  Es  geht  auch  sonst  nicht 
an,  diese  Verba  in  eine  Eeihe  zu  stellen;  das  Einteilungsprincip  ist 
nicht  erfindlich.  Bouillir  mit  den  Nebenformen  des  Part.  pf.  houlhi 
und  des  darnach  gebildeten  Perf.  boulhis  gehörte  zu  B,  3  (Verben, 
die  sich  der  Konj.  aut  -re  angleichen).  So  berechtigen  also  bloss 
vereinzelte  Formen  von  gesir,  issir,  omr,  von  einem  Uebertritt  zur 
regelm.  Konj.  auf  -ir  zu  spi'echen.  Es  zeigt  sich  besonders  hier 
der  Nachteil  einer  schematischen  Einteilung,  welche  bei  den 
vielfachen  Uebergängen  der  Verba  nicht  durchzuführen  ist,  ohne 
Zusammengehöriges  auseinanderzureissen.  So  müssen  einzelne  Verba 
dreimal  und  öfter  angeführt  werden,  weil  einzelne  Formen  derselben 
unter  verschiedene  Rubriken  fallen  (z.  B.  erscheint  coiivrir  unter 
2,  25,  35,  42;  halr  unter  2,  29a,  40,  58). 

Die  unter  57  ff.]  angeführten  Verben  circuir,  hair ,  subvertir, 
tollir  etc.  werden  als  Gruppe  B,  2,  b,  ß  autgestellt  („Verben  mit 
Inchoativformen,  welche  einzelne  Formen  der  regelm.  Konj.  auf  -ir 
anbilden").     Auch  diese  Eintheilung  ist  unverständlich. 

Unter  64]  und  67]  (Bildungen  nach  der  Konj.  auf  -re)  wäre 
es  angezeigt  gewesen,  nicht  schon  die  Ergebnisse  dieser  Angleichung, 
sondern  diejenige  Form,  von  welcher  auszugehen  ist,  anzuführen, 
also  ardoir  :  ardre,  remanoir  :  remaindre,  wie  es  z.  B.  unter  70]  (puir: 
puer)  geschehen  ist. 


56  Beferate  und  Rezensionen.     E.   Weher, 

Zu  76]:  Der  öfters  gebrauchte  Ausdruck  „Praesens-Zeiten"  als 
Bezeichnung  für  die  aus  dem  Praes.-Stamm  gebildeten  Zeiten  hätte 
vermieden  werden  sollen,  sosehr  er  sich  durch  seine  Kürze  empfehlen 
möchte.  Die  Form  des  Part.  pass.  fem.  hcnoist  für  benoiste  ist  kein 
Druckfehler,  da  auch  Palsgrave  457  {hcnoist  soit  eile  entre  toutes  les 
femmes)  S.  40,  A.  3  so  citiert  wird,  sondern  ein  Versehen  des  Verf. 

Die  unter  77]  angefühlten,  urspr.  reinen  Verba  auf  -ir,  welche 
inch.  Flex.  annelmien,  wären  besser  hinter  79]  anzusetzen  gewesen. 

Zu  79] :  Die  im  Praes.  Konj.  von  hasfir,  farcir,  guerir  bisweilen 
auftretenden  Formen  hastie,  farcie,  guerie  können  wohl  dem  Einfluss 
von  henir,  nicht  aber  von  dire  zugeschrieben  werden,  dessen  Ver- 
wandtschaft mit  henir  längst  nicht  mehr  gefühlt  wurde. 

Zu  83]:  Die  Darstellung  des  Perf.  leidet  hier  an  Unklarheit, 
auch  sind  die  Schlussfolgerungen  anfechtbar.  Aus  dem  Umstände, 
dass  Oudin  (1633)  und  der  von  ihm  abhängige  Eaj'ot  de  St-Julien 
(1643)  für  das  Praes.  die  Stämme  iwnn-  und  pond-,  für  das  Perf. 
bloss  das  neuere  pond-  verzeichnen,  schliesst  Kraft,  dass  letzterer 
Stamm  im  Perf.  früher  selbständig  auftrete  als  in  den  aus  dem 
Praes.  gebildeten  Zeiten;  alle  anderen  Grammatiker  aber  führen  im 
Perf.  nur  ponnus  an,  im  Praes.  jedoch  beide  Stämme,  was  doch 
gegen  Krafts  Ansicht  spricht.  Wie  im  Praes.  der  Uebergang  vom 
vStamme  ponn-  zu  pond-  füi'  eine  gewisse  Periode  das  gleichzeitige  Vor- 
kommen beider  Stämme  voraussetzt,  was  auch  von  den  Grammatiken 
bestätigt  wird,  ebenso  vollzog  sich,  was  Kraft  nicht  zugibt,  der 
Wandel  im  Perf. :  zu  altem  ponnus  tritt  zunächst  ponnis,  und  beide 
linden  sich  im  XVI.  und  Anfiing  des  XVII.  Jahrhunderts  nelienein- 
ander;  seit  spätestens  1618  ist  auch  schon  pondis  vorhanden,  während 
ponnis  im  Jahre  1633  nicht  mehr  erwähnt  wird.  Es  hat  also  2^onnis 
zweifellos  als  Mittelstufe  gedient;  dass  sie  nur  kurze  Zeit  mit  der 
älteren  und  neuesten  Form  gleichzeitig  auftritt,  ist  ein  Beweis 
dafür,  dass  sich  dieser  Uebergang  unter  Einfluss  des  Praes.  und 
Part.  pf.  ziemlich  rasch  vollzogen  hat,  obgleich  die  ältere  Form 
noch  eine  Zeit  lang  fortbestand. 

Am  Schlüsse  der  Al)handlung  vermisst  man  ein  Wörter- 
verzeichnis, was  ein  empfindlicher  Mangel  ist,  da  bei  der  Einteilung 
nach  Gruppen,  welche  den  Konjugationswechsel  entweder  niclit.  oder 
nur  in  einzelnen  Formen  oder  aber  vollständig  beibehalten  haben, 
viele  Verben  mehrmals  zur  Sprache  konmien.  Eine  übersichtliche 
Tabelle,  welche  die  verschiedenen  Uebergänge,  sowie  die  Zeitpunkte 
des  Auftretens  und  Verschwindens  der  einzelnen  Formen  verzeichnet 
hätte,  würde  auch  eine  mohi-  zusammenhängeude  Behandlung  des 
Ganzen  ermöglicht  haben. 


E.  Müller.    Bas  Rolandslied.  57 

Befremdend  ist  es,  dass  u.  a.  Littre,  Dictionnaire  de  la  langue 
/rang.,  und  die  Special wörterbüclier  zu  den  Ausgaben  der  ,Grands 
Ecrivains  de  la  France'  nicht  unter  den  benutzten  Werken  ge- 
nannt sind. 

Wien.  M.  Friedwagner. 


Das  Rolandslied.  Ein  altfranzösisches  Epos  übersetzt  von  Ernst 
Müller.  Hamburg.  Verlagsanstalt  und  Druckerei,  Actien- 
Gesellschaft  (vormals  J.  F.  Richter).  1891.  kl.  8.  VIII 
und  164  S. 

In  den  letzten  zehn  Jahren  ist  der  Büchermarkt  mit  Ueber- 
setzungen  aus  dem  Mittelhochdeutschen  überschwemmt  worden.  Da- 
von sind  die  meisten  wohl  schwerlich  dazu  angethan,  in  den  Seelen 
der  jungen  Leser,  für  die  sie  bestimmt  sind,  die  Liebe  zur  Dicht- 
kunst zu  entfachen  oder  auch  nur  das  Verständnis  des  deutschen 
Altertums  zu  fördern.  Man  versuche  es  nur,  eine  jetzt  viel  ge- 
rühmte und  viel  in  Schulen  benützte  Parzivalübersetzung  zu  lesen. 
Wenn  man  also  mittelalterliche  Werke  im  modernen  Gewände 
gewöhnlich  mit  einem  gewissen  ästhetischen  Missbehagen  ziir  Hand 
nimmt,  so  wird  man  sich  durch  die  vorliegende  Bearbeitung  des 
Eolandsliedes  in  angenehmster  Weise  enttäuscht  finden.  Wer  sich 
mit  dem  Inhalt  und  dem  Geist  des  französischen  Epos  bekannt 
machen  will ,  dem  kann  diese  wohlgelungene  Nachdichtung  warm 
empfohlen  werden.  Der  Leser  erhält  eine  adäquate  Vorstellung  von 
dem  Original.  Der  Uebersetzer  verdient  namentlich  auch  dafür  Lob, 
dass  er  mit  Erfolg  bestrebt  gewesen  ist,  undeutsche  oder  prosaische 
Wendungen  zu  vermeiden.  Es  ist  freilich  eine  Binsenwahrheit,  dass 
das  Original  eine  ganz  andere  eigentümliche  Wirkung  hervorbringt, 
der  keine  Kunst  des  Uebersetzers  gleichkommt.  Auf  Tauseude,  die 
den  Macbeth,  den  Othello,  den  Lear,  den  Hamlet  mit  tiefer  Er- 
griffenheit lesen  oder  auf  der  Bühne  darstellen  sehen,  kommen  in 
Deutschland  nur  wenige,  die  das  Original  kennen,  und  von  diesen 
wenigen  dürfte  wiederum  nur  der  eine  oder  der  andere  eine  so 
sichere  und  weitgehende  Kenntnis  des  Englischen  im  Zeitalter  der 
Elisabeth  besitzen,  um  aus  dem  Original  nun  auch  wirklich  einen 
tieferen  und  edleren  Genuss  zu  schöpfen  als  aus  der  Uebersetzung. 
Was  von  Shakespeare  niemand  bestreiten  wird,  darf  wohl  auch  noch 
für  das  Rolandslied  gelten. 

Sollten  diese  Ausführungen  dem  Referenten  den  Vorwurf  ein- 
bringen, er  sei  nur  darum  als  Lobredner  einer  \'erdeutscliung  des 
Rolandsliedes  aufgetreten,  weil  er  das  Original  nicht  zu  würdigen 
verstände,  so  würde  er  das  mit  grösserer  Gelassenheit  ertragen,  als 


58  Referate  und  Rezensionen.     C.  Borfeld, 

wenn  ihn  der  begründete  Tadel  träfe,  er  sei  nicht,  so  weit  seine 
Kräfte  reichen,  bemüht,  sich  eine  solche  Kenntnis  des  Neufranzösischen 
anzueignen  und  lebendig  zu  erhalten,  wie  die  neuen  Lehrpläne  mit 
Fug  und  Recht  von  einem  Lehrer  des  Franz i3sischen  erheischen. 
Wer  jene  Forderungen  ernstlich  erfüllen  und  sich  nicht  bloss  mit 
ihnen  abfinden  will,  dem  bleibt  in  Zukunft  keine  bange  Wahl  mehr: 
er  muss  sich  bescheiden,  aus  Liebe  zu  seinem  Beruf  und  in  richtiger 
Erkenntnis  einer  selbstgewählten  Pflicht  wird  er  das  Studium  des 
Altfranzösischen  den  berufenen  Vertretern  der  romanischen  Philologie 
überlassen. 

Ernst  Weber. 


Ungewitter.     Kavier   de  Maistre,    Sein  Leben   und   seine   Werke 
Berlin,  W.  Gronau,  1892.    71  S.  8°.    M.  1.80. 

Niemand  wird  das  Schriftchen  ohne  Genuss  lesen.  Es  ist  im 
edelsten  Sinne  des  Wortes  populär  gehalten  und  hält  sich  fern  von 
wissenschaftlichen  Haarspaltereien,  welche  ja  noch  immer  die  crux 
der  litterarlüstorischen  Monographien  sind.  Es  lag  nicht  in  der 
Absicht  des  Verfassers,  sein  Büchlein  mit  mehr  oder  minder  zweifel- 
haften neuen  wissenschaftlichen  Tliatsachen  auszurüsten,  und  doch 
ist  das  Werkchen  eine  in  jeder  Hinsicht  gelungene  Monographie. 
Leben  und  Wirken  des  eigenartigen  Mannes  sind  in  glücklichster 
Weise  mit  einander  verwoben  zu  einem  Geistesbilde,  dem  nicht  der 
kleinste  Zug  fehlt.  Der  Stil  ist  edel  und  warm,  und  aus  jeder 
Zeile  spricht  des  Verfassers  Liebe  zu  seinem  Helden,  ohne  dass 
letztere  in  dem  Gewände  der  litterarischen  Marotte  aufträte.  Jede 
Art  wissenschaftlicher  Polemik  ist  dem  Verfasser  zuwider,  ein  Um- 
stand, der  den  Reiz  des  Büchleins  noch  erhöht.  Vertrautheit  mit 
seinem  Stoife,  gründliche  Belesenheit  und  ein  feiner  poetischer 
Instinkt  zeichnen  Ungewitter  in  hohem  Grade  aus,  dazu  eine  Be- 
scheidenheit, wie  man  sie  nicht  überall  findet.  In  der  Untersuchung 
über  Maistre's  Vorbilder  verfällt  U.  nicht  in  den  so  allgemein  ver- 
breiteten Fehler,  sich  nur  an  Ausserlichkeiten  zu  halten.  Und 
gerade  diese  Methode  fühi't  ihn  zu  dem  wichtigsten  Ergebnisse 
seines  Schriftchens,  dass  Xavier  de  Älaistre  ein  in  seinem  ganzen 
Geistesleben  germanischen  Einflüssen  unterworfener  und  von  ger- 
manischer Empfindung  erfüllter  Mann  gewesen. 

Ernst  Dannheisser. 


L.  Feller.     De  la  ponduation  frangaise.  59 

Feller,  Lonis.  De  la  ponctuation  frangaise.  Apergu  ä  l'usage  des  classes 
superieures  des  ecoles  allemandes.  Leipzig  1892.  Teubner. 
31  S.     12  0.     30  Pfg. 

Für  die  Herausgabe  dieses  Schriftchens  lag  ein  Bedürfnis  nicht  vor. 
Die  Abweichungen  der  französischen  Interpunction  von  der  unsrigen,  soweit 
sie  ein  deutscher  Schüler  kennen  muss,  wird  ein  verständiger  Lehrer 
denselben  an  der  Hand  der  Lektüre  finden  und  zusammenstellen  lassen. 
Die  Unterschiede  in  der  Setzung  der  Kommas,  worauf  sich  ja  bei  der 
Betrachtung  die  Aufmerksamkeit  vornehmlich  zu  richten  hat,  bietet  dem 
Schüler  dann  noch  seine  Grammatik,  wenn  auch  in  zusammenhangsloser 
Aufzählung;  vgl.  Plötz-Kares'  Sprachlehre  p.  118f.,  Steinbart  249f.  u.  s.  w. 
Da  ferner  Büchlein  von  einem  Umfang  wie  das  vorliegende  stofflich  selten 
etwas  Neues  bringen,  so  könnte  ein  Grund  zur  Veröffentlichung  nur  in 
geschickter,  übersichtlicher  Anordnung  des  Behandelten  gesucht  werden. 
Aber  auch  in  Bezug  auf  diesen  Punkt  entspricht  der  Abriss  nicht  allen 
berechtigten  Anforderungen.  So  ist  z.  B.  die  Zusammenstellung  der  An- 
merkungen a  — e  (pag.  7—9)  logisch  falsch.  Ausserdem  berührt  es  un- 
angenehm ,  als  Belege  Sätze  zu  treffen ,  die  schon  in  der  Grammaire  des 
grammaires  stehen  (p.  5,  13,  16,  18  (3 mal!),  21),  an  die  sich  auch  in  der 
Fassung  der  Regeln  Anklänge  nachweisen  lassen.  Ist  denn  die  französische 
Litteratur  so  arm,  dass  nichts  anderes  zu  finden  ist?  Papier  und  Druck, 
abgesehen  von  der  letzten  Zeile  auf  S.  6  und  der  7.  auf  S.  21,  sind  das 
Beste  der  kleinen  Schrift. 

C.   DORFELD. 


L'echo  frangais,  französische  Zeitschrift  für  Deutsche  (zu  Unterrichts-  und 
Fortbildungszwecken).  Wöchentlich  eine  Nummer.  Redacteur 
en  chef :  Dr.  Erwin  Hoenncher.  Zittau,  Pahl'sche  Buchhandlung 
(A.  Haase).     1892.     -l».     2  Mk.  für  das  Quartal. 

Die  erste  Nummer  dieser  neuen  Zeitschrift  bietet  zunächst  unter 
der  Ueberschrift:  La  semaine  politique  kurze  Einzelsätze,  die  sich  auf 
Frankreich  und  das  Ausland  beziehen  und  wohl  französischen  Zeitungen 
entnommen  sind.  Umfänglicher  sind  die  Anfangspartieen  von  Tartarin 
de  Tarascon  p.  Alph.  Daudet  und  la  pierre  de  touche  p.  Augier  et  Sandeau. 
Alsdann  folgt  ein  Teil  von  Jocelyn ,  episode  p.  A.  de  Lamartine ,  woran 
sich  eine  Conversation  über  ein  Mittagessen  anschliesst.  Ferner  finden 
wir  in  der  Abteilung,  die  den  Titel  trägt:  le  secretaire,  billets  d'invitation, 
in  einer  andern,  correspondance  commerciale  überschrieben,  lettre  d'intro- 
duction  en  faveur  d'un  negociant  se  rendant  aux  Etats-Unis,  zum  Schluss 
kommen  noch  eine  Uebersetzungsaufgabe ,  deren  Deutsch  man  anmerkt, 
dass  sie  ins  Französische  übertragen  werden  soll,  das  moderne  Lied:  le 
roi  Carnot  p.  A.  Millaud  und  pensees,  sämtliche  Gruppen  mit  deutschen 
erklärenden  Anmerkungen  unter  dem  Text  versehen.  Wie  man  bemerkt, 
ein  reichhaltiges  Programm,  das  zwar  vielen  etwas,  aber  keinem  Genügendes 
bringt.  Und  dies  ist,  wie  ich  glaube,  der  Hauptfehler  dieser  Zeitschrift. 
Erwachsene  —  für  diese  ist  nach  den  pensees  das  echo  frangais  be- 
stimmt —  die  eine  Bereicherung  ihrer  Kenntnisse  durch  Lektüre  suclien, 
werden  doch  lieber  zu  den  Bandausgaben  greifen ,  als  dass  sie  jeden 
Sonnabend  verhältnissmässig  kleine  Stücke  verschiedener  Erzählungen 
hinnehmen,  oder  wenn  sie  zugleicli  die  gegenwärtige  Bewegung  auf 
geistigem  Gebiete  in  Frankreich  kennen  lernen  wollen,  wird  ihnen  die 
Revue   hebdomadaire ,   die  bei  Plön ,   Nourrit  und  Cie  jetzt  erscheint  und 


60  Meferate  nnd  Bezensionen.    J.  Sarrazin, 

für  50  c.  einen  gediegenen  Inhalt  von  160  Seiten  liefert,  vortreffliche 
Dienste  leisten.  Diejenigen  aber,  welche  kaufmännische  oder  andere 
praktische  Zwecke  im  Auge  haben,  werden  nicht  in  hinreichendem  Masse 
das,  was  sie  suchen,  in  dieser  Zeitschrift  finden.  So  kommt  sie  mir  vor 
wie  eine  französische  Grammatik,  die  nach  ihrem  Titelblatt  den  Bedürf- 
nissen der  (xymnasien,  Bürger-  und  Mädchenschulen  zugleich  abhelfen 
will.  Also  eine  klarere  und  bestimmtere  Zielangabe  und  dementsprechende 
Ausführung ,  dann  kann  vielleicht  eine  Lücke  ausgefüllt  werden.  Dass 
eine  solche  vorhanden,  beweisen  die  vielen  Nachfragen  junger  Leute  auf 
gewerblichem  Gebiete,  die  beim  Studium  der  französischen  Sprache  ein 
derartig  billiges ,  ihnen  genügendes  Hilfsmittel  einer  teuren  Zeitung ,  die 
in  Frankreich  erscheint,  vorziehen. 

C.    DORFELD. 


Sammlung  französischer  und  englischer  Textausgahen   zum  Schulgehrauch. 
Leipzig,  Renger'sche  Buchhandlung.     1890. 

1.  Bd.  Mich  au  d,  La  Troisieme  Croisade,  Pr.  geb.  60  Pf.  2.  Bd. 
li  am  artine,  Nelson ,  Pr .  geb.  50  Pf .  3.  Bd.  Lamartine,  Ch  ristophe 
Colomb.  4.  Bd.  Florian,  Guillaume  Teil.  5.  Bd.  Ausgewählte  Er- 
zählungen von  Courier,  Töpffer,  Dumas,  Merimee,  Souvestre, 
Pr.  geb.  60  Pf. 

Der  Entschluss ,  Textausgaben  zu  veranstalten ,  ist  gewiss  mit 
Freuden  zu  begrüssen .  besonders  wenn  bei  billigen  Preisen  die  Aus- 
stattung eine  so  gute  ist  wie  hier.  Auch  der  Druck  ist  hübsch  und  im 
wesentlichen  korrekt.  In  dem  V.  Bändchen  habe  ich  nur  drei  Druckfehler 
entdeckt  (S.  23,  Z.  28  ä  st.  a,  S.  31,  Z.  7  un  st.  ime,  S.  71,  Z.  33  de  st. 
des).  Die  hier  gebotenen  Erzählungen  sind:  Une  aventure  en  Calabre 
von  Courier,  Lc  lac  de  Gers  und  Lo  col  d'Anterne  von  Töpffer,  Le  nez 
gele  von  Alexandre  Dumas ,  Mateo  Falcone  und  La  prise  de  la  redoute 
von  Merimee  und  Un  Interieur  de  diligence  von  Souvestre.  Sie  lesen  sich 
gut  in  01)ertertia,  nur  der  Col  d'Anterne  ist  in  einigen  Partieen  schwierig. 
Was  ich  gegen  die  ülirigen  Heffchen  einzuwenden  habe,  geht  aus  meiner 
Brochüre  ,.Gelöste  und  ungelöste  Fragen  der  Methodik"  hervor.  Michaud 
ist  veraltet ,  Lamartine  zwar  Klassiker  der  Sprache .  aber  seine  Nelson 
und  Colomb  sind  keine  nationalen  Stoffe.  Florian's  Teil  wird  neben 
Schiller  kaum  erträglich  sein. 

W.  Mangold. 


Fraiicisque  S.ircoy.  Le  Siege  de  Paris.  Impressions  et  Souvenirs.  Zum 
Schulgebrauch  herausgegeben  von  L^.  C  o  s  a  c  k.  —  Leipzig, 
Renger'sche  Buchhandlung.  Leipzig.  1891.  IX  und  142  S.  8° 
Preis  Mk.  1.50  geb. 

Das  beste  Zeichen  dafür,  dass  Sarceys  gemütvolle  und  anziehende 
Eindrücke  von  der  Pariser  Belagerungszeit  als  ])assendc ,  ja  hinreissende 
Schullektüre  sich  bei  uns  sofort  einen  grossen  "Wirkungskreis  erol)erte,  ist 
das  Erscheinen  einer  Konkurrenzausgabe  zu  der  vorliegenden  bei  Velhagen 
und  Klasing.  Die  Auswahl  und  die  Kommentierung  Cosacks  scheint  uns 
aber  bei  weitem  den  Vorzug  zu  verdienen.  Namentlich  bieten  die  27  Seiten 
starken  Anmerkungen  reichen  Stoff  zu  Sprechülningen  über  die  Männer 
von  1870  71,  über  Leben  und  Treiben  in  Paris  und  Frankreich,  über 
französisches  Heerwesen  und  dere:leichen.    Die  Arbeit  ist  aus  einem  Gusse, 


Francisque  Sarcey.   Le  Siege  de  Paris.  61 

trotz  einzelner  kleiner  Unebenheiten  z.  B.  in  der  Note  zu  le  Moniteur  (67. 15), 
zur  Bue  Drouot  (102.  12).  Letztere  Strasse  war  nicht  wegen  der  Mairie  des 
9.  Bezirks  eine  Art  Sammelpunkt  für  Kriegsnachrichten,  sondern  weil  im 
Hause  No.  26  derselben  das  Verlagshaus  des  „Figaro"  mit  dem  welt- 
bekannten Depeschensaal  sich  befindet.  Die  Anmerkung  zu  103.  32,  die 
allzu  breit  ausfiel,  wäre  nach  93.  39  zu  verpflanzen,  ebenso  diejenige  zu 
105.  31  nach  Seite  67  Die  Fussnoten  sind  ebenso  tüchtig,  wie  die  des 
Anhangs;  vor  allem  bringen  sie  nie  zuviel  und  nehmen  sie  niemals  die  ge- 
meinsame Klassenarbeit  vorweg.  Ohne  der  letzteren  Eintrag  zu  thun, 
hätte  der  Herausgeber  einige  Stellen  mehr  erklären  dürfen:  z.  B.  im 
Belleoillois  ä  tous  crins  (15.  16),  allures  ascetiques  (29.  28),  il  n'y  avait 
que  les  couches  superieures  de  gätees  (60.  9),  sous  conleur  (61.  37).  Obwohl 
espionomanie  (41.  31)  in  den  Wörterbüchern  fehlt,  ist  es  als  selbstver- 
ständlich axasseracht  gelassen  worden.  Les  ecoles  dejä  faites  (79.  9)  wäre 
besser  zu  übersetzen :  die  empfangenen  Lehren ;  houton  de  giietre  und  culotfe 
de  peau  (89.  13  und  88.  21)  könnten  beide  recht  wohl  mit  „  Gamaschen- 
knopf"  wiedergegeben  werden;  en  reste  de  (95.  7)  durch  „im  Rückstand 
mit".  Die  Anspielung  zu  faire  merveille,  comme  jadis  le  chassepot  (96.  11) 
ist  vom  Herausgeber  übersehen  worden;  ohne  Zweifel  meint  Sarcey  damit 
den  bekannten  Ausspruch  Pius'  des  IX.  nach  der  Niederwerfung  Garibaldis. 

Zuletzt  noch  ein  paar  Worte  über  die  Textgestaltung  dieser  vor- 
trefilichen  Ausgabe  eines  ebenso  vortrefflichen  Lesestoffs.  Der  Umfang 
von  114  Seiten  ist  trotz  geschickter  Kürzungen  immer  noch  zu  gross  für 
ein  Semester ,  an  Gymnasien  sogar  für  zwei.  Es  sollten  daher  in  einer 
Neuauflage  die  Beschreibungen  und  Betrachtungen  noch  etwas  beschnitten 
werden,  z.  B.  Seite  19—20,  25—27,  42—43  etc.  etc.  Wo  aber  von  der 
Damenwelt  der  Boulevards  die  Rede  ist  (27.  20;  32.  15),  müssen  unter 
allen  Umständen  Abstriche  eintreten.  Der  Text  ist  korrekt ,  bis  auf 
S.  11.  23;  33.  2;  78.  27;  82.  4;  99.  26;  109.  33  —  wo  es  zumeist  um 
Accents  oder  Interpunktionszeichen  sich  handelt. 

Joseph  Sarrazin. 


M  i  sz  el  I  e  n. 


Ein  iieuprovenzalisches  Kommerslied. 

Während  der  Blüthezeit  der  neuphilologischen  Vereine  fanden  eine 
Anzahl  deutscher  Kommerslieder  altfranzösische  und  altprovenzalische 
Nachdichtungen,  nachdem  kein  geringerer  als  W.  Foerster,  dem  man  die 
in  dieser  Zeitschrift  III,  185  ahgedruckte  altfranzösische  Bearbeitung  des 
„Gaudeamus"  zu  verdanken  hat,  mit  rühmlichem  Beispiel  vorangegangen 
war.  Ihm  folgte  Ed.  Schwan  zunächst  mit  einer  altfranzösischen  Um- 
dichtung  des  altassyrischen  Gesanges  ,vom  schwarzen  Walfisch  zu  As- 
kalon",  dem  auch  ein  gelehrter  Kommentar  nicht  fehlte,  und  etwas  später 
mit  einer  altfranzösischen  Uebertragung  der  ,,Lore  am  Thore".  Dann 
lieferte  G.  Hentschke  eine  ebenfalls  altfranzösische  Bearbeitung  des  Liedes 
vom  „Hering,  der  eine  Auster  liebte'-  und  eine  altprovenzalische  des 
V.    Mühler'schen   Liedes    .Grad'   aus   dem    Wirthshaus".')     Gewiss    haben 


')  Um  diese  Proben   germanisch  -  romanischer  Dichtkunst  nicht  der 
Vergessenheit  anheimfallen  zu  lassen,  geben  wir  einen  Abdruck  derselben. 

I.     Li   lais   Jonas.') 

1.  El  noirc  balaine  d'Ascalon, 
Uns  hom  bevoit  •  III  •  jors 
Dusk'il  jut  comme  une  anste  roiz-) 
Soz  table  de  niarmor.^) 

2.  El  noire  balaine  d'Ascalon: 
Felon,  dist  l'ostelier, 
Arrestez,  car  vos  l)evez  plus 
Que  ne  püez  paiier! 

3.  El  noire  balaine  d'Ascalon 
Vinrent  li  bei  serjant, 

En  •  XII  •  pierres*)  bien  escrit 
Le  conte  presentant. 

4.  El  noire  balaine  d'Ascalon, 
Li  ostes  crie:  Aoi!^) 

Mon  or  et  mon  argent  donai 
A  l'agnel  Ninifoi.') 

5.  EI  noire  balaine  d'Ascalon. 
A  quatre  et  demi. 

Par  un  geant  par  defors  luis 
L'estraigne  fu  feri. 


Missellen.  63 

diese  Sangesmeister  gelehrige  Schüler  gefunden ,  die  auch  andre  deutsche 
Weisen  in  romanische  Zungen  übertrugen,  doch  ist  mir  von  weiteren 
französischen  und  provenzalischen  Bearbeitungen  deutscher  Kommerslieder 
keine  zu  Gesicht  gekommen. 


6.  El  noire  balaine  d'Ascalon, 
Prophete  n'est  ames, 

On  doit  paiier  tot  cho  k'on  boit 
Se  vivre  on  vuelt  en  pais. 

7.  [El  noire  balaine  d'Ascalon, 
Quant  noef  ores  sonna, 

Li  bons  geanz,  li  Nubiois, 
L'estraigne  ramena.]') 

Anmerkungen: 

^)  Kritische  Ausgabe  nach  mehreren  Handschriften.  —  Inhaltlich 
wohl  nicht  mit  dem  altfrz.  Jonasfragment  zusammenhängend.  Vgl.  viel- 
mehr die  deutsche  Bearbeitung  von  Scheffel  (Lahrer  Commersbuch  S.  541), 
die ,  wie  sich  nach  Auffindung  dieses  Lai  ergiebt,  nicht  aus  einer  alt- 
assyrischen Keilschrift  stammt,  sondern  eine  fast  wörtliche  Uebersetzung 
dieses  Lai  ist.  Oder  sollten  etwa  beide  auf  die  syrische  Quelle,  unab- 
hängig von  einander,  zurückgehen? 

^)  Das  Französische  scheint  die  aristokratische  Version  zu  sein, 
während  die  Lesart:  „Besenstiel"  im  Deutschen  mehr  auf  einen  bürger- 
lichen „Jongleur"  schliessen  lässt.  Man  vgl.  dazu:  Floire  et  Blancheflor 
cd.  E.  du  Meril.  —  Man  beachte  auch  Str.  III,  2  serjant,  deutsch  Kellner. 

^)  Der  Verfasser  des  Lai  scheint,  der  gelehrten  Bildung  marmör 
statt  des  volkstümlichen  marbre  nach  zu  urteilen ,  ein  „ders"  gewesen 
zu  sein ;  der  ungenaue  Reim ,  wie  der  Hiatus  in  V.  2  (allerdings  nach 
Muta  cum  Liquida)  lassen  auf  einen  jugendlichen  Dichter  schliessen.  Die 
Heimat  ist  wohl  an  der  Grenze  der  Pikardie  und  Isle  de  France  zu  suchen. 

*)  Scheint  für  ein  syrisches  Original  zu  sprechen,  da  von  einer 
solchen  altfrz.  Sitte  nichts  bekannt  ist. 

')  Wichtig  für  die  Auffassung  von  Aoi  im  Roland. 

^)  Ninive,  welches  Ninifei  u.  picard.  Ninifoi  gab. 

'')  Die  letzte  Strophe,  welche  nur  in  einer  späten  Handschrift  er- 
halten ist,  charakterisiert  sich  ihrem  Inhalte  nach  als  späterer  Zusatz. 
Vermutlich  rührt  sie  von  einem  Copisten  her,  der  mit  dem  traurigen 
Geschick  des  Fremden  Mitleid  hatte.  Allerdings  ist  die  Strophe  auch  in 
manchen  Handschriften  der  deutschen  Version  erhalten.  Auch  findet  sich 
hier  die  Heimat  des  Riesen:  „Nubiois"  (im  deutschen  Text:  „Nubierland") 
angegeben,  welche  Str.  V  fehlte.     Das  giebt  zu  denken! 

II.     Belle   Lorotte. 

1.    De  totes  pucelles  gentils,  avenanz 
Me  piaist  mielz  belle  Lorotte, 
De  totes  ruelles  et  rues  del  bore 
Me  piaist  mielz  celle  a  la  porte. 
Li  maistres  sorrist  comme  eust  sospeQon, 
Comme  eust  sospegon  a  Lorotte: 
Elle  est  mes  pensers  et  de  nuit  et  de  jor 
Et  demore  el  coing  a  la  porte. 


64  Miszellen. 

Von  romanischen  Kollegen  und  Dichtern  war  nicht  zu  erwarten, 
dass  sie  die  gleichen  Bahnen  wandeln  würden:  die  Romanen  kennen  ja 
keine  Kommerse  und  bedürfen  darum  auch  keiner  Kommerslieder.  Um  so 
grösser  war  mein  Erstaunen,  als  ich  im  Sommer  1891  bei  Gelegenheit  des 


2.  Se  descent  la  ruelle,  les  pas  menus, 
Li  Sans  me  saut  a  la  teste, 
S'entend  del  loing  son  Las  tip  et  tap, 
La  soudure  ne  tient  ne  ne  reste. 

Ces  damoiselles  parees  del  cort 

Ne  resemblent  mie  a  Lorotte: 

Elle  est  mes  pensers  et  de  nuit  et  de  jor 

Et  demore  el  coing  a  la  porte. 

3.  Et  quant  avient  li  liez  tans  Noel, 
D'argent  est  fourree  la  cotte, 

Que  la  mere  envoia  por  un  sorcot  novel, 

Je  le  doins  tot  a  ma  Lorotte. 

Se  diables  portoit  moi  un  tresor 

Ensement  le  dorroie  a  Lorotte : 

Elle  est  mes  pensers  et  de  nuit  et  de  jor 

Et  demore  el  coing  a  la  porte. 

4.  Mais  quant  iert  en  mai  li  douz  tans  Pascor, 
Devroie  partir,  par  l'usage, 

Dont  me  ferai  ci  et  maistre  et  horjois 
AI  mien  propre  avantage. 
Dont  me  ferai  maistre  en  celle  cite, 
Maistresse  sera  ma  Lorotte: 
Lors  avra  „valeri!"  et  de  nuit  et  de  jor, 
Mais  onc  plus  el  coing  a  la  porte! 
La  belle  Lorotte  explicit. 

in.     Li   h a r e n X   et   I' o  i s t r  e. 

Un  harenx  aima  une  oistre  enmi  la  fresclie  mer, 
Ne  pensa  unc  autre  chose  qu'en  aveir  un  baiser. 

Meis  l'oistre  molt  fu  chaste,  ne  quitta  sa  maison, 
Plus  gemisseit  li  harenx,  plus  ?o  li  esteit  bon. 

Sol  un  bei  di,  s'escale  a  grant  prudence  ovri, 
Volst  dcnz  la  glace  de  Teve  veir  sun  visage  seri. 

Li  harenx  arive  a  nage,  si  met  sa  teste  dedenz, 
De  li  baiser  a  grace  esteit  tuz  sis  talenz. 

0  harenx,  povre  harenx,  com  estes  vos  juez!  — 
Ele  ferma  s'escale,  s'il  fu  guillotinez. 

Sis  cors  tuz  morz  er  nage  sor  l'onde  en  meis  de  mai, 
E  pense:  ja  meis  en  vie  nule  oistre  n'amerai. 

IV.     De   la   taverna. 

1.    De  la  taverna  m'en  sui  fors  anatz  — 
Bels  camis,  digas  me,  com  est  cambjatz? 
Gar  la  direczio  gaires  n«  trop. 
Conosc  la  causa  be:  as  begut  trop! 


Miszellen.  65 

Sceauxfestes  der  Pariser  Feliber  einige  hundert  Südfranzosen  eine  deutsche 
Weise  anstimmen  und  mit  Schwung  und  Feuer  einen  neuprovenzalischen 
Text  nach  ihr  absingen  hörte,  der  jedermann  auf  das  Beste  bekannt  war. 
Die  Melodie  war  diejenige  Kücken's  ,Wer  will  unter  die  Soldaten";  der 
Text  war  das  Sonnenlied  Mistrals,  die  erste  und  volksthümlichste  cansoun 
aus  seinen  Isclo  d'or,  ein  Anruf  an  die  brennende  Sonne  der  Provence, 
die  der  Südländer  schmäht,  wenn  er  von  ihr  bedrückt  wird,  und  die  ihm 
doch  am  meisten  fehlt,  wenn  er  im  kühlen  Norden  ihre  glühenden  Strahlen 
entbehren  muss.^) 

Da  die  Isclo  cVor  nur  in  den  Händen  weniger  Leser  der  Zeitschrift 
sich  befinden  werden,  so  geben  wir  auch  von  dem  Cant  döu  Souleu  einen 
Abdruck  nebst  einer  von  Älistral  selbst  herrührenden  französischen  Ueber- 
setzung,  in  der  Hoffnung,  dass  sich  das  in  der  Provence  zur  Volksweise 
gewordene  Lied  in  den  neuphilologischen  Kommersen  einbürgern  werde. 
Wir  sind  den  Felibern ,  die  vor  dem  Singen  einer  deutschen  Weise  nicht 
zurückschrecken,  wohl  diese  kleine  Anerkennung  schuldig. 

Grand  souleu  de  la  Prouven^o, 
Gai  coumpaire  döu  mistrau. 
Tu  qu'escoules  la  Duren^o 
Coume  un  flot  de  vin  de  Grau, 
Fai  lusi  toun  blound  caleu, 
Coucho  l'oumbro  emai  li  fleu! 

Leu,  leu,  leu! 
Fai-te  veire,  beu  souleu! 

Ta  flamado  nous  grasiho, 

E  pamens,  vengue  l'estieu, 

Avignoun,  Nime  e  Marsiho 

Te  re^aupon  coume  un  dieu!     Fai  lusi  .  .  . 

Per  le  veire,  li  piboulo 

Toujour  mounton  que  pus  aut, 

E  la  paure  berigoulo 

Sort  au  ped  döu  panicaut.     Fai  lusi  .  .  . 


2.  Na  Luna,  quel  vizatge  as  oi  offert? 
L'un  olh  a  tot  fermat,  l'autre  a  ubert ! 
No  saps,  Cerveza  es  molt  mala  res? 
Na  Lun',  a  ver  te  di,  grant  anta  t'es. 

3.  Vec!  las  laternas  sai,  50  m'es  semblan, 
No-s  podon  tener  mais  en  drech  estan, 
Totz  temps  son  chancelan  e  sai  e  lai: 
Tanta  confuzio  lo  vins  sols  fai. 

4.  Tot  en  ebriezza  es,  grantz  e  petitz, 
Pot  s'i  mesclar  degus  homs  amarvitz? 
Ses  mentir,  mal  0  fos  e  perilhos,  — 
Mielhs  en  taverna  torn,  com  home  pros. 

Es  bedarf  wohl  keiner  Erwähnung,  dass  diese  zum  Scherz  ver- 
suchten Nachdichtungen  nicht  als  litterarische  oder  philologische  Leistungen 
betrachet  werden  wollen. 

^)  Mistral  gibt  dem  Gedichte  die  Note  bei:  Le  Cant  döu  souleu 
a  ete  popularise  par  les  orpheons  de  Provence  sur  l'air  du  Bivouac  de 
Kücken.  Es  ist  nicht  leicht,  unter  dieser  Bezeichnung  „den  kleinen 
Rekruten"  Kückens  wieder  zu  erkennen. 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV^.  ö 


66  Miszellen. 

Lou  souleu,  aiwi,  coungrio 

Lou  travai  e  li  cansoun, 

E  TamoiTr  de  la  patrio 

E  sa  dou(jo  languisoun.     Fai  lusi  .  .  . 

Lov;  souleu  fai  Inme  au  mounde 

E  lou  ten  caud  e  sadou  .  .  . 

Dieu  nous  garde  que  s'escounde, 

Car  sarie  la  fin  de  tout!     Fai  lusi  .  .  . 

üebersetzung:  Grand  soleil  de  la  Provence,  —  gai  compere  du 
mistral,  —  toi  qui  taris  la  Durance  —  comme  un  flot  de  vin  de  Crau, 
—  Fais  briller  ta  blonde  lampe!  —  Chasse  l'ombre  et  les  fleaux!  — 
Vite!  vite!  vite!  —  Montre-toi,  beau  soleil! 

Ta  flamme  nous  rotit,  —  et  pourtant,  vienne  Pete,  —  Avignon, 
Arles  et  Marseille  —  te  re^civent  comme  un  dieu! 

Pour  te  voir,  les  peupliers  —  montent  de  plus  en  plus  baut,  —  et 
le  pauvre  agaric  —  sort  au  pied  du  chardon. 

Le  soleil,  arais,  procree  —  le  travail  et  les  chansons,  —  et  Tamour 
de  la  patric,  —  et  sa  douce  nostalgie! 

Le  soleil  eclaire  le  monde  —  et  le  chauffe  et  le  nourrit  ...  — 
Dieu  nous  garde  qu'il  se  cache!  —  car  ce  serait  la  fin  de  tout! 

Zur  Gewinnung  einer  richtigen  Aussprache  der  Verse  des  Liedes 
füge  ich  die  wichtigsten  Ausspracheregeln  der  provenzalischen  Feliber- 
sprache ,  d.  i.  eines  verfeinerton  Avignonerisch  bei ,  mich  dabei  auf  die 
Erscheinungen  in  diesem  Gedichte  und  auf  die  Abweichungen  von  der 
französischen  Aussprache  beschränkend.  Das  Gegebene  wird  für  Kommers- 
zweckc  ausreichen. 

Nachtonisches  o  (Prouvbv^o,  Dnrhi^o  etc.)  kann  man  getrost  wie 
ein  sog.  dumpfes  e  aussprechen.  Nachtonisches  e  {vhigue,  coume  etc.)  ist 
geschlossen.  —  Ou  ist  deutsches  ti;  geschr.  u  =  ü. 

Die  betonten  echten  Diphthonge  ai  und  au  haben  ein  geschlossenes 
a;  die  zusammengesetzten  Vokale  sind  deutlicher  vernehmbar  als  im 
deutschen  ei  fai)  und  au.  Vortonisches  ai  und  au  gleichen  ganz  den 
deutschen  Diphthongen,  ei,  eu,  öu  sind  ebenfalls  echte,  fallende  Diph- 
thonge mit  offnem  e  und  geschlossenem  o;  im  ist  der  Triphthong  i/eu:  ie 
in  sarie  ist  gleich  ye. 

Die  im  A\'ortauslaut  und  die  vor  Konsonanten  befindlichen  Nasalver- 
bindungen an,  hl,  ein,  en,  on,  oun,  oum,  un,  in  sind  nicht  die  vollen 
Nasalvokale  von  a,  e,  e,  o,  u,  ü  und  i,  sondern  auf  dem  Wege  zu  ihnen 
befindliche  Verbindungen  dieser  Vokale  mit  velarem  Nasal  tj.  Ein  Ost- 
deutscher, der  einen  echten  Nasalvokal  zu  sprechen  unternimmt,  dem  dies 
aber  in  Folge  seiner  Gewöhnung  an  Oralvokal  -j-  velarem  Nasal  nicht  ge- 
lingt (bei  den  Schülern  ist  das  häufig  zu  bemerken),  spricht  wie  ein  echter 
Provenzale.  Vor  dentalen  Konsonanten  spricht  man  aber  auch  ganz  ge- 
wöhnlich Oralvokal  -|-  dentalen  Nasal  (also  mounde  =  munde,  escounde  = 
eskunde,  nicht  aber  so  in  grand,  hloiind  etc.,  deren  d  stumm  ist),  vor 
labialen  Konsonanten  Oralvokal  -|-  labialen  Nasal  (also:  coumpaire  = 
humpaire;  oumbre  -=^  umbre),  vor  volarem  Konsonant  Oralvokal  +  velarem 
Nasal  (also:  coungrio  =  kutjgria)  aus. 

h  in  grasiho,  Marsiho  ist  =  deutschem  j  {y);  j  =  dz;  ch  =^  ts;  inter- 
vokalisches  s  ist  stimmhaft,  intervokalisches  r  ist  dental  und  sehr  stark  ge- 
rollt.   Wem  dieses  r  nicht  geläufig  ist,  dem  empfehle  ich  zu  seiner  Einübung 


Miszellen.  67 

das  Verfahren,  das  am  Pariser  Konservatorium  üblich  ist  und  das  Dupont- 
Vernon,  L'art  de  bien  dire,  Paris  1891,  S.  38  folgendermassen  beschreibt: 
(um  dentales  r  zu  erlernen)  „il  est  bon  de  prononcer  alternativement  les 
deux  consonnes  t  et  d.  Vous  donnez  ainsi  ä  l'extremite  de  la  langue  une 
agilite,  une  souplesse  qu'elle  n'avait  pas;  faites  preceder  les  consonnes  t, 
d ,  de  la  consonne  f,  qui ,  en  vous  forgant  d'appuyer  les  dents  d'en  haut 
sur  la  levre  de  dessous,  amene  naturellement  votre  langue  en  avant  du 
palais,  et  dites,  fort  lentement  pour  commencer,  et  de  plus  en  plus  vite 
ensuite ,  de  fa^on  meme  ä  presque  confondre  le  son  des  deux  dernieres 
consonnes  ftd  ou  ftede  ou  ftedede  et  alors,  quand  vous  etes  tout  entier  ä 
cet  exercice  peu  recreatif,  mais  utile,  et  quand  votre  elan  est  bien  pris, 
faites  entrer  dans  la  danse,  selon  l'expression  pittoresque  de  M.  Legouve, 
une  petite  r,  bien  timide,  bien  modeste  d'abord,  et  que  vous  n'articulerez 
presque  pas  pour  commencer.  Remarquez  bien,  si  votre  langue  se  replie; 
si  eile  se  replie,  c'est  que  le  defaut  persiste,  alors  recommencez;  ne  vous 
rebutez  pas ,  votre  langue  s'est  pas  encore  assez  souple,  mais  eile  le  deviendra 
demain,  apres  demain,  dans  peu  de  jours."  AVer  ein  dentales  r  von  Haus 
aus  sprechen  kann  oder  es  künstlich  gelernt  hat,  ist  zugleich  auch  in  Stand 
gesetzt,  ein  bühnenfähiges  Französich  zu  artikulieren.  Wem  es  nicht  ge- 
lingt, der  muss  beim  Lesen  provenzalisclier  Verse  wenigstens  sein  velares 
r  tüchtig  rollen.  —  Velares  r  herrscht  sonst  auch  in  Provenzalischen,  soweit 
es  nicht  bei  dentalen  Konsonanten  steht. 

E.   KOSCHWITZ. 


5* 


Novitätenverzeichnis. 


Catalogue  sommaire  des  luanuscrits  de  la  bibliotheque  d'Avignon  (musee 
Calvet);  par  L.  H.  Labande,  arehiviste  paleograpbe.  In-8°,  VI-433  p. 
Avignon,  Seguin  freies. 

Delisle,  L.  Sir  Kenelm  Digby  et  les  aiiciens  rapports  des  bibliotbeqnes 
frangaises  avec  la  Grande-Bretagne,  communication  faite  ä  la  „Library 
Association  of  the  united  Kingdom".  Grand  in-16,  29  p.  Paris,  imp. 
Plön,  Nourrit  et  Ce. 

Haureau,  B.  Notices  et  Extraits  de  quelques  manuscrits  latins  de  la  Bi- 
bliotheque nationale.  T.  5.  In  8°,  3öi  p.  Le  Mans,  imprimerie  Mon- 
noyer;  librairie  C.  Klincksieck. 

Omoni,  H.  Nouvelles  acquisitions  du  departement  des  manuscrits  de  la 
Bibliotheque  nationale  pendant  l'annee  1891 — 1892.  Inventaire  som- 
maire. ^-8**,  52  p.  Paris,  Picard.  [Extrait  de  la  Bibliotheque  de 
l'Ecole  des  chartes  (annee  1892,  p.  338  ä  382)]. 


Gröber,  G.  Grundriss  der  romanischen  Philologie  II,  a.  1.  Lfg.  Strass- 
burg,  Trübner  [S.  1—96:  E.  Stengel,  Romanische  Verslehre,  S.  97— 
256:  G.  Gröber,  Uebersicht  über  die  lat.  Literatur  von  der  Glitte  des 
6.  Jahrh.  bis  1350]. 

Vollmöller,  K.  u.  Otto,  B.,  Kritischer  Jahresbericht  über  die  Fortschritte 
der  romanischen  Philologie.  I.  Jahrgang.  1890.  1.  Heft.  München 
und  Leipzig.     Verlag  von  R.  Oldenbourg. 


Maitre,  le,  franqais.  —  The  English  teaeher.  Franz()sisch-engl.  Lern-  und 
Uebungsblatt.  Hrsg.  v.  Oberlehr.  Dr.  H.  P.  Junker.  1.  Jahrg.  Oktbr. 
1892  — Septbr.  1893.  (24  tranzös  u.  24  engl.  Nrn.)  gr.  S".  (Nr.  1. 
18  S.)  L.,  Renger.  Vierteljährlich  bar  n.  1.50;  franz.  od.  engl.  Tbl. 
allein  ä  1. — 


Beaune,  H.  Sens  du  mot  „quitte"  dans  les  actes  feodaux  de  la  Bresse  et 
du  Bugey.  In-8'',  5  pages.  Paris,  Leroux.  [Extrait  du  Bulletin  du 
coraite  des  travaux  historiques  et  scientifiques  (section  d'histoire  et  de 
Philologie,  annee  1892).] 

Lecy,  Emil,  provenzalisches  Supplement -Wörterbuch.  Berichtigungen  u. 
Ergänzgn.  zu  Eaynouards  Lexique  roman.  (In  9 — 10  Hftn.)  1.  Hft. 
gr.  80.     (XV,  128  S.)  L.,  0.  R.  Reisland.     4,— 

Loth,  J.  Les  Mots  latins  dans  les  langues  britanniques  (gallois,  armori- 
cain.  cornique).  Phonetique  et  Commentairc,  avec  une  introduction 
sur  la  romanisation  de  l'ile  de  Bretagne.     In-8°,  252  p.     Paris,  Boiüllon. 

Fassy,  P.     Les  Sons  du  fran^ais   (leur  formation,   leur  combinaison,  ieur 


Nomtätenverzeiclmis.  69 

representation).  3e  edition,  entierement  refondue.  In- 16,  143  p.  Paris, 
Firmin-Didot.     1  fr.  50. 

Perot,  F.  Dissertation  sur  le  nom  primitif  de  la  Loire.  In-S**,  12  p.  Roanne, 
imp.  Chorgnon  et  Bardiot.    [Extrait  de  l'Ancien  Forez  favril-mai  1892).] 

Schwan,  Prof.  Dr.  Ed.,  Grammatik  d.  Altfranzösischen  (Laut-  u.  Formen- 
lehre).    2.  Aufl.  gr.  8°.  (Vm,  247  S.)  L.,  0.  R.  Reisland.     4,80. 

Tobler,  Ä.  Etymologisches:  It.  attrazzo,  attrezzo;  franz.  rets;  altfranz. 
menaison,  -oisori,  -ison;  franz.  haleter;  franz.  aloyau;  franz.  ebouler; 
franz.  hantieret.  [Sitzungsbericht  der  Kgl.  preuss.  Akademie  der  Wissen- 
schaften zu  Berlin.     1893.     Ill] 

Vogl,  Dr.  Adf.  Die  Sprache  in  ihren  Beziehungen  zu  den  Sprachwerk- 
zeugen,    gr.  8".     (32  S  )  Graz,  Leykam  in  Komm. 

Wagner,  Ph.  Französische  Quantität  (unter  Vorführung  des  Albrechtschen 
Apparats).     [In:  Phonet.  Studien,  VI.,  S.  1—17]. 


Comte,  Ch.  Les  stances  libres  dans  Moliere.  Etüde  sur  les  Vers  libres  de 
Moliere  compares  ä  ceux  de  La  Fontaine  et  aus  Stances  de  la  versi- 
fieation  lyrique.     Versailles,  imprimerie  Ve.  E.  Aubert.     90  S,     8°. 

Havet,  L.  La  prose  metrique  de  Symmaque  et  les  Origines  metriques  du 
Cursus.  In-8",  118  pages.  Paris,  Bouillon.  [94e  fascule  de  la  Biblio- 
theque  des  hautes  etudes]. 

Tisseur,  Clair,  Modestes  observations  sur  l'art  de  versifier.  Lyon,  Ber- 
noux  et  Cumin.     355  S.  8°.     5  fr. 


Michaud,   Prof.    Charles,   neues   Taschen -Wörterbuch   der   deutschen  und 

französischen  Sprache.     Mit  e.  Auswahl  v.  Gesprächen  f.  die  Reisenden. 

Deutsch-Französisch.     24o-     (428  S.)  B.,  H.  Steinitz,  Verl.     1.50 
Moment -Wörter   der    vier    modernen   Hauptsprachen.      Ein   Handbuch   d. 

Deutschen,   Englischen,   Französischen  u.  Italienischen  in  e.  durchlauf. 

Alphabet.    Neue  Ster.-Ausg.  d.  „Neuen  Universal -Wörterbuch",    gr.  Iß". 

(XII,  1199  S.)  B.,  Trowitsch  &  Sohn.     Geb.  in  Halbfrz.  6.50. 
Vincent,  P.     Dictionnaire  illustre.     Langue  fran^aise,  Histoire,  Geographie. 

Ire    edition.     In-16    ä    2   col.,    768  p.    avec  nombreuses  flg.,  tableaux 

synoptiques  et  cartes  en  coul.     Paris,  Delarue. 


Alge,  S.,  Leitfaden  f.  den  ersten  Unterricht  im  Französischen.  3.  Aufl.  gr.  8". 
(Vm,  168  S.  m.  Abbildgn.)  St.  Gallen,  Huber  &  Co.     1,60  Mk. 

—  der  erste  Unterricht  im  Französischen.  Zugleich  e.  Kommentar  zum 
„Leitfaden  f.  den  ersten  Unterricht  im  Französischen".  [Aus  ,.Theorie 
u.  Praxis  d.  Sekundarschulunterrichtes".]  gr.  8'*  (45  S.)  Ebd.     —,50 

Auge,  C.  Troisieme  Livre  de  grammaire.  „Livre  du  maitre".  1,500 
exercices,  200  grav.     In-12,  886  p.     Paris,  Larousse.     4  fr. 

Bechtel,  Adf.,  französisches  Sprach-  u.  Uebungsbuch.  Oberstufe.  Für  die 
V.,  VI.  'u.  Vn.  Classe.  gr.  8».  (XV,  224  S.)  Wien,  Manz.  Geb.  in 
Leinw.  2,40. 

Benecke,  Dir.  Alb.,  französische  Vorschule  (propädeutischer  Kurs)  bearb. 
f.  Gymnasien,  Realgymnasien  u.  Realschulen  (höhere  Bürgerschulen) 
S".     (Vm.  179  S.)  Potsdam,  A.  Stein.     1,20  Mk. 

Bierbaum,  Prof.  Dr.  Jul.,  Lehrbuch  der  französischen  Sprache  nach  der 
analytisch-direkten  Methode  f.  höhere  Schulen.  I.  Tl.  Mit  e.  Lieder- 
anhang.    3.  Aufl.  gr.  8".     (Vm,  120  u.  16  S.) 

Boerner,  Otto,  Lehrbuch  der  französischen  Sprache.  Mit  besond.  Berück- 
sichtigung   der   Uebgn.   im    mündl.   u.    schriftl.   freien    Gebrauch    der 


70  Novitätenverzeichnis. 

Sprache.     2.  Aufl.  gr.  8°.     (XVI,  332  S.)  L..  B.  G.  Teubner.    Geb.  in 

Leinw.  2,60. 
Bretschneider,  H.,  kurzgfasste  Synonymik  m.  erläuternden  Satzbeispielen. 

8".     (35  S.)  L.  Renger.     0,40  Mk. 
JBuchner's  Lehrmittel  f.   den   französischen  Unterricht  v.   DD  Prof.  Wilh. 

Scheffler  Geo.  Stern  u.  Alhr.  Reum.  (11.)  gr.  8°.  Bamberg,  C.  C.  Buchner, 

Verl.     Geb.   in  Leinw.      2.   Französische   Grammatik.     1.   Tl.     Laut-, 

Schrift-  u.  Formenlehre.     Von  Dr.  Geo.  Stern  (IX,  73  S.)     1,40. 
Chassang,  A.,   L.   Humbert   et    C.   Binn.     Nouvelle   Grammaire   fran^aise 

d'A.  Chassang.     Revue,   modifiee  et  simplifiee  par  L.  Humbert  et  Ch. 

Rinn.     Cours  superieur.  3e  edition.     In-18  Jesus,  432  p,     Paris,  Garnier 

freres. 
Delacroix,  M.     Cours  raisonne  de  langue  frangalse.     Exercices  sur  l'etude 

des  mots  et  du  vocabulaire.     2e  edition.    In-12,  IV-223  pages.    Paris, 

Belin  freres. 
Duplessis,  A.     Grammaire-Lexique  de  la  langue  fran^aise.     Cours  elemen- 

taire   et  moyen.     Grand   in-16,   163  p.   avcc  grav.  en  noir  et  en  coul. 

Paris,  lib.  Hachette  et  Ce.     1  fr.  20. 

—  Grammaire-Lexique  de  la  langue  fran^aise.  Cours  elementaire.  Grand 
in-16,  95  p.  avec  grav.  en  noir  et  en  coul.  Paris.  Hachette  et  C^. 
75  cent. 

Gabiolle,  G.  Exercices  sur  la  Petite  Grammaire  frangaise  du  P.  A.  Sengler. 
Classes  elementaires  (huitieme,  septieme,  sixieme).  In-18  Jesus,  262  p. 
Lyon  et  Paris,  Delhomme  et  Briguet. 

Goldschmidt,  TJiora,  Bildertafeln  f.  d.  LTnterricht  im  Französischen.  26 
Anschauungsbilder  m.  erläut.  Text  u.  e.  nach  der  AVortbedeutung  ge- 
ordneten Wörterverzeichnis,  gr.  4°.  (72  S.)  L.,  F.  Hirt  &  Sohn. 
Kart.  2,50. 

Guerard.  Cours  complet  de  langue  frangaise  (theorie  et  exercices). 
Deuxieme  partie:  Grammaire  et  Complements.  Nouvelle  edition.  In-18 
Jesus,  271  pages.     Paris,  Delagrave. 

Haeiisser,  Methode  H.  Selbstunternichtsbriefe  f.  die  modernen  Sprachen- 
Französisch.  Fach-Suppl.  f.  Heer  u.  Marine.  Bearb.  unter  Mitwirkg. 
V.  Offizieren.  (In  2  Briefen.)  1.  Brief  gr.  8<>.  (20  S.)  Karlsruhe, 
J.  Bielefeld's  Verl.     1  Mk. 

Hahn,  Tli.,  u.  E.  lioos,  Anleitung  zum  Gebrauch  d.  französischen  Sprech-, 
Schreib-  u.  Leseunterrichts  f.  Mädchenschulen.  12".  (IV,  16  S.) 
Halle  a.  S„  H.  Gesenius.    0,30. 

—  französischer  Sprech-,  Schreib-,  Leseunterricht  f.  Mädchenschulen.  12". 
(VII,  ms.)  Ebd.     1  Mk. 

Juranville,  M^e  c.,  Le  Style  enseigne  par  la  pratique.     Methode  nouvelle. 

Cours  superieur.     Livre  de  l'eleve.     11  e  edition.     In-12,  160  p.    Paris, 

Larousse.     1  fr. 
Legrand,  J.     Plans  de  compositions  fran^aises  sur  des  sujets  varies  (pen- 

sees   morales,   philosophie,    histoire)    (classes   de   quatrieme,    troisieme, 

deiixieme   et   preniiere,   programme   du    15  juin    1891).     In-8°,    104  p. 

Paris,   May  et   Motteroz.     [Bibliotheque   de   l'enseignement   secondaire 

moderne.] 
Larousse,  P.     La  Lexicologie  des  ecoles.     Cours  complet  de   langue  fran- 

^aise   et   de   style.     (2e   ann§e.)     Grammaire   complete   sj'ntaxique   et 

litteraire.     14  e  edition,  mise  en  rapport  avec  le  Dictionnaire  de  l'Aca- 

demie.     In-12,  396  p.     Paris,  Larousse.     80  cent. 

—  La  Lexicologie   des  6coles.     Cours   complet  de  langue  frangaise  et  de 
style.     Le  Livre  des  permutations  :  Permutations  de  nombre,  de  genre, 


Novitätenverzeichnis.  7 1 

de  personne,    de   forme   et   de   voix.     Livre    de   Televe.     22  e  edition. 
In-16,  159  p.     Paris,  Larousse.     80  cent. 

—  La  Lexicologie  des  ecoles.  Cours  complet  de  langue  fraiKjaise  et  de 
style.  Petite  Gramraaire  du  premier  äge.  93  e  edition,  entierement 
refondiie.     Livre  de  l'eleve.     In-12,   168  p.     Paris,  Larousse.     75  cent. 

Manger,  K,  französisches  Konjugationslieit.    4".  (44  S.)  Nürnberg,  C.  Koch. 

Mangold.  W.  u.  B.  Coste,  Lelirbucli  der  französischen  Sprache  f  höhere  Lehr- 
anstalten. 2.  Tl.  Grammatik  f.  d.  obere  Stufe.  Ausg.  A.:  Für  Gymnasien 
u.  Realgymnasien.    2.  Aufl.    gr.    8°.  (X,  137  S.)  B.,  J.  Springer.    1,40. 

Metivier,  H.  Methode  de  composition  fran^aise,  ä  l'usage  principalement 
des  ecoles  normales  primaires  et  des  ecoles  primaires  superieures,  de 
l'enseignement  secondaire  moderne  et  des  lycees  et  Colleges  de  jeunes 
filles.     In-12,  56  p.     Paris,  Colin  et  Ce. 

Morlet  et  Eichardot.  Cours  de  langue  frangaise  ä  l'usage  des  ecoles  pri- 
maires (prograrames  officiels  de  1882),  d'apres  une  nouvelle  methode, 
accompagne  de  nombreux  exercices.  Cours  preparatoire.  3^  edition. 
In-lS  Jesus,  108  p.  avec  vign.     Paris,  Delagrave. 

Peters,  J.  B.  Elementarbuch  der  französischen  Sprache.  Leipzig,  Neu- 
manns Verlag.     Preis  2  Mk. 

—  Lehrbuch  der  französischen  Sprache.  I.  Elementarbuch.  gr.  8°.  L., 
A.  Neumann's  Verl.  Den  2.  Tl.  bildet  Französ.  Schulgrammatik,  den 
8.  (Schluss-)  Tl.  Uebungsbuch  zur  franz.  Schulgrammatik. 

Ploetz  Gust.,  u.  0.  Kares,  kurzer  Lehrgang  der  französischen  Sprache. 
Elementarbuch.  Verf.  v.  G.  P.  Ausg.  B.  f.  Gymnasien  u.  Real- 
gymnasien,    gr.  8«.  fXVI,  228  S.)  B.,  F.  A.  Herbig.     1,70. 

Ploetz-Kares,  kurzer  Lehrgang  der  französischen  Sprache.  Uebungsbuch. 
Verf.  V.  Dr.  Gust.  Ploetz.  2.  Hft.  Syntax.  (Wortstellung  u.  Verbum.) 
2.  Aufl.  gr.  8«.  (Vni,  88  S.)  B..  F.  A.  Herbig.     0,90. 

Ploetz,  Prof.  Dr.  Karl,  conjugaison  francaise.  Anh.  2.  Aufl.  8».  (20  S.) 
B.,  F.  A.  Herbig.     0.15. 

Rauschmeier,  Ant.,  französisches  Vokabularium  auf  etymologischer  Grund- 
lage m.  e.  Anh.  f.  Mittelschulen  u.  zum  Privatgebrauch,  gr.  8".  (V, 
110  S.)     München,  R.  Oldenbourg,  Abteiig.  f.  Schulbücher.     1,20. 

Ricken,  'Dr.  Willi.,  neues  Elementarbuch  der  französischen  Sprache  f.  Gym- 
nasien u.  Realgymnasien,     gr.  8°.  (V,  141  S.)  B.,  W.  Gronau.     1,80  Mk. 

Roger,  L.  Petits  exercices  de  composition  francjaise  (classes  de  sixieme 
et  de  cinquieme,  prugramme  du  15.  juin  1891).  In-8'',  188  p.  Paris, 
May  et  Motteroz.     Bibliotheque  de  l'engeignement  secondaire  moderne. 

Schoefer ,  Curt ,  kleinere  französische  Schulgrammatik  f.  die  Oberstufe. 
2.  Tl.    rebungsbuch.    gr.  8°.    (282  S.)  B.,  Winckelmann  &  Söhne.  2,40. 

Sommer,  E.,  et  P.  Herndndez.  Ccmpendio  de  gramätica  francesa.  In-16, 
III-148  pages.  Paris,  Hachette  et  Ce.  1  fr.  50.  Metodo  uniforme 
para  la  ensejianza  de  las  lenguas.] 

Strassberger,  A.,  französische  Sprachschule  zum  Gebrauche  f.  Handels-  u. 
gewerbliche  Fachschulen,  sowie  zum  Selbstunterrichte.  2.  Jahreskurs, 
gr.  8°.     (IV,  108  S.)  Frankenberg  i/S.,  C.  G.  Rossberg.    Kart,  [k)  1,20. 

Strien,  G.,  Elementarbuch  der  französischen  Sprache.  2.  Aufl.  gr.  8°. 
(IV,  98  S.)  Halle  a,S.,  E.  Strien.     Geb.  in  Leinw.   1,— 

—  dasselbe.  Ausg.  B.  Für  Gymnasien  und  Realgymnasien,  gr.  8°.  (IV, 
113  S.)  Ebd.     Geb.  in  Leinw.   1,20. 

Ulrich,  Wilh.,  Sammlung  v.  Abkürzungeu  in  der  englischen,  französischen, 
italienischen  u.  holländischen  Geschäfts-  u.  Gerichtssprache,  e.  unent- 
behrliches Hilfsbuch  f.  fremdsprachl.  Verkehr.  8".  (lU,  35  S.)  Halle  a  S., 
G.  Schwetschke.     0,80. 


72  Novitätenverzeichnis. 

TJlhrich,   0.,   Vorstufe   zum   Eleraentarbucl;   der   französischen  Sprache   f. 

höhere  Lehranstalten,     gr.  8°.  (IV,  79  S.)  B.,  R.  Gaertner.    Kart.  0,80. 
Vogel,  Chr..  manuel  de  conjugaison  des  verbes  irreguliers  fran^ais.     2.  ed. 

gr.  8«.  (72  S.)  L.,  G.  A.  Gloeckner.     1  Mk. 


Ädamek,  Dr.  Otto,  die  pädagogische  Vorbildung  f.  das  Lehramt  an  der 
Mittelschule,     gr.  8°.  (71  S.)  Graz,  Leuschner  &  Lubensky.     1,50. 

Choiral,  F.  La  Phonograi)hie.  Methode  phono-synthetique  de  lecture, 
d'ecriture  et  d'orthographe,  ä  l'usage  des  ecoles  maternelles  et  des 
classes  elementaires.  Premier  livret.  (Orthographe  phonique.)  ln-18, 
IV-76  p.     Paris,  Dentu.     1891. 

Carles,  C.  Une  reforme  scolaire  au  XVIII  e  siecle.  In-8°,  26  p.  Caen, 
Delesques.  [Extrait  des  Memoires  de  TAcademie  des  sciences,  arts  et 
belles-lettres  de  Caen.] 

Klinghardt,  H.,  drei  weitere  Jahre  Erfahrungen  m.  der  imitativen  Me- 
thode (Obertertia  bis  Obersecunda).  Ein  Bericht  aus  der  Praxis  d. 
neusprachl.  Unterrichts,  gr.  8°.  (IX,  162  S.)  Marburg  i'H.,  N.  G. 
Ehverts  Verl.     2,50. 

Ohlert,  Oberlehr.  Arnold,  der  Unterricht  im  Französischen.  Eine  Darstellg. 
d.  Lehrganges.     2.  Aufl.  gr.  8°.  (24  S.)  Hannover,  C.  Meyer.     0,40. 

Bamheau,  A.,  Die  offiziellen  Anforderungen  in  Bezug  auf  die  Sprech- 
fertigkeit der  Lehrer  der  neueren  Sprachen  und  die  realen  Verhältnisse. 
[In:  Phonet.  Studien  IV,  S.  63—81.] 

Eegitubeau,  P.  Nouvelle  methode  simplifiant  Penseignement  de  la  lectui'e 
par  la  decomposition  du  langage  en  sons  purs  et  en  sons  articules. 
Tableau  in-f",  1  ä  38.     Paris,  Hachette  et  C<?. 

Bobineaii,  D.  Les  Classes  de  frangais  dans  l'enseignement  moderne.  Me- 
thode nouvelle,  accompagnee  d'exercices  nombreux  sur  les  racines,  de 
finitions,  significations  des  mots,  metaphores,  synonimes,  et  sur  les  ex- 
plications  d'auteurs,  ouvrage  conforme  aux  derniers  programmes.  ä 
l'usage  special  des  classes  de  sixieme,  cinquieme  et  quatrieme  de  l'en- 
seignement miiderne.    In-16,  XII-188  p.    Paris,  Delalain  freres.    1  fr.  50. 

Schüler.  Methode  Schüler.  Enseignement  simultane  de  la  lecture  et  de 
l'ecriture.  Livre  de  l'eleve.  (Deuxieme  partie.)  In-8°,  32  p.  Paris, 
Hachette  et  Ce .     30  cent. 

Soltmami,  Dr.  Herrn.  C,  das  propädeutische  Halbjahr  d.  französischen 
Unterrichts  in  der  höheren  Mädchenschule,  gr.  8°.  (VIII,  92  S.) 
Bremen,  J.  Kühtmann.     1,50. 

Steuenrcdd,  Gymn.-Prof.  Dr.  Wilh.,  Uebersetzung  der  Absolutorialaufgaben 
aus  der  französischen  u.  englischen  Sprache  an  den  humanistischen 
Gymnasien,  Realgymnasien  u.  Realschulen  Bayerns.  12".  136  S.  St., 
J.  Roth.     1,20. 

Taülefcr,  A.  La  Langne  franqaise  enseignee  par  la  ]>arole,  d'apres  la 
methode  de  M.  Carre,  ini^pecteur  general  honoraire.  Exercices  intuitifs 
destines  aux  commeni^ants.  In-8'',  108  p.  Perpignan,  imp.  Latrobe. 
[Extrait  du  Bulletin  de  Tenseignemont  primaire  des  Pyrenees-Orientale.s.] 

Thomas,  Emil,  die  praktische  Erlernung  moderner  Sprachen  m.  l)CSond. 
Beriicksicht.   der  Hilfsmittel,     gr.   8°.   (52  S.)  L.,  C.  F.  Müller.     1  Mk. 

Wirth,  Ch.,  zu  den  36  Gründen  gegen  das  deutsch-fremdsprachliche  Ueber- 
setzen  an  humanistischen  Gymnasien.  Widerlegung  der  Einwände  Chr. 
Muffs,  F.  Charitius  u.  J.  Rappolds.  gr.  8°.  (49  S.)  Bayreuth,  H.  Heusch- 
mann.     1.20. 

Zergiebcl.  E.  H.,  Grammatik  und  natürliche  Spracherlernung.  [In  Phi^net. 
Stud.  S.  82—105.] 


Novitätenverzeichnis.  73 

Albert,  M.  La  Litterature  frangaise  sous  la  Revolution,  l'Erapire  et  la 
Restauration  (1789—1830).  (Mirabeau,  Camille  Desmoulins.  Mme  Ro- 
land, Andre  Chenier,  Chateaubriand,  M^ie  de  Stael,  Classiques  et  Ro- 
uiantiques,  Lamartine,  Victor  Hugo,  A.  de  Vigny,  Augustin  Thierry, 
Thiers,  Casimir  Delavigne,  A.  Dumas,  A.  de  Musset.)  3e  edition. 
In-18  Jesus,  362  p.  Lecene,  Oudin  et  Ce.  3  fr.  50.  [Nouvelle  Biblio- 
theque  litteraire.] 

Äuhert,  A.  Les  Vauclusiens,  ou  Dictionnaire  biographique  special  au  de- 
partement.  de  Vaucluse.  Supplem.  (1892.)  Avec  la  coUaboration  de 
MM.  G.  Barres.  A.  Coulondres,  A.  Deloye,  A.  Limasset,  A.  Mouzin, 
docteur  C.  Pernod,  H.  de  Pontmartin,  docteur  A.  Villars.  In-16,  VI-264  p. 
Avignon,  Seguin  freres. 

Bapst,  G.  Etüde  sur  les  mysteres  au  moyen  äge.  In-8°,  65  p.  Paris, 
Leroux.     [Extrait  de  la  Revue  archeologique.] 

Boissier,  Gaston.  Madame  de  Sevigne.  Autoris.  m.  erläut.  Anmerkgn. 
verseil,  deutsche  Ausg.  v.  Carl  Seefeld.  Wohlf.  (Titel-)  Ausg.  8°. 
(Vra.  183  S.  m.  Bildnis.)     B.  (1890),  Bibliographisches  Biireau.     1,50. 

Bonnefon,  P.  Montaigne:  l'homme  et  l'oeuvre.  In-4°,  XIII-504  p.  avec  80 
gräv.  et  2  planches.   Bordeaux,  Gounouilhou.   Paris,  Rouam  et  C'e.  15  fr. 

Bourgoin,  A.  Des  representations  theätrales  dans  les  lycees  et  Colleges, 
discours  prononce  ä  la  distribution  solennelle  des  prix  du  lycee  de  la 
Roche- sur -Yon,  le  30  juillet  1892.  In-S».  23  p.  La  Roche- sur -Yon, 
imp.  Ve  Ivonnet  et  fils. 

Carlez,  J.  La  Semiramis  de  Destouches.  In-8°,  26  p.  Caen,  Delesques. 
[Extrait  du  Bulletin  de  la  Societe  des  beaux-arts  de  Caen  (1891).] 

Chniiuet,  A.,  J.  J.  Rousseau.  Paris,  Hachette.  [Les  grands  Ecrivains 
fran(jais.]     2  fr. 

Colomhey,  E.  Ruelles.  Salons  et  Cabarets.  Histoire  anecdotique  de  la 
litterature  fi-anqaise.  2  vol.  In  8°.  T.  1er,  V-302  p.;  t.  2,  383  p. 
Paris,  Dentu.     7  fr. 

Dejoh,  Ch.,  De  l'antipathie  contre  Malherbe,  ä  propos  d'un  livre  recent. 
Paris,  Colin,  31  S.  8°.  [Extrait  de  la  Revue  internationale  de  l'en- 
seignement.] 

Belmont,  Tabbe  T.  Jean-Jacques  Rousseau,  d'apres  les  derniers  travaux 
de  la  critique  et  de  Thistoire.  In -8°,  168  p.  Lion,  Vitte.  [Extrait 
de  rUniversite  catholique,  revue  des  Facultes  cotholiques  de  Lyon.] 

Belpit,  E.  Berangere.  In-18  Jesus.  369  pages.  Paris,  C.  Levy;  Librairie 
nouvelle.     3  fr.  50. 

Deniflc.  H.  Les  üniversites  frangaises.  Avec  des  documents  inedits. 
In-80,  103  p.     Paris,  Bouillon. 

Borison.  Alfred  de  Vigny,  poete  philosophe.  In-8°,  352  pages.  Paris, 
Colin  et  Ce. 

Bespierres,  M^e  G.  Le  Theätre  et  les  Comediens  ä  Alen^on  au  XVI e 
et  au  XVII«"  siecle;  par  M™e  Gerasime  Despierres,  membre  correspon- 
dant  du  comite  des  societes  des  beaux-arts  ä  Alencon.  In-S»,  15  p. 
et  plan.     Paris,  imprim.  Plön,  Nourrit  et  C«.  (30  decembre  1892.) 

Bühring,  Eng.,  die  Grössen  der  modernen  Litteratur,  populär  u.  kritisch 
nach  neuen  Gesichtspunkten  dargestellt.  1.  Abth.  Einleitung  üb.  alles 
Vornehme.  Wiederaulfrischung  Shakespeares.  Voltaire.  Goethe.  Bürger. 
Geistige  Lage  im  18.  Jahrh.   gr.  8.  (XI,  288  S.)  L.,  C.  G.  Naumann.   6  Mk, 

Ellingcr,  J.,  Andre  Cheniers  Gedichte,  ein  Bild  seines  Leidens.  Progr. 
Troppau.     20  S.     8». 

Erdmann,  Hugo,  Molieres  Psyche,  Tragedie-Ballet  im  Vergleich  zu  den 
ihr  vorangehenden  Bearbeitungen  der  Psyche-Sage.     Ein  Versuch,   die 


74  Novitätenverzeichnis. 

Quellen  d.  französ.  Werkes  festzustellen.    Diss.     gr.  8°.  (42  S.)    Inster- 

burg.  (Königsberg  i.  Pr.,  W.  Koch.)     1  Mk. 
Flach,   J.     Les    Origines    de    Tancienne   France.      „X^    et   XI e    siecles." 

II:    les   Origines   communales ;   la   Feodalite   et   la   Chevalerie.     In-8°, 

588  p.     Paris,  Larose  et  Forcel.     10  fr. 
Fontaine:    La  Cc-nsure  dramatique  sous  l'ancien  regime,  discours  prononce 

ä  la  seance  solenneile  de  rentree  des  Facultes  de  Lyon,  le  4  novembre 

1891.     In-8",  19  p.     Lyon,  imp.  Eey. 
Franklin,  A.     La  Vie  privee  d'autrefois.     Arts  et  Metiers,  Modes,  Moeurs, 

üsages  des  Parisiens  du  Xlle  au  XVIIIe  siecle,  d'apres  des  documents 

originaux   ou   inedits.      „Les   Chirurgiens."      In-18   Jesus,    XII-304  p. 

Paris,  imprimerie  et  librairie  Plön,  Nourrit  et  Ce . 
Gautier,  J.  de.     Le  Bovarisme.     La  Psychologie  dans  l'ceuvre  de  Flaubert. 

In-80,  64  p.     Paris,  lib.  Cerf.     1fr.  50. 
—  Leon,  Les  epopees  francaises.     Etudes  sur  les  origines  et  l'histoire  de 

la  literature  nationale.     IL     2e  ed.     Paris,  Welter.     416  S.     8°. 
Ginisty.  P.     L'Annee  litteraire;  par  Paul  Ginisty.     Avec  une  preface  par 

Anatole  France.  (7e  annee.  1891.)    In-18  Jesus,  X-364  pages.     Lagny, 

imprira.    Colin.     Paris,    librairie   Oharpentier   et  Fasquelle.     3   fr.   50. 

[Bibliotheque  Charpentier.] 
Grandvalet,  V.     Historique   du   theätro   de   Reims,   precede   d'un   souvenir 

retrospectif  sur  la  salle  de  la  rue  de  Talleyrand.     In-16,  75  p.  et  plan- 

ches.     Reims,  Grandvalet  fils. 
Hartmann,  G.,  Merope  im  italienischen  und  französischen  Drama.     Hab. 

München  82.     86  S.     8°. 
Beriet,  Br.,  Beiträge  zur  Geschichte  der  äsopischen  Fabel  im  Mittelalter. 

Progr.  Bamberg.     113  S.     8°. 
Histoire  litteraire  de  la  France.     Ouvrage  commence  par  des   Religieux 

benedictins   de   la   congregation   de   Saint -Maur   et   continue   par   des 

membres  de  l'Institut  (Academie  des  inscriptions  et  belles-lettres).     T. 

16:  Xllle  siecle.     In-4o,  XLVin-616  p.     Paris,  lib.  Palme. 
Hoeppner,  A.  B.,  Arthurs  Gestalt  in  der  Litteratur  Englands  im  Mittel- 
alter.    Diss.     Leipzig  92.     66  S.     8". 
Hrddek,  J.,  Emil  Augie  a  jeho  dramata.     Pr.  Prossnitz  92.     27  S.     8°. 
Jensen,  H.  Gurt.,  Die  Miracles  de  Nostrc  Dame  par  personnages  untersucht 

in  ihrem  Verhältniss  zu  Gautier  de  Coiney.    Heidelberger  Diss.   89  S.   8". 
Johannes,  W.,  Cliristophorus    Kormart   als   Uebersetzer    französischer   und 

holländischer  Dramen.     Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Litteratur  und 

des  Schauspiels  im  XVII.  Jahrhundert.     Diss.     Berlin   92.     74  S.     8°. 
Kinne,  C.  H.,  Formulas  in  the  language  of  the  french  poet-dramatists,  of 

the  seventeeuth  Century.     Diss.     Strassburg  91.     48  S.     8°. 
Kurth,   G.,   Histoire  poetique  des  Merovingiens.     Paris,   A.  Picard  &  fils 

552  S.     80.     fr.  10. 
Laeger,  0.,  Die  Lebensbeschreibung  des  hl.  Leudegar.     Progr.  Xordhausen. 

28  S.     40. 
Larrotimet,    G.     La    Comedie    de   Moliere.     L'Auteur    et    le    Milieu;    par 

Gustave  Larroumet,  de  Tinstitut.     4«  edition.     In-16,  M;-40B  p.     Paris, 

Hachette  et  ۥ?.     3  fr.  50.     [Bibliotheque  varifee.] 
Legrand,   J.      Histoire    de    la    litterature    fran^aise    depuis    ses    origines 

jusqu'ä  la  mort  de  Henri  IV.     (Programme  de  la  classe  de  troisieme.) 

In-18  Jesus,  IV-192  p. 
Leroyer  de  Chantepie.     Souvenirs  et  Impressions  litteraires.     In-18  jfesus, 

283  p.     Paris,  Perrin  et  Ce. 


Novvtätenverzeichnis.  75 

Loth,  J.     Des  nouvelles  theories  sur  Torigme  des  romans  arthuriens;  par 

J.  Loth.     lü-S",  31  pages.     [Extrait  de  la  Revue  celtique.] 
Millet,  E.     Les  Grands  Ecrivains   fran^ais.     , Rabelais" ;  par  Rene  Millet 

In-16,  208  p.  et  portrait.     Paris,  Haehette  et  Ce.     2  fr. 
Morillot,  P.     Le  Roman  en  France  depuis  1610  jusqu'ä  nos  jours.     Lec- 

tures  et  Esquisses.     In-16,  XI-612  p.     Paris,  G.  Massen. 
Nadaud,  G.     La  Chanson  depuis  Beranger.     In-16,  44  p.     Paris,  16,  rue 

Herold;  63,  rue  de  Passy.     [Tire  ä   100  exemplaires.     N'est  pas  mis 

dans  le  commerce.] 
Neubmir,  Dr.  L.,   die  Sage  vom  ewigen  Juden.     Untersucht  v.  L.  N.     2., 

durch  neue  Mitteilgn.  verm.  Ausg.     gr.  8".   (VI,  132  u.  III,  24  S.)  L., 

J.  C.  Hinrichs'  Verl.     3,— ;  neue  Mitteilgn.  allein  i^III,  24  S.)  —,60. 
Ferrin.     La  Culture  des  lettres  et  les  Etablissements  d'instruction  ä  Lyon 

de  l'ere  chretienne  ä  la  Revolution,  discours  de  reception  prononce  par 

M.  Perrin.   ä  l'Academie  des   sciences,  belles-lettres  et  arts  de  Lyon, 

le  24  mai  1892.     In-8°,  63  jiages.     Lyon,  imp.  Rey. 
Puiseux,   l'abbe  G.     Le  Theätre   du  College  de  Chälons   au  XVIIe  siecle, 

lu    ä   la   seance   publique    annuelle    de    la   Societe    academique   de   la 

Marne,  le  19  aoüt  1891.     In-8°,  14  p.     Chälons,  imp.  Martin  freres. 
Reyssie,  F.     La  Jeunesse  de  Lamartine,  d'apres  des  documents  nouveaux 

et  des  lettres  inedites.     In-16,  XII-386  pages.     Paris,  Haehette  et  C«. 

3  fr.  50. 
Boche,  A.     Histoire  des  principaux  ecrivains  frangais   depuis  l'origine  de 

la  iitterature  jusqu'ä  nos  jours.     9^  edition,  augmentee  de  la  biographie 

de  Chateaubriand  et  de  M^e  de  Stael.     2  vol.     In-18  Jesus.     T.  1er, 

446  p.;  t.  2,  432  p.     Paris,  Delagrave. 
Boosecelt.  B.,    Victorien   Sardou,   Poet,   Author   and  Member   of  the  Aca- 

demy  of  France.     London,  1892.     154  S.     12». 
Bouviere,  l'abbe.     La  Renaissance  languedocienne  dans  les  Cevennes,  mise 

en  regard  du  Felibrige.     In-8°,  53  p.     Alais,  impr.  Brugueirolle. 
Savigny  de  Moncorps,  de,    A  propos  de  l'Almanach  Dauphin  1782.    In-8'', 

27  p.     Chäteaudun,  imprimerie  Pigelet. 
Taine,  H.    Essais  de  critique  et  d'histoire.     6e  edition.     In-16,  XXXI-492 

pages.     Coulommiers,  imprim.  Brodard.     Paris,  Haehette  et  Ce.     3  fr. 

50.     [Bibliotheque  variee.] 
Thormann,  Franz,   Thierri   von  Vaucouleurs   Johannes  Legende.     Dissert. 

der  ünivers.   Bern.     Darmstadt,   G.   Otto's  Verl. -Buchdruckerei.     1892. 
Tougard,  l'abbe  A.     La  Defense  des  fables  par  P.  Corneille.     Son  edition 

de  1671,   et  la  „Reponse"   ä   cette  edition,   jiar  M.  l'abbe  A  Tougard. 

In-8°,  20  p.     Paris,  Techener.     [Extrait  du  Bulletin  du  bibliophile.] 
Uzanne,  0.     Une   curiosite  litteraire.     Excursion  ä   travers  un  manuscrit 

inedit  de  Victor  Hugo.     Les  Propos  de  table  du  poete  en  exil.     In-S", 

63  pages  avec  gravures.     Paris,  7,  rue  Saint-Benoit. 
—  La  Fran^aise  du  siecle.     ,La  femme   et  la  mode."     Metamorphoses  de 

la  Parisienne  de    1792  ä   1892.     Tableaux  des  moeurs  et  usages  aux 

principales   epoques   de   notre   ere   republicaine.     Edition   illustree   de 

plus   de   160  dessins  inedits  par  A.  Lynch  et  E.  Mas.     Frontispice  en 

Couleurs  de  Felicien  Rops.     Couverture  de  Louis  Morin.     In-4'',  VIII- 

251  pages.     Paris,  May  et  Motteroz.     15.  fr. 
Vincens,   C.    Discours   prononce   ä   l'inauguration   du   monument   erige   ä 
.  Lamartine.     In-8",  5  pages.     Marseille,  imp.  Barlatier  et  Barthelet. 


Anseis  von  Karthago,  herausgegeb.  von  Johann  Alton.     Gedruckt  für  den 
litterarischen  Verein  in  Stuttgart.     Tübingen  1892.     606  S.     8^. 


76  Novitätenverzeichnis. 

Le  Chansonnier  frangais  de  St.- Germain  des  Pres  (Bibl.  Nat.  Fr.  20050). 
Reproduction  phototypique  avec  transcription  par  P.  Meyer  et  G.  Ray- 
naud.    Tome  I.     Fr.  40. 

Extraits  des  chroniqueurs  frangais  (Villehardouin,  Joinville,  Froissart, 
Coramines),  publies  avec  des  notices,  des  notes,  un  appendice,  un 
glossaire  des  termes  techniques  et  une  carte ,  par  Gaston  Paris  et 
A.  Jeanroy.     Petit  in-16,  111-485  p.     Paris,  Hacbette  et  Ce.    2  fr.  50. 

Foerster,  W.,  Die  Appendix-Probi.  Mit  einer  Lichtdrucktafel.  Wien  1893. 
46  S.     8°.     [Separat-Abdruck  aus  den  «Wienerstudien"   1892.] 

—  Das  Frankfurter  Bruchstück  einer  altfranzösischen  Liederliandschrift. 
—  Zur  Vermählunsfsfeier  Salvioni-Taveggia.  16  S.  8°.  [In  60  Ab- 
zügen gedruckt.    Üniversitäts-Buchdruckerei  von  Carl  Georgi  in  Bonn.] 

Grands,  les,  Historiens  du  raoyen  äge.  Notices  et  Extraits  d'apres  les 
meilleurs  textes,  avec  des  notes  gramniaticales,  historiques  et  explicatives, 
et  un  glossaire  detaille  par  L.  Constans.  2e  edition.  In -18  j6sus, 
XXXVI-208  pages.     Paris,  Delagrave. 

Huon  deVilleneuve.  Les  Quatre  Fils  Aynion;  par  Huon  de  Villeneuve. 
In-8°,  36  pages.     Paris,  Gautier. 

Lettres  originales  du  XIV^  siede  conservees  ä  la  bibliotheque  de  Saint- 
Marc,  ä  Venise,  publiees  par  H.  Oniont.  In-8''.  6  p.  [Extrait  de  la 
Bibliotheque  de  l'Ecole  de  cliartes  (t.  53,  1892).] 

Quinte-  Cur  ce.  Histoire  d' Alexandre.  Traduction  frangaise  par  Pascal 
Allain,  professeur.     In-18,  412  p.     Paris,  Delalain  freres.     2  fr.  50. 

Schultz,  Ose,  die  Briete  d.  Trobadors  Raimbaut  de  Vaqueiras  an  Bonifaz  I, 
Markgrafen  v.  Montferrat.  Zum  ersten  Male  kritisch  hrsg..  nebst  2 
Karten  u.  e.  Beilage  üb.  die  Markgrafen  v.  Montferrat  u.  die  Mark- 
grafen Malaspina  in  ihren  Beziehgn.  zu  den  Trobadors.  gr.  8.  (IX, 
140  S.)  Halle  a.  S.,  M.  Niemeyer.     4  Mk. 

Van  Hamel,  A.  G.  Les  Lamentations  de  Matheolus  et  le  Livre  de  Leesee 
de  Jehan  Le  Fevre  de  Resson  (poemes  fran(;ais  du  XlVe  siecle).  Edi- 
tion critique,  acconipagnee  de  l'original  latin  des  Lamentations,  d'apres 
l'unique  manuscrit  d'Utrecht,  d'nne  iutroduction  et  de  deux  glossaires, 
T.  ler.  (Textes  fran(;-ais  et  latin  des  Lamentations.)  In-8",  XXV-324 
pages.  Paris,  Bouillon.  [Forme  le  95?  fascicule  de  la  Bibliotheque  de 
l'Ecole  des  hautes  etudes.] 

Viandier,  le,  de  Guillaume  Tirel  dit  Taillerent  .  .  .  publie  sur  le  ms.  de 
la  Bibl.  Nationale ,  avec  les  variantes  des  mss.  de  la  Bil)liotheque 
Mazarine  et  des  Archives  da  la  Manche  precede  d'une  introduction  et 
accompagne  de  notes ;  par  le  Baron  Jerome  Pichon  et  Georges  Vicaire. 
Paris,  Techener.     LXVIII,  178  S.     8o. 

WaMund,  C.  Till  Kviuans  lof.  Ölversättningsfragment  af  TEvangile  des 
Femmes ,  en  fornfransk  dikt  irän  sista  tredjedelen  af  elfvalnmdratalet 
Med  teckningar  af  Agi.     T^psala,  Aliiiqvi-t  &  Wiksell.     12  S.     8*. 


Atny.   V.   du   Cid   ä   Claveret.     Petir   in-4°,   8  p.     Ronen ,   imp.  Cagniard. 

[Publication  de  la  Societe  des  bibliophiles  normands.] 
Apologie  pour   monsienr  Mairet.   contre   les  calomnies  du  sieur  Corneille, 

de  Ronen.     Petit  in-4°.  32  p.     Kouen,  imp.  Cagniard.     [Publication  de 

la  Societe  des  bibliophiles  normands.] 
Aubigne,   T.   A.  d'.     (Euvres   completes  de  Theodore-Agrippa   d'Aubign^, 

publiees   pour   la  premiere  fois   d'apres   les   manuscrits  originaux.   par 

MM.    Eug.    Reaume    et    de   Caussade.     Accompagnees   de   notices   bio- 


NovüätenverzeicJmis.  77 

graphique,   litteraire  et  bibliographicjue,   de   notes  et  variantes,   d'uiie 

table  de  noiiis  propres  et  d'un  glossaire,  par  A.   Legouez.     T.  6  (et 

dernier).     (Table  des  noras  de  personnes,  Glossaire.) 
Aubigne,  T.  A.  iV.    Histoire  universelle.    Edition  publiee  ponr  la  Societe  de 

l'histoire  de  France  par  le  baren  Alphonse  de  Ruble.    T.  6;  1579-1585. 

In-8°,  385  p.     Paris,  librairie  Laurens.     9  fr. 
Banville,  T.     (Euvres  de  Theodore  de  Banville.   Comedies  (Diane  au  bois; 

le  Beau  Leandre;    Florise,    la  Pomme;    Deidamia;  les  Fourberies  de 

Nerine).     Petit  in-12,  III-382  p.     Paris,  Lemerre. 
Boüeau.   (Euvres  poetiques  de  Boileau.   Precedees  d'une  notice  biographique 

et   litteraire   et   accompagnees   de  notes  par  E.  Geruzez.     Petit  in-16, 

XXXV- 414  p.     Paris,  Hacbette  et  Ce.     1  fr.  50. 
Bossuet.    Piscours  sur  rhistorie  universelle.    Publie  avec  la  Chronologie  des 

Benedictins   et   celle   de   Bossuet   par   A.    Olleris.     In-16,  VIII-Ö19  p. 

Paris,  Hacbette  et  Ce.     [Classiques  frangais]. 
Chateaubriand.    Atala.    Illustrations  de  Gambard,  Marold  et  Rossi.    In-32, 

III- 176  p.     Paris,  Dentu.     2  fr. 

—  Rene.  In-16,  96  p.  avec  grav.  Paris,  Libr.  illustree.  50  cent.  Chefs- 
d'cEuvre  du  siecle  illustres,  n°  17. 

Condorcet.  Esquisse  d'un  tableau  bistorique  des  progres  de  l'esprit  bumain 
T.  ler.  Iii-32,  192  p.  Paris,  Berthier.  25  cent.  [Bibliotbeque  na- 
tionale.] 

Corneille,  P.  Polyeucte.  Tragedie.  With  introduction  and  notes  by 
E.  G.  W.  Braunholtz.     Cambridge.     XV,  184  S.     8". 

Defaicie,  la,  des  Flamens  devant  la  ville  et  le  cbasteau  de  Cherbourg, 
publiee  par  le  baron  d'Esneval.  Petit  in-4°,  8  p.  Reuen,  imp.  Cagniard. 
[Publication  de  la  Societe  des  bibliophiles  normands.] 

Diderot.  Extraits  de  Diderot.  Avec  des  notes  et  une  etude  par  C.  Jac- 
quinet.     In-18  Jesus,  XXTII-542  p.     Paris,  Garnier  freres. 

—  La  Eeligieuse.  Illustrations  de  Marold  et  Mittis.  In-32,  341  p.  Paris, 
Dentu.     2  fr. 

Dumas,  A.  Theätre  complet.  Avec  notes  inedites.  T.  7.  (La  Princesse 
de  Bagdad;  Denise;  Francillon.)  In-18  Jesus,  435  p.  Paris,  C.  Levy. 
3  fr.  50. 

Florian.  Fables  de  Florian.  Precedees  d'une  etude  sur  la  fable,  suivies 
de  Ruth  et  de  Tobie,  et  accompagnees  de  notes,  par  E.  Geruzez. 
Petit  in-16,  XVI-140  p.  avec  grav.     Paris,  Hacbette  et  Ce.     75  cent. 

Harangue  faite  en  la  presence  du  roy  de  la  Grande-Bretagne  ä  Pontau- 
demer,  publiee  avec  une  introduction  par  Gustave-A.  Prevost.  Petit  in- 
4°,  VI-9  p.  Ronen,  imp.  Cagniard.  [Publication  de  la  Societe  des  bi- 
bliophiles normands.] 

Hugo,  V.  (Euvres  poetiques  de  Victor  Hugo.  „La  Legende  des  siecles." 
T.  3.  In-32,  351  pages  et  2  dessins  de  Laurent-Desrousseaux,  graves 
ä  l'eau-forte  par  F.  Desmoulins.     Paris,  Cbarpentier  et  Fasquelle.     4  fr. 

—  Der  Glöckner  v.  Notre-Dame.  Roman.  Neu  u.  vollständig  übertr.  v. 
Paul  Heichen.  2  Bde.  8°.  (IV,  676  S.  m.  1  Bildnis.)  B.,  Gergonne 
&  Co.     4  Mk. 

La  Fontaine.  Fables  de  La  Fontaine.  Precedees  d'une  notice  biographique 
et  litteraire  et  accompagnees  de  notes  revues  et  completees,  d'apres 
l'edition  d'E.  Geruzez,  par  M.  E  Thirion.  Petit  in-16,  415  pagos. 
Paris,  Hacbette  et  C«.     1  fr.  60.     [Classiques  frangais.] 

Lamartine,  A.  de.  (Euvres  d'A.  de  Lamartine.  „Grazieila. "  In-16,  191  p. 
Paris,  Hachette  et  Ce;  Jouvet  et  Ce.     1  fr.  25. 

La  Bochefoucauld.    Maximes  et  Reflexiones  morales  de  la  Rochefoucauld. 


78  Novitätenverzeichnis. 

Precedees   d'une   etude   par   Emile   Deschanel.     In-32,    192   p.     Paris, 
Berthier.     25  cent.     [Bibliotheque  nationale.] 
Lettre  ä  ***  sous  le  nom  d'Ariste.     Petit  in-4'',  8  p.     Rouen,  imp.  Cagniard. 
[Publication  de  la  Societe  des  bibliophiles  norraands.] 

—  du  des-interesse  au  sieur  Mairet.  Petit  in-4",  3  p.  Eouen,  imp.  Ca- 
gniard.    [Publication  de  la  Societe  des  bibliophiles  norniands.] 

—  d'un  grenadier  du  regiment  de  Normandie  sur  la  prise  de  Berg-op- 
Zoom,  publiee  par  M.  Tony  Genty.  Petit  in-4'',  VIII-4  pages.  Rouen. 
imprira.  Cagniard.    [Publication  de  la  Societe  des  bibliophiles  normands.] 

Lettres  k  Lamartine  (1818-1865),  publiees  par  Mme  Valentine  de  Lamartine. 
In-18  Jesus,  III-328  pages.     Paris,  C.  Levy. 

Lettres  des  Benedictines  de  la  congregation  de  St.  Maur.  1652 — 1700. 
Publiees  d'apres  les  originaux  conserves  ä  la  bibliotheque  royale  de 
Copenhague  par  Emile  Gigas.     Kopenhagen,  Gad.     VIT,  380  S.     8°. 

Malebranche.  Une  lettre  inedite  de  Malebranche,  par  Alexandre  Pivert. 
In-8°,  18  pages.  Paris  et  Lyon,  Delhomme  et  Briguet.  [Extrait  de 
la  Science  catholique.] 

Moliere.  Melicerte,  coraedie  en  deux  actes,  suivie  de  la  Pastorale  comique. 
Avec  une  notice  et  des  notes  par  G.  Monval.  In-16,  VII-öO  p.  et 
dessin  de  L.  Leloir,  grave  ä  l'eau-fortc  par  Champollion.  Paris,  Flam- 
marion.    4  fr.  50. 

—  Le  Sicilien,  ou  l'Amour  peintre,  comedie  en  un  acte.  Avec  une  notice 
et  des  notes  par  Georges  Monval.  Dessin  de  L.  Leloir,  grave  ä  Toau- 
forte  par  Champollion.  In-16,  XI-52  p.  Paris,  Lib.  des  bibliophiles. 
4  fr.  50. 

—  (Euvres  de  Moliere.  Illustrations  par  Maurice  Leloir.  Notices  par  A. 
de  Montaiglon.     „George  Dandiu."     In-4<',  XII-146  p.     Paris,  Testard. 

Möllere's  Meistericerke.     In   deutscher  Uebertrags;.   v.   Ludw.  Fulda.     8''. 

(290  S.)  St.,  J.  G.  Cotta  Nachf.     5  Mk. 
Montesquieu.     Melanges  inedits  de  Montesquieu,  publies  par  le  baron  de 

Montesquieu.      In -4",   LVIII-303   p.     Bordeaux,   Gounouilhou.     Paris, 

Rouam  et  C^ . 

—  Considerations  sur  les  causes  de  la  grandeur  des  Romains  et  de  Ic-ur 
decadencc.  5e  edition.  In-32,  186  pages.  Paris,  Berthier.  [Biblio- 
theque nationale.] 

—  Lettres  pcrsancs.  T.  2.  In-32,  192  p.  Paris,  Berthier.  25  cent. 
[Bibliotheque  nationale.] 

—  Considerations  sur  les  causes  de  la  grandeur  des  Romains  et  de  leur 
decadence.  Nouvelle  edition,  precedee  d'une  notice  sur  Montesquieu  et 
scs  Oeuvres,  et  d'une  etude  sur  les  Considerations,  accompagnee  de 
notes  sur  l'histoire  et  les  institutions  romaines  et  la  langue  de  Mon- 
tesquieu, par  M.  l'abbe  C.  Blanchct.     In-18  Jesus,  XXX-242. 

—  (Euvres  completes  de  Montesquieu.  T.  ler.  In-16,  Vni-412  pages. 
Paris,  Hachette  et  Ce.    1  fr.  25.     [Lex  Principaux  Ecrivains  fran^ais.] 

Musset,  A.  de.  (Euvres.  T.  7:  Nouvelles.  (Emmeline;  les  Deux  Mai- 
tresses;  Frederic  et  Bernerette;  le  Fils  du  Titien;  Margot.)  In-4°, 
459  p.     Paris,  Lemerre.     25  fr. 

Pascal.  Pensees  de  Pascal  sur  la  religion  et  sur  quelques  autres  sujets. 
Nouvelle  edition,  conforme  au  veritable  texte  de  Tauteur  et  contenant 
les  additions  de  Port-Royal,  indiquees  par  des  chrochets.  In-18  Jesus, 
504  p.     Paris,  Garnier  freres. 

Bacine,  J.  (Euvres  completes.  T.  1er.  In-l(j,  XVIII-463  pages.  Paris, 
Hachette  et  Ce.     1  fr.  25.     [Les  Principaux  Ecrivains  fran^ais.] 


Novitätenverzeichnis.  79 

Saint-Pierre,  B.  de.  (Euvres  choisies.  lUustrees  de  12  vign.,  dessinees 
sur  bois  par  Emile  Bayard.  Paul  et  Virginie;  l'Arcadie;  la  Chaumiere 
indienne;  la  Pierre  d' Abraham.  Nouvelle  edition.  In-16,  VIII-427  p. 
Paris,  Hachette  et  C^.     2  fr.     [Bibliotheque  rose  illustree.] 

—  Paul  et  Virgine.  In-32,  181  p.  Paris,  lib.  de  la  Bibliotheque  natio- 
nale.    25  cent.     [Bibliotheque  nationale.] 

Saint-Simon,  de.  Memoires.  Nouvelle  edition,  collationnee  sur  le  manuscrit 
autographe,  augmentee  des  additions  de  Saint-Simon  au  Journal  de 
Dangeau  et  de  notes  et  appendices  par  A.  de  Boislisle,  et  suivie  d'un 
lexique  des  mots  et  locutions  reraarquables.  T.  9.  In-8°,  809  p.  Paris, 
Hachette  et  Ce.     7  fr.  50.     [Les  Grands  Ecrivains  de  la  Prange.] 

Sourches,  de.  Memoires  du  marquis  de  Sourches  sur  le  regne  de  Louis  XIV. 
Publies,  d'apres  le  manuscrit  authentique  appartenant  ä  M.  le  duc 
Des  Cars,  par  le  comte  Gabriel- Jules  de  Cosnac  et  Edouard  Pontal. 
T.  12.  fJuillet  1709-decembre  1710.)  In-S«,  431  pages.  Paris,  Ha- 
chette et  Ce.     7  fr.  50. 

Sales,  Saint  F.  de.  (Euvres  de  Saint  Frangois  de  Sales,  eveque  de  Geneve 
et  docteur  de  TEglise.  Edition  complete  d'apres  les  autographes  et  les 
editions  originales,  enrichie  de  nombreuses  pieces  inedites.  T.  ler: 
les  Controverses.  In-S",  CXXXVI-  425  p.  et  pl.  Paris,  Lecoffre.  Lyon, 
Vitte. 

Talleyrand,  Fürst,  Memoiren,  hrsg.  m.  e.  Vorrede  u.  Anmerkgn.  v.  Herzog 
V.  Brogiie.  Deutsche  Orig.-Ausg.  v.  Adf  Ebeling.  4.  u.  5.  (Schluss-) 
Bd.  3.  Taus.  gr.  8».  (288  u.  XXII,  292  S.  m.  3  Bildnissen)  Köln, 
A.  Ahn.     6  Mk. 

Theätre  classique,  contenant:  le  Cid,  Horace,  Cinna,  Polyeucte.  de  P.  Cor- 
neille ;  Britanniens,  Esther,  Athalie,  de  J.  Racine ;  Merope,  de  Voltaire ; 
Misanthrope,  de  Moliere.  Avec  les  prefaces  des  auteurs,  les  examens 
de  Corneille,  les  variantes,  les  principales  imitations  et  un  choix  de 
Dotes.  Nouvelle  edition,  re^^le  sur  les  meilleurs  textes  par  Ad.  Regnier, 
de  l'Institut.  Petit  in-16,  VI-680  p.  Paris,  Hachette  et  Ce.  3  fr. 
[Classiques  franqais.] 

Voltaire.  Candide.  Illustrations  de  Mittis.  In-32,  217  p.  Paris,  Dentu.  2  fr. 

—  Candide,  ou  TOptimisme.  Preface  de  Francisque  Sarcey.  Illustrations 
d'Adrien  Moreau.     In-S",  XVI-180  pages.     Paris,  Boudet. 

—  Candide,  ou  l'Optimisme.  In-32,  160  p.  Paris,  Fayard.  [Petite  Biblio- 
theque universelle.] 

—  Zadig  od.  das  Geschick.  Eine  morgenländ.  Geschichte.  Deutsche 
Einleitg.  u.  Anmerkgn.  v.  Adf.  Ellissen.  (112  S.)  [Universal-Bibliothek 
No.  3012.1 


Al23habet  et  Premier  Livre  de  lecture,  ä  l'usage  des  ecoles  primaires.  In- 
18,  108  pages.     Hachette  et  Ce.     35  cent. 

Auteurs  frangais.  Sammlung  der  besten  AVerke  der  französ.  Unterhaltungs- 
litteratur  m.  deutsch.  Anmerkgn.,  hrsg.  v.  Oberlehrer  Dr.  Rieh.  Moll- 
weide. 4.  Bdchn.  8.  Strassburg  i/E.,  Strassburger  Druckerei  u.  Verlags- 
anstalt.    4.  Emile  Souvestre,  au  coin  du  feu.     123  S.     1  Mk. 

Bauer,  J.,  A.  Englert  u.  Dr.  Th.  Link,  französisches  Lesebuch.  "Wiirter- 
verzeichnis  dazu.  gr.  8°.  (112  S.)  München,  R.  Oldenbourg,  Abteiig. 
f.  Schulbücher.     Mk.  1,50. 

Bauer,  E.,  et  E.  de  Saint-Etienne.  Nouvelles  lectures  litteraires,  avec 
notes  et  notices.  Precedees  d'une  preface,  par  L.  Petit  de  Julleville. 
In-12,  VIII-528  p.     Paris,  G.  Masson. 


80  Novitätenverzeichnis. 

Bihliotheque  fran^-aise.  16°.  Dresden  G.  Kühtmann.  11.  12.  Trois  mois 
sous  la  neige.  Journal  d'un  jeune  habitant  du  Jura.  Par  J.  J.  Porchat. 
Im  Auszuge  m.  Anmerkgn.  u.  Fragen  nebst  e.  "Wörterbuch  zum  Schul- 
u.  Privatgebrauch  neu  hrsg.  v.  Dr.  C.  Tb.  Lion.  9.  Aufl.  (III,  145  u. 
63  S.)  1,30.  —  34—37.  La  maison  blanche.  Par  Mad.  E.  de  Pressense. 
En  2  parties.  In  Auszügen  lu.  Anmerkgn.  u.  Fragen  nebst  e.  Wörter- 
buch zum  Schulgebrauch  hrsg.  v.  Prof.  Dr.  0.  Tb.  Lion.  2.  Aufl. 
(m,  191  u.  81  S.)  n.  1,60. 
Bibliothek  gediegener  u.  interessanter  franzijsischer  Werke.  Zum  Gebrauche 
höherer  Bildungsanstalten  ausgewählt  u.  m.  den  Biographieen  der  betr. 
Klassiker  ausgestattet  v.  Ant.  Goebel.  Fortgesetzt  v.  Jobs.  Brüll. 
58  Bdchn.  gr.  16°.  Münster,  Theissing.  Mignet,  histoire  de  la  re- 
volution  fran^aise  depuis  1789  jusqu'en  1814.  Texte  abrege  et  com- 
mente  pour  les  ecoles.  (VIII,  532  S.)  1,50. 

Bigot,  C.  Lectures  choisies  de  frangais  moderne.  3^  edition.  In-16, 
255  p.     Paris,  Hachette  et  Ce.     1  fr.  50. 

Burtin,  E.  choix  de  lectures  fran^aises.  4.  ed.  gr.  8°.  (VII,  228  und 
56  S.)  B.,  Plahn.     2,25. 

Cahen,  A.  Morceaux  choisis  des  auteurs  fran^ais  (programme  de  1890), 
ä  l'usage  de  l'enseignement  secondaire,  avec  des  notices  et  des  notes. 
Classes  superieures.  XVIe ,  XVIIe ,  XVIIIe  et  XIXe  siecles.  Deuxieme 
partie:  Poesie.     In-16,  580  p.     Paris,  Hachette  et  C^.     3  fr.  50. 

—  Morceaux  choisis  des  auteurs  francais  (programme  du  28  janvier  1890) 
ä  l'usage  de  l'enseignement  secondaire  classique,  avec  des  notices  et 
des  notes.  Classe  de  sixieme.  XVIIe  ^  XVIIIe  et  XIXe  siecles.  (Prose 
et  Poesie.)  Noiivelle  edition,  revue  et  augmentec.  In-16,  260  pages. 
Paris,  Hachette  et  Ce.     2  fr. 

Caumont.  Lectures  courantes  des  ecoliers  franQais.  La  Familie,  la  Maison, 
le  Village,  Notre  departement,  Notre  pays.  In-18  Jesus,  360  p.  avec 
grav.     Paris,  Delagrave. 

Charpenticr.  A.  Lectures  fran(^aises,  ou  Choix  de  lectures  en  prose  et  en 
vers,  ä  l'usage  des  ecoles  primaires  des  deux  sexes.  Cours  moj'en  et 
superieur.  Recits  moraux  et  patriotiques ,  Anecdotes,  Historiettes, 
Contes  et  Legendes,  Histoire,  Geographie,  Descriptions  etc.  Livre  de 
lecture  et  de  recitation.  Nouvelle  edition.  In-18  Jesus,  262  p.  Paris, 
Guerin  et  Ce. 

Chateaubriand.  Extraits  de  ses  oeuvres.  Avec  une  introduction ,  une 
etude  biographiquc  et  litteraire  et  des  notes  litteraircs  et  historiques 
par  P.  Jacquinet.  In-18  Jesus,  LVII-425  pages.  Saint-Cloud,  Paris, 
Belin  freres. 

Chateaubriand ,  F.  de,  genie  du  christianisme  (existence  de  Dieu  prouvee 
par  les  merveilles  de  la  naturel  Zum  Sc'aul-  u.  Privatgebrauch  hrsg. 
V.  J.  Bauer  u.  Th.  Link.  Mit  Wörterverzeichniss  u.  Karte.  8°.  (VI, 
86  S.)  München,  J.  Lindauer.     1,20. 

Collection  d'auteurs  fran^ais.  Sammlung  französ.  Schriftsteller,  f.  den 
Schul-  u.  Privatgebrauch  hrsg.  u.  m.  Anmerkgn.  versehen  v.  Dr.  G. 
van  Muyden  u.  Oberlelir.  a.  D.  Ludw.  Eudolph.  5.  Serie.  8°.  Alten- 
burg, H.  Pierer.  9.  La  Bise.  Comedie  par  Ed.  Komberg.  A  la  ba- 
guette.  Comedie  par  Jacques  Normand.  (58  S.)  —  10.  Histoires  extra- 
ordinaires.     Par  Eugene  Mouton  (Merinos).     (80  S.) 

Chozals,  J.  de.  Lectures  historiques  (programme  du  22  janvier  1890  pour 
la  classe  de  rhetorique).  L'Ancien  Regime.  In-18  Jesus,  639  pages 
avec  grav.     Paris,  Delagrave. 


Novitätenverzeichnis.  81 

Englert,  A.,  anthologie  des  poetes  frangais  modernes,  dediee  ä  la  jeunesse. 
8°.     (Vn,  242  S.)  Erlangen,  F.  Junge.     1,50  Mk. 

Führer  durch  die  französische  u.  englische  Schullitteratur.  Znsammen- 
gestellt  V.  e.  Schulmann  (Oberlehr.  Dr.  Kressner).  2.  Aufl.  gr.  S". 
'(IV,  208  S.)  Wolfenbüttel,  J.  Zwissler.     1,50. 

Labbe,  J.  Morceaux  choisis  de  litterature  frangaise  (poetes  et  prosateurs 
du  XIX e  siecle).  Division  superieure.  In-12,  347  pages.  Paris,  Belin 
[Enseignement  secondaire  moderne.] 

—  Morceaux  choisis  de  litterature  frangaise.  Poetes  et  Prosateurs  du 
XIX e  siecle.  Division  de  grammaire.  In-12,  351  p.  Paris,  Belin, 
freres.     [Enseignement  secondaire  moderne.] 

Legrand,  T.     Le  Premier  Livre   de  lecture,   d'ecriture  et  d'orthographe. 

Cours  elementaire,  faisant  suite  ä  toutes  les  methodes  de  lecture.    l^r 

semestre.     5e  edition.     In-18,   107  pages  avec  32  vign.     Paris,   Belin 

freres. 
Loewe,  Dr.  Heinr.,  la  France  et  les  Fran^ais.     Neues  französ.  Lesebuch 

f.  deutsche  Schulen.     Mittelstufe,     gr.  8°.  (V,  244  S.)  Dessau,  R.  Kahle's 

Verlag. 
Mollire.     Le  Tartuffe.     Classe  de  seconde.     (Programme  du  15  juin  1891.) 

Notice   et  notes   par   Henri   Mayer.     In-8'',    184   pages    avec   portrait. 

Paris,  May  et  Motteroz.      [Bibliotheque  de  l'enseignement  secondaire 

moderne.] 

—  Les  Precieuses  ridicules.  Classe  de  troisieme.  (Programme  du  15  juin 
1891.)  Notice  et  notes  par  Gustave  Reynier.  In-S**,  136  p.  avec  por- 
trait. Paris,  May  et  Motteroz.  [Bibliotheque  de  l'enseignement  secon- 
daire moderne.] 

—  (Euvres  completes.  Nouvelle  edition,  accompagnee  de  notes  tirees  de 
tous  les  commentateurs,  avec  des  remarques  nouvelles  par  M.  Felix  Le- 
maistre,  precedee  de  la  Vie  de  Moliere  par  Voltaire.  3  vol.  In-18  Jesus. 
Tome  ler,  XXXVI-496  p.;  t.  2,  543  p.;  t.  3,  507  p.  Paris,  Garnier 
freres. 

—  Les  Femmes  savantes.  Edition  nouvelle,  avec  notices  et  notes  cri- 
tiques,  grammaticales  et  litteraires  par  G.  Vapereau.  4e  edition.  In- 
16,  XXXin-96  p.  Coulommiers,  impr.  Brodard.  Paris,  Hachette  et 
Ce.     1  fr.  25. 

—  Le  Bougeois  gentilhomme.  Edition  nouvelle,  ä  Tusage  des  classes. 
In-18  Jesus,  143  p.     Paris,  Delagrave. 

—  Le  Misanthrope,  ä  l'usage  des  classes.  4e  edition.  In-18  Jesus,  XX- 
97  p.     Paris,  Delagrave. 

—  L'Avare.  Classe  de  quatrieme.  (Programme  du  15  juin  1891.)  Notice 
et  notes  par  Pontsevrez.  In-8°,  200  p.  avec  portait.  Paris,  May  et 
Motteroz.     [Bibliotheque,  de  l'enseignement  secondaire  moderne.] 

—  Le  Misanthrope.  Classe  de  seconde.  (Programme  du  15  juin  1891.) 
Notice  et  notes  par  G.  Pelissier.     In-8°,   208  p.   avec  portrait.     Paris. 

Merlet,  G.  Extraits  des  classiques  fran^ais  (XVI  e,  XVII  e,  X\TIIe  et 
XIX  p  siecles),  accompagnes  de  notes  et  notices.  Cours  superieurs. 
Deuxieme  partie:  Poesie.  10 e  edition,  revue  et  corrigee.  In-18  Jesus. 
CVIII-604  p.    Paris,  Fouraut. 

Petit,  E.  Recueil  de  morceaux  choisis  des  prosateurs  du  XIX «"  siecle 
(classes  de  sixieme,  cinquieme  et  quatrieme).  In-8°,  VI-456  pages  et 
Portrait.  Paris,  May  et  Motteroz.  [Bibliotheque  de  l'enseignement 
secondaire  moderne.] 

Pressard,  A.  Lectures  litteraires  et  morales,  tirees  des  meilleurs  ecrivains, 
en  prose  et  en  vers.  Exercices  de  recitation  pour  les  eleves  des  lycees 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV^.  6 


82  Novitätenverzeichnis. 

Colleges  et  ecoles,  et  de  lecture  pour  les  bibliotheques  scolaires,  avec 
des  explications  et  des  notes.  8»  edition.  Petit  in-16,  VII-198  pages. 
Paris,  Hachette  et  C^.     1  fr.  25. 

Prosateurs  francais.  Ausg.  A.  m.  Anmerkgn.  zum  Schulgebrauch  unter 
dem  Text;  Ausg.  B,  Text  u.  Anmerkgn.  getrennt.  1.,  9.,  HO.,  84.,  94. 
u.  96.  Lfg.  12°.  Bielefeld,  Velhagen  &  Klasing.  1.  Histoire  d'un 
conscrit  de  1813  par  Erckmann-Chatrian.  In  Auszügen  hrsg.  v.  K. 
Eandow.  Ausg.  B.  (169  u.  47  S.  m.  1  Kärtchen.)  —.90.  —  9.  Jeanne 
d'Arc.  In  Auszügen  aus  der  Geschichte  der  Herzöge  von  Burgund  v. 
Barante.  Bearb.  v.  Dr.  G.  Jaep.  (180  S.)  —,90.  —  30.  Vie  de  Franklin 
par  Mignet.  Hrsg.  von  Dr.  A.  v.  d.  Velde.  (175  S.)  —,90.  —  79.  Ex- 
pedition d'Egypte  par  Thiers.  Im  Auszuge  aus  Histoire  de  la  revo- 
lution  u.  aus  Histoire  du  consulat  et  de  l'empire.  Hrsg.  v.  Emil  Grube. 
Ausg.  A.  (X,  157  S.  m.  2  Karten.)  —.90  —  84.  Choix  de  nouvelles 
modernes.  Erzählungen  zeitgenöss.  französ.  Schriftsteller.  Ausgewählt 
u.  hrsg.  V.  J.  Wichgram.  I.  Bdchn.  Alphonse  Daudet.  Henri  de 
Bornier.  Andre  Theuriet.  Guy  de  Maupassant.  Paul  Arene.  (VI,  73 
u.  16  S.)  — ,60.  —  94.  La  guerre  de  sept  ans  par  Paganel.  Im  Aus- 
zuge hrsg.  V.  Dr.  Gerh.  Franz.  (V,  117  u.  22  S.)  —,75.  —  96.  Le  petit 
chose  par  Alph.  Daudet.  Im  Auszuge  hrsg.  v.  Arnold  Ki-ause.  Ausg. 
A.  (X,  150  S.)  —,90. 

Püttmami  u.  jRehrmann,  Lehrgang  der  französischen  Sprache.  2.  Thl. 
gr.  8".  B.,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.  2.  Französisches  Lese-  u.  Uebungs- 
buch.  Unter  besond.  Berücksicht.  d.  Kriegswesens.  Auf  Veranlassg. 
der  General-Inspection  d.  Militär-Erziehungs-  u.  Bildungswesens  bearb. 
V.  Prof.  Dr.  Püttmann.  (IX,  137  S.) 

Quayzin,  Lehr.  H.,  au  seuil  de  la  vie  des  affaires.  Choix  de  lectures 
dediees  aux  ecoles  de  commerce,  aux  ecoles  industrielles,  aux  ecoles  des 
arts  et  metiers,  aux  ecoles  de  perfectionnement.  8°.  (VU,  150  S.) 
St.,  A.  Brettinger.     1,50  Mk. 

—  Premiers  essais.  Lectures  dediees  aux  premieres  classes  de  frangais 
des  ecoles  superieurs  de  jeunes  filles,  avec  un  vocabulaire  frangals-alle- 
mand.     2.  ed.     8».  (XI,  128  S.)     St.,  P.  Neff.     1,20. 

Eacine,  J.  Iphigenie,  tragedie  de  J.  Racine.  Publiee  conformement  au 
texte  de  l'edition  des  Grands  Ecrivains  de  la  France,  avec  des  notices, 
une  analyse,  des  notes  grammaticales,  historiques  ot  litteraires  et  un 
appendice,  par  G.  Lanson.  3^  edition.  Petit  in-16,  213  pages.  Paris, 
Hachette  et  Ce.     (1892.)     [Classiques  francais.] 

—  Esther,  tragedie  de  Eacine.  Publiee  conformement  au  texte  de  l'edition 
des  Grands  Ecrivains  de  la  France,  avec  des  notices,  i;ne  analyse,  des 
notes  grammaticales,  historiques  et  litteraires,  et  un  appendice  par 
G.  Lanson.     3e  edition.     In-16,  175  p.     Paris,  Hachette  et  Ce.     1  fr. 

—  Esther,  tragedie  tiree  de  l'Ecriture  sainte;  par  Eacine.  Edition  ä  l'usage 
des  eleves  de  la  classc  de  cinquieme,  par  L.  Humbert.  11  e  edition, 
rovue  et  augmentec.     ln-18  Jesus,  XXXV-91  p.     Paris,  Garnier  freres. 

—  Athaliü.  Classe  de  seconde.  (Programme  du  15  juin  1891.)  Notice 
et  notes  par  Jules  Wogue.  In-S",  158  p.  avec  portrait.  Paris,  May 
et  Motteroz.     [Bibliotheque  de  l'enseignement  secondaire  moderne.] 

—  Les  Plaideurs.  Classe  de  quatrieme.  (Programme  du  15  juin  1891.) 
Nouvelle  edition,  par  Th.  Comte.  In-S",  120  p.  Paris,  May  et  Motteroz. 
[Bil)liotheque  de  l'enseignement  secondaire  moderne.] 

—  Esther.  Classe  de  cinquieme.  (Programme  du  15  juin  1891.)  Notice  et 
notes  par  Jules  Wogue.  In-S",  136  pages.  Paris,  May  et  Motteroz. 
[Bibliotheque  de  l'enseignement  secondaire  moderne.] 


NovUätenverzeichnis.  83 

Bacine.  J.  Britannicus,  tragedie  en  cinq  actes;  par  J.  Racine.  Edition 
nouvelle,  ä  Pusage  des  classes  par  N.  M.  Bernardin.  4e  edition.  In- 
18  Jesus,  XXVIli-163  pages.     Paris,  Delagrave. 

Bousseau,  J.  J.  Extraits.  Lectures  destinees  aux  eleves  de  l'enseigne- 
ment  secondaire  et  ä  ceux  de  l'enseignement  secondaire  special,  accom- 
pagnees  du  discours  qui  a  obtenu  le  prix  d'eloquence  decerne  par 
l'Academie  dans  sa  seance  du  20  aoüt  1868;  par  M.  Gidal.  2«  edition. 
In-18  Jesus,  LX-372  p.     Paris,  Garnier  freres. 

Sammlung  geschichtlicher  Quellenschriften  zur  neusprachlichen  Lektüre  im 
höheren  Untericht.  Hrsg.  v.  Dir.  Dr.  Frdr.  Perle.  V.  u.  Vin.  Bd. 
8°.  Halle  a  S.,  M.  Niemeyer.  V.  Memoires  de  Louis  XIV.  pour  Tannee 
1666.     Hrsg.  u.   erklärt  v.  Gymn.-Lehr.  Dr.  Paul  Völker.     (VI,  92  S.) 

—  französischer  u.  englischer  Textausgaben  zum  Schulgebrauch.  XIV.  u. 
XV.  Bd.  8°.  L.,  Renger.  XIV.  Le  diplomate.  Comedie  par  Scribe 
et  Delavigne.  Les  interpretations  par  Leclerq.  (69  S.)  n.  — ,60.  — 
XV.  Aventures  de  Telemaque  par  Fenelon.     (96  S.)     n.  — ,70. 

Schulbiblioihek,  französische  u.  englische.  Hrsg.  v.  Otto  E.  A.  Dickmann. 
Reihe  A.  Prosa,  gr.  8.  Leipzig,  Renger.  35.  Histoire  de  la  terreur 
(Aus:  , Histoire  de  la  revolution  frangaise")  v.  A.  Mignet.  Mit  1  Plan 
V.  Paris.  2.  Aufl.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  v.  Adf.  Ey.  (XU, 
121  S.)   Mk.  1,50.  —  64.  Vie  de  Franklin  v.  A.  Mignet.     Mit  1  Karte. 

Für  den  Schulgebrauch   erklärt  v.  H.   Voss.  (VIII,  88  S.)  1, 65. 

Colomba  par  Prosper  Merimee.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  v.  Johs. 
Leitritz.     (XII,  130  S.)  1,30. 

Sammlung  französischer  u.  englischer  Textausgaben  zum  Schulgebrauch. 
Leipzig,  Renger:  XII.  Gutenberg  et  Jacquard  v.  A.  de  Lamartine. 
(69  S.)  — ,60.  —  Xni.  Un^philosophe  sous  les  toits.  Journal  d'un 
homme  heureux,  publie  par  Emile  Souvestre.    Extraits.    (87  S.)    — ,70. 

Saure,  Dr.  Heinr.,  französisches  Lesebuch  f.  höhere  Mädchenschulen.  Wörter- 
buch. 4.  Doppel-Aufl.  I.  Tl.  gr.  8°.  (104  S.)  Frankfurt  a/M., 
Kesselring. 

—  französisches  Lesebuch  f.  Realgymnasien,  Oberrealschulen  u.  verwandte 
Anstalten.  Nebst  Stoffen  zur  Uebg.  im  mündl.  Ausdruck;  1.  Tl. 
2.  Aufl.     gr.  8».     (XVI,  251  S.)  B.  F.  A.  Herbig.     2  Mk. 

Seeherger,  K.,  lectures  fran^aises  pour  les  ecoles  reales.  1.  partie.  gr.  8°. 
(III,  50  S.)  Wien,  A.  Holder.     0,50. 

Selectee,  le,  frangais.  Morceaux  choisis  de  litterature  fran^aise  (prose  et 
vers).  Premiere  partie :  Enseignement  moral  et  civique  [ecoles  primaires 
elementaires  (cours  moyen  et  superieur) ;  fecoles  primaires  supericures 
(Ire  annee)];  par  E.  C.  Coutant.  3e  edition.  In-18  Jesus,  327  p. 
Paris,  Delagrave, 

Taiclet,  J.  Introduction  ä  Tetude  de  la  grammaire.  Premiers  exercices 
d'orthographe.  40 e  edition.  In-16,  64  p.  Paris,  Leceiie,  Oudin  et  C^; 
Hachette  et  Ce;  Delagrave.     Departements,  tous  les  libraires. 

Iheätre  frangais.  Ausg.  A.  m.  Anmerkgn.  unter  dem  Text,  Ausg.  B, 
Text  u.  Anmerkgn.  getrennt.  XII.  Folge,  l.Lfg.,  XTTT.  Folge,  1.  Lfg. 
u.  XV.  Folge,  2.  Lfg.  12o.  Bielefeld,  Velhagen  &  Klasing.  XII, 
1.  Les  contes  de  la  Reine  de  Navarre  ou  la  revanche  de  Pavie. 
Comedie  par  E.  Scribe  et  E.  Legouve.  Nouvelle  ed.  Annotee  par 
Prof.  Dr.  Chrn.  Rauch.  (183  S.)  —,50.  —  XIII,  1.  Mademoiselle  de 
la  Seigliere  par  Jules  Sandeau.  Nouvelle  ed.  Revue  et  annotee  par 
Dir.  Dr.  F.  Fischer.  (148  S.)  —,60.  —  XV,  2.  Le  gendre  de  M.  Poirier. 
Comedie  par  Emile  Augier  et  Jules  Sandeau.  Nouvelle  ed.  Ausg.  A. 
(135  S.)  —,60. 

6* 


84  Novitätenverzeichnis. 

Werslioven,  Dr.  F.  3.  Lehr-  u.  Lesebuch  der  französischen  Sprache  f.  die 
Unterstufe.     8°.     (Vin,  76  S.)  Cüthen,  0.  Schulze,  Verl.     —,75. 


Bourciez,    ^d.,     La    langue    gasconne   ä    Bordeaux.      Notice    historique. 

Bordeaux  1892,  Gounouilhou.     27  S.     8°.     [Extrait  de  la  Monographie 

publie  par  la  Municipalite  bordelaise.] 
Delaite,    J.     Essai    de   Grammaire   wallonne.     Le   verbe   wallon.     Liege, 

Vaillant.  Carmann.     1892. 
Grammont,  M.     Le  Patois   de  la  Franche-Montagne   et  en  particulier  de 

Damprichard    (Franche-Comte).     X"    2.     In -8°,   p.    21   ä  52.     Paris, 

Bouillon.     [Extrait   des   Memoires    de   la   linguistique  de  Paris  (t.   8, 

p.  53  et  suiv.)] 
Leclieii,  A.    Petit  glossaire  du  patois  de  Demuin.     Paris,  Bouillon.     5  fr. 
Moisy,  H.  Glossaire  comparatif  anglo-normand,  donnant  plus  de  cinq  mille 

mots  aujourd'hui  bannis  du  frangais  et  qui  sont  communs  au  dialecte 

normand   et   ä   l'anglais.     Fascicules   1,    2,   3.     In-8°,    pages   1  ä  416. 

Paris,  A.  Picard.  (1889  et  1891.)     [L'ouvrage  complet  en  2  vol.,  12  ix. 

Chaque  fascicule,  2  fr.] 
Thibault,  A.     Glossaire  du  pays  blaisois.     In-8°,  XXV-363  p.     Blois,  tous 

les  libr.  Orleans,  libr.  Herluison.    L'auteur,  ä  la  Chaussee-Saint -Victor, 

pres  Blois. 

Boy,  C.  Nouvelle  provengale.  Lis  Ideio  de  Banastoun.  Avec  preface  de 
Felix  Gras.     In-16,  XII- 139  pages.     Saint-Etienne,  impr.  Boy. 

Doere,  T.  Moumeints  perdus  d'ein  Picard.  In-12,  71  pages.  Amiens, 
imprimerie  Rousseau-Leroy. 

Duplain,  L.  La  Loue  (poesies  franc-comtoises).  In-16.  88  p.  Besangon, 
Bossanne. 

Garnier,  J.  B.  Obro  prouvengalo  dou  R.  P.  dorn  J.  B.  Garnier,  mounge 
benedictin  de  l'abadie  de  Santo-Mario-Madaleno  de  Marsiho.  Publicado 
per  Adolf  Ripert,  de  l'Aubo  prouvengalo.  ln-18,  Xin-283  pages.  Mar- 
seille, Imprimerie  marseillaise.     2  fr.  50. 

Isetta.  Tartarin  en  mar  (poema  marittime  en  catre  bordada).  In  8°,  24  p. 
Nice,  imprim.  Robaudi  freres. 

Lengodoucian,  le,  Journal  felibrenc  semmanal.  Ire  annee.  No  1.  Del  4 
al  11  setembre  de  1892.  In-f»  ä  4  col.,  4  p.  Toulouse,  impr.  Vialedo 
e  Cc;  3,  carriero  Devilo.  Abonnement:  Toulouse,  Haute-Garonne  et 
departemcnts  limitrophes,  un  an,  6  fr.;  six  mois,  3  fr.  50;  autres  d6- 
partements,  un  an,  7  fr. ;  six  mois,  4  fi-.     Un  numero,  10  cent. 

Mistral,  Frederi,  Mireio.  ProvenQalische  Dichtg.  Deutsch  v.  Aug.  Bertuch, 
m.  e.  Einleitg.  v.  Ed.  Boehmer.  8°.  (XV,  285  8.)  Strassburg  i/E., 
K.  J.  Trübner,  Verl.     5  Mk. 

Pedegert.  Lous  Bers  gascouns  de  l'abe  Pedegert.  In-16,  114  p.  Bor- 
deaux, Feret  et  fils. 

Recueil  de  Noels  de  l'Ariege.  En  patois  languedocien  et  gascon.  Paris, 
E.  Rolland.     144  S.     12.     fr.  2,50. 

Sonnets  franc-comtois  infedits,  fecrits  au  commencement  du  XVIUe  siecle 
et  publiees  pour  la  premiere  fois  d'apres  le  mannscrit  original,  avec 
une  introduction  historique  et  des  notes,  deux  blasons  en  couleurs,  un 
fac-simile  heliographique  de  l'ecriture  du  manuscrit  et  la  description 
des  gravures  inedites  de  Pierre  de  Loysi,  graveur  franc-comtois,  par 
Theodore  Courtaux.  In-16,  176  p.  Paris,  Cabinet  de  historiographe 
(recueil  de  notices  historiques).     4  fr. 


Referate  und  Rezensionen. 


Schwan  E.,  Grammatik  des  Altfranz ödschen.  (Laut-  und  Formen- 
lehre). Zweite,  neubearbeitete  Auflage.  Leipzig,  0.  R. 
Reisland.  1893,  Vm.  267  S.  &>. 

Die  neue  Auflage  der  Schwanschen  Grammatik,  deren  erste 
Ausgabe  in  dieser  Zs.  X,  273  ff",  besprochen  ist,  erweist  sich  trotz 
im  Ganzen  wenig  veränderter  Anlage  doch  als  ein  fast  neues  Buch, 
da  der  Verfasser  an  jeden  Paragraphen  die  bessernde  Hand  gelegt, 
offenbare  Fehler  vielfach  gebessert,  zweifelhafte  oder  unwahrscheinliche 
Erklärungen  durch  bessere  ersetzt,  die  Widersprüche,  die  zwischen 
verschiedenen  Teilen  bestanden,  meist  gehoben  hat,  so  dass  das  Buch 
besser  als  in  seiner  früheren  Gestalt  die  Kenntnis  der  altfranziJsischen 
Laut-  und  Formenlehre  zu  vermitteln  geeignet  ist.  Dem  Wunsche 
nach  Litteraturan gaben  und  nach  einem  Abschnitte  über  die  Ortho- 
graphie ist  Rechnung  getragen,  freilich,  wenigstens  was  die  zwei 
Seiten  über  Orthographie  betrifft,  in  etwas  zu  knapper  Weise.  Es 
hätte  doch  Erwähnung  verdient,  dass  die  alte  Schrift  kein  g  kennt, 
sondern  dafür  c  oder  ch  oder  seltener  ce  schreibt:  cou,  chou,  ceou, 
dass  das  palatale  n  nicht  nur  durch  ign  ausgedrückt  wird,  dass  der 
Triphthong  eau  ebensogut  iaii  geschrieben  wird,  dass  für  modernes  en 
vor  Kons,  phonetisch  an  eintreten  kann,  dass  sich  häutig  im  direkten 
Anlaute  oe  statt  ne  rindet,  damit  nicht  konsonantisches  n  (y)  gelesen 
werde;  dass  für  tts^  ob  es  aus  Is  entstanden  oder  ursprünglich  sei, 
X  geschrieben  wird  {diex  =  deus),  das  man  aber  nicht  als  ks  zu  lesen 
hat  u.  s.  w.  — 

Die  Normalisirung  der  Schreibweise  ist  beibehalten,  was  man 
nur  loben  kann;  wenn  dabei  Ungleichmässigkeiten  stehen  geblieben 
sind,  z.  B.  ahor  neben  linguel  §  253,  so  wird  man  das  nicht  hoch 
anrechnen  wollen.  Wol  aber  wirkt  es  störend,  dass  der  Verfasser 
durchweg  für  lat.  au  ein  gt  schreibt,  ohne  zu  sagen,  w^as  man  sich 
darunter  zu  denken  habe.  Allerdings  heisst  es  §  12  Anm.,  das  aus 
au  entstandene  o  sei  „verschieden  von  g  und  o  und  wol  gleich  cj, 
wie   noch   heute   in  it.  cosa,  oro",  allein   dieser  Satz   entzieht   sich 


86  Jie/erate  und  Rezensionen.     W.  Meyer-Liibke, 

wenigstens  meinem  \'erständnisse.  Das  <>  in  ital.  cosa  ist  völlig  iden- 
tisch mit  dem  von  ital.  corpo,  d.  h.  es  ist  o.  also  gerade,  was  »t»  nicht 
sein  soll.  Dann  aber  sind  gegen  die  Behauptung,  dass  au  schon  im 
Volkslatein  zu  o  geworden  sei,  von  verscliiedenen  Seiten  so  gewichtige 
Gründe  vorgebracht  worden,  dass  man  wol  von  dem  Verfasser  den 
Nachweis  für  die  Annahme  der  ]\[onophthongirung  des  an  in  Nord- 
fraukreich  vor  dem  VII.  Jh.  verlangen  kann.^)  In  der  Anm.  2  des- 
selben Paragraphen  wird  von  einem  lat.  sMIa  aus  sternla  gesprochen. 
Man  darf  aber  nicht  aus  einer  nur  möglichen,  nicht  absolut  sicheren 
Etymologie  die  Quantität  der  lateinischen  gedeckten  Vokale  bestimmen, 
vielmehr  ist.  wie  seit  Ascoli  Arch.  Gloff.  I,  19  zu  wiedei'holten  Malen 
ausgesprochen  worden  ist,  nach  Massgabe  der  romanischen  wSprachen 
nur  sfHla  richtig,  woraus  nach  fransörilsch-jrrofenzali^cli-räfiaclieni 
Lautgesetze  sfcla ,  s.  row.  Gramm.  I  545,  wo  gask.  uk  aus 
öla  =  öUa,  hüe,  biele  aus  vlla  =  vlJhi  hinzuzufügen  ist.  Unver- 
ständlich ist  mir  endlich,  dass  cogHo  „für  alle  romanischen 
Sprachen'^  gefordert  werde.  Eum.  ciigeta ,  spanisch,  portugiesisch 
cuida ,  prov.  cuija  sind  nur  mit  cögifat  vereinbar,  und  aital.  coftjta 
entscheidet  nichts,  da  wir  nicht  wissen,  ob  das  o  offen  oder  ge- 
schlossen war.  Es  bleibt  also  die  Unregelmässigkeit  in  der  Ent- 
wickelung  des  Vokals  auf  das  Xordfranzösische  beschränkt.  — 
Unter  den  Beispielen  für  o  aus  o  vor  Labial  ist  zu  unterscheiden. 
Sicher  sind  nur  ovu.  allenfalls  Jovne ,  nicht  aber  plovja  (vgl.  span. 
Iluvia),  wofür  plovit  richtigei  gewesen  wäre,  dann  das  anders  ge- 
artete colobra.  Worauf  sich  mohile  gründet,  weiss  ich  nicht,  da 
doch  obwald.  muvel  Viehstand  o  verlangt,  afrz.  mueble  aber  an 
mnef  fmovit)  angelehnt  ist.  —  §  16  heisst  es,  Synkope  trete  schon 
im  \'ulglat.  regelmässig  ein  zwischen  »i  und  n.  Als  Beispiel  wird 
domitu  angeführt,  nhev  ß')iii)ta.  Itominc,  t/cnninat  u.  s.  w.  zeigen, 
dass  domnu  besonders  geartet  ist.  Auch  mit  der  zugehöiigen  Anm., 
gemäss  der  dancci  auf  domniceUn.  damoisel  auf  dominicella  beruhen 
soll,  kann  ich  mich  nicht  l)efreunden.  Allerdings  wird  §  149  ge- 
lehrt, dominus  werde  zu  dan,  allein  das  wideistrebt  dem  durch 
somun-sommr,  damnu-dammc,  scannut-hJuDiimc.  Internmnes  Entrames 
gesicherten  Gesetze,  s.  Zt.  f.  rom.  Phil.  XI 1,  526,  Rom.  XVIII,  826  Anm. 
Wenn  also  domnu  lautgesetzlich  zu  domne,  dämme  wird,  so  kann 
domnicellu  nur   damoisel  ergeben   und  dancel  erweist   sich  als  eine 


')  In  den  Nachträgen  zu  diesem  Paragraiihen  wird  gelehrt,  au  luige 
besonders  vor  y  und  sk  zu  a,  vgl.  miostu,  ascaliare.  Aber  angere  wird 
zwar  in  den  Handschriften  mit  agcre  verwechselt,  doch  handelt  es  sich 
dal)ei  nur  um  Schreibfeliler,  daher  das  g  aucli  liei  ugostu  nicht  schuld  sein 
kann.  Es  war  zu  sagen,  tonloses  au  wird  durch  Dissimilation  zu  a,  wenn 
der  betonte  Vokal  u  oder  o  ist:  oscultarc,  agostu .  aguriu,  acupare  i'rum. 
apucä  nach  liurdii^.  Sacotia,  vgl.  schon  Grundriss  I.  S.  362,  §  18. 


E.  Sclmm},  Crrammatilz  dr>>  Altfranzösisclien.  87 

Ableitung  von  franz.  dmi  mittels  des  franz.  Suffixes  cel.  —  §  19,  2 
filiölus  wird  jetzt  im  Ansclüus^:  an  Mirisch  daraus  erklärt,  dass 
„in  Angleichnns;  au  die  Stammworte  das  Suffix  betont  wird,  um 
den  gleichen  Stamm  in  beiden  Worten  durchzuführen,'^  also  ßljölua 
nach  ßjiis.  Wenn  aber,  von  andern  Einwänden  abgesehen,  die 
Verschiedenheit  zwischen  ßljus  und  JiUöhis  behol)en  werden  sollte, 
so  lag  es  w^ohl  näher,  zu  ffljm  ein  flljohis  zu  bilden,  wie  man  neben 
rex  ein  regulus  hatte.  Mir  scheint  die  Neumann'sche  Auffassung  Zs. 
rom.  Phil.  XIV,  527  die  einzig  richtige,  da  ich  nicht  sehe,  was  da- 
gegen geltend  gemacht  werden  könnte  M  —  23  Anm.:  „Im  Volkslatein 
fand  bei  den  Palatalen  ein  Schwanken  statt  zwischen  stimmhaftem 
und  stimmlosem  Verschlusslaut,  welches  häutig  belegt  ist".  Da  die 
Belege  der  ersten  Auflage  mit  Recht  weggeblieben  sind,  wäre  auch 
die  Anmerkung  zu  beseitigen.  —  Die  folgenden  Abschnitte  über 
Flexion,  Wortlüldungslehre  und  die  fremden  Elemente  übergehe  ich 
absichtlich,  nur  will  ich  bemerken,  dass  §  48  die  Behauptung,  es 
gäbe  im  Frz.  keine  Verba  keltischer  Herkunft,  falsch,  und  die  andere, 
das  betonte  «  in  Lugdimum-Lijon  sei  nicht  unter  Einwirkung  des 
Nasals  zu  o  geworden,  weil  der  Nasal-Vokal  ü  sich  erst  sehr  spät 
gebildet  habe,  dahin  zu  berichtigen,  dass  tatsächlich  im  Lj^onesischen 
ün  zu  o  wird,  vgl.  ausser  der  Andeutung  in  meiner  Gi-amm.  I,  §  646 
noch  Nizier  de  Puitspelu  Biet.  IjHOh.  S.  XLIII.  —  §  53.  Das  Gesetz 
für  die  Stellung  des  Nebentones  halte  icli  luv  unrichtig;  es  lautet: 
ist  die  zweite  Silbe  vom  Hauptton  aus  gerechnet  laug,  so  trägt  sie 
den  Nebenton,  ist  sie  kurz,  so  geht  er  auf  die  drittvorhergehende 
zurück,  als  mihisiomta  aber  herklitdrc.  Allein  afr.  heriter  oder  hireter 
ist  nicht  Erb-  sondern  Buchwort,  aiicfOr/carc-ocfroi/er  widerspricht 
geradezu,  denn  mit  Schwan  (Herrigs  Archiv  LXXXVII,  114)  nach  dem 
Nom.  cmdor  verkürztes  auctoricare  anzunehmen,  wird  durch  span.  otorgo 
(nicht  otuerrjo)  direkt  widerlegt,  ganz  abgesehen  von  der  geringen  Wahr- 
scheinlichkeit, die  die  von  ihm  angenommene  Umbildung  auch  sonst 
hat.  Nach  Schwan  wird  compamtione  betont,  weil  ä  lang  ist,  dann 
müsste  es  auch  j:>^//f /^/wk',  AnrelMcum,  Semrideimt  u.  s.  w.  heissen,  vgl. 
aber  parfo»,  Orl?/,  Civrai/.    Dazu  kommt  anfoiois,  das  neulich  O.  Paris 


')  Was  Schwan  in  dieser  Zs.  XIII,  201  dagegen  vorträgt,  ist  nicht 
stichhaltig.  Er  schreibt,  es  sei  merkwürdig,  dass  dann  älteres  oi  zu  oi, 
üi  zu  iii,  ei  oder  6i  zu  oe  geworden  sei.  Dagegen  ist  zu  bemerken,  dass 
üi  eine  besondere  Stellung  einnimmt,  also  zum  Vergleich  niehr  herbei- 
gezogen werden  kann,  und  dass  es  nicht  erwiesen,  sondern  nur  von  Schwan 
behauptet  ist,  dass  jemals  oi  gesprochen  worden  sei.  Die  gewöhnliche  und 
mit  den  Tatsachen  besser  harmonirende  Annahme  geht  dahin,  oi  sei  erst 
zu  6e,  dann  zu  oc  geworden.  Neumanns  Regel  findet  in  verschiedenen 
romanischen  Sprachen  ihre  Parallelen,  vergl.  rom.  Gramm.  I,  §  598.  wo 
genug  tatsächliche  Belege  für  eine  derartige  physiologische  Hegel  ge- 
geben sind. 


88  Referate  und  Rezensionen.     W.  Meyer-Lühke, 

auf  ännötinensis  zurückp:eführt  hat,  vgl.  Rom.  XX,  597  und  Zt.  rom. 
Phil.  XVII,  390.  Das  Gesetz  lautet,  wie  schon  Darmesteter  Rom. 
V,  162  andeutet:  Wörter  mit  drei  und  mehr  Silben  vor  der  betouten 
haben  den  Nebenaccent  auf  der  ersten  Silbe.  —  §  56,  2.  Als  gedeckt 
werden  bezeichnet  die  Vokale  in  den  Proparoxy tonis ;  wo  bleibt  aber 
tiede  aus  tepidn,  fiente  aus  f^mita,  friente  aus  fremito,  siege  aus  sedica 
u.  s.  w.  ?  —  §  60.  Bei  der  Differenzirung  von  Vokalen  hätte  er- 
wähnt werden  können,  dass  wenn  zwei  o  vor  dem  Tone  stehen,  das 
erste  bleibt,  das  zweite  zu  e  wird:  cdrecier,  cbneissöns.  —  §  62  wird 
chiclie  aus  eiche  erklärt  wie  cerclüer  aus  clierchier.  Allein  schon  im 
Afr.  scheint  nur  chiche,  nicht  eiche,  vorzukommen,  und  ital.  chicco  spricht 
ebenfalls  gegen  Schwans  Annahme,  daher  ich  die  rom.  Gramm.  I, 
S.  33  und  §  410  gegebene  Deutung  für  richtiger  halte.  —  Ebenso- 
wenig wie  eiche  scheint  mir  auf  derselben  Seite  geant  altfranzösisch 
zu  sein,  letzteres  wenigstens  nicht  in  dem  Sinne,  in  welchem  der 
Verf.  es  nimmt,  wenn  er  urfranz.  geante  und  jejumi  auf  eine  Stufe 
stellt.  Davon  hätte  ihn  schon  die  Verschiedenheit  von  nfr.  geant 
neben  jeun  abhalten  können.  Die  afr.  Form  ist  aber  durchaus  Jai/ant, 
vgl.  Suchier  zur  Reimpredigt  49  c,  ferner  gaijant  Münchener  Brut  1213 
und  sonst,  woneben  geant  im  Cambr.  Psalt.  jüngere  Schreibung  (e  für 
altes  ai)  ist.  —  Unverständlich  ist  mir  der  neu  hinzugekommene 
§  67,  der  lautet:  „In  der  afr.  Schriftsprache  linden  sich  nebeneinander 
Worte,  in  welchen  die  gleichen  lautlichen  Elemente  eine  verschiedene 
Entwicklung  zeigen.  Diese  Doppelentwicklungen  sind  wol  durch 
Sprachmischung  zu  erklären  .  .  .  .,  doch  erscheint  auch  eine  laut- 
liche Spaltung  innerhalb  derselben  Sprachgemeinschaft  nicht  aus- 
geschlossen." Dazu  die  Beispiele:  cömpaing:  tirange,  moins:  lAeins, 
avoine:  veine,  amonr:  honneur,  tierz : pert  perche,  danfer:  conter  songier. 
Aber  cstrangc  ist  ein  jüngeres  Sclu-iftwort  wie  in  allen  rom.  Sprachen, 
s.  Gröber  Arch.  lat.  Lex.  III,  508  und  rom.  Gramm.  I,  §  512;  moins  lässt 
sich  aus  der  Anm.  zu  §  57  der  Schwanschen  Cilramm.  deuten,  für  amour 
und  honnour  hat  G.  Paris  Rom.  X,  45  eine  zutreffende  Erklärung  ge- 
geben, tierz  und  danter  s.  u.  —  §  70,  3.  Frz.  tante  wird  aus  Vantc  deine 
Tante  erklärt.  Wenig  wahrscheinlicli,  ia  doch  m'ante  näher  gelegen 
hätte.  Die  Canello"sche  Deutung:  dt  in  lallender  Reduplication  tat 
hat  so  zahlreiche  Parallelen,  vgl.  ausser  den  Zs.  rom.  Phil.  VIII, 
23.  Anm.  angeführten  namentlich  waldensisch  dando  =  amita  Arch. 
Glott.  Ital.  XI,  S.  349,  ferner  delph.  kiiku  für  Onkel  (Mistral),  dass 
man  sie  wol  unbedenklich  anneinnen  darf  —  §  76.  Da  advocatu 
zu  avoue  wird,  kann  rocale  nur  roel,  Nom.  vo-ieus  ergeben,  nicht, 
wie  hier  angesetzt  ist,  voi-iel  —  eine  Form,  die  ich  auch  aus  dem 
Afr.  nicht  belegen  kann.  —  §  91.  Die  schwierigen  Fälle  niecc,  tierz 
finden  eine  Lösung,  die  kaum  befriedigen  wird,  sofern  nämlicli  jenes 
mit  tepidus,  wo  e  doch  ursprünglich  frei  war  (vgl.  aber  septem-  set) 


H.  Schwan,  Grammatik  des  Altfranzösischen.  89 

auf  eine  Stufe  gestellt,  dieses  als  wallonisch  (der  Verf.  spricht  ungenau 
von  „nördlichen"  Dialekten)  erklärt  wird.  Ich  glaube,  die  betreffen- 
den Wörter,  zu  denen  noch  afr.  cierge  die  Hindin,  picce  aus  j)etma, 
liege,  dann  wall,  pls  (i  =  ie)  aus  pertica,  ip  aus  herpicc  (vgl.  nament- 
lich Marchot,  Phonologie  d'un  patois  wallon  62,  übrigens  auch  Horning 
Zt.  rem.  Phil.  IX,  483,  Zeliqzon,  Lothr.  Mundarten  15)  liinzuzufügen 
ist,  erklären  sich  folgendermassen.  Das  lateinische  Hiatus  -i  ist  nicht 
nach  allen  Konsonanten  gleichzeitig  zu  j  geworden,  vielmelu-  hat  es 
sich  zunächst  nach  Labialen,  ferner  in  Buchwörtern,  dann  vielleicht 
nach  schweren  Gruppen  wie  rt,  sc  bis  in  das  Sonderleben  der  einzelnen 
Sprachen  gehalten.  Dann  ist  in  diesen  Fällen  in  Frankreich  -iu  zu  -i 
geworden,  das  nun  auf  die  vorhergehenden  Laute  anders  wirkte  als 
das  schon  lateinische  j.  Es  scheint  nämlich  einmal  wie  das  i  aus  c 
die  Diphthougirung  eines  e  nach  sich  gerufen  zu  haben,  dann  mit  t  zu  s, 
sonst  mit  vorliergehenden  Lauten  zu  (/  geworden  zu  sein  und  sc  zu  sts 
gewandelt  zu  haben.  So  wäre  also  urfranzösisch  tertiu,  petvia,  cervia, 
levia  anzusetzen,  woraus  tetii^  pctie,  cervie,  levie,  dazu  ostfranz.  perti, 
erpi  (vgl.  Horning,  Zt.  rom.  Phil.  XV,  292),  dann  Herz,  piece,  cierge, 
liege,  piers,  ierp  (vgl.  wallon.  hep(e)  =  hapia,  Marchot  S.  31).  Auch 
niece  hieher  zu  ziehen,  wage  ich  wegen  noce  aus  noptia  nicht,  halte 
vielmehr  an  der  Beeinflussung  durch  nies  fest.  Wol  aber  gehören 
auch  nice  und  e2)ice  in  diese  Kategorie.  Zunächst  erwartet  man 
tiies  aus  nesci,  eine  Form,  die  tatsächlich  vorkommt,  vgl.  Foei-ster 
zu  Durmart  284.  Es  scheint  nun  auch  s  durch  das  c  palatalisiert 
zu  sein,  vielleicht  nur  im  Femininum,  so  dass  also  ia  anders  wirkt 
als  iu,  wie  ich  das  auch  für  riu,  ria  annehme,  also  fem.  nieise, 
dann  nice,  vgl.  epice  aus  dem  ebenfalls  jungen  speci.es.  Dass  tertia  zu 
tierse,  aber  fortia  zu  forge  wird,  ist  nicht  auffällig,  stand  doch  neben 
letzterem  zu  allen  Zeiten  fort.  —  §  1 10.  Unverständlich  ist  mir  clausterium 
als  Grundlage  von  cloistre,  unrichtig  oie  als  zentralfranzösischer  Eeflex 
von  auca,  s.  G.  Paris  Rom.  XVII,  622.  —  §  123  wird  gesagt,  vortonige 
bleibe  als  e,  und  125  e  als  f :  ich  zweifle,  ob  sich  im  Altfranzösischen 
und  überhaupt  im  Romanischen  ein  Unterschied  zwischen  dem  ersten 
Vokal  von  pesdre  und  levdre  nachweisen  lässt.  —  §  129.  Das  e  in  premier 
wird  aus  einstigem  prümier  erklärt,  kaum  mit  Recht,  da  sich  meines 
Wissens  sonst  kein  einziges  Beispiel  für  e  aus  ü  findet,  vielmehr  ü 
aus  e  das  gewöhnlichere  ist.  Ich  möchte  daran  festhalten,  dass  das 
folgende  ie  genau  so  dissimilirend  wirkte,  wie  sonst  i.  Dass  in 
rimer(e)  das  i  bleibt,  erklärt  sich  leicht  aus  dem  Einfluss  von  rive, 
rivoyer.  —  §  138  Anm.  werden  danter,  dans,  damoiselle  u.  s.  w.  aus 
„einem  Schwanken  in  der  Aussprache"  erklärt,  womit  aber  nichts 
gesagt  ist.  Ich  selie  von  danter  und  andern,  niclit  allgemein  ver- 
breiteten Wörtern  ab,  deren  Beurteilung  nur  möglich  ist,  wenn  ihre 
zeitliche   und  räumliche  Verbreitung  fest  steht,   die  aber  jedenfalls 


90  Itefcrate  und  Rezensionen.     W.  Meyer-Lübke, 

niclit  ohne  weiteres  auf  eine  Stufe  zu  stellen  sind  mit  den  allgemein 
franz(»sisflien  Eetiexen  von  domnn,  domna.  Für  diese  letzteren  ater 
ist  daran  festzuhalten,  dass  sie  proklitisch  sind,  in  Folge  dessen  der 
Vokal  einer  stärkeren  Reduktion  fähig  ist,  als  die  tonlosen  Vokale 
selbständiger  Wörter.  So  scheint  mir  domn  Alexl  geradezu  zu  dmn 
Alex,  mit  vokalischem  Nasal  und  daraus  dann  dan  geworden  zu  sein, 
wälirend  das  Provenzalische  noch  weiter  gehend  dnin-Ä.  zu  m)i-A.  dann 
en  oder  n  erleichtert.  —  §  141  abohjare  ist  für  ahoijcr  eine  unmögliche 
Grundform,  erstens  weil  hj  im  französischen  nicht  zu  /  wird  und 
zweitens  weil  ahniier  im  afr.  abaier  lautet,  s.  Foerster  Zt.  loni. 
Phil.  V,  95.  —  §  143  imttaine  ist  kein  französisches  Wort.  — 
§  148.  Dass  inamifu  die  Grundlage  von  eneuii  sei.  wird  zwar  vielfach 
angenommen,  ist  aber  mit  vollem  Rechte  und  entscheidenden  Gründen 
von  Foerster  in  Abrede  gestellt  worden.  Man  vergegenwärtige  sich, 
dass  amkn  zu  awi,  hnmicii  zu  emi,  im  Zentralfranzösischen  sogar 
zu  ämi  werden  musste,  also  unmittelbar  mit  äuii  zusammenüel,  und 
man  wird  ohne  weiteres  begreifen,  dass  die  Sprache  bei  ennni  stehen 
blieb.  Das  e  ist  also  jiicht  aus  a  entstanden,  sondern  derselbe 
Trennungsvokal,  der  in  aimass-e-s  u.  s.  w.  erscheint.  —  Gegen  die 
Fassung  von  §  149  ist  entschieden  Einspruch  zu  erheben.  Man 
mag  aus  Bequendichkeitsrücksichten  das  -e  in  livre  u.  s.  w.  als 
Stütz-^'  bezeichnen,  aber  in  einem  Lehrbuche  für  Anfänger  darf  ein 
Satz  wie  .,es  sind  dies  Konsonantenverbindungen,  welche  ohne  nach- 
lautenden Vokal  nicht  aussprechbar  wären"  nicht  vorkommen.  Also 
malhabita  wird  zu  mcüahde,  nicht  nialabd,  weil  -hd  nicht  aussprechbar 
war?  Aber  nach  Schavans  eigener  Angabe  wird  dehet  über  deiht  zu 
deit  —  also  entweder  ist  hier  bt  aussprechbar  gewesen  —  dann  ist 
aber  auch  das  bd  in  nialabd.  aussprechbar,  oder  aber  deibf  ist  un- 
mittelbar zu  d'/f  geworden ,  dann  musste  auch  malabefu  zu  .mcdadu 
werden,  -dn  bedarf  aber  im  Französischen  keiner  „Stütze".  Wes- 
halb nicht  einfach  sagen:  die  auslautenden  Vokale  bleiben  in  den 
vulglat.  Proparoxj'tonis  und  nach  kons  -)-  l,  >•  und  hn,  sni  f  Eine  vor- 
treffliche Stütze  für  diese  Fassung  des  Auslautgesetzes  geben  die  ger- 
manischen Eigennamen  auf /(raw»,  wie  Bcrhtliraimi,  u.  s.  w..  frz.  Bedrani. 
Würde  es  sich  darum  handeln,  dass  in  somnu  u.  s.  w.  der  lateinische 
Vokal  als  Stützvokal  bliebe,  so  hätte  sich  ohne  Zweifel  Berldliramn 
zu  Bniramme  weiter  entwickelt.  Allein  somnu  u.  s.  w.  behält  gemäss 
dem  Rythmus  der  französischen  Wörter  seinen  lateinischen  Vokal 
als  r  bei,  -hnitun  dagegen  hatte  keinen  solchen  Vokal,  es  zeigte 
einen  andern  Rythmus:  -ttm,  wurde  eintach  zu  -m.  Ich  würde,  wie 
ich  es  rem.  Gram.  I,  313  gethan  habe,  etwa  ansetzen  päd^^rc,  söm'^nü 
smlfmü,  -es^mü  (G.  Paris  Rttm.  XXI,  354),  -db'^dk  aber  -dfu,  ferniu, 
dehet  u.  s.  w.,  d.  h.  der  Vokal,  der  zu  einer  bestimmten  Zeit  dem 
betonten  unmittelbar  tolgt,  fällt;  ist  er  entfernter,  so  bleibt  er.    Eine 


E.  Schwan,  G-rammatik  des  Altfraiuösischen.  91 

Stelle  für  sich  uimint  bekanatlich  -n  eiii.  Natüilicli  fällt  auch 
§  151  uuter  diese  Regel.  Er  heisst;  alle  palatalisirteii  Kousoiiauteii 
verlangen  einen  Stützvokal,  wenn  der  Laut  cU  oder  ts  entstellt. 
Aber  warum  konnten  die  Franzosen  des  XI.  Jahrhunderts  nicht  -s  so 
gut  im  Auslaute  sprechen  wie  die  des  XIX.  oder  wie  die  Pikarden 
des  XL,  die  tierts  u.  s.  w.  sprachen?  Auch  hier  handelt  es  sich 
darum,  dass  rohhi,  sah'm,  apiu,  exteraniu  und,  füge  ich  hinzu,  ordiu 
noch  vokalisches  i  hatten,  als  das  Auslautgesetz  wirkte,  also  röhiU, 
ördiü  u.  s.  w. ,  daraus  dann  robie,  rohdze.  In  gewissem  Sinne  ge- 
hört atich,  um  das  gleich  mit  zu  erledigen,  gage  aus  germ.  wadi 
hierher.  Schwan  setzt  vadium  an,  doch  w<äre  daraus  entweder  yai 
(radiu  =  ra't)  oder  gaide,  gaire  (Vgl.  estulde,  esfuirc)  entstanden. 
Es  ist  vielmehr  von  germ.  /cadi  auszugehen,  dessen  /  auf  d  genau 
so  wirkte  wie  das  /e  von  ordie,  vgl.  rom.  Gramm.  I,  §  510.  —  §  154 
ist  durch  die  Beispiele  miss verständlich.  Tritt  zu  dem  als  e  erlialtenen 
Vortonvokale  epenthetisches  l,  so  soll  <i.  oi  entf^tehen.  Das  hat 
aber  nur  Geltung,  wenn  das  e  ursprünglich,  nicht  wenn  es  aus  a 
entstanden  ist,  vgl.  namentlich  das  SuÜix  -aison.  Bei  Beaucoisis 
wird  oi  statt  ai  auf  Rechnung  des  ü  zu  setzen  sein,  Cambroisis  ist 
vielleicht  erst  eine  Neubildung  nach  Bcaia-oi.sis.  Weiter  ist  das 
Suffix  in  folloier  als  Nachbildung  des  -oier  =  icare  in  otroicr  auf- 
gefasst.  Nach  der  Einsprache,  die  Zt.  X,  276  dagegen  erhoben 
ist,  darf  man  wol  erwarten,  dass  Schwan  seine  Auffassung  irgendwo 
rechtfertige.  —  Es  wäre  hier  wol  am  Platze  gewesen,  dai'auf  hin- 
zuweisen, dass  zwar  der  Vortonvokal  im  Ganzen  denselben  Gesetzen 
folgt  wie  der  auslautende,  dass  aber  sein  Bleiben  mitunter  durch 
die  nachfolgende  Konsonantengruppe  verlangt  wird.  Schwan  hat 
das  erste  getan,  nicht  das  zweite.  Nach  §  127  musste  man  erwarten, 
dass  aus  fricionc  et\ou  entstehe  und  Schwan  selber  scheint  nach 
§  62,  2  dieser  Ansicht  zu  sein,  dann  müsste  aber  auch  haiiiel-jjone 
(§  257)  zu  ame.on  werden,  nicht  amegon  u.  s.  w.  Es  hätte  also 
gesagt  werden  müssen,  dass  der  Vortonvokal  ohne  Rücksicht  auf 
die  vorhergehenden  Laute  bezw.  Silben  bleibt  vor  ci:  eriron.  ni: 
chaignon,  IL-  appariWer,  dagegen  nicht  vor  ti:  panjon  r\\^  parfifione 
u.  a.  —  §  164.  Dass  fabone  zu  taon  wird,  sapone  als  mvon  bleibt, 
wird  seinen  Grund  darin  haben,  dass  es  sich  dort  um  vulglat.  o 
handelt,  hier  erst  um  französisches.  Dasselbe  gilt  §  164,  3  von  mic 
neben  cuve.  —  §  165.  Das  franz.  Samedi  wird  mit  deutschem  Samstag 
verglichen.  Es  ist  aber  liervorzuheben,  dass  die  germanische  »>2-Form 
zunächst  an  die  byzantinische  anknüpft,  s.  Kluge  unter  Samstag,  so 
dass  man  also  annehmen  müsste,  frz.  samedi  sei  v<im  deutschen 
Sambastag  beeintiusst,  was  wenig  wahrscheinlich  ist.  Mir  sclieint 
die,  wenn  ich  nicht  irre  von  Konrad  Hofmann  herrührende  Herleituag 
von  septlmus  dies  oder  wenigstens  eine  Versdn-änkung  von  t^'jbbafu 


92  Referate  tind  Besensionen.     W.  Meyer-Lübke, 

und  septmu,  frz.  seme  richtiger.  —  §  166.  Neben  fonjc  aus  fahricat 
war  farge  und  als  weitere  Beispiele  escoloimie  aus  excoluhricat,  tenerge 
aus  tcnebriais  zu  nennen.  —  §  172,  Z.  7  ist  wol  „vor  konsonant"  zu 
streichen,  ebenso  §  172,  2  das  als  afr.  angeführte  gonfler.  —  §  174 
wird  als  Vorlage  von  dräsche  ein  gerni.  drastica  angeführt.  Allein 
das  germ.  Wort  lautet  drasti,  Stamm  drastja,  und  nichts  berechtigt  uns, 
eine  lateinische  Weiterbildung  mittelst  -ica  anzunehmen.  Derartige, 
bloss  des  Systems  halber  angesetzte  Grrundformen  verdunkeln  sogar 
die  richtige  Erkenntnis«  der  Vorgänge.  Drasti  oder  drastia  ist  in 
die  Sprache  aufgenommen,  als  angiistia  schon  angossa  war,  infolge- 
dessen erfährt  dieses  jüngere  -sfia  eine  andere  Behandlung,  vgl.  das 
über  gage  gesagte.  —  §  175.  Auf  engl,  faitk  für  die  Aussprache  des 
afr.  d  sollte  man  sich  nicht  berufen,  da  es,  wie  schon  von  Andern 
bemerkt  worden  ist,  in  seinem  Auslaut  an  fnäh  angelehnt  sein  kann, 
also  nicht  streng  beweist.  —  §  192.  Luisir  kann  zwar  auf  lucere  be- 
ruhen, da  jedoch  alle  andern  romanischen  Sprachen  ohne  Ausnahme 
auf  lucire  weisen,  so  wird  man  das  frz.  Wort  niclit  anders  beurteilen. 
Dass  larrecin  Buchwort  sei,  bezweifle  ich,  vgl.  Litbl.  f.  rom.  u.  genn. 
Phil.  1891,  S.  303.  —  194,  Anm.  2.  Dass  awüfc  Lehnwort  und  dass 
es  die  normale  altfranzösische  Form  sei,  muss  ich  auch  jetzt  noch 
bestreiten.  Da  das  schrittlateinische  nur  aniicitia,  nicht  amkUas 
kennt,  so  kann  afr.  amistie  nicht  aus  der  lateinischen  Schriftsprache 
stammen.  —  §  200.  Unter  den  Lehnwörtern  wird  cage  angeführt. 
Ich  habe  das  e  statt  ch  aus  Dissimilation  erklärt,  rom.  Gramm.  I,  S.  332 
und  halte  diese  Erklärung  für  die  allein  statthafte.  Von  franz. 
cage  lässt  sich  wallon.  fsef  nicht  trennen ,  dieses  al)er  ist  ganz 
korrekt  aus  caven  entstanden,  da  ve  im  Wallonischen  zu  iv 
wird,  s.  rom.  (iramm.  I,  S.  426.  Also  im  Wallonischen  war  der 
silbenschliessende  Konsonant  kein  Palatal,  folglich  konnte  im  Silben- 
anlaut der  Palatal  eintreten,  im  Franz.  aber  verhindei'te  g'  am 
Silbenschluss  //  im  Silbenanlaut.  Ebenso  verhält  sich  frz.  codier  zu 
wallon.  t^sokc  aus  calcare.  Zu  diesen  schon  a.  a.  0.  gegebenen  Bei- 
spielen füge  ich  nun  noch  hinzu  kädlc,  das  Marchot,  Phonetique 
d'un  patois  wallon  S.  4  beibringt,  und  das  sich  dem  frz.  catouiUe, 
gazouiUe  vergleicht,  s.  aucli  Zt.  f.  rom.  Phil.  X^',  242.  —  §  201.  Dass 
-ucn  zu  -nie  werde,  halte  ich  durch  tuir  nicht  für  erwiesen,  da  diesem 
fuite  u.  a.  zur  Seite  stehen;  eine  Ilnibihlung  von  rarruea  zu  carruta, 
wie  sie  Schwan  annimmt,  um  charnie  aus  dem  Wege  zu  schaffen, 
ist  unmöglich,  vgl.  Cohn,  die  Suftixwandl.  im  Vulglat.  S.  298;  dass 
rue  nicht  von  ruga  komme,  da  auch  im  Span.,  Portg.,  Prov.  rita  be- 
stehe, diese  aber  sich  nicht  aus  ruga  entwickeln  können,  ist  nicht 
richtig,  denn  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ist  das  heute  kaum  mehr 
gebräuchliche  span.,  portg.  riia  (.Tallicismus,  und  pistoj.,  luccli.  ruga 
Strasse   (s.  Petrocchi   diz.  universale   della   lingua   ital.   s.  v.   ruga) 


E.  Schwan,  Grammatik  des  Altfranzösischen.  93 

zeigt  deutlich,  dass  auch  frz.  rne  aus  ruga  entstanden  ist.  —  §  206,  2, 
Anm.  1.  „Die  Städtenamen  auf  -ai  und  -i  können  nicht  auf  -acu 
oder  -aco  zurückgeführt  werden."  Den  Beweis,  dass  -acu  nicht  zu 
-ai  oder  den  Nachweis  dessen,  was  es  sonst  werde,  suche  ich  in  dem 
ganzen  Buche  umsonst.  —  §  215.  Die  Cleschichte  voii  aqua  =  eve 
=  eau  ist  sicher  unriclitig.  Das  nfr.  ea7i  soll  auf  pik.  ianr  =  aiwe 
—  iawe  zurückgehen.  vSchwan  nimmt  also  an,  im  Pikardischen  werde 
ai  zu  ia,  oder  wenigstens  aiwe  zu  iawe,  doch  sehe  ich  mich  vergeblich 
nach  irgend  einer  zweiten  Form  um,  die  dieser  sonderbaren  Um- 
stellung des  /  auch  nur  halbwegs  zur  Stütze  dienen  könnte.  Noch 
weniger  ist  mir  vei'ständlich,  wie  die  Normannen  und  die  Pariser 
dazu  gekommen  sein  sollten,  sich  für  „Wasser"  eines  pikardischen 
Ausdruckes  zu  bedienen.  Das  efc,  das  bei  Rutebuef  mit  Icve  reimt, 
soll  aus  aive  entstanden  sein.  Aber  kann  denn  e  aus  a  mit  e  aus 
ai  bei  Eutebuef  reimen?  Wer  übrigens  Eutebuefs  Eeime  genau 
studirt,  wird  bald  bemerken,  dass  seine  Sprache  keineswegs  eine  reine 
ist,  dass  er  vielmehr  Formen  gebraucht,  die  bald  nach  der  Pikardie, 
bald  nach  andern  Gegenden  weisen.  Soweit  ich  die  Mundarten  und 
die  Flussnamen  übersehe,  zeigt  aqua  drei  Eeflexe:  eau(e),  das  mit  heau 
assonirt  im  Pikardisch-Normannischen  und  der  Ile  de  France,  au(e), 
das  mit  dem  Vertreter  von  ala  gleichen  Vokal  zeigt  im  Lothringischen 
und  z.  T.  der  Franche-Comte,  s.  Horning,  Zt.  f.  rem.  Phil.  XII,  578, 
und  eve  in  Poitevinischen,  im  südlichen  Orleans  und  wol  auch  noch 
im  Zentrum.  Nehmen  wir  als  gemeinsame  Grundform  ewe,  so  wäre 
daraus  im  Norden  und  Westen  bis  nach  Paris  eawe,  eaue  entstanden, 
im  Süden,  wo  gennanischer  Einfluss  weniger  stark  war,  das  iv,  das 
im  Norden  wenigstens  im  Wortinnern  noch  zunächst  blieb,  zu  r  ge- 
worden, infolgedessen  e  geblieben,  im  Osten,  wo  für  e  vor  Labialen  a 
erscheint,  ewe  zu  awe,  aue  geworden.  Mit  Schwans  Grundform  aive 
ist  weder  das  afr.  evc,  das  mit  e  aus  a  reimt,  noch  die  östliche  Form 
mit  a  oder  o  vereinbar.  Eine  Erwähnung  hätte  übrigens  auch  aigiie 
verdient.  —  §  216.  Donc  sollte  nicht  mehr  auf  denique  zurückgeführt 
werden,  da  doch  die  Grundlage  des  romanischen  Wortes  als  dunque 
inschriftlich  gesichert  ist.  —  §  218.  Die  Eegel,  dass  x  -{-  kons,  nur 
vor  dem  Tone  zu  .s'  werde,  ist  zu  eng.  Schon  in  lateinischer  Zeit  ist 
X  -\r  kons,  zu  s  -|-  kons,  geworden  ohne  Rücksicht  auf  den  Accent, 
s.  rem.  Gramm.  I,  S.  321;  beweisend  ist  namentlich  obw.  //estrr  = 
exterus,  wo  der  Diphthong  zeigt,  dass  unmöglich  Proklise  Schuld 
sein  kann,  und  span.  siesta.  Gegen  meine  Annahme  wird  frz.  sisfe 
aufgeführt,  aber  dieses  Woi^t  kann  doch  nicht  zur  Stütze  einer 
Lautregel  verwendet  werden.  In  der  Anmerkung  ist  mesche  zu 
streichen,  da  das  Wort  afr.  mecJie  lautet,  vgl.  Horning  in  dieser 
Zt.  X,  243.  —  §  222.  Dass  crescere  lautgesetzlich  zu  crestre  werde, 
ist   schwer   zu   glauben.     Entweder   hat   die   Synkope   des  e  statt- 


94  lieferate  und  Jiezensionen.     W.  Meyer-Lübke, 

gefunden,  als  crescere  noch  creskere  lautet,  dann  wäre  zwar  crcscre 
vielleiclit  im  Zentrum  zu  cmsre  (vgl.  mcsJo  aus  mesde)  und  weiter 
zu  ercsfre  geworden,  im  wallen,  aber  hätte  kres  entstehen  müssen, 
während  die  wallon.  Form  kreh  lautet,  also  sc'  voraussetzt.  Folglich 
muss  man  von  cresk'en;  ausgehen,  dass  aber  sk',  nicht  sk'  bestanden 
habe,  ist  wenig  walu"scheinlich.  Aus  crekk're  endlich  musste  ebenso 
creisre  (creistrc)  entstehen ,  wie  plaindre  aus  ].)lai'(ere.  Da  Schwan 
selber  annimmt,  das  torcd  zu  fort,  pascit  zu  paist  wird,  so  versteht 
man  nicht,  weshalb  er  an  paistre  als  organischer  Form  Anstoss 
nimmt.  —  §  229,  2  wird  espaule  als  Lehnwort  erklärt.  Aber  woher 
soll  es  entlehnt  sein?  Doch  nicht  aus  der  Schriftsprache,  denn 
diese  sagt  aiiierus.  Unter  Bedingungen,  die  noch  festzustellen  sind, 
vielleicht  unter  schriftsprachlichem  EinÜuss,  hat  die  ^'olksprache, 
nachdem  vetidu,  situla  längst  zu  vctln,  sitla  geworden  waren,  das 
Suffix  -ulus  zur  Bildung  von  Diminutiven  beibehalten  und  schaift 
also  zu  s^xda  ein  spahda.  Man  mag  sagen,  das  zw^eisilbige  -ida 
sei  entlehnt,  aber  spatnla  ist  darum  ebensowenig  ein  Lehnwort  als 
etwa  deutsches  „Schlächter"  eines  ist,  weil  das  Suffix  -er  in 
letzter  Instanz  ans  dem  Lateinischen  stammt.  —  §  239  und  schon 
§  60  wird  sejorncr  als  afr.  angeführt ,  richtiger  ist  sozjorner 
oder  sejorner ,  vielleicht  auch  sezjorntr ,  obschon  mir  die  letzte 
Form  nicht  begegnet  ist,  jedenfalls  aber  darf  man  nicht  sccors, 
sejorncr  gleichmässig  schreiben,  wie  die  modernen  Reflexe  zeigen.  — 
248.  In  -mnna  soll  schon  vulghit.  Angleicliung  von  mn  zu  n)i  statt- 
gefunden haben:  Garonne,  colonnc  aus  Garunina,  coliimna.  Aber  jenes  ist 
doch  kein  nordfranzösisches  Wort,  dieses,  wie  afr.  colompne,  zeigt,  auf 
eine  Stufe  zu  stellen  mit  afr.  dampncr,  nfr.  danner,  das  Schwan  richtig 
beurteilt,  (raronne  ist  korrekt  nach  südwestfranz.  Lautgesetzen.  — 
§  261  ist pUüi!ieba-jjlaignöi<'  zu  streichen  gemäss  §  196.  —  §  247.  Schwan 
hält  noch  daran  fest,  dass  bj,  rj  sowohl  //  als  dl  ergeben  kihinen. 
Hätte  er  seine  Blicke  etwas  über  das  Französische  hinausgehen  lassen, 
so  wäre  er  wohl  andrer  Ansicht.  Er  sagt,  Juijo''-  sei  nicht  gerecht- 
fertigt, will  also  a'i  aus  liabeo  erklären.  Aber  wie  soll  ital.  aggio, 
prov.  ai,  span.  he,  portg.  hei  aus  liabeo  entstehen  könncMiV  Er 
führt  liabjanfe-aiant  an  und  vergisst,  dass  nicht  nur  die  lateinische 
Form  habcndo  ist,  sondern  dass  auch  der  Oxforder  Psalter  kein 
ayaid  sondern  nur  aeant  kennt,  dass  also  at/ant  eine  jüngere,  folg- 
licli  analogische  Bildung  ist,  die  für  die  Lautregeln  sich  nicht  ver- 
werten lässt.  Er  oi)erirt  weiter  mit  j>li(ie  aus  phvla.  wälirend  doch 
wiederum  aucli  andere  romanisclie  Sjtrachen  bei  diesem  Woite  eine 
besondere  Entwicklung  zeigen.  —  §  260.  Die  Anmerkung,  viaire 
aus  oiariiun  sei  gelehrt,  verstehe  ich  nicht.  Ich  kenne  afr. 
viaire  nur  in  der  Bedeutung  „Ansicht",  lat.  ciarium  in  der  Be- 
deutung .die  Wege  betreffend",  welche  zwei  Worte  doch  niclits  mit 


E.  Schwan,  Grammatik  des  Ältfransösisclien.  05 

einander  zu  tliuu  haben  können.  §  313  wird  vidjarja  als  (Trundfonn 
angeführt,  womit  ich  aucli  nichts  anzufangen  weiss,  da  viairc  Mask. 
ist.  —  §  262,  2  wird  estrarq/e  als  «nördlichen  Dialekten"  angehörend 
bezeichnet;  mir  sind  keine  nordfranzösischen  Mundarten  bekannt,  in 
denen  ni  zu  n:  würde.  —  267.  Mit  volt  aus  volivH  war  tint  aus 
temcit  zusammenzustellen,  neuwall,  tef  wie  rof.  —  300:  Für  e  aus  a 
wird  die  Ausspiache  ä  angenommen.  Wie  verträgt  sich  damit,  dass 
dieses  e  französischer  Lehnwörter  im  Provenzalischen  mit  prov.  e, 
nicht  mit  prov.  e  gebunden  wird?  —  273,  2  ist  same  zu  streichen, 
da  es  doch  aus  seminat  nicht  auffälliger  ist  als  /atne  aus  fernma, 
also  mit  den  hier  besprochenen ,  übrigens  kaum  vor  dem  Ende  des 
XIV.  Jahrh.  auftretenden  Erscheinungen  (er  =  ar)  nichts  zu  tlmn 
hat.  —  Anfang  von  276  (o  und  o  reimen  nicht)  und  vSchluss  von 
277  (o  reimt  noch  im  XIV.  Jahrh.  mit  g)  stehen  in  merkwürdigem 
Widerspruche  zu  einander.  —  §  283.  Dass  zu  irgend  einer  Zeit  oi 
gesprochen  worden  sei,  muss  ich  auch  jetzt  noch  in  Abrede  stellen.  — 
§  294.  Dass  -alls  zu  -ens  werde ,  nicht  wie  ich  annehme  zu  -ietis, 
steht  mit  den  Urkunden  und  den  modernen  Dialektformen  im  W^ider- 
spruch.  —  §  311  Anm.  cur  aus  c-ur  und  Jeiai  aus  Je-un  sollen  sich  aus 
Formen  wie  curöusjaüirr  erklären.  Allein  dass  vortonig  c-ii  zu  ö  werde, 
lehrt  Schwan  nirgends,  jeim  ist  natürlich  nur  historische  Schreibung, 
aus  je-im  konnte  ja  gar  nichts  anderes  als  län  entstehen,  cur  aber 
dürfte  aus  jenem  Schwanken  von  ü  und  ö  vor  >■  zu  erklären  sein, 
das  der  Schriftsprache  des  XVI.  Jh.  eigen  ist.  —  317  Anm.  wird  antlf 
als  analogisch,  §  215  als  lautgesetzlich  erklärt.  —  §  320,  2  war 
atw,  jornz  (woraus  jor£),  danz  zu  schreiben,  nicht  ans  u.  s.  w.  — 
§  325,  6  wird  plage  trotz  des  Einspruches  in  dieser  Zt.  X,  277  auf 
plagica  zurückgeführt.  Ich  sehe  von  allem  übrigen,  was  sich  dagegen 
sagen  Hesse,  ab  und  frage  nur  nach  dem  Beweis  dafür,  dass  plagica 
zu  playe  Averden  kann.  Mir  ist  kein  zweites  franz.  Wort  erinnerlich, 
in  welchem  die  Gruppe  agic  vorkäme,  aber  wenn  man  nach  allgemeinen 
Analogien  schliessen  kann,  nach  digita  doie,  -agine  -ain,  magku  span. 
mego,  so  wird  man  sagen  dürfen,  agi  sei  schon  vor  Eintreten  der 
»Synkope  zu  al  geworden,  aus  plaiga  aber  wäre  im  Französischen 
plaic  entstanden.  So  lange  also  nicht  nachgewiesen  ist,  dass  pJaglca 
zw  plage  werden  müsse,  darf  mit  diesem  Typus  nicht  operirt  werden.  — 
§  329.  Der  Übergang  von  l  vor  Kons,  zu  u  wird  in  die  Mitte  des 
XI.  Jh.  versetzt  und  dazu  nur  die  Bemerkung  ., vereinzelt  noch 
früher"  gemacht.  Wie  ist  dieses  „vereinzelt"  zu  verstehen?  In  be- 
stimmten Gegenden,  oder  unter  bestimmten  Bedingungen,  oder  in 
der  Schrift?  Die  Datirung  ist  jedenfalls  um  ein  Jahrhundert  zu  spät, 
vgl.  G.  Paris  Romania  XVII,  238,  1,  Devaux,  Essai  sur  la  langue 
vulgaire  du  Dauphine,  S.  337,  wo  Belege  für  das  X.  Jh.  gegeben 
werden.    Aus  ue  -\-  l  soll  im  Anlaut  yö,  im  Inlaut  aber  ö  entstehen: 


96  Referate  und  Rezensionen.     J.   Vising, 

//eux,  veut.  Mir  ist  kein  Fall  bekannt,  wo  im  Zentralfranzösischen 
betonter  direkt  anlautender  Vokal  anders  behandelt  würde  als  betonter 
nach  Konsonant,  da  man  ja  chier  u.  dgl.  nicht  mit  oeiit  vergleichen 
kann,  wol  aber  kommt  vieut  im  Afr.  wie  in  heutigen  Mundarten 
mehrfach  vor  und  veut  ist  analogisch.  Und  wie  soll  man  Jincieux 
(vgl.  das  Zitat  bei  Cohn,  Suffixwandlungen  S.  351)  erklären,  wenn 
nicht  aus  lins-ueu-s  Uns-ieu-s?  Dass  endlich  fius  den  nördlichen  Dialekten 
angehöre,  wird  nicht  behaupten,  wer  weiss,  dass  /j/ö  u.  dgl.  noch 
heute  in  der  Champagne,  im  Morvan  u.  s.  w.  lebt.  —  Auf  die  Formen- 
lehre und  die  gelegentlichen  Bemerkungen  zur  VVortbildungslehre 
einzugehen  unterlasse  ich,  da  der  meine  abweichenden  Ansichten 
bringende  zweite  Teil  der  romanischen  Grammatik  baldigst  erscheinen 
wird. 

Wien.  W.  Meyer-Lübke. 


Paget  Toynbee,  Spechnens  of  old  French  (IX — XV  Centuries)  with 
Introduction,  Notes  and  Glossary.  Oxford.  Clarendon  Press. 
1892.  VII  +  492  4-  205  S. 

An  alt  französischen  Chrestomathien  fehlte  es  bekanntlich  nicht; 
nur  die  Verfolgung  eines  speciellen  Zweckes  konnte  die  Herausgabe 
einer  neuen  rechtfertigen.  Ein  solcher  Zweck  ist  nun  auch  für  die 
vorliegende  Chrestomathie  angegeben,  der  Zweck  nämlich,  diejenige 
altfranzösische  Litteratur  vor  allem  zu  berücksichtigen,  die  für 
England  besonderes  Interesse  hat.  Dadurch  wird  die  Haltung  des 
Buches  bestimmt :  Stücke  wie  Froissarts  Beschreibung  von  der  Aus- 
rüstung der  Schotten  auf  einem  Plünderungszug  nach  England  (S.  293), 
desselben  Pastourelle  aus  Anlass  der  Rückkehr  König  Johanns  in 
englische  Gefangenschaft  (S.  298),  Deschamps"  Rondeau  ül)er  das 
Thema:  „Die  Franzosen  rathschlagen,  während  die  Engländer  handeln*^, 
(S.  312),  desselben  Ballade  an  Geoifrey  Chaucer  (S.  314),  und  voll- 
ends die  Fragmente  aus  Chardrys  Petit  Plet  (S.  175)  und  dem  Dcbat 
des  herants  d'ar»ies  (S.  352),  wo  die  Vorzüge  der  englischen  Damen 
über  die  französisclien  hei'vorgehoben  werden,  sind  für  die  Auswahl 
der  Stücke  sehr  bezeichnend.  Aus  demselben  Grunde  ist  eine  sehr 
grosse  Zahl  anglouormannischer  Texte  excerpiert  worden.  Dass 
unter  diesen  doch  nicht  der  anglonormannische  Brandan  vorkommt, 
scheint  ein  Mangel,  da  derselbe  eines  der  ältesten  und  in  vielen  Hin- 
sichten interessantesten  Litterat urdenkmäler  ist,  zudem  eine  irische 
Legende  wiedergiebt. 

Wenn  man  Herrn  Toynbees  Chrestomathie  von  Anfang  an 
durchgeht,  so  bekommt  man  einen  sehr  ungünstigen  ersten  Eindruck. 
Die  „  Introduction '^,  die  eine  kurze  Geschichte,  Formen-  und  Vers- 
lehre des  Altfranzösischen  enthält,  verräth  nämlich  auf  Schritt  und 


Paget  Toynhee,  Specimens  of  old  French.  97 

Tritt  Unkenntniss.  Ein  paar  Beispiele  genügen,  um  dieses  strenge 
Urtheil  völlig  zu  motivieren.  S.  XXV  wird  unter  den  eigenthümlichen 
Zügen  der  pikardischen  Mundart  ie  =  trz.  e  angefühlt,  mit  dem 
Belege  chier  u.  a.  S.  XXXVIII  wird ,  in  Note  1 ,  die  Artikelform 
le  direkt  aus  ille  durch  Fall  von  il  erklärt.  Aehnliche  Verstösse 
begegnen  oft  auch  in  den  Anmerkungen  und  im  Glossar,  wo  von 
Etymologien  gehandelt  wird;  z.  B.  S.  394,  wo  la  labia  =  illa  labra 
angesetzt  wird;  S.  397  wo  serai  aus  einem  Intin.  ser  hergeleitet  wird; 
S.  402,  wo  unter  Hinweis  auf  G.  Pans  Vie  de  S.  Alexis  gelehrt  mrd, 
dass  die  Etymologie  von  musjode  unbekannt  ist;  oder  wo  (im  Glossar) 
acovetez  aus  acclapUare,  avel  aus  avouer  hergeleitet  werden;  oder 
wenn  regort  als  ein  germanisches  Wort  angesetzt  wird;  und  so  in 
zahlreichen  anderen  Fällen. 

Kommt  man  von  der  Einleitung  zu  den  Texten,  so  wird  der 
Eindruck  günstiger.  Die  Texte  sind  sehr  genau  abgedruckt.  Oft 
aber  sind  die  Litteratui'hinweise  ganz  ungenügend  und  die  zu  Grunde 
gelegten  Texteseditionen  veraltet  oder  wenigstens  nicht  die  besten. 
So  werden  für  Geoifrei  Gaimar  weder  die  Caxton-Society-Publikation 
durch  Th.  Wright  noch  die  Rolls-Series-Edition  durch  Sir  Duffus 
Hardy  und  Ch.  T.  Martin  genannt;  von  Fantosmes  Chronik  wird  nur 
eine,  und  zwar  die  älteste,  Ausgabe  namhaft  gemacht;  das  Adams- 
mysterium ist  Herrn  Toynbee  nicht  in  der  Edition  der  Romanischen 
Bibliothek  bekannt,  obwohl  diese  Anfang  1891  erschien  und  Toynbees 
Vorrede  April  1892  datiert  ist;  für  Villehardouin  ist  de  Wailly's 
erste  Ausgabe  benutzt,  Wadingtous  Manuel  des  Peches  ist  nur  als 
handschriftlich  angeführt  u.  s.  w.  Welcher  wichtigen  Mittel  zur 
Konstituierung  eines  guten  Textes  sich  Herr  T.  damit  begeben  hat, 
liegt  auf  der  Hand.  Die  letzte  Edition  des  Adamsmysteriums  hätte 
ihn  wenigstens  lehren  können,  dass  die  analogische  Form  manges 
(S.  116;  Adamsspiel  V.  260)  und  die  zusammengezogene //•«  (==:fera, 
S.  117,  Adamsspiel  V.  284)  diesem  Gedicht  noch  nicht  angehören. 
So  wie  Herr  T.  de  Waillys  Text  abgedruckt  hat,  will  de  Wailly  ihn 
in  der  zweiten  Auflage  (1882)  nicht  mehr  liaben;  die  Aenderungen 
betreffen  nur  Kleinigkeiten,  das  ist  wahr,  cos  für  vous,  por  für  poiir, 
sor  für  sur,  u.  dgl.  m. 

Die  Anmerkungen  sind  reichhaltig  und  bilden  einen  will- 
kommenen Gegensatz  zu  Bartsch's  Schweigsamkeit  bei  schwereren 
Stellen.  Aber  sie  sind  allzu  reichhaltig:  dieselbe  Sache  wird  immer 
und  immer  wiederholt.  So  enthält  Anmerkung  IV,  152  folgendes: 
„per,  nom.  plur. ;  this  form  (instead  of  ^ers  =  Lat.  pares)  is  due  to 
the  analogy  of  substantives  of  Lat.  second  deck  [libri,  muri,  etc.) 
see  Introd.  §  12  B.  note  3,  p.  XXX";  und  Anmerkung  V,  14  (zu 
einer  Stelle,  die  eine  Seite  nach  der  ersten  vorkonnnt)  folgendes: 
^per,  nom.  pl. ;  the  s  of  nom.  plur.  of  Lat.  tliird  deck  {pares)  disap- 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV^.  7 


98  lieferate  und  Bezensionen.     Th.  Siebs, 

peared  at  an  early  date  owinj?  to  the  analoj^j'  of  masculmes  of  Lat: 
second  decl.  (muri).  See  Iiitrod.  §  12  B.  note  3,  p.  XXX^  Und 
dies  hatte  man  schun  aus  der  Introduetiou  gelernt.  Hunderte  von 
Fällen  von  derselben  Überfiüssigkeit  könnten  anueführt  werden.  Und 
wie  viel  Mal  gesagt  wird,  dass  qid  ohne  Antecedens  gebraucht  wird, 
oder  dass  Besitz  durch  a  ausgedrückt  wird,  oder  dass  »langete  von 
iifam/ier  kommt,  oder  dass  nes  =  ve  les  ist  u.  s.  w.,  ist  gar  nicht 
VAX  zählen.  Das  muss  man  vollständigen  Mangel  an  pädagogisclier 
Methode  nennen.  Dennoch  enthalten  die  Anmerkungen  bisweilen  zu 
wenig.  Da  der  Herausgeber  Cost  (S.  26)  als  Co  est  auftasst  (s.  (rlossar), 
müsste  er  doch  Cost  est  des  Textes  auifallend  linden  und  kommen- 
tieren. Manchmal  ist  ein  Vers  zu  lang  oder  zu  kurz,  ohne  dass  dies 
bemerkt  wird,  z.  B.  Aliscant  30,  79,  Adam  5,  u.  s.  w. 

Das  Glossar  ist  der  beste  Theil  des  Buches.  Dass  die  Ety- 
mologien oft  misslungeu  sind,  wurde  schon  gesagt.  Ferner  werden 
Etymologien  gegeben  oder  weggelassen  ohne  festes  Princip.  S.  14 
ist  für  ardoir  sein  Grundwort  gegeben,  nicht  aber  für  das  etymologisch 
weniger  durchsichtige  arkrc;  8.  24  fehlt  das  Etjnnon  für  hesace,  besehe, 
wird  aber  für  die  dazwischen  stellenden  besagte,  besahl  angegeben, 
u.  s.  w.  Fehler  kommen  auch  vor,  z.  B.  die  Betonung  abi's  als 
Nom.  Sg.,  die  Form  bachelier  statt  bacheler,  die  Übersetzung  von 
enne  mit  „indeed",  „verih''^  ohne  weitere  Erklärung,  als  wäre  es  eine 
gewöhnliche  aftirmative  Partikel.  Das  schwierige  e)ttresa'd  wird  mit 
„forth  witli"  wiedergegeben;  vgl.  Paris  in  Romania  XVin,  148. 
Aber  im  allgemeinen  sind,  so  weit  ich  liabe  nachprüfen  können,  die 
Bedeutungen  richtig  und  die  Hinweisungen  exakt,  beides,  wie  man 
weiss,  schwache  Punkte  in  Bartsch's  Chrestomathie. 

JoHAK  Vr.siNa. 


Cariiel ,  D.  Le  dialectc  ßantand  de  France.  Etüde  phonetii^ue 
et  morpliologique  de  ce  dialecte  tel  ^\\\  il  est  parle  speci- 
alement  i\  Bailleul  et  ses  environs  (Nord).  Ouvrage 
ayant  obtenu  une  grande  medaille  d"or  au  concours  de  la 
Societe  des  Sciences  de  Lille  (1890,  section  de  lingui- 
stique).     Paris,  Emile  Bouillon,  1891. 

Die  Schrift  behandelt  die  Mundart  von  Belle  (Bailleul i  in 
Westvlandern.  Das  westvlamische  Sprachgebiet  wird  im  Norden 
begrenzt  durch  die  Nordsee  von  Grevelinge  bis  Sluys,  im  Osten 
durch  eine  Linie  Sluj's  —  Vive  S.  Baufs  a.  d.  Leye;  von  da  zieht 
sicli  die  Scheide  über  Werwick  und  Nieuw  Benjuin  nadi  St.  Omaars 
an  dem  Flusse  Aa  und  verfolgt  dessen  Lauf  l)is  zur  Mündung.  Der 
westlichste  Teil  dieses  Gebietes  gehört  zu  Frankreich:  es  sind  die 
Arrondissements    Hazebrouk    und    Diinkircht^n    im    Departement    du 


I).  CoDirl,  Le  dialecfe  flawand  de  France.  99 

Nord.  Als  üntermundarten  pflegt  man  die  Dialekte  von  Dünkirchen, 
Cassel,  Hazebrouk  und  Belle  anzunehmen;  den  letzteren  bejirenzt 
etwa  eine  Linie  Yieux  Berijuin — Bonte  Katte — Mont  Noir — Berthen — 
Fletre.  Die  Geschäftssprache  ist  hier  französisch,  die  Volkssprache 
vlamisch:  so  ist  l)egreiflich,  dass  sich  diese  durch  Eeichtum  an 
franzi»sischeu  Lehnwörtern  und  durch  schnelleres  Tempo  der  Rede 
von  anderen  viamischen  Mundarten  unterscheidet;  auch  mögen  sich 
gewisse  lautliche  Eigentümlichkeiten,  z.  B.  die  Aussprache  des  seh 
als  .s  =  frz.  c7/,  indirekt  durch  französischen  EinÜuss  erklären. 

Die  Societe  des  sciences  zu  Lille  hat  dem  Buche  auf  Grund 
eines  —  in  der  Vorrede  mitgeteilten  —  Gutachtens  von  Victor 
Hemy  die  grosse  goldne  Medaille  verliehen,  vermutlich  um  zu 
weiterer  Tätigkeit  anzuregen.  Auch  wir  begrüssen  die  Arbeit  dank- 
bar, haben  aber  sehr  viel  daran  auszusetzen;  und  wenn  wir  sie 
— ■  gerade  in  einer  unseren  französischen  Nachbarn  zugänglichen 
Zeitschrift  —  eingehender  beurteilen,  als  man  es  bei  diesem  Werke 
erwarten  sollte,  so  ist  unser  lebhaftes  Interesse  an  Bestrebungen, 
wie  die  des  Herrn  Abbe  Carnel  sind,  die  Ursache. 

C.  kann  aus  der  ergiebigen  Quelle  seiner  Heimatsmundart 
schöpfen;  warum  reicht  er  uns  nur  so  spärliche  Tropfen?  Ein  paar 
Beispiele,  die  sich  immer  wiederholen,  un4  die  geringen  Proben  aus 
der  Umgangssprache,  die  sich  —  von  den  Uebersetzungen  ab- 
gesehen —  auf  zwei  oder  drei  Seiten  drucken  Hessen,  genügen  nicht 
zu  einer  guten  Skizze.  Vor  Allem  auch  hätten  wir  von  einem 
französischen  Werke  ein  treffendes  Wort  über  das  Verhältniss  des 
romanischen  Elementes  zum  germanischen  erwartet ,  statt  dessen 
aber  werden  (S.  86)  neun  Lehnwörter  aufgezählt,  z.  B.  domestlken, 
perniettfren.  refioiereu  etc.  Diesen  Mängeln  sowie  auch  dem  Felilen 
aller  sprachstatistischen  Angaben  liesse  sich  vielleicht  nachträglich 
abhelfen;  schlimmer  aber  ist,  dass  der  Verfasser  keine  festen  Grund- 
sätze in  der  Wahl  seines  Materials  hat.  Oder  habe  ich  die  Einleitung 
(S.  5  u.  ff.)  missverstanden  V     Das  Viamische  erscheint  hier  als 

_tout  simplement  uue  langue  parlee Plusieurs   causes   «»nt 

contribue  ä  produire  cette  diversite  des  dialectes  flamands.  II  ne  nous 
appartient  pas  d'entver  ä  ce  sujet  dans  des  considerations  philologi(iuos  et 
ethnographiques  qui  ne  sont  meme  pas  encore  entierement  müiies  et 
fixees.  —  Sans  doute,  on  va  parfois  uu  peu  loin  dans  la  nomenclature  et 
le  classement  des  dialectes  et  Ton  t'ait  trop  de  cas  de  certaines  Varietes 
de  prononciation  qui  sont  suuvent  ilues  ä  rignorance  et  ä  rimperfectinn 
des  organes  de  la  parole.  La  populace  ignorante  et  grossiere  emet  des 
sons  gutturaux.  nasaux,  päteux,  luurds;  eile  passe  cuntinuellemcnt  d'  un 
son  tres  long  et  tres  bas  ä  un  son  tres  bref  et  eleve.  eile  cunnait  peu  ou 
prtint  d'intermediaires ;  ce  n'est  puint  lä  l'etude  que  nous  avons  cn  vue; 
ce  n'est  pas  d'un  ..jargon-  (lu'il  s'agit —  L'etude  qui  suit  est  une 


')  Vgl.  Vercouillie.  Litbl.  f.  germ.  n.  roi».  Phil  1892  S.  29L 

7* 


100  Referate  und  Rezensionen.     Th.  Siebs, 

ßorte  de  yiammaire.  oü  naturellement  la  phonetique  prend  la  plus  iriande 
place.  Pour  avoir  les  raateriaux  de  ce  travail  il  a  fallu  patiemment 
fouiller  dans  les  profondeurs  de  ridioine  local .  eii  discerner  les  formes 
originales  et  distinguer  le  ^dialecte"  du  iargon  ou  de   l'idionae  abätardi."' 

Selbst  wer  sich  berechtigt  glaubt,  eine  rein  phonetische 
Skizze  einer  Mundart  geben  zu  dürfen,  muss  dennoch  in  der  spracli- 
wissenscliaftlichen  Methodik  bessere  Schulung  besitzen,  als  sich  in 
solchen  Worten  kundgiebt.  Über  die  Stellung  des  Viamischen  im  Kreise 
der  germanischen  Sprachen  ist  C.  nicht  genügend  unterrichtet,  und  wo 
sich  je  die  Spur  einer  historischen  Betrachtung  des  Lautwandels 
zeigt,  schlägt  sie  ohne  Grund  ganz  neue  Bahnen  ein.  So  heisst  es 
(S.  26)  vom  o-Klange  des  d  ,,il  parait  que  c'est  un  umlaut  d'uii  son 
ancien,  Va  grave  du  bas  saxon" ;  ,S.  50:  les  metatheses  ou  substitutions 
sont  fort  communes  ....  pourquoi  dit-on  dissendag  pour  dlngsdag."^ 
S.  31  wird  der  für  Belle  charakteristische  Übergang  des  e  zu  a 
(malk  „Milch")  und  des  a  zu  o  (kolf  „Kalb")  .,une  frappante  loi  de 
labialisation"  genannt  u.  a.  m.  Die  Kenntniss  irgend  einer  neuen 
Darstellung  einer  deutschen  Mundart  hätte  Herrn  CarnePs  Ansichten 
gewiss  modiüciei't,  aber  leider  hat  er  alle  vorhandene  Literatur  unter- 
schätzt: ist  doch  sogar  auf  die  bisherigen  westvlamischen  Arbeiten*) 
(auf  Coussemaker,  auf  die  reichen  Sammlungen  von  de  Bo,  auf 
Schuermans)  kaum  BeÄig  genommen. 

Doch  nun  genug  von  dem,  was  felilt,  und  zu  dem,  was  tat- 
sächlich geboten  wird.  Die  Schrift  nennt  sich  „etude  phonetique 
et  morphologique".  Der  letztere  Teil  giebt  nach  Art  ganz  kleiner 
Schulgrammatiken  kurze  Notizen  über  die  Wortklassen  nebst  Bei- 
spielen, und  schliesslich  erscheinen  in  einem  „Eesume  general"  als 
„conclusions"  fünf  stichhaltige  „traits  originaux"  der  j\Iundart,  die 
bereits  von  Winkler^)  klarer  und  praeciser  angegeben  sind.  Nur 
hat  C.  noch  ein  höchst  interessantes  Charakteristikum  des  Dialektes 
von  Bailleul  hinzugefügt  (S.  88):  „II  se  sert  de  mots  qui,  sans  etre 
originairement  propres  au  dialecte  (sie!),  ne  se  trouvent  plus  guere 
ailleurs  et  sont  exclus  de  la  langue  ecrite  ou  litteraire.  Ce  sont  des 
mots  disparus  qu'on  trouve  encore  dans  certains  vieux  textes  et  que 
cite  Kiliaan  ou  d'autres;  ou  bien  ce  sont  des  expressiuns  existant 
encore  dans  le  sud-ouest  de  TAngleterre,  dans  la  Zelande,  la  Frise 
etc.  .  .  ".  Und  nachdem  dann  16  urehrliche  und  in  Vlandern  ge- 
bräuchliche germanische  Wörter  aufgezählt  sind,^)  heisst  es:    „Nous 


')  Vgl.  jetzt  auch  H.  .1  ellinghaus.  Die  niederländischen  Mund- 
arten.    Forschgen.  d.  V.  f.  ndd.  Sprachfschg.  V.  Norden  n.  Leipzig  1892. 

-)  .Tohan  Winkler.  algemeen  nederduitsch  en  friesch  Dialecticon 
Haag  1874.  11.  389  fgg. 

^)  Wörter  wie  oltemets  =  ndl.  alto7n€ds,  in.st  (hengstX  stüte  .morceau 
de  pain".  ä  litse  .,un  peu",  gru^  .son  de  farine",  tun  (zäun),  drouf  =^  ndl. 


D.  Carnel.    Le  dialede  ßamand  de  France.  101 

laissous   lä   d'autres    (!!)    expressions   bätardes    prises    ä    la    langue 
frangaise". 

So  besteht  denn  das  Wissenschaftliche  der  Sclirift  lediglich  in 
dem  phonetischen  Teile.  Methodik  und  Ergebnisse  der  neuen  fran- 
zösischen Phonetiker  haben  noch  nicht  berücksichtigt  werden  können; 
die  älteren  englischen  und  deutschen  Arbeiten  aber  hätten  gründ- 
licher benutzt  werden  sollen.  Zunächst  wird  sehr  umständlich  die 
Allen  geläufige  Einteilung  der  Sprachlaute  vorgeführt,  wobei  freilicli 
eigenartige  Ideen  eingemischt  werden:  z.  B.  scheinen  die  Konsonanten 
bloss  als  unvermeidliche  Unterbrechungen  der  Vokale  zu  gelten  und 
werden  daher  sehr  stiefmütterlich  behandelt.  Nach  vielen  allgemeinen 
Ausführungen  kommt  C.  zu  dem  Schlüsse,  dass  man  sich  zu  phonetisclier 
Schi-eibung  bequemen  müsse,  und  erklärt  sodann  die  von  ihm  benutzten 
Zeichen. 

Man  kann  über  die  vielen  phonetischen  Systeme  sehr  geteilter 
Meinung  sein,  und  doch  wird  man  immer  die  vorliegende  Schreibung 
missbilligen :  einmal ,  weil  sie  teils  die  deutschen ,  teils  die  fran- 
zösischen und  niederländischen  Werte  der  Zeichen  zu  Grunde  legt; 
zweitens,  weil  sie  zur  Darstellung  der  einzelnen  Vokalwerte  die 
Accente  ('und')  benutzt,  die  man  doch  besser  für  die  Bezeichnung 
des  Wort-  und  Satzaccentes  reserviert;  ferner  weil  sie  die  Vokal- 
quantitäten nicht  klarstellt;  endlich  weil  sie  verschiedene  In- 
konsequenzen aufweist.  C.  hat  es  nicht  erreicht ,  sich  völlig  von 
der  historischen  Schreibung  loszulösen.  Das  sieht  man  vor  Allem 
an  der  Behandlung  der  Nasalvokale:  als  solche  figurieren  nämlich 
an  und  am,  en,  on  und  om,  öü,  eun,  iiü;  daneben  wird  als  „phoneme 
nasal"  das  ng  {=  ?^)  genannt,  wird  aber  niemals  praktisch  verwertet. 
Der  ach  =  Laut  (geschrieben  x),  der  ich  =  Laut  (y)  und  der  s  = 
Laut  (/)  sind  unter  den  „consonnes  doubles  et  triples"  besprochen; 
ts  wird  durch  griech.  &  dargestellt;  /  und  v  werden  als  Zeichen, 
aber  nicht  als  Laute  unterschieden.  Geringere  Mängel  zeigt  das 
Vokalsystem,  doch  ist  es,  wie  aus  den  folgenden  Bemerkungen  er- 
sichtlich, für  germanische  Mundarten  unpraktisch.  Vielleicht  ent- 
schliesst  sich  Herr  Carnel,  in  späteren  Arbeiten  ein  einfacheres 
System  zu  verwenden:  um  mit  einem  Vorschlage  entgegenzukommen, 
will  ich  kurz  die  Werte  der  von  Carnel  benutzten  Typen  durch  die 
Zeichen  der  Vokaltabelle  von  Bell- Sie vers  erklären  und  bei  jedem 
Vokal  in  eckiger  Klammer  das  meiner  Ansicht  nach  einfachste, 
Zeichen  hinzuiugen.  ,.      .,        . 

1)  Carnel's  a  in  vlam.   blad  =  Siev.  a^  faj-^.^),^(^3^i:j^  J^I^S'B 


droef,  bucht  .,friperie"  vgl.  got.  bugjan  (Francis,  etpH'.^MdbJc.  ß,.-XlRili^ö 
gleicht  weniger  passend  got.  (us-)baugjan),  tutsß  „|)f|,i^,^j;-',,(ygl.  a^|;^s^-|{l^l^d;> 
tütjenj  u.  a.  m.  ..      >     ^  >  *   ■  i 


102  Heferate  und  Rezensionen.     J.  EUinger, 

vlam.  kndpe  „valet"  =  Siev.  v^  in  franz.  pdie  fd;  helles  langes  a 
fehlt  im  vlam.];  3)  Carii.  a  in  vlam.  räder  =  Siev.  o^?  in  franz. 
fort  [öj;  4)  Carn.  oa  in  vlam.  moar  „aber''  =  Siev.  o^  in  engl,  walk 
fä  oder  griech.  wj;  5)  Carn.  ä  in  vlam.  dät  „dass"  =  Siev.  ee^  in 
engl,  man  fcBj;  6)  Carn.  e  in  vlam.  hetal(e)n  =  Siev.  ^^  /ie/; 
7)  Carn.  f;  in  vlam.  neve  „Neffe"  =  Siev.  e*  [e]  ]  8)  e  =  Siev.  e^ 
will  Carn.  in  frz.  „pere"  deutsch  „fest"  und  in  vlam.  spei  „spiel", 
beld  „bild"  sehen,  doch  sind  hier  jedenfalls  quantitative  Unterschiede 
anzunehmen  ff,  ^J;  9)  e  scheint  nach  Carnel's  Beschreibung  (S.  18; 
freilich  wird  e  auf  S.  28  „voyelle  gutturale  et  belante"  genannt) 
hinsichtlich  der  vertikalen  Zungenstellung  zwischen  Siev.  e^  und  ce^ 
zu  liegen,  z.  B.  vlam.  Mdde  „Brett"  fej;  10)  Carn.  /  in  vlam.  titel 
„Titel",  stiß  „Betrieb"  =  Siev.  t^  in  engl,  pitif  [ij;  11)  Carn.  i  in 
vlam.  gi  „ihr"  =  Siev.  i^  in  frz.  fini  ßj;  12)  Carn.  )  in  vlam.  knkke 
„bequille"  liegt  zwischen  Siev.  i^  und  e^  [etwa  iJ;  13)  Carn.  "/,  nur 
in  der  vlam.  Endung  -ig  bezeugt,  ist  wohl  unter  Siev.  e^  zu  sub- 
sumieren fej;  14)  Carn.  o  in  vlam.  kolk  „Kalk"  ist  qualitativ  gleich 
(!arn.  ä  vgl.  oben  No.  3,  =  Siev.  o^  [oj ;  15)  Carn.  6  in  vlam.  höpe 
„Hoffnung"  =  Siev.  o^  föj;  16)  Carn.  ö  in  vlam.  zönde  „Sünde"  = 
Siev.  «2  fuj;  17)  Carn.  eu  in  vlam.  keuken  „Küche"  =  Siev.  d^  [(tj; 
18)  Carn.  u  in  vlam.  küssen  „coussin"  =  Siev.  a^  ^0»/;  19)  Carn.  ü 
in  vlam.  hü(tv)en  „marier"  =  Siev.  i/^  fffj ;  20)  Carn.  ü  in  vlam. 
kuppe  „baquet"  =  Siev.  y^  [y  in  deutsch  „Schützen"] ;  21)  Carn. 
oe  in  vlam.  hoer  „paysan"  =  Siev.  u^  [ül. 

Aus  diesen  Mitteilungen  ersieht  man,  dass  Herr  Camel  mit 
feinem  phonetischen  Gehör  arbeitet.  Wir  hoffen,  dass  er  die  im 
Interesse  seiner  künftigen  Werke  gemachten  Vorschläge  in  t^ber- 
legung  ziehen  und  uns  bald  in  fasslicherer  Darstellung  reiches 
Material  überliefern  möge. 

Greifswalü.  Theodor  Siebs. 


Scharschmidt,  Oscar  Emil,  Estienne  Pasquier's  Thätigkeit  anf  dein 
Gebiete  der  französischen  Sprachgeschichte  und  G-rammatik. 
Leipziger  Dissertation.     Bautzen,  1892.    Gr.  4°.    34  S. 

unter  den  wenigen  französischen  Gelehrten  des  XVI.  Jahr- 
hunderts, die  Altfranzösisch  kannten  und  sich  liebevoll  in  die  Lektüre 
der  alten  Romane  vei-senkten,  verdient  Estienne  Pasquier  an  erster 
Stelle  genannt  zu  werden.  Von  ihm  sagt  Gröber  (Grundriss  I  24),  dass 
er,  schärfer  blickend  als  seine  Zeitgenossen,  in  seinen  1560 ff.  ver- 
öffentlichten Jiecherches  de  la  France  seine  Muttersprache  als  eine 
Sprache   mit   vorwiegend   lateinischem   Gepräge   erkannt,    veraltete 


0.  E.  Scharschniidt.    Estienne  Pasquier's  Thätigkeit  etc.      103 

Wörter  und  Sprichwörter  beleuchtet  und  sogar  die  Gesetzmässigkeit 
lautlicher  Veränderung  geahnt  habe.     Scharschniidt  hat  sich  nun  in 
der  vorliegenden  Arbeit   der  dankenswerten  Mühe   unterzogen,   aus 
den  schon  genannten  Recherches  und  den  Lettres  Pasquier's  Ansichten 
in  Bezug  auf  Geschichte  und  Grammatik  des  Französischen  zusammen- 
zustellen und  uns  so  ein  anschauliches  Bild  von  dessen  Thätigkeit 
auf  dem  Gebiete  der  französischen  Philologie  zu  geben.     Nach  einer 
kurzen  biographischen  Skizze  geht  der  Verfasser  daran,    Pasquier's 
und   seiner   Zeitgenossen   Ansicht   über  den  Ursprung   des  Fran- 
zösischen zu  besprechen  (S.  3 — 13).    Wir  erfahren  hier,  das  Pasquier 
der  damals  vielverbreiteten  Ansicht,  das  Französische  stehe  in  engen 
Beziehungen    zum  Griechischen,   mit  Erfolg   entgegentritt,   dass   er 
ferner  einen  gewissen  Zusammenhang  des  Spanischen  und  Italienischen 
mit   seiner  Muttersprache   erkennt,    aber   aus   Patriotismus   an   der 
keltischen  Grundlage  des  Französischen  festhält,  das  nach  ihm  „part 
de  Vancienne  gauloise,  pari  de  la  latine,  pari;  de  la  fran^oise"  zu- 
sammengesetzt  ist.     Dass  Pasquier  bei  seinen  Bemühungen,    fran- 
zösische Wörter  auf  ihren  Ursprung  zurückzuführen,  manchen  Fehl- 
griff macht,  dass  er  z.  B.  cour  von  curia,  ^>roM  von  multum,  seigneur 
von  senior,  sire  von  üvqioc,  Languedoc  von  Langue  de  Got  herleitet, 
versteht  sich  bei  dem  damaligen  Stande  der  Sprachwissenschaft  von 
selbst.     Was   aber  Pasquier   über  das  Verhältnis   des  Französischen 
zum  Gallischen   (Keltischen)  sagt,   ist   zum  Teil   noch   heute   unan- 
fechtbar, so  z.  B.  seine  Bemerkung,  dass  die  den  Franzosen  eigen- 
tümliche   Aussprache    des   ü    für   u   vielleicht    aus    dem    Gallischen 
stamme.      Unter    der    grossen    Menge    von    französischen    Wörtern 
germanischen  Ursprungs  hat  er  nur  eine  verschwindend   kleine  An- 
zahl als  solche  erkannt  und  rechnet  dazu   merkwürdigerweise  auch 
somme  =  cliarge  mit  den  Ableitungen  sommier  und  sommelier.     Im 
zweiten  Teil  seiner  Arbeit  macht  uns  der  Verfasser  mit  den  Beob- 
achtungen  Pasquiers   in   Bezug    1)   auf   die   Wortgestaltung   (S. 
14 — 15),  2)  auf  die  Orthographie  und  Aussprache  (S.  16 — 20), 
3)   auf   den   Wortschatz    (S.    21—25)    und   4)   auf  die   Wortbe- 
deutung (S.  25 — 32)  bekannt.     Die  Gründe,   die  Pasquier  für  die 
Wortgestaltung  des  Französischen  findet,  sind  ausser  der  Verküi-zung 
{mahl  aus  matin,    eil  aus  celui)   noch  die  Verstümmelung   und  \'er- 
derbnis  im  Munde  des  Volkes.    Einige  der  Erklärungen,  die  Pasquier 
in  letzterer  Hinsicht  aufstellt,  können  noch  heute  nicht  durch  bessere 
ersetzt  werden.    So  nimmt  Littre  Pasquier's  Hypothesen,  autant  pour 
le  hrodeur  sei  aus  autant  pour  Je  hourdeur  und  brimbonon  (dlre  ses 
brimboriims)  aus  breviariwu  entstanden,    ohne  weiters  auf  und  ver- 
theidigt  das  letztere  Etymon  gegen  Diez,  der  brhnborion  von  brhnber 
„betteln"  und  dieses  von  bribe  „Stück  übrig  gebliebenes  Brot""  Jier- 
leitet.    In  Bezug  auf  Orthographie  und  Aussprache  vertritt  Pasquier 


104  Referate  und  Rezensionen.    B.  Schneider, 

den  konservativen  Standpunkt;  so  bekämpft  er  die  von  Mei{2:ret  und 
Raums  vorgesc.l»lap:enc  Eintulirunfi:  einer  neuen  Orthof!:raphie  auf 
phonetischer  (Jrundlage,  erstens  weil  eine  solche  Schrift  dem  Ein- 
li('inüs(;lien  die  Lektüre  ausserordentlich  erschweren ,  zweitens  weil 
si(!  auch  dem  Fremden  die  Erlennui},^  der  Sprache  nicht  erleichtern 
würde,  da  sie  ja  durch  ihre  llnfilhi^^keit,  alle  Laute  schriftlich  zu 
lixieren,  den  Lernenden  jj^erade  dazu  verführen  würde,  Aussprache- 
fehler zu  machen.  Wichtiger  für  den  Sprachforscher  sind  Pascjuier's 
Beobachtungen  über  die  Wandlungen  und  die  Bereicherung  des 
Woitscliatzes.  Was  die  ersteren  anlangt,  so  verzeichnet  Pasquier 
nicht  nur  die  Witrter,  die  zu  seiner  Zeit  schon  im  Veralten  be- 
gi-iften  sind,  sondern  auch  solche,  die  neu  in  Aufnahme  kommen, 
wie  avant-propos,  piaffer,  populace,  arborcr  une  cmeignc,  Uugucnot. 
Dieses  letztere  Wort,  das  im  Sinne  von  Calvinist  erst  nach  der 
Verschwörung  von  Amboise  1559  bekannt  wurde,  wird  von  Pasquier 
mit  Hugon,  dem  Namen  eines  (Jespenstes  in  Tours  zusammengebracht. 
Littre  lindet  aber  huyuemt,  allerdings  nicht  in  dem  späteren  Sinne, 
schon  in  einem  Texte  des  XIV.  Jahrhunderts  und  hält  es  mit  Mahn 
für  ein  Diminutiv  von  Hugues,  bezogen  auf  einen  Herzog  dieses 
Namens.  Zur  Bereicherung  des  Wortschatzes  soll  nach  P.  zunächst 
die  Mutteisi>rache  herangezogen  werden;  es  können  nach  ihm  neue 
Wörter  gebildet  werden  1)  durch  Ableitung,  wie  cffcct-eß'cditer,  facüe- 
facUitcr  etc.,  2)  durch  Aufnahme  teclinischer  Ausdrücke,  z.B.  retourncr 
stir  nos  hrisces  ou  sur  nos  routes  (aus  der  .lägersprache),  3)  durch 
Aufnahme  dialektischer  Witrter  und  Wendungen,  4)  durch  Wieder- 
belebung alter-  in  Vei'gessenheit  geratener  Ausdrücke.  Sehr  interessant 
ist  auch  die  Zusamm<Mistelluiig  der  Wörter,  deren  Bedeutungswandel 
P.  erklärt  hat,  worunter  besonders  die  Erklärungen  von  assassins, 
coUation,  tintamarrc,  veille  und  bände  als  gedungen  hervorzuheben 
sind.  Den  Schluss  der  Arbeit  bildet  ein  Verzeichnis  der  von  1'.  er- 
kliirten  Redensarten  und  Sprichwörter.  Das  Gesammturtheil, 
welches  der  Verfasser  über  Pasiiuier's  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete 
der  französischen  Sprachgesehlchte  und  (Mammatik  fällt,  lautet: 
„Trotz  vieler  Irrtümer,  die  zu  bemerken  w'aren,  lässt  sich  doch 
behaupten,  dass  Pasquier's  Eorschungen  auf  diesem  Gebiete  für  seine 
Zeit  von  Bedeutung  waren.  Ein  Teil  der  Resultate,  zu  denen  er 
gelaugt  war,  wurde  in  den  folgenden  Jahrhunderten  durch  ein- 
gehendere Untersuchungen  bestätigt.  Manches,  was  jetzt  allgemein 
als  richtig  gilt,  ist  von   rasijuier  zueist  entdeckt  worden." 

Scharschmidfs  mit  voller  Sachkenntnis  und  grossem  Fleisse 
ausgeführte  Arbeit  sei  jedem,  der  sich  für  die  Geschichte  der  fran- 
zösischen Philologie  interessiert,  auf  das  wärmste  empfohlen.  Der 
Fortsetzung  dieser  Schrift,  worin  der  \'erfasser  I'asquier's  Ansichten 
über  die  französische  Metrik  und  Rhythmik,  sowie  seine  Thätigkeit 


Mireio.     Provengalische  Dichtung  von  Freder i  Mistral.       105 

als  Literarhistoriker  zu  behandeln  verspricht,  sehen  wir  daher  mit 
freudiger  Spannung-  entgegen. 

Troppau.  J.  Ellinger. 


Mireio.  Provengalische  Dichtung  von  Frederi  Mistral.  Deutsch 
von  August  Bertuch  mit  einer  Einleitung  von  Eduard 
Boehmer.   Strassburg,  KarlJ.  Trübner.  1893.  XV  u.  285.  8. 

Seit  Ed.  Boehmer  in  seinem  1870  zu  Halle  erschienenen,  auch 
heute  noch  bemerkenswerten  Vortrage  auf  die  provenzalische  Poesie 
der  Gegenwart  hingewiesen,  ist  in  Deutschland  das  Interesse  für 
dieselbe  immer  rege  geblieben.  Es  sei  hier  besonders  auf  die  zahl- 
reichen litterarischen  Notizen  aufmerksam  gemacht,  die  hierüber 
Sachs  im  Archiv  für  die  neueren  Sprachen  Bd.  54  u.  Bd.  61  und  in 
einem  1887  auf  der  Züricher  Philologen- Versammlung  gehaltenen 
Vortrage  gegeben  hat,  sowie  auf  die  gründliche  und  umfassende  Über- 
sicht in  Bd.  IX.  dieser  Zeitschrift,  wo  auch  für  die  Feliberbewegung 
viel  Material  zu  tinden  ist.  Neuerdings  haben,  wie  Besprechungen 
im  Litteraturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie  be- 
weisen, auch  Suchier  und  Ed.  Koschwitz  diesem  (lebiete  ihre  Aufmerk- 
samkeit zugewendet.  Vor  allem  aber  hat  Koschwitz  in  seinem  Vortrage : 
La  phonetique  experimentale  et  la  philologw  franco-provengale,  den  er 
zu  Paris  auf  dem  Congres  scientifiqne  international  des  catholiques 
hielt,  die  überaus  grosse  Bedeutung  des  Studiums  der  heutigen  Mund- 
arten in  Südfrankreich  für  die  romanische  Sprachwissenschaft  hervor- 
gehoben, und  da  von  diesem  Gelehrten  ein  Werk:  „Aus  dem  Lande 
der  Feliber"  demnächst  zu  erwarten  ist,  so  kann  man  wohl  sagen, 
dass  die  romanische  Wissenschaft  in  Deutschland,  die  anfangs  wohl 
nur  Künstliches  und  Dilettantenhaftes  in  dieser  Bewegung  sah,  ihr 
dauernd  so  viel  Beachtung  schenken  wird,  als  sie  doch  sicherlich  von 
den  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  verdient. 

'>  Wenn  bei  den  meisten,  die  den  litterarischen  Erscheinungen 
in  "tsüdfranzösischen  Mundarten  eingehendere  Teilnahme  widmeten, 
wolil  der  philologische  Gesichtspunkt  überwiegt,  das  Interesse,  wie 
die  provenzalische  Sprache  sich  bei  den  heutigen  Schriftstellern  ge- 
staltet, wie  sich  in  dieser  Beziehung  die  einzelnen  Dichter  den  viel- 
gestaltigen Mundarten  Südfrankreichs  gegenüber  verhalten,  welchen 
Gewinn  das  Studium  des  Altprovenzalischen  und,  nach  Koschwitz's 
neuerli(;hen  Ausführungen,  die  romanische  Sprachwissenschaft  im 
allgemeinen  aus  dieser  neuerwachten  Litteratur,  soweit  sie  die  Volks- 
mundarten korrekt  wiedergiebt,  ziehen  könnte,  so  gebührt  Boehmer 
der  Dank,  in  seinem  schon  oben  erwillmten  Vortrage  der  erste  ge- 
wesen zu  sein,  der  die  wissenschaftlichen  Kreise  Deutschlands  darauf 
aufmerksam   machte,  dass   diese  Dichtung   ein    neues  Kulturelement 


ll06  Beferate  und  Rezensionen.     B.  Schneider, 

in  das  Leben  der  Völker  einführe  und  dass  sie  auch  vom  aesthetischen 
Standpunkt  aus  der  inneren  Bedeutung  keineswegs  entbehre.  Von 
denen,  die  nach  Boehmer  diesen  Gegenstand  behandelten,  sei  hier  an 
Kreiten  erinnert,  dessen  Aufsätze  über  die  Feliber-Beweguug,  weil 
in  den  wenigstens  in  Norddeutschland  nicht  besonders  bekannten 
„Stimmen  aus  Maria-Laach"  erschienen,  leicht  übersehen  werden 
könnten.  Er  hat,  einige  Zeit  als  katholischer  Geistlicher  in  Süd- 
frankreich lebend,  interessante  Beobachtungen  über  diese  Bewegung 
machen  können;  natürlich  muss  man  es  ihm  bei  seinem  religiösen 
Standpunkt  zu  gute  halten,  dass  er  von  ihr  wesentlich  eine  Neu- 
belebung katholisch-kirchlichen  Sinnes  und  Rückkehr  zum  alten 
Glauben  erwartet  und  dabei  das  Aufflammen  des  Albigenser-  und 
Waldensergeistes  ganz  übersieht,  das  sich  bei  einigen  der  bedeutendsten 
Geister  des  südfranzösischen  Dichterbundes,  vor  allem  bei  Felis  Gras 
so  mächtig  zeigt.  Jedenfalls  teilen  alle,  die  dieser  Litteratur  näher 
treten,  mit  Boehmer  die  Freude  an  der  neuentstandenen  „proven- 
zalischen  Blütenpracht",  und  der  spöttischen  Anschauung  gegenüber, 
die  in  Nordfrankreich  und  doch  auch  in  Deutschland  so  lange  mass- 
gebend war,  ist  es  heute  ein  feststehender  Satz,  dass  wenigstens 
Roumanille,  Mistral,  Felis  Gras  Dichter  von  Gottes  Gnaden  seien, 
deren  Dichtungen  in  jeder  Litteratur  eine  ehrenvolle  Stellung  ein- 
nehmen würden,  und  für  Mistral  hat  Bertuch  durch  seine  Verdeutschung 
der  Mireio,  der  schon  1891  eine  Übersetzung  der  Nerto  vorherging, 
dem  deutschen  Publikum  gegenüber  diesen  Beweis  geliefert. 

Man  hat  es  als  Prüfstein  für  den  inneren  Wert  einer  mund- 
artlichen Dichtung  bezeichnet,  ob  sie  die  Übersetzung  in  die  Schrift- 
sprache oder  gar  in  eine  fremde  Sprache  verträgt,  ohne  an  Wirkung 
zu  verlieren;  doch  nur  in  einem  gewissen  Sinne  mit  Recht.  Alles, 
was  aus  dem  innersten  Leben  und  Fühlen  der  Volkskreise  hervor- 
gegangen ist,  die  sich  der  Mundart  bedienen,  wird  beim  Übersetzen 
die  ursprüngliche  Frische  und  den  ganzen  eigenartigen  Schmelz  ver- 
lieren und  ist  so  trotz  inneren  Wertes  eigentlich  unübersetzbar. 
Fritz  Reuter  war  höchst  ungehalten  über  die  Absicht,  seine  Er- 
zählungen in  hochdeutscher  Sprache  wiederzugeben,  und  über  den 
Eindruck,  den  eine  französische  Übei*setzung  von  „ut  mine  Stromtid" 
auf  die  Leser  machen  würde,  sprach  er  sich  mit  richtigem  Gefühl 
recht  bedenklich  aus.  So  würden  wolü  auch  die  meisten  Gedichte 
Roumanilles  vor  allem  die  kleinen  Erzählungen  und  Plaudereien,  die 
er  unter  der  Bezeichnung  „lou  cascarelet"  im  Armana  prouven(au 
veröffentlichte,  in  der  Übersetzung  recht  farblos  erscheinen,  so  gut 
wie  die  alemannischen  Gedichte  Hebels  bei  ihrer  Wiedergabe  im 
Hochdeutschen  des  besten  Teiles  ihrer  volkstümlichen  Naivität  ver- 
lustig gehn. 

Bertuchs  Verdeutschung   der  Mireio    wird   niemand   aus   der 


Mireio.     Proven^älische  Dichtung  von  Frederi  Mistral.       107 

Hand  legen,  ohne  den  tiefen,  ergreifenden  Eindruck  zu  emptinden, 
den  die  Dichtung  in  Mistrals  Sprache  selbst  auf  uns  macht.  Wir 
haben  es  eben  mit  einer  Dichtung  zu  thun,  die  trotz  des  lebhaftesten 
Lokal-Kolorits  und  trotz  mancher  Einzelheit,  die  unsere  deutschen 
Anschauungen  seltsam  berührt,  allgemein  menschliche  Empfindungen 
in  dichterisch  vollendeter  Form  uns  vorführt,  und  der  Übersetzer  hat 
die  schwere  Kunst  verstanden,  mit  geschickter  Behandlung  der 
poetischen  Form  und  angemessener  Wahl  des  deutschen  Ausdrucks 
verhältnismässig  grosse  Treue  bei  der  Übertragung  der  Mistral'schen 
Dichtung  und  Bewahrung  ihrer  Eigenart  zu  verbinden. 

Mireio  ist  im  Jahre  1859  erschienen  und  ist  das  erste  grössere 
Werk  Mistrals,  nachdem  er  schon  zu  der  Sammlung  LI  Prowvengalo, 
die  Roumauille  1847  herausgab,  und  znmArninna  prouvengau  einige 
kleinere  provenzalische  Gedichte  beigesteuert  hatte.  Das  Gedicht 
erregte  weit  über  die  Grenzen  seiner  engeren  Heimat  hinaus  wohl- 
wollende Teilnahme.  Durch  Jean  Reboul  von  Nimes  wurde  Lamartine 
darauf  aufmerksam  gemacht,  der  denn  auch  Mistral  bei  dessen  Reise 
nach  Paris  die  freundlichste  Aufnahme  in  den  litterarischen  Kreisen 
der  Hauptstadt  vermittelte.  Die  Akademie  erteilte  dem  Werke,  das 
wohl  sämtliche  damalige  Mitglieder  nur  in  der  französischen  Über- 
setzung lesen  konnten,  den  Preis,  und  Gounod  hat  die  Erzählung 
zu  einer  Oper  benutzt,  die  noch  heute  nicht  von  den  Pariser  Theatern 
verschwunden  ist.  Mistral  selbst  erzählt  darüber  p.  XXVI  der 
Vorrede  zu  seinen  Isclo  d'or:  Lou  29  d'avoust  1861,  VAcademi 
franceso  presidado  aqueu  jour  per  Vitour  de  Laprado  couroune  lou 
potiemo  coume  „ouvrage  utile  aux  moeurs"  e  enfin  lou  beu  Gounod 
per  Vopera  que  n'en  tire  e  que  se  represenfe  au  Teatre  Liri  de  Paris, 
houte  lou  eoumoulun  ä  sa  poupularita. 

Das  Gedicht,  überaus  einfach  in  seinem  Aufbau,  erzählt  uns 
von  Liebeslust  und  -leid  in  der  Provence.  Vincenz,  ein  junger 
Bursch,  im  Weidendickicht  des  Rhoneufers  gross  geworden,  war  mit 
seinem  Vater  durch  die  Landschaft  gezogen,  um  für  die  Landleute 
Körbe  zu  flechten,  und  war  so  auch  zum  „Zirgelhof"  (lou  3Ias  dou 
Falabrego)  gekommen,  wo  er  die  Tochter  des  begüterten  Hofliesitzers 
sieht,  Mireio,  ein  holdes  Kind  eben  zur  Jungfrau  erblühend.  Wie 
die  jungen  Herzen  sich  finden,  wie  Mireio  alle  reichen  Bewerber 
zurückweist  und  dadurch  ihren  Vater  aufs  tiefste  erbittert,  wie  sie 
dem  leidenschaftlichen  Zorne  des  Vaters  entflieht  und  bei  dem  Heilig- 
tum der  drei  Marieen  am  Meeresgestade  Rettung  sucht,  wie  die 
Heiligen  durch  sanften  Tod  sie  aus  ihrer  Not  erlösen,  das  ist  der 
Inhalt  der  Erzählung.  Was  aber  den  eigentümlichen  Character  der 
Mistralschen  Dichtung  ausmacht,  das  ist  die  Begeisterung  des  Sängers 
tür  seine  Provence,  die  das  ganze  Werk  erfüllt.  Ich  kann  nur 
wiederholen,  was  ich  darüber  p.  22  der  Bemerkungen  zur  litterarischen 


108  Referate  und  Rezensionen.     B.  Schneider, 

Bewegung  auf  newprovenzalischem  Hprachgehiete  sagte :  „In  den 
Gedichten  Mistrals  lebt  und  webt  die  ganze  Provence,  und  alles, 
was  dies  schöne  Land  so  anziehend  macht,  bietet  sich  unserm  Auge 
dar.  Eine  hervorragende  Gabe  der  Mistral'schen  Poesie  ist  die 
Anschaulichkeit,  mit  der  sie  überall  den  eigentümlichen  landscliaft- 
lichen  Reiz  der  Heimat  des  Dichters  hervortreten  lässt.  Ohne  dass 
Mistral  je  in  unangemessen  breite  Naturschilderung  vertiele,  wird 
der  Leser  von  dem  wunderbaren  Zauber  der  provenzalischen  Land- 
schaft ergriffen,  den  sie  wolil  nur  mit  wenigen  Gegenden  Italiens 
und  Griechenlands  teilt.  Die  Anmut  der  Flussthäler  mit  ilirer  teil  weis 
üppigen  Vegetation,  die  besondere  Art  dieser  Ströme  selbst,  die  fast 
bis  zu  ihrer  Mündung  den  Charakter  als  Bergströme  zeigen  und  der 
nächsten  Tnigebung  oft  wilde  Verwüstung  zufügen,  die  sonnver- 
brannten Alpilles  und  die  steppenähnlichen  Einöden  der  Crau,  die 
Inselwelt  der  Camargue  und  der  blaue  Spiegel  des  mittelländischen 
Meeres,  alles  dies  sehen  wir,  mit  wenigen  anschaulichen  Strichen 
gezeichnet,  als  reizvollen  Hintergrund  vor  uns.  Dazu  die  Bilder  der 
Städte,  die  noch  so  viele  Erinnerungen  an  das  klassische  Altertum 
und  an  das  Mittelalter  bieten,  und  die  teilweis  voll  des  regsten 
Lebens,  teilweis  wie  völlig  abgestorben  für  die  Gegenwart  erscheinen, 
das  Leben  der  Landleute,  ihre  Weinlesen  und  ihre  Seidenzucht,  ihre 
Feste  mit  den  Farandoleu,  kurz  alles,  was  den  besonderen  Charakter 
der  Provence  ausmacht,  tritt  uns  bei  Mistral  entgegen,  und  so  ist 
er  vor  allem  derjenige  unter  den  neueren  Dichtern,  der  auch  in  der 
Fremde  Teilnahme  für  seine  Heimat  wachzurufen  weiss." 

Es  ist  daneben  nicht  zu  verkennen,  dass  bei  dem  Lesen  der 
fliessenden  Bertuch'schen  Übersetzung  eine  andere  Eigentümlichkeit 
Misti'als  noch  mehr  hervortritt,  als  es  der  Fall  ist,  wenn  man  sich 
durch  den  Originaltext  hindurcharbeitet;  das  ist  das  Übermass  der 
Märchen  und  Legenden,  mit  denen  der  Dichter  den  Fortgang  der 
Erzählung  unterbricht.  Man  muss  die  Lebenserinnerungen  Mistrals 
lesen,  wie  er  als  Jüngling  durch  seinen  Lehrer  Ivounianille  zum  ersten 
Mal  erfahren,  dass  die  sn  verachtete  Sprache  der  Landleute  eine 
giosse  litterarische  Vergangenheit  habe  und  es  W(dil  des  Schweisses 
der  Edlen  \vert  sei,  ihr  diese  Stellung  zurückzuerobern,  und  dann 
wird  man  wissen,  dass  er  beim  Ablassen  seiner  Mireio  sich  als  im 
Dienst  einer  Idee  stehend  ansah.  Wie  er  durch  seine  landschaftliclien 
Schilderungen  die  Liel)e  zur  Heimat  neu  belel)en  wollte,  so  wollte 
ei-  auch  den  Sagenschatz  ihre>  Landes  den  Klinwohnern  der  Provence 
wieder  vertraut  und  lieb  machen;  und  er  hatte  ihnen  so  viel  zu 
sagen,  und  so  viel  fügte  seine  dichterische  Phantasie  zur  Erweiterung 
und  Verbindung  dieser  vielgestaltigen  Sagenwelt  hinzu.  Daraus  er- 
klärt sich  dieses  Übermass,  als  welches  ich  es  wenigstens  empfinde. 
Mistral  selbst  war  zaghaft,  ob  viele  seiner  Provenzalen  ihm  zuhören 


Mireio.     Provencalische  Dichtung  von  Freder i  Mistral.       109 

würden,  wenn  er  zu  ihnen  in  der  Sprache  des  Volkes  redete,  ob  es 
nicht  das  einzige  Mal  sein  möchte,  dass  er  sich  so  an  sie  wenden 
könnte.  Hätte  er  schon  damals,  als  er  seine  Mireio  schrieb,  geahnt, 
wie  er  in  der  That  eine  neue  Litteratur  eröffne,  er  würde  die  Er- 
zählung von  Mireio  und  Vincenz  dichterisch  noch  wirksamer  und 
ergreifender  gestaltet  haben,  indem  er  ihr  dieses  Beiwerks  etwas 
weniger  mitgab,  und  er  hätte  ja  in  kleineren  Gedichten  die  schönsten 
dieser  Sagen  und  Legenden  der  Provence  auch  erhalten  können. 

Bertuch  ist  auf  dem  Gebiete  der  neuprovenzalisclien  Litteratur 
kein  Neuling;  schon  1891  hat  er  eine  Übersetzung  der  Mistral'schen 
Nerto  erscheinen  lassen,  die  sich  der  günstigsten  Aufnahme  zu  er- 
freuen gehabt  hat.  Ich  weise  hier  ausser  auf  Recensionen  in  den 
Preussischen  Jahrbüchern  und  der  Deutschen  Litteraturzeitung  be- 
sonders auf  die  Besprechung  derselben  von  Ed.  Koschwitz  im  Litteratur- 
blatt  für  germanische  und  romanische  Philologie  1892,  No.  8,  p.  267 
hin,  der  die  Arbeit  Bertuchs  in  durchaus  anerkennender  Weise  be- 
urteilt, und  dieselbe  Anerkennung  wird  man  auch  tür  die  Übersetzung 
der  Mireio  aussprechen  dürfen.  Was  der  Übersetzer  einer  Dichtung 
erstreben  muss,  die  Eigentümlichkeit  des  ursprüngliclien  Werkes  nicht 
zu  verwischen  und  uns  doch  einen  deutschen  Text  zu  liefern,  der 
sprachlich  und  metrisch  auf  den  Leser  einen  angenehmen  Eindruck 
macht,  ist  bei  Mistrals  Mireio  besonders  schwer  zu  erreichen.  Schon 
die  eigenartige  Strophenform  des  Gedichts  (aa8^;  bl2;  ccc8^;  b  12.) 
ist  nicht  leicht  zu  behandeln,  durfte  aber  ihrer  überaus  harmonischen 
Wirkung  halber  nur  zum  Schaden  der  Verdeutschung  aufgegeben 
werden.  Dazu  kommt  die  Unmöglichkeit,  die  Klangfülle  der  pro- 
venzalischen  zweisilbigen  Reime  im  Deutschen  entsprechend  wieder- 
zugeben und  überhaupt  dem  musikalischen  Wohllaute  der  pri>ven- 
zalischen  Verse  gerecht  zu  werden.  Bertuch  hat  jedenfalls  bewiesen, 
dass  er  die  notwendige  Vorbedingung  zu  der  Übertragung  eines 
Dichterwerks,  welche  doch  immer  eine  Art  Naclidichtung  sein  muss, 
in  vollem  Masse  mitbringt.  Er  besitzt  eigenes  dichterisches  Empünden 
und  Gefühl  für  Rythmik  und  Spraciie;  er  hat  seine  Aufgabe  mit 
Begeisterung  und  Ernst  erfasst  und  gezeigt,  dass  er  die  Sprache 
Mistrals  gründlich  sich  zu  eigen  gemacht  hat.  Ein  Missversteheu  des 
provenzalischen  Textes  ist  mir  nicht  aufgefallen;  wo  Bertuch  vom 
Urtext  abweicht,  thut  er  es,  weil  die  wörtliche  Übersetzung  un?^erm 
sprachlichen  Gefühle  widerstreben  würde. 

Natürlich  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  man  nicht  einzelnes 
andere  wünschte.  Jeder  Übersetzer  wird  oft  genug  vor  der  Schwierig- 
keit stehen,  entweder  die  Sonderart  des  ursprünglichen  Ausdrucks 
beizubehalten  und  durch  wörtliche  Übersetzung  iler  deutschen  Sprache 
oder  der  deutschen  poetischen  Form  Gewalt  anzuthun,  oder  charak- 
teristische Wendungen  des  Originals  aufgeben  zu  müssen,  um  unserni 


110  Referate  und  Rezensionen.     B.  Schneider, 

Bprachlichem  Gefühle  gereclit  zu  werden.  So  ist  er  oft  genug 
auf  einen  Ausgleich  angewiesen,  und  unter  Berücksichtigung  aller 
dieser  in  der  Sache  liegenden  Beschränkungen  und  Schwierigkeiten 
wird  unbefangene  Prüfung  sagen,  dass  Bertuch  im  allgemeinen  mit 
grossem  Geschick  seine  Aufgabe  erfüllt  hat.  Es  ist  ihm  in  der 
That  gelungen,  eine  rythmisch  und  sprachlich  gefällig  zu  lesende 
Übersetzung  zu  schaffen,  der  dennoch  der  besondere,  fremdartige 
Reiz  der  südfranzösischen  Dichtung  nicht  verloren  gegangen  ist  und 
die  alle,  welche  die  Sprache  Mistrals  nicht  kennen,  in  lebensv(dler 
Weise  in  die  Schöpfung  dieses  für  Sitte  und  Glauben  seiner  Heimat 
begeisterten  Provenzalen  einführt. 

Von  Einzelheiten  führe  ich  an:  II.  Strophe  3.  Vor  seinem 
rascJien  Tritt  entwichen  Die  Nattern,  die  im  (iraben  schlichen.  Von 
Haufen  Kies,  zu  Wegbestichen,  Schnellte  sein  leichter  Stock  die  oberen 
Steinchen  ab.  Der  Text  hat:  .  .  .  Fasie  fugi  li  serp  courriolo,  E  di 
dindänti  clapeirolo  Eme  soun  bastounet  bandissie  li  frejau.  Bertuch 
denkt  wohl  riclitig  an  Steinhaufen,  die  zur  Wegebesserung  an  der 
Strasse  liegen.  Seine  Übersetzung  „zu  Wegbestichen"  ist  in  diesem 
Sinne  in  Norddeutschland  wohl  kaum  verständlich.  Dindänti  „die 
beim  Schlage  erklangen"  hat  er  ganz  aufgegeben.  —  Bei  dem  Namen 
Jana -Mario  III.  Str.  6  So  rief  bei  rüstig  frohem  Schalten,  Jano- 
Mario,  des  wackern  alten  Ramoun  geehrtes  Weib,  fällt  die  vier- 
silbige Messung  desselben  auf.  Wenn  Bertuch  die  Namensform 
Mistrals  beibehält,  kann  er  diesen  Namen  doch  nicht  anders  als  fünf- 
■ilbig  zählen,  wie  er  es  sonst  auch  stets  thut;  beispielsweise  kurz 
darauf  Str.  8:  Versäum  ich,  sprach  coli  Dank  Jano- Mario,  nie.  — 
V.  Str.  11:  n'es  qu'uno  eigagno,  en  coumparanc^o  Di  moumenet  de 
benuranc^o  Que  passavou  alor  e  Mireio  e  Mncen  (ist  nur  wie  ein 
Tautropfen  im  Vergleich  zu  den  Augenblicken  des  Glückes  .  .  .), 
gehört  zu  den  Stellen,  die  man  w»ihl  anders  wiedergegeben  wünschte, 
ohne  dass  man  die  Schwierigkeit,  wie  es  wörtlich  und  gut  deutsch 
geschehen  könnte,  verkennt.  Bertuch  sagt:  Dies  alles  durfte  dem 
Empfinden  Zu  gleichen  nicht  sich  unter uinden  ...  —  V.  Str.  20 
(bei  Bertuch  Str.  19;  Str.  15  hat  er  nicht  übersetzt)  erweckt 
die  deutsche  Übersetzung  „katzengleich",  wobei  uns  doch  ent- 
schieden mehr  der  ßegriif  des  Heimtückischen  vorschwebt,  eine 
andere  Vorstellung,  als  der  Dichter  mit  seinem  coame  un  cat-fer 
s'enarco  sie  geben  wollte.  —  V.  Str.  32  Es  tu  qu"  as  mespresa  la 
vierge  d'aqueu  mas  übersetzt  Bertuch  pag.  91 :  Die  Blume  dieser 
yiur  hast  Dti  gering  geschätzt.  Rigaud  trifft  hier  den  Wortsinn 
genauer:  Tu  tins  contre  Mireille  un  propos  oflfensant.  „Gering  ge- 
schätzt" hatte  Ourrias  die  Mireio  keineswegs,  aber  wohl  sie  „ver- 
höhnt", als  sie  ilin  zurückwies.  —  In  der  letzten  Strophe  des  V.  Ge- 
sangs  heisst   es  bei  Bertuch:    -So  sind  am   Strahl  entlang  gefaiiren 


Mir  eh.     Provencalische  Dichtung  von  Frederi  Mistral.       111 

Die  Fischer  (die  Gespenster  waren!).  Der  Text  lautet,  wenigstens 
in  der  Ausgabe  bei  Hachette,  Paris  1884:  Li  pescadou  (qu'  eron 
de  Trevo!)  .  .  also  dann  wohl:  Was  waren  sie  von  Gespenstern! 
welche  gespenstische  Erscheinungen  waren  sie!  Aber  auch  wenn 
die  erste  Ausgabe  hat:  qu'eran  di  Trevo!,  so  ist  das  provenzalische 
Relativ  keineswegs  so  schleppend,  wie  hier  das  deutsche;  dann 
etwa:  Gespenster  waren  es!  oder  mit  Aufgabe  des  Schreckensaus- 
rufes einfacli:  Die  gespenstischen  Fischer.  —  VI.  Str.  23  (bei  Bertuch 
pag.  110.  Die  Strophenzahl  ist  bei  Bertuch  eine  andere,  weil  er, 
durchaus  angemessen,  die  Apostrophe  an  die  Feliber,  welche  die 
Erzählung  hier  unterbricht,  in  die  Erläuterungen  genommen  hat.): 
Aus  Felsentiefen  trat  nie  mehr  ein  Feenfuss.  Um  die  Zwölfzahl  der 
Silben  zu  haben,  wäre  Feeenfuss  mit  drei  „e"  zu  schreiben,  eine 
Schreibung,  die  Weigand  und  Kluge,  sowie  auch  die  Puttkammer'- 
schen  Regeln  zulassen,  wie  denn  auch  Bertuch  selbst  in  den  Be- 
richtigungen zu  p.  154  Marieen  für  Marien  bessert.  —  Für  masco 
im  6.  Gesänge  und  sonst  wäre  vielleicht  die  Übersetzung  „Zauberin" 
mehr  zu  empfehlen  als  _,Hexe";  als  bösartige  Hexe,  wie  wir  doch 
diesen  Ausdruck  meist  fassen,  zeigt  sich  Taven  keineswegs.  —  VII. 
Str.  71  (Bertucli  p.  145):  und  warf  .  .  .  Den  Mantel  aus  Kadis  vor 
sich  zu  Boden  hin.  cadis,  etoffe  de  laine  grossiere,  also  eine  Art 
Loden,  musste  in  dem  Wortverzeichnis  erläutert  werden.  —  Da 
Bertuch  sonst  so  auf  W^ohlklang  seiner  Verse  hält,  erwähne  ich 
auch  Vin.  Str.  7  (Bertuch  p.  151):  SoUt  je  ein  böses  Tier,  Wolf 
Molch,  Schlang  oder  Hund  ....  wo  die  fünf  einsilbigen  Substantiva 
nebeneinander  nicht  gerade  wohllautend  erscheinen.  (Derselbe  Vers 
schon  im  eisten  Gesänge.)  —  Zu  frei  übersetzt  erscheint  XII  Str.  1 : 
E  que ,  leissant  parti  la  branco ,  Sus  la  cabesso  vo  sus  l'anco  Li 
chato  en  adjudant  cargon  si  plen  gourbin.  „Und  wenn  die  Mädchen 
den  Zweig  los  lassend  (von  dem  sie  bis  dahin  Blätter  oder  Früchte 
pflückten),  sich  gegenseitig  lielfend  auf  Haupt  oder  Hüfte  ihre  vollen 
Körbe  laden."  Bertuch  übersetzt  p.  213:  Wann  .  .  .  Die  Mädchen 
in  den  Winsergaden  Die  Traubenkörbe  fwch  geladen,  Und  munter 
Schar  um  Schar  die  Schritte  heimwärts  lenkt,  „gaden"  kann  doch 
nur  ein  abgeschlossenes  Gemach  bedeuten ;  oder  ist  es  ein  rheinischer 
Winzerausdruck  mit  besonderer  Bedeutung?  Dass  man  den  pro- 
venzalischen  Text  nicht  gerade  auf  Thätigkeit  im  Weinberge  zu 
beziehen  braucht,  wäre  weniger  wichtig.  —  Sonst  sind  Idiotismen 
von  Bertuch  mit  Glück  verwendet;  so  das  Wetterauische:  auf  eines 
Astes  Zwerche;  ämse  für  Ameise,  das  u.  a.  Logau  und  Wieland 
gebrauchen,  und  anderes.  —  Ebenso  scheint  mir  XII.  Str.  32  mit 
der  Übersetzung  p.  227 :  Mein  schöner  Freund,  geh  nicht  von  hinnen, 
unnötig  und  für  den  Sinn  nicht  günstig  vom  Texte  abgewichen  zu 
sein.     Moun    bei  ami,    de   mounte    oenesT     „Mein  Geliebter,    woher 


112  Referate  und  Rezensionen.     B.  Schneider, 

kommst  Du?"  ruft  Mireio  dem  Freunde  einfach  und  natürlich  zu; 
warum  hier  vom  Texte  abweichen?  Nur  daran  erinnert  sei,  dass 
die  Übersetzung  von  hei  mit  „schien'"  in  der  Anrede  nur  ausnahms- 
weise den  Credanken  des  Originals  wiedergiebt.  Dies  Adjektiv  hat, 
wie  im  Altfranzösischen  durchaus,  im  Neufranzösischen  noch  in  den 
Verwandtschaftsbezeichnungen  heau-frerc.  helle-soeur  u.  s.  w.,  so  auch 
im  Provenzalischen  bei  der  Anrede  vor  allem  die  Bedeutung  „lieb, 
teuer". 

Solcher  Einzelheiten  Hessen  sich  gewiss  noch  manche  hinzu- 
fügen; aber  sie  sind,  wie  die  besprochenen,  meist  doch  der  Art, 
dass  der  Übersetzer  gar  nicht  derselben  Meinung  zu  sein  braucht, 
ohne  dass  man  es  ilim  verübeln  könnte;  es  wird  häuüg  nui'  sub- 
jectives  Gefallen  für  die  eine  oder  die  andere  Wendung,  für  diese 
oder  jene  Gestaltung  des  Verses  die  Entscheidung  treften.  Jedenfalls 
bestätigen  diese  geringen  Ausstellungen ,  die ,  wie  ich  glaube ,  sich 
durch  schwerer  wiegende  nicht  vermehren  Hessen,  das  oben  aus- 
gesprochene Urteil,  dass  wir  es  mit  einer  sehr  anerkennenswerten 
Leistung  der  Übersetzungslitteratur  zu  thun  haben  und  dass  durch 
Bertuch  dieses  Werk  der  neuprovenzalischen  Dichtung  in  vortreff- 
licher Form  den  deutschen  Lesern  zugänglich  gemacht  ist. 

Von  Äusserlichkeiten  erwähne  ich  noch,  dass  durch  Weglassen 
der  Anführungsstriche  bei  direkter  Rede  die  Übersetzung  das  Ver- 
ständnis des  Zusammenhangs  manchmal  unnötig  erschwert.  Mistral 
verwendet  sie  allerdings  in  seinem  Texte  auch  nicht:  aber  wenn, 
wie  in  diesem  Gedichte  an  mehreren  Stellen ,  das  rasche  Erfassen 
des  Sinnes  durch  diese  Äusserlichkeit  wesentlich  gefördert  wird,  so 
ist  kein  Grund,  für  den  deutschen  Text  darauf  zu  verzichten. 

Als  Bertuch  diese  Verdeutschung  der  Mireio  drucken  Hess, 
hatte  er  wahrscheinlich  die  Kritik  seiner  Nerto-Übersetzung  durch 
Koschwitz  noch  nicht  gelesen.  Koschwilz  tritt  dort  dafür  ein,  nach 
der  Schreibung  der  Schriftsteller  des  Languedoc  das  tonlose  o  der 
Endung  weiblicher  Namen  im  Deutschen  durch  a  zu  ersetzen.  Es 
ist  ja  gewiss  richtig,  dass  wir  im  Deutschen  leicht  verleitet  werden, 
diese  Namen  mit  zu  vollem  Endungsvokal  zu  sprechen,  während  es 
docli  nui"  naclitönend  ist  wie  das  französische  dumpfe  e  der  Endung. 
Andrei'seits  würde  die  Schreibung  mit  -<i  eine  Aussprache  in  Deutsch- 
land einführen,  die  sich  wohl  in  Feliberkreisen  des  Languedoc  jetzt 
mehr  wie  früher  findet,  die  al)er  etwas  Künstliches  zu  haben  scheint 
und  aus  der  naiven  Ausspnulie  des  Volks  schwer  nachzuweisen  sein 
wird.  Überdies  hat  im  Rhodanien,  weniger  noch  in  Avignon  selbst, 
als  in  der  Landschaft  nach  den  Alj)illes  hin,  der  nachtönende  weib- 
liche Endungsvokal  sicher  einen  dumpferen  Ton,  der  durch  o  noch 
am  besten  wiedergegeben  ist.  Rdumanille  selbst  sprach  beim  Vor- 
trage seiner  Gedichte    und   auch    in   einer  Prosaansprache   an   seine 


Mireio.     Provencalische  Dichtung  von  Frederi  Mistral.       113 

Genossen,  wie  Verfasser  bei  seinem  Aufenthalte  in  Avignon  zu  be- 
obachten Gelegenheit  hatte,  die  betreffende  Endung  mit  auffallend 
dunkler  Klangfarbe,  so  dass  mir  jede  andere  Aussprachebezeichnung, 
die  nicht  o  zur  Basis  nähme,  für  das  Rhodanien  nicht  zutreffend  er- 
scheinen würde.  Wenigstens  für  die  Namen,  welche  die  Schriftsteller 
dieser  Landschaft  erst  in  die  Litteratur  eingeführt  haben,  so  vor 
allem  für  Mireio  und  Nerto,  möchte  ich  die  Beibehaltung  der  Schreibart 
Mistrals  auch  für  uns  Deutsche  befürworten ;  für  solche  Namen,  die 
uns  in  andrer  Form  schon  geläutig  sind,  wie  Diana  und  Sibylle,  liegt 
die  Sache  anders. 

Die  Bertuch'sche  Übersetzung  bietet  noch  zwei  wertvolle  Zu- 
gaben: erstens  einleitende  Bemerkungen  von  Ed.  Boehmer,  welche 
beweisen,  dass  dieser  Gelehrte  die  warme  Teilnahme  für  die  proven- 
zalische  Sache,  der  er  schon  1870  Ausdruck  gegeben,  sich  bis  heute 
bewahrt  hat.  Ich  hebe  aus  ihnen  besonders  das  Urteil  von  Ludwig 
Giesebrecht  über  Mistrals  Dichtung  hervor,  sinnig  und  zu  Gedanken 
anregend,  wie  alles,  was  von  diesem  Dichter  kommt. 

Das  zweite  ist  die  Bezeichnung  der  Aussprache  einiger  Abschnitte 
des  Gedichts  in  der  von  Boehmer  und  Koschwitz  ausgebildeten  Laut- 
schriftweise, die  auch  für  Koschwitz'  demnächst  erscheinenden  Werk 
„Aus  dem  Lande  der  Feliber"  Verwendung  finden  soll.  Da  Bertuch 
sich  die  betreffenden  Stelleu  von  Mistral  selbst  und  andern  Genossen 
des  Feliberbundes  vorlesen  lassen  konnte  und  sie  auch  sein  eigenes 
Vorlesen  dieser  Verse  prüften,  so  haben  wir  hierin  das  denkbar 
sicherste  Material  für  die  Art  und  Weise,  wie  Mistral  die  Sprache 
spricht  und  gesprochen  haben  will.  Das  ist  für  alle,  die  sich  mit 
neuprovenzalischer  Litteratur  beschäftigen,  überaus  wichtig;  dass 
daraus  nicht  ohne  weiteres  in  allen  Einzelheiten  Schlüsse  für  die 
heutige  Volksaussprache,  die  sprachwissenschaftlich  doch  das  einzig 
Lehrreiche  ist,  gezogen  werden  können,  darauf  habe  ich  an  andrer 
Stelle  schon  hingewiesen.  Interessant  ist  z.  B.,  dass  bei  grand  Mistral 
jetzt  wie  im  Französichen  vor  vokalischem  Anlaut  das  d  wie  t 
hinübergezogen  haben  will,  während  das  Volk  in  diesem  Falle  ein 
Überschleifen  entschieden  überhaupt  nicht  kennt ;  dass  er  auslautende 
Nasalierung  vor  anlautendem  Vokale  aufrecht  erhält  (wie  z.  B.  toun 
auhado),  hier  im  Einklang  mit  der  Volksaussprache  des  Ehodanien, 
während  manche  Feliber  hier,  wie  die  nordfranzösischen  Orthoepisten 
es  meist  lehren,  die  Nasalierung  aufgeben;  dass  er  den  Auslaut  der 
Präposition  sus  überall  gesprochen  haben  will,  während  die  ei'ste 
Ausgabe  der  Proven^alo  noch  su  druckte,  zum  sicheren  Zeichen,  dass 
die  Herausgeber  dieser  Sammlung  damals  wenigstens  für  die  Aus- 
sprache des  Auslautes  vor  Konsonanten  in  der  Volksaussprache  keinen 
Anhalt  hatten. 

Jedenfalls  haben  alle,  die  sich  für  südfranzösische  Dialektkunde 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV^.  8 


114  Referate  und  Rezensionen.     B.  Schneider, 

interessieren,  Ursache  dem  Übersetzer  für  diese  Zuyrabe  besonders 
dankbar  zu  sein.  Die  Zahl  derjenigen  mehrt  sich  ja  in  Deutschland, 
denen  die  Möglichkeit  geboten  war,  diese  Mundarten  in  der  Aussprache 
der  Landeseingebornen  kennen  zu  lernen,  wie  auch  Verfasser  in 
Avignon  und  andern  Teilen  Südfrankreichs  und  in  Paris  bei  den 
Festen  von  Sceaux  Südfranzosen  der  verschiedensten  V'olkskreise, 
unter  ihnen  die  hervorragenden  Mitglieder  des  Feliberbundes,  ihre 
heimatliche  Mundart  sprechen  hörte.  Aber  bei  der  subjektiven  Natur 
solcher  Beobaclitungen  bedarf  man,  um  hieraus  sichere  Schlüsse  für 
den  lebendigen  Gebrauch  einer  Sprache  ziehen  zu  können,  stetig 
erneuter  Nachprüfung  an  Ort  und  Stelle,  sowie  der  Bestätigung  und 
Ergänzung  oder  der  Berichtigung  aus  Beobachtungen,  die  andere  in 
der  Heimat  der  Sprache  angestellt  haben.  Ich  erwähnte  schon  oben, 
dass  Hoffnung  vorhanden  ist,  für  alle  diese  sprachlichen  Fragen  jetzt 
eine  wissenschaftliche  Basis  zu  erhalten,  wenn  die  Resultate  der 
exakten  Forschung  von  Gelehrten  wie  Gillieron,  des  Abbe  Rousselot, 
Ed.  Koschwitz  und  anderen  erst  vollständig  vorliegen  werden. 

Die  Mistral'sche  Mireio  ist  wiederholt  in  fremde  Sprachen  über- 
setzt worden;  die  Kataloge  erwähnen  drei  Übersetzungen  ins  Eng- 
lische, zwei  metrische  in  das  Französische.  Ausser  der  Prosa-Über- 
setzung, die  Mistral  selbst  dem  Werke  mitgegeben,  führt  Gustav 
Dorieux  eine  in  Versen  von  Henrion  an,  die  nur  in  wenig  Exem- 
plaren in  Tours  1879  gedruckt  sei.  Mir  ist  sie  nicht  zu  Gesicht 
gekommen,  wohl  aber  die  von  E.  Rigaud,  der  das  Gedicht  in  der 
Strophenform  Mistrals  im  Ganzen  mit  gutem  Geschick  übersetzt  hat. 
Auch  eine  Übersetzung  in  einen  Dialekt  des  Dauphine  von  Maurice 
Riviere-Bertrand  liegt  in  den  Veröffentli(diungen  der  Gesellschaft 
für  das  Studium  der  romanischen  Sprachen  zu  Montpellier  vor,  und 
einige  Abschnitte  sind  von  Carmen  Sylva  in  das  Rnmänische  über- 
setzt worden. 

Auch  für  Deutschland  hatten  wir  schon  eine  Übersetzung  der 
Mireio  (sie  wählt  die  Form  Mireia),  die  Frau  Dorieux-Brotbeck  1880 
zu  Heilbronn  erscheinen  Hess.  Voraus  geht  ihr  die  Übertragung 
der  Lebenserinnerungen  Mistrals  aus  seinen  Isclo  d'or  und  ein- 
leitende Bemerkungen  über  die  Feliberbewegung  von  Gustav  Dorieux. 
Natürlich  kann  es  nicht  unsre  Aufgabe  sein,  die  eine  Übersetzung 
auf  Kosten  der  andern  hervorzuheben.  Wie  die  Provence  mit  ihren 
eigenen  Landschaftsbildern,  ihren  Bewohnern  und  ihrer  Sprache  auf 
alle  Nordländer,  die  sie  kennen  lernten,  einen  fascinierenden  Reiz 
ausübte,  so  ist  auch  Frau  Dorieux-Brotbeck  mit  grosser  Begeisterung 
an  ihre  Aufgabe  gegangen,  und  in  liebenswürdiger  Weise  entwaffnet 
sie  p.  LXXII  des  Vorworts  von  vornherein  die  Kritik,  wenn  sie 
Mängel  an  ihrer  Arbeit  entdecken  sollte.  Die  geistreiche  \'erfasserin 
hat  1877  zu  Wien  bemerkenswerte  eigene  lyrische  Gedichte  erscheinen 


Mireio.     Proveucalische  Dichtung  von  Frederi  Mistral.       115 

lassen;  ein  einleitender  Vororesang  an  Mistral  erweckt  die  besten 
Erwartungen;  die  ersten  Strophen  scheinen  ihnen  Recht  zu  geben, 
auch  der  ganze  erste  Gesang  liest  sich  noch  leidlich,  wenn  man  auch 
hie  und  da  Ausdruck  oder  Vei-s  anders  <»:estaltet  wünschte.  Weiterliin 
gewinnt  man  aber  immer  mehr  den  Eindruck,  dass  eine  sehr  sorg- 
fältige Durcharbeitung  nötig  gewesen  wäre.  Nicht  dass  die  Über- 
setzerin den  provenzalischen  Text  unkorrekt  wiedergäbe;  es  ist  ilir 
meist  gelungen,  ihn  richtig  aufzufassen,  wie  denn  überhaupt  die 
französische  Prosa-Übersetzung,  mit  der  Mistral  selbst  sein  Werk 
ausstattete,  das  Verständnis  desselben  sehr  erleicliterte.  Aber  wie 
sie  selbst  fürchtet,  da  sie  lange  in  der  Fremde  weilte  und  so  des 
direkten  Verkehrs  mit  dem  deutscli-nationalen  Geistesleben  entbehrte, 
hat  ihr  Gefühl  für  das,  was  in  unserer  Sprache  sinngemäss,  schön 
und  wohlklingend  ist,  sich  nicht  so  bewalirt.  Reime  wie  p.  73.  str.  3: 
zusammen  trifft  und  zur  Mitgift;  ebenda  str.  4:  voll  banger  Leid- 
ahnung und  die  so  jung;  p.  82.  4:  Kleeblatt  und  niesatt  (warum  dies 
in  einem  Wort  geschrieben':')  und  andere  mehr  erklären  sich  wohl 
daraus,  dass  der  Übersetzerin  bei  ihrem  langen  Aufenthalt  in 
romanischen  Ländern  das  Gefühl  für  die  Bedeutung  der  Accentsilbe 
im  deutschen  Versbau  nicht  mehr  so  lebendig  geblieben  ist.  Alexan- 
driner wie  p.  23.  Str.  2 :  Wach  tvär  ihr  Attg'  geblieben  bis  zur  Früh' 
Taufall;  p.  82.  1.  Wild  rennend  auf  des  Olymps  Gipfeln  stellt  den 
Borst;  ebenda  str.  2.  Barfuss  durch  Kieseln;  froher  ist  die  Eidechs' 
nicht;  p.  143.  3.  FühU  einst'ge  Kraft  Ambrosius,  die  Team  zum  Atts- 
bruch,  sind  völlig  nach  dem  Gesetz  der  Silbenzählung  gebaut  und 
wirken,  wie  so  viele  andre,  im  Deutschen  höchst  unschön.  Dabei 
denke  ich  nicht  an  die  Nichtbeachtung  der  Mittel-Cäsur,  die  wohl 
häutig  von  der  Verfasserin  beabsichtigt  ist;  doch  dürfte  es  besser 
gewesen  sein,  auch  diese  Freiheit  sich  bei  der  Übertragung  der 
Mireio  nicht  übermässig  häufig  zu  gestatten,  da  Mistral  selbst  sich 
der  strengeren  Observanz  fügt.  Die  völlige  Vernachlässigung  des 
Wortaccentes  ist  es  aber,  die  das  deutsche  rythmische  Gefühl  auf 
die  Dauer  unangenehm  berührt.  Dahin  gehören  auch  die  häufigen 
grundlosen  Inversionen  und  die  Weise  der  Übersetzerin  ihre  Verse 
so  zu  bauen,  dass  es  fast  zur  Ausnahme  wird,  wenn  Satzteil-Abschluas 
und  Versende  zusammen  fallen.  Beispiele  bietet  fast  jede  Seite  der 
Übersetzung  mehrfach.  Ich  gebe  gern  zu,  dass  es  pedantisch  seni 
würde,  bei  einem  Gedicht  von  dieser  Ausdehnung  einzelne  Austösse 
solcher  Art  besonders  hervorzuheben;  aber  die  übergi-osse  Anzahl 
solcher  Erscheinungen  hindert  denn  doch  den  Leser  aus  der  Über- 
tragung den  Wohllaut  der  Rythmik  und  die  Schönheit  der  Sprache 
herauszufühlen,  die  gerade  den  eigenen  Reiz  der  Mistral'schen  Dichtung 
bildet.  Der  Raum  verstattet  es  nicht,  grössere  Abschnitte  beider 
Übersetzungen  einander  gegenüber  zu  stellen.     Ich  würde  es  sonst 

8* 


116  Referate  und  Rezensionen.     F.  Heuckenkamp, 

mit  dem  Gebet  an  die  heiligen  Frauen  im  X.  Gesang  gethan  haben. 
Bertuch  hat  das  seit  Heines  „Wallfahrt  nach  Kevlaar"  für  Wallfahrts- 
lieder klassische  Metrum  gewählt  und  beginnt  p.  190: 
0  heilige  Marieen,  zu  Blumen  wandelt  Ihr 
Der  Armen  bittre  Thränen,  seid  gnädig  nun  auch  mir! 
und  weiter  Str.  3  u.  4: 

Ich  bin  ein  junges  Mädchen,  das  einem  Jüngling  gut: 
Vincen  .  .  .  Ihm  gilt  mein  Sehnen  und  meiner  Thränen  Flut! 
Ich  lieb  ihn  wie  die  Quelle  zu  Thal  zu  fliessen  liebt, 
Ich  lieb  ihn  wie  der  Vogel  die  Luft,  die  ihn  umgiebt. 

Frau  Dorieux  behält  Mistrals  Metrum  bei  und  übersetzt  p.  190: 
0  heiige  Marieen!  Ich  komm'  mit  Vertrauen. 

Ihr  macht  aus  der  Thrän'  Ein  Kind  bin,  gering; 

Uns  Blumen  erstehn:  Vincenz,  den  Jüngling, 

Seht  huldvoll  mich  knieen;  0  heiige  Frauen! 

Horcht  schnell  auf  mein  Flehn!       Mit  Lieb'  ich  empfing. 
Ich  lieb'  ihn  so  dringend, 
Wie  gern  durch  den  Rain 
Hinfliesst  das  Bächlein 
Wie's  Flüggvöglein,  schwingend 
Sich,  liebt  Sonnenschein. 
Dabei  folgt  die  Übersetzung  von  Frau  Dorieux  hier  keineswegs 
dem  Texte   genauer   als   die  Bertuch'sche ;    nur  Str.  4   versucht   sie 
gegen  Bertuch  in:    Coume  Vaucea  ßame  Arno  de  vmla  den  Begriff 
des  Vögleins,  das  seinen  ersten  Flug  unternimmt,  festzuhalten.  — 
Zur  Vergleichung  eignet  sich  besonders  noch  der  XII.  Gesang;  aber 
man  kann  überall  eine  Reihe  von  etwa  zehn  Strophen  herausnehmen, 
um  die  verschiedene  Wirkung  ier  Verdeutschungen  von  Frau  Dorieux 
und  Bertuch,  bei  ungefähr  gleich  koiTekter  Wiedergabe  des  Urtextes, 
zu  erproben. 

Dies  richtige  Verständnis  des  Textes  und  lebendige  Begeisterung 
für  die  Aufgabe,  die  neuprovenzalische  Dichtung  in  Deutschland  be- 
kannt zu  machen,  wird  man  Frau  Dorieux  gern  zuerkennen;  die 
Bertuch'sche  Übersetzung  verbindet  aber  damit  auch  sorgfältige  Wahl 
des  Ausdrucks  und  sichere,  wohllautende  Beherrschung  der  deutschen 
Form.  Er  hat  empfunden,  dass  man  sich  nicht  mit  dem  ei"sten  Ent- 
würfe begnügen  darf,  wenn  es  sich  darum  handelt  ein  Übersetzungs- 
werk zu  bieten,  das  dauernden  Wert  behalten  soll,  dass  nur  wieder- 
holtes sorgfältiges  Prüfen  in  Rythmik  und  Sprache  uns  ein  Werk 
schaffen  kann,  das  auch  in  deutschem  Gewände  den  eigentümlichen 
Zauber  der  Mistral'schen  Dichtung  auf  uns  ausübt. 

Berlin.  Bernhard    Schnieider. 


W.  6r.  C.  Bijvanck.     IJn  poete  inconmc  de  la  societe  etc.     117 

Bijyanck,  W.  G.  C.  ün  poete  inconnu  de  la  societe  de  Frangois 
Villon.  Le  Grand  Garde  Derriere,  Poeme  duXVe  siecle, 
publie  avec  Introductiou,  Glose  et  Index,  suivi  d'nne  Ballade 
inedite  de  Frangois  Villon  k  sa  dame.  Paris,  Champion  1891. 
Kl.  8»,  61  Seiten,  fr.  2,—. 

In  dem  ersten  Teil  dieser  Publikation  liegt  uns  eine  kleine 
Dichtung  vor,  die  Herr  B.  zum  ersten  Mal  aus  einer  Arsenal- 
handschrift an's  Tageslicht  gezogen  hat.  Diese  Dichtung,  die  aus 
35  siebenzeiligen  Strophen  besteht,  gehört  der  realistischen  Richtung 
der  französischen  Poesie  des  XV.  Jahrhunderts  an.  Es  ist  ein  Aus- 
schnitt aus  dem  eigenen  Leben,  den  uns  der  Verfasser  dieser  Dichtung 
in  seiner  mehr  originellen  als  gewählten  Redeweise  schildert.  Er 
ist  jung  aus  der  Provinz  in  die  Stadt  gekommen,  man  darf  annehmen, 
dass  Paris  gemeint  ist,  und  ist  da  bald  das  Opfer  einer  gewiegten 
K  kette  geworden.  Die  Rolle,  zu  der  er  sich  selbst  verurteilt,  ist 
tragikomisch.  Er  wird  seiner  Leidenschaft  nicht  Herr,  ob  er  gleich 
weiss,  dass  man  mit  ihm,  dem  ungewandten  Provinzler,  sein  Spiel 
treibt  und  dass  einem  Andern  (eben  dem,  den  sich  die  Dame  als 
garde  derriere  hält)  das  zu  Teil  wird,  was  sich  der  Unglückliche 
vergeblich  ersehnt.  Freilich  die  Ironie,  mit  der  er  seine  Seelen- 
zustände  schildert,  lässt  vermuten,  dass  sich  der  Dichter  endlich  doch 
eimannt  und  vielleicht  gerade  mit  diesem  Poem  den  Versuch  gemacht 
hat,  sich  die  unwürdige  Leidenschaft  vom  Halse  zu  versifiziren. 

Dass  wir  es  hier  mit  einem  Geistesverwandten  Villons  zu  thun 
haben,  dafür  spricht  die  frische,  lebendige  und  sarkastische  Art,  mit 
der  der  Dichter  seineu  Gegenstand  vorträgt.  Aber  das  ist  auch 
AUes,  was  sich  von  ihm  sagen  lässt,  denn  mit  dem  Namen  Debosco, 
der  sich  ans  den  Anfangsbuchstaben  der  letzten  Strophe  ergibt,  ist 
vorläutig  nichts  anzufangen.  Indessen,  wer  dieser  Debosco  aucli  ge- 
wesen sein  mag,  sein  Gedicht  ist  jedenfalls  beachtenswert;  es  ist 
Selbsterlebtes,  was  der  Dichter  schildert,  und  er  schildert  es  treu  und 
ohne  Schminke.  —  Dem  Herausgeber  lag  ein  verhältnissmässig  gut 
erhaltener  Text  vor,  der  ihn  nur  zu  wenigen  Aenderungen  ver- 
anlasste, die  man  wohl  gutheissen  kann.  Im  Index  gibt  B.  zahlreiche 
und  gelelu'te  Erklärungen  von  nicht  ohne  Weiteres  verständlichen 
Stellen  des  Textes,  den  er  überdies  häufig  durch  Parallelstellen  aus 
zeitgenössischen  Dichtungen  illustrirt.  Mit  Rücksicht  auf  den  Um- 
stand, dass  wir  von  der  französischen  Litteratur  des  XV.  Jalirhunderts 
noch  keine  Darstellung  besitzen,  wäre  es  von  dem  Herausgeber 
rücksichtsvoll  gewesen,  wenn  er  die  angezogenen  Stellen  etwas  sorg- 
fältiger nachgewiesen  hätt^. 

Als  einen  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  publicii-t  B.  eine  Ballade, 
die  er  Villon  zuschreibt.     Dass  diese  Ballade  wirklich  von  dem  be- 


118  Beferate  wid  Rezensionen.     E.  von  SallwürJc, 

rühmten  Dichter  herrührt,  ist  eine  Annahme,  die  sicli  aus  dem  Gedicht 
allein  nicht  rechtfertioen  lässt.  Die  Begründuni;-  seiner  Behauptung 
gedachte  B.  bereits  im  Laufe  des  Jahres  1891  in  der  Romania  nieder- 
zulegen, doch  ist  der,  auch  von  Seiten  der  Romania  wiederholt  in 
Aussicht  gestellte  Aufsatz  fVillon  incdit)  bis  jetzt  nicht  erschienen. 
Halle.  F.  Heuckenkamp. 


Krumme,  Dr.  W.,  Do.s  höhere  Schulwesen  im  Auslande  während  der  letzten 
20  Jahre.  Braunschweig,  0.  Salle.  1890.  48  S.  8«.  80  Pf. 
Der  Verfasser  berichtet  über  diejenigen  ausländischen  Lehrpläne, 
welche  den  Unterricht  in  den  klassischen  Sprachen  zurückdrängen  oder 
durch  Einrichtung  von  Parallelklassen  die  Möglichkeit  gewähren,  einen 
Teil  der  Schüler  von  demselben  wenigstens  teilweise  zu  entlasten  zu 
Gunsten  des  neusprachlichen  oder  realistischen  Unterrichts.  Da  mit  der 
Reform  der  preussischen  höheren  Schulen  das  Bedürfnis  nach  einer  zeit- 
gemässen  Umgestaltung  des  Unterrichts  der  (iyranasien  und  Realgymnasien 
durchaus  nicht  befriedigt  ist,  so  sind  diese  Zusammenstellungen,  welchen 
überdies  gescliichtliche  Nachweise  beigefügt  sind,  immer  noch  wertvoll. 
Ob  freilich  der  neusprachliche  Unterricht  schon  jetzt  die  Ausbildung  erlangt 
habe,  die  diese  Lehrpläne  zum  grossen  Teile  voraussetzen,  muss  noch 
dahingestellt  bleiben.  Dem  Referenten  scheinen  auch  heute  noch  die  Ge- 
schichten der  grossen  Männer  des  Altertums  pädagogisch  wertvoller  zu 
sein ,  als  was  die  meisten  Elementarbücher  für  den  französischen  und 
englischen  T'nterricht  dafür  bieten,  und  er  ergreift  diese  Gelegenheit  zu 
erklären,  dass  er  von  den  Einwänden,  die  er  vor  zwanzig  Jahren  dem 
„Ostendorfischen  Reformplan'"  entgegengestellt  hat,  nocli  nicht  zurück- 
gekommen ist.  Einige  „Reformschriften"  hal)en  dies  behauptet  trotz  einer 
Erklärung,  die  er  gegen  Völcker  in  den  Jahn-Fleckeisenscben  Jahrbüchern 
vor  einigen  Jahren  hat  erscheinen  lassen.  Richtig  ist  nur.  dass  er  es  für 
pädagogisch  unerlaubt  hält,  neunjährige  Knaben  schon  mit  Latein  zu  be- 
lasten. Er  möchte  ai)er  auch  anderen  fremdsprachlichen  Unterricht  auf 
dieser  Altersstufe  noch  nicht  beginnen. 

E.  VON  Sallwirk. 


Ludwig  Volkmanu  (ord.  Lehrer  an  der  Ober-Realschule  in  Breslau).  Dif 
JMetItodik  de^  Schtdituterricht^  in  den  nioderncn  Fremdi^prachen, 
gegründet  auf  die  Methodik  des  deutschen  Unterrichts.     Dargelegt 
am  Deutschen  und  Französischen.     Berlin,  Mittler  &  Sohn,  1891. 
34  S.     8». 
Franz    Kerns    analytischer   Sprachunterricht    und   die    durch    Ziller 
schematisierte   Herbartisclie   Didaktik    bestimmen    die   methodischen  Vor- 
schläge des  Verfassers,   die   interessant,   für  den   mit  Herbart  nicht   ver- 
trauten Lehrer  aber  vielfach   unverständlich  sein  werden.     Auf  die  Fest- 
stellung   der    zur    Anknüpfung   neuer    Erkenntnisse   geeigneten    früheren 
Vorstellungen        eine  an  sich  sehr  wichtige  Forderung  der  Didaktik  — 
hat  die  jungherbartische  Schule  bekanntlich  einen  dankenswerten,  aber  auch 
sehr  einseitigen  Eifer  verwendet.     Das  nämliche  Bestreben  führt  unseren 
Verfasser  darauf,  den  französischen  (fremdsprachlichen)  Unterricht  in  der 
Weise  an  den  muttersprachlichen  anzuknüpfen,  dass  er,  ,,wcnn  der  Schüler 
das  Niveau  seiner  eigenen   Sprechweise   mit  grammatischem  Verständnis 
erreicht  hat,  d.  h.  wenn  er  die  Anfangsgründe  der  Satzlehre  beherrscht", 
die  entsprechenden  französischen  Spra«  helemente  gewissermassen  in  <ien 


F.  Bock.  Wesentl.  Merhnale  d.  verb.  Sprachunterrichts- Methode.  1 19 

Rahmen  der  so  gewonnenen  grammatischen  Begriffe  einfach  einfügt.  So 
kommt  es.  dass  der  Schüler  das  ganze  französische  Zeitwort,  sogar  un- 
regelmässige Formen  desselben  (S.  16),  ferner  das  Nomen  und  Pronomen, 
ja  selbst  die  Grundzüge  der  Syntax  erlernt  hat,  bevor  er  einen  zusammen- 
hängenden französischen  Satz  liest.  Was  über  die  Behandlung  der  nachher 
eintretenden  Lektüre  und  im  Anfang  über  das  ,, Parlieren"  gesagt  wird, 
ist  beherzigenswert;  aber  die  ganze  Methode  ist  heute  unannehmbar.  Sie 
ist  nicht  einmal  herbartisch  und  verurteilt  sich  damit  vom  eigenen  Stand- 
punkte des  Verfassers  aus. 

E.  VON  Sallwürk. 


Fritz  Bockj  Wesentlich?  Merkmale  der  verbesserten  Sprachunterrichts' 
Methode.  Teschen,  K.  und  k.  Hofbuchdruckerei  Karl  Prochaska, 
1891.  19  S. 
Der  Verfasser  dieser  Schrift,  die  wohl  zuerst  als  Programm  er- 
schienen ist,  hat  zwei  Jahre  lang  nach  der  „neuen  Methoile"  Französisch 
gelehrt  und  ist  dabei  zu  der  Ansicht  gekommen,  dass  viele  .Kunstgriffe 
und  Kniffe'^,  welche  die  Reformer  empfehlen,  von  geringer  Bedeutung 
seien,  dass  aber  dem  analytischen  Unterricht,  dem  er  gefolgt  ist,  gewisse 
Vorzüge  eigen  seien,  welche  wohl  begründeten  psychologischen  Forderungen 
entsprechen  und  daher  sichere  pädagogische  und  didaktische  Erfolge  hoffen 
lassen.  Diese  Forderungen  entnimmt  er  der  Pädagogik  Herbert  Spencers ; 
er  hätte  eine  bessere  und  besonders  den  Sprachunterricht  vernünftiger 
würdigende  wählen  können,  al)er  es  ist  schon  anerkennenswert,  dass  neben 
den  praktischen  Zielen,  welche  die  Methodik  des  neusprachlichen  Unter- 
richts zu  sehr  in  den  Vordergrund  gestellt  hat,  auch  pädagogische  Zwecke 
gewürdigt  werden,  welche  nur  derjenige  Unterricht  erreicht,  der  bei  seiner 
Arbeit  von  gründlichen  psychologischen  Erwägungen  sich  bestimmen  lässt. 
Ausserdem  hat  er  sich  Rat  geholt  bei  Victors  methodischer  Umfrage, 
deren  Ergebnis  der  dritte  Band  der  Phonetischen  Studien  mitteilt. 

Bock  beginnt  seinen  Unterricht  mit  einer  praktischen  Lautlehre, 
der  acht  bis  zehn  Lehrstundeu  gewidmet  werden.  Freilich  muss  er  auch 
bei  diesem  der  analytischen  Methode  eigentlich  zuwiderlaufenden  Anfange 
sich  gestehen,  dass  man  über  manches  vorerst  hinwegsehen  müsse.  Nun 
kann  zum  Lesestück  übergegangen  werden,  wenn  man  nicht  Sprechübungen 
in  Anknüpfung  an  Anschauungsbilder  einleiten  will.  Der  fremdsprachliche 
Anschauungsunterricht  erschöpft  allerdings,  wie  der  Verfasser  mit  Recht 
bemerkt,  seinen  Stoff'  bald  und  bringt  noch  andere  Misslichkeiten  mit  sich, 
von  denen  er  nicht  spricht;  aber  der  Verfasser  giebt  doch  selbst  später 
eine  hübsche  Probe,  wie  derartige  Sprechübungen  angestellt  werden  können. 
Das  Lesestück  dient  zunächst  nur  dazu,  Sprachstoft'  herbeizuschaffen. 
Erst  später  fängt  man  an ,  auf  induktivem  Wege  grammatische  Kennt- 
nisse aus  den  Lesestücken  zu  gewinnen.  Die  Orthographie  darf  den 
ersten  Unterricht  noch  nicht  Iteschweren;  die  erste  Durchnahme  des  Lese- 
stückes geschieht  sogar  bei  geschlossenem  Buch.  Erst  bei  der  Repetition 
sieht  der  Schüler  die  Schreibform  der  von  ihm  zuerst  nur  durch  das  Ohr 
aufgenommenen  Laute  und  Wörter.  Die  Lautschrift  ist  wichtig  für  die 
häusliche  Repetition  und  in  manchen  Fällen  das  einzige  Mittel,  den  Schüler 
zu  richtiger  Lautung  zu  bringen.  Indessen  möchte  der  Verfasser  doch 
nur  (Tebrauch  von  orthoepischen  Umschriften  machen,  wenn  sie  dem 
Schüler  gedruckt  vorgelegt  werden  können.  Den  Stoff  der  Lektüre  möchte 
er  aus  „Schule,  Feld,  Natur,  Stadt,  Ackerbau,  Industrie"  schöpfen,  und 
darum  gefällt  ihm  Bechtels  Lesebuch  besser  als  das  Kühn'sche.  Wir 
müssen  ihm  hier  einwenden,  dass  die  Schule  nie  Gegenstand  didaktischer 


120  Referate  und  Rezensionen.     A.  Lange, 

Unterhaltung  zwischen  Lehrer  iind  Schüler  sein  sollte  und  dass  Be- 
schreibungen sich  schwer  für  Sprechübungen  hergeben,  Tehnisches  aber 
sich  schon  mit  Rücksicht  auf  den  Wortschatz  verbietet.  Erzählendes  ist 
in  allem  ersten  Unterricht  das  Ergiebigste  in  pädagogischer  und  didak- 
tischer Beziehung.  Für  die  Behandlung  der  Lesestücke  und  deren  Ver- 
wertung zu  Sprechübungen  erhalten  wir  ein  gutes  Beispiel  (S.  12). 
Der  Gebrauch  der  deutschen  Sprache  ist  bei  diesen  Uebungen  möglichst 
zu  beschränken,  um  nicht  durch  öfteren  Wechsel  der  , Artikulationsbasis' 
die  Aussprache  zu  schädigen.  Dass  durch  das  Uebersetzen  aus  der 
fremden  Sprache  der  deutsche  Ausdruck  geschädigt  werden  kann,  ist  nicht 
in  Abrede  zu  stellen;  ebenso  wenig  kann  aber  der  fremdsprachliche  Unter- 
richt die  Pflicht  abweisen,  durch  das  Uebersetzen  ins  Deutsche  den 
deutschen  Ausdruck  zu  üben  und  die  von  einander  abweichenden  Begrifts- 
sphären  der  beiden  Idiome  scheiden  zu  lehren.  Der  Verfasser  hat  diesen 
Standpunkt  ganz  übersehen  (S.  11).  Dass  der  Text  des  Lesestückes  sn 
eingerichtet  werde,  dass  er  für  diese  Behandlung  sich  füge  und  dem  An- 
fänger nicht  zu  viele  Schwierigkeiten  grammatischer  und  lexikologischer 
Art  auf  einmal  biete,  ist  selbstverständlich;  in  dieser  Beziehung  ist  aber 
auch  unser  Verfasser  vielleicht  noch  zu  ängstlich.  Orthographische  Diktate 
hält  derselbe  als  viel  zu  schwierig  wenigstens  vom  ersten  l'nterrichtsjahre 
ganz  fern,  und  wir  stimmen  ihm  hierin  bei.  Dagegen  giebt  er  zwanzig 
verschiedene  Arten  schriftlicher  Ueliungen  an,  welche  im  Zusammenhang 
mit  dem  Lesestücke  vorgenommen  werden  können..  Sie  beziehen  sich  auf 
den  ganzen  französischen  Unterrichtsgang,  sind  aber  nicht  alle  gleich 
empfehlenswert:  die  „Umwandlung  eines  Gedichtes  in  Prosa''  möchten  wir 
vom  französischen  Unterricht  ausschliessen  wie  vom  deutschen. 

Der  Verfasser  schliesst  mit  Leitsätzen,  die  aus  seiner  dankenswerten 
Abhandlung  hervorgehen.  Der  letzte  lautet:  Alles  ist  zu  thun,  um 
das  Gift  der  Unlust  fernzuhalten.  Möge  jede  Methode  sich  an  dieser 
Forderung  selbst  messen,  so  wird  sie  ihres  Erfolges  in  erziehlicher  und 
praktischer  Hinsicht  sicher  sein. 

E.  VON  SallwüRK. 


Phonetische  Studien.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  xnid  praktische 
Phonetik  mit  besonderer  Eücksicht  auf  die  Ketdrm  des  Sprach- 
unterrichts, herausgegeben  von  Wilhem  Victor.  Marburg, 
1890  u.  1891.')     N.  (i.  Elwert. 

Ih'itter  Band:  Ch.  Leveque  (dH)isy).  der  unterdessen  leider 
verstorben  ist.  fügt  seinen  früheren  Untersuchungen  über  Paul  Passy's 
Pran^ais  parle  (vgl.  hier  XI 11'^  93—95)  im  Anschluss  an  dessen  zweite 
Auflage  noch  weitere  Bemerkungen  hinzu  ipp.  101 — 108).  Seinen  Stand- 
punkt hat  er  seitdem  nicht  verändert:  „Pour  Tenseignement  ä  Tetranger, 
11  me  semblerait  desirable  d'eviter  tout  ce  (lui  differe  par  trop  du  type 
moyen  du  parier  des  Fran^ais  de  bonne  societe.  (|uelle  (|ue  soit  leur  origine. 
Si  j'admets  plusieurs  types  de  pronunciation  pour  Tetude  des  etrangers, 
je  dois  en  restreindre  le  nombre  autant  (jue  possible.  et  pour  faire  tout 
rentrer  dans  ce  cailre  ainsi  retreci.  je  devrai  rejeter  des  labord  et  ri- 
goureusement  ce  ((ui  s'ecarte  })ar  trop  dans  un  sens  ou  dans  Tautre  du 
type  moyen.  Le  langage  familier  et  le  style  eleve  peuvent  sufiire  ä  ces 
besoins  de  l'enseignement  special  au  nom  ducjuel  je  parle  ici.  Ve  «lui  est 
trop  familier  ne  doit  pas  etre  appris.  il  ne  serait  applicable  i|ue  rarement, 
il  entrainerait  aussi   des  confnsiims   regrettables   ip.    101  f.i."     Als   Norm 

'j  Vgl.  hier  X-  182  ff.  und  Xlll^  91  ff. 


Fhonetische  Studien.  121 

soll  etwa  die  Aussprache  igelten .  wie  sie  Passv  in  jenem  Briefe  vor 
Gaston  Paris  gegeben  hat  (Phon.  Stud.  I  250;  vgl.  hier  XIIP  92).  Zu 
dem  t'ype  trop  famüier  rechnet  er  z.  B.  die  Auslassung  des  Subjekts  untl 
der  Negation,  wie  y  a  ^;Zhs  statt  ü  n'y  a  plus,  j'avais  j;a.s  statt  je 
n'avais  pas;  ferner  das  Verschlucken  weiblicher  Endsilben,  wie  vot'  para- 
doxe statt  votre,  metf  dessus  statt  mettre,  rend'  oder  gar  renf  Service 
statt  rendre,  reprend'les  armes  statt  reprendre,  omh''  d'un  piuits  statt  ombre, 
tab'  d'acajou  statt  table;  sodann  Nachlässigkeiten  wie  espres  statt  expres, 
espedition  statt  expedition,  une  'fite  statt  tme  p'tite  u.  dergl.  In  den 
meisten  dieser  Fälle  hat  die  erste  Auflage  des  Passy'schen  Buches  ebenfalls 
die  korrektere  Aussprache.  Besonders  auch  in  der  nun  folgenden  langen 
Tabelle  versäumter  Bindungen.  Hier  geht  Passy^  in  der  That  sehr  weit, 
wenn  er  stummen,  nicht  hinübergezogenen  Endkonsonanten  verlangt  in 
pas  im,  pas  une  goutte,  se  met  ä,  les  hirondelles,  avait  entendu,  j'etais 
enchante,  froidement  intrepide,  tout-ä-fait  endormi,  de  trois  en  trois,  cris 
extraordinaires  nnd  ähnlichen  Beispielen  von  Substantiv  im  Plural  vor 
vokalisch  anlautendem  Adjektiv,  wie  femmes  elegantes,  demeures  insociables, 
boulets  inoffensifs,  deiiils  hypocrites,  nuages  epais  (dagegen  bei  Voran- 
stellung des  Adjektivs:  touchantes_,expressions);  regelmässig  auch  stummes 
t  in  der  Verbalendung  -ent,  wie  in  aspirent  ä,  commencent  un,  veulent 
alors,  viennent  aux,  apprennent  «,  rendent  au;  desgleichen  in  der  Imperfekt- 
endung -aifenjt  und  der  Participialendung  -ant,  wie  in  ressemhlait  au, 
reveillait  en  surtant,  hattait  avec,  contribuaient  encore,  apportant  un  ordre, 
souriant  et  dansant,  auch  in  s'en  vont  en,  conduisit  ä  table  u.  ähnlichen. 
In  allen  diesen  und  manchen  anderen,  weniger  auffallenden  Beispielen,  wie 
nous  nous  mhnes  en  bataille,  rang  eleve,  piiis  on  remit,  schreiben  Passy*  und 
Leveque  übereinstimmend  gegen  Passy^  die  liaison  vor.  Uneinig  sind  sie 
in  Fällen  wie  faites  eclater,  faitcs  envahir,  mortes  et.  Passy-  verlangt 
auch  hier  stummes  s,  Passy '  stimmloses  ts,  Leveque  dagegen  stimmhaftes 
dz  (denn  „i7  n'ya  de  liaison  qu'avec  la  siff laute  douce  s").  In  Bezug  auf 
Angleichung  des  Stimmtons,  und  zwar  zu  gunsten  des  zweiten  Konso- 
nanten, ist  Leveque  überhaupt  sehr  streng.  Im  (regensatz  zu  Passy i"- 2 
verlangt  er  stimmigen  Auslaut  wegen  des  folgenden  stimmigen  Anlauts 
in  avec  des  cris,  eveque  d'Atigers,  ebenso  gz  in  quelques  habitants  (Passy  ^: 
kelks,  Passy'-:  kekz,  Leveque:  khgz);  ferner  z  statt  s  in  se  glissa,  se 
disputent,  se  vanter,  ce  dieu,  second  (=  zgö,  so  auch  Passy '^);  umgekehrt 
t  statt  d  vor  k  oder  p:  grande  croix,  de  consequence,  depuis;  bemerkens- 
wert ist  amuse  son  homme,  wo  Passy i"- 2  amüz  haben,  Leveciue  dagegen 
amüs  ohne  Stimmton  des  Auslauts  und  ohne  Länge  des  Vokals  (letzteres 
vielleicht  nur  Druckversehen,  denn  an  anderer  Stelle  findet  sich  dcpose 
ses  armes  ebenfalls  mit  stimmlos  angeglichenem  .s-auslaut,  aber  erhaltener 
Länge  des  o). 

Hier  und  in  ähnlichen  Fällen  empfiehlt  also  Leveque  in  falscher 
Konsequenz  eines  Prinzips,  das  lange  nicht  ausnahmslos  wirkt,  gegen 
seine  sonstige  Gewohnheit  die  nachlässigere  Aussprache.  31an  darf  sich 
wundern,  dass  er.  der  sich  so  gern  zum  Anwalt  reiner  Aussprache  macht, 
überhaupt  das  Angleiehungsprinzip  angenommen  und  damit  verwischende 
Nachlässigkeit  zum  Gesetz  erhoben  hat.  Denn  physiologisch  notwendig 
ist  diese  Assimilation  nur  zum  Teil.  Es  ist  theoretisch  sehr  wohl  möglich, 
in  faites  entrer  die  Dentalis  stimmlos  zu  l)ilden  und  das  z  darum  doch 
sofort  stimmhaft  einzusetzen.  Praktisch  freilich  wird  das  /  den  Anfang 
des  Dauerlaute.^  z  stimmlos  beeintlussen ,  oeim  Uebergang  zu  dem 
folgenden  Vokal  aber  kann  sehr  gut  wieder  der  Stimmton  eingetreten 
sein,  ohne  dass  dieser  darum  bis  auf  den  vorangehenden  Verschlusslaut 
zurückwirkt;  also  etwa  fetzzätre.     Selbst  in  dem  umgekehrten  Falle  (plus 


122  Referate  und  Rezensionen.    A.  Lange, 

d'souoenir)  lässt  sich  durch  kräftige  Bildung  des  Blählautes  wenigstens 
das  erste  und  zweite  Moment  der  Explosiva,  die  Verschlusshildung  und 
die  Dauer  des  Verschlusses,  stimmhaft  erhalten,  erst  beim  dritten,  der 
(durch  den  folgenden  Reibelaut  verkümmerten)  Verschlusslösung  setzt  die 
Stimme  aus.')  Jedenfalls  braucht  beim  Unterricht  (und  diesen  hat  Leveque 
ja  überall  im  Auge)  von  all  diesen  Dingen  gar  nicht  die  Rede  zu  sein. 
Man  l)emühe  sich  nur,  auch  beim  Zusammentreften  ungleichartiger  Kon- 
sonanten, jeden  einzelnen  möglichst  vollkommen  zu  artikulieren.  Was 
dabei  notwendiger  Weise  durch  die  anders  geartete  Nachbarschaft  ver- 
loren geht  oder  modifiziert  wird,  macht  sich  ganz  von  selbst,  und 
Flüchtigkeiten,  wie  sie  sich  beim  schnelleren  Sprechen  naturgemäss  er- 
geben, brauchen  vom  pädagogischen  Standpunkte  aus  nicht  in  Gesetze 
gefasst  zu  werden,  l'ebrigens  muss  man  sich  bei  manchen  der  angeführten 
Beispiele  wundern,  dass  gerade  Leveijue  nicht  einen  anderen  Ausweg  zur 
Erleichterung  der  unverträglichen  Konsonanz  vorschlägt,  nämlich  deutliches 
e  :  grande  croix,  depuis,  sc  glissa. 

Eine  andere  Nachlässigkeit,  die  Leveijue  nicht  billigt,  ist  die  Be- 
seitigung der  Doppel-Konsonanz  in  uffinitc,  covrompu,  horreur,  horrihle, 
torrent.  Dagegen  ist  er  einverstanden  damit,  dass  ü  vor  Konsonanten 
in  der  Umgangssi»rache  sein  /  einbüsst,  also  Plural  vor  Vokalen  iz  und 
sogar  auch  im  Femininum  h.  Letzteres  ist  auffallend.  Ich  glaube  nicht, 
dass  ellefsj  überhaupt  so  leicht  sein  l  verliert  wie  ä(s). 

Mit  besonderer  Genugthuung  konstatiert  Leveque.  dass  in  Gemäss- 
heit  der  von  ihm  aufgestellten  Gesetze  ivgl.  hier  XIHs  93  f.  i  das  e  der 
.enklitischen-  Witrtchen  von  Passy^  richtig  beobachtet  ist,  einmal  bei 
gleichen  oder  ähnlichen  Konsonanten  wie  in  de  toi,  le  long ,  de  dragons, 
de  'Tarascon ,  sodann  auch  bei  starken  Konsonantenhäufungen  wie 
campagne  que  noiis  venons,  incapable  de  supporter,  Service  que  )iOHS,  groupe 
de  cinq,  hors  de  chez  nous,  tailleur  de  son  metier,  discours  de  Frederic, 
coeur  de  Frangais,  que  Vimpulsion,  wo  Passy*  überall  stummes  e  vor- 
schreibt. 

Was  ich  früher  diier  XI 11-  95)  über  Levecjues  Neigung  zu  nichts- 
sagenden rhetorischen  1-loskeln  bemerkte,  wird  in  grösserem  Umfange 
bestätigt  durch  seine  Abhandlung  L'accent  tonique  et  l'ecriture  (pp.  199  bis 
212),  die  er  schon  zwei  .lahre  früher  geschrieben,  aber  hier  erst  ver- 
öffentlicht hat.  In  höchst  willkürlicher  Auflassung  und  ohne  an  sach- 
lichem Inhalt  irgend  etwas  Bemerkenswertes  zu  bieten,  ist  da  vom 
Wortaccent  und  der  Schrift,  aber  auch  von  allen  möglichen  anderen, 
grammatischen,  phonetischen  und  metrischen  Dingen  die  Rede,  die  als 
Belege  teils  selbstverständlicher,  teils  rein  subjectiv  erfundener  Tendenzen 
der  Sprache  dienen  sidlen.  Ein  Beispiel  für  viele:  ji.  204  heisst  es:  -Les 
tormes  fou,  mou,  hcait,  comme  aux,  ehevaux,  montrent  (jue  nos  ancetres 
savaient  reconiiaitre  aussi  dans  la  langue  la  loi  (jue  rien  ne  se  perd  dans 
la  mdxire,  ni  stdjsiiütce,  ni  force;  il  n'y  a  que  transformation.  ("est  ä 
l'oreille,  cette  balance  ile  l'esprit  pour  les  clioses  du  son,  de  reconnaitre 
(jue  Tassourdissement  des  consonnes  finales  va  reni'orcer  la  voyelle  qui 
precede,  o  bref  devient  ou,  e  ouvert  au  :  mol  uwu;  bei  beau."  Dass  hier 
das  Ohr  eine  ..balance  de  l'esprit  pour  les  choses  du  sotr  genannt  wird, 
lässt  man  sich  ja  noch  gefallen.  Warum  aber  einige  Zeilen  weiter  die 
liaison  eine  ..grande  dame  ä  seize  quartiers  de  noblessc  genannt  wird, 
weil  sie  die  Endkonsonanten  x  und  z.  .ces  intrus  du  seizieme  siede", 
wieder  verdrängt  und  nm*  das  *•  Ji  Vexercice  de  ses  prinlegcs"  zulässt, 
wird"  der  nüchterne  deutsche  Leser  schon  schwerer  begreifen.     Der  ganze 


Vgl.  auch  hier  X-i  142. 


J 


Phonetische  Studien.  123 

Aufsatz  hätte  ohne  Nachteil  für  die  Wissenschaft  ungeilruckt  hleiben 
können. 

Jean  Passy  (Bruder  Paul  Pass,y"s),  Notes  de  phonetüpic  fratiQuise 
ä  propos  de  la  „Französische  Phonetik''  de  Fr.  Beyer  (pp.  345 — 354), 
spricht  zuerst  über  die  Betonung,  speziell  über  die  Verschiebung  des 
Wortaccentes  oder,  besser  gesagt,  über  den  Nachdruck  auf  früheren  als 
letzten  Silben  und  führt  ungefähr  folgendes  aus. 

Die  Kegel,  dass  der  Accent  auf  der  letzten  vollen  Silbe  liegt,  ist 
an  sich  richtig  und  findet  unter  anderem  auch  darin  ihre  Bestätigung, 
dass  die  küi'zende  Kindersprache  gerade  die  letzten  Silben  erhält  (z.  B. 
nö  für  bouton^.  Trotzdem  finden  häufig  Abweichungen  statt.  Manchmal 
betont  man  alle  Silben  möglichst  gleichmässig.  Bekannt  ist  die  gegen- 
sätzliche Betonung  wie  se  soumettre  oii  se  demettre.  Zuweilen  fällt  der 
Nachdruck  auf'  die  Wurzelsilbe:  condamner,  incroyahle,  <j  rem  dement, 
rudement,  excessivement  u.  s.  w,  zuweilen  aber  auch  nicht;  beaucoitp, 
?l^xrtout,  towjours,  ']Amais,  T^arfois,  soucent.  In  manchen  Wörtern 
betonen  verschiedene  Personen  verschieden,  z.  B.  gewöhnlich  absolu,  aber 
auch  ah  sollt.  In  anderen  ist  es  immer  dieselbe  Silbe,  die  den  Ton  erhält. 
So  bewahren  Adverbia  wie  jolime)it,  severement,  siucerement,particidierement 
nicht  etwa  die  Betonung  der  Adjektiva  /oli,  .s^evere,  smcere,  particu- 
lier,  sondern  setzen  den  Nebenton  auf  eine  frühere  Silbe:  joUment, 
severement,  sincerement,  ^axiiculi'erement.  Dies  ist  eine  Folge  des  Be- 
dürfnisses nach  rhythmischer  Bewegung,  die  zwei  betoute  Silben  hinter 
einander  nicht  zulässt.  Daher  z.  B.  auch  der  Unterschied  in  der  Be- 
tonung von  Sätzen  wie  j'ai  tu  Pierre,  j'ai  vu  la  maison,  j'ai  vu  la 
maison  dr  Pierre.  Allerdings  rindet  sich  ja,  besonders  in  zweisilbigen 
Wörtern,  gerade  die  vorletzte  betont,  dann  ist  aber  die  letzte  ganz  tonlos. 
In  sur tout,  hesincoltp,  par/o;.s-  u.  s.  w.  haben  wir  also  geradezu  eine  Ver- 
schiebung des  Accents,  während  man  bei  jenen  langen  Adverbien  richtiger 
von  einem  Nebenaccente  sprechen  müsste.  Im  Allgemeinen  gilt  nach  alle- 
dem Folgendes  (p.  348):  .L'accent  du  mot  isole,  et  du  plus  grand  nombre 
de  mots  dans  la  phrase  frappe  la  derniere  syllabe.  II  peut  etre  modifie 
quant  ä  son  intensite  et  ä  sa  place  par  deux  causes  d'ordre  different  et 
qui  agissent  tantöt  dans  le  meme  sens .  tantöt  en  sens  contraire : 
lo  Quand  on  veut  attirer  Tattention  sur  un  mot,  nu  en  renforce  laccent 
et  tres  souvent  on  le  deplace  dune  fa^on  parfois  arbitraire.  Pourtant, 
s'il  y  a  dans  le  mot  une  syllabe  particulierement  importante,  c'est  eile 
qu'on  accentue  de  preference  (accentuation  antithetique  et  peut-etre 
aecentuation  radicale.)  2'^  En  meme  temps  on  tend  ä  disposer  les  accents 
de  fa^on  ä  ce  qu'il  en  resulte  un  dessin  rythraique." 

Nun.  wir  wissen  ]a.  was  wir  davon  zu  halten  haben,  wenn 
Franzosen  v(in  einer  vollständigen  Verschiebung  des  Accents  sprechen. 
Vollständige  Par-  oder  Proparoxytona  wie  im  Deutschen  entstehen  dadurch 
noch  lange  nicht.  Es  ist  eben  nur  ein,  ott  regelmässiger,  zuweilen  sehr 
starker,  rhetorisch -musikalischer  Nachdruck  auf  einer  früheren,  durch 
sonoren  Vokal  und  rythmische  Bewegung,  zuweilen  wohl  auch  durch 
inhaltliche  Bedeutung  besonders  dazu  geeigneten  Silbe,  wodurch  alter  der 
eigentliche  Wort-  (oder  besser  Sprechtakt-)accent  auf  der  letzten  sogar 
dann  nicht  einmal  vollständig  verschwindet,  wenn  diese  nur  geflüstert 
wird.  Auch  die  antithetische  Betonung  in  .se  Huumettre  ou  se  Akmettre 
ist  bei  weitem  nicht  so  stark  wie  im  l»eutscheu  und  dari'  das  -mettre 
nicht  vi'dlig  tonlos  machen.  Im  Gegenteil,  oft  genug  fällt  es  uns  auf, 
Avie  wenig  der  Franzose  im  Stande  ist,  Worte  oder  Silben  wie  im  Deutschen 
als  gegensätzlich  oder  besonders  nachdrücklich  durch  blosse  Betonung 
hervorzuheben. 


124  Referate  und  Rezensionen.     A.  Lange, 

Am  Schluss  des  Kapitels  (p.  350)  weist  Passy  noch  darauf  hin.  dass 
in  solchen  Xachdiuckssilben  die  Betonung  oft  auch  durch  Verdoppelung 
(besser  Verstärkung)  des  anlautenden  Konsonanten,  namentlich  bei  s  und  r, 
und  bei  vokalisch  anlautenden  durch  festen  Stimmeinsatz  unterstützt  wird. 

Aus  dem  tolgeiulen  Kapitel  „Rvductions  dans  le  langage  parle" 
hebe  ich  folgendes  hervor. 

Die  Aussprache  kelk  für  quelque  ist  nach  Passy  vor  Konsonanten 
sehr  selten.  Gewöhnlich  sagt  man  kek  mit  stummem  /  oder  al)er  zwei- 
silbig k'dkd. 

Beispiele  von  Verschleifungen  und  Verschluckungen  in  sehr  nach- 
lässiger Rede:  QiCest-ce  que  cest  que  <:<<  =  kesseksa.  II  >/'y  est  pas  tout 
ä  fait  =^  (n)iepättaf('.  II  me  scmble  que  oiii  =  msähkdui,  msihnkaui  oder 
psärnkdui.  Je  ne  suis  pas  =  tsepä.  qyrnbablement  =  pröabhmü,  ptrbaiihmil 
oder  pröälmä .  Tiens,  voilä  ton  paletot  =  tleülatöpaltö.  Elle  les  a 
nettoyes  avec  du  sable  =  UUzanetuaieegdüsäbil' ) .  Que  je  te  voie!  =  tMijäi. 
Qu'est-ce  que  tu  d'is?  =  stüdi.  II  est  dans  le  cliamp  =  ü.däUä.  II  s'est 
sauve  =  ssöve  (was  auch  für  est-ce  qu'ü  s'est  sauir  gelten  kann.  An- 
merkung: ...J'avais  note  d'abord  s.dre.  Voici  comment  je  me  suis  aper^^u 
que  cette  notation  etait  inexacte:  Mon  frere  on  lisanr  mon  travail  ä 
haute  voix  prononea  comme  je  l'avais  ecrit,  un  .s^  long:  je  sentis  aussitöt 
que  raa  transcription  n'etait  pas  rignurouse.  La  nuance  dailleurs  est  tre.s 
faible.  II  ny  a  qu'une  legere  diminution.  puis  une  legere  augmentatioii 
de  force:  Cest  tout  ce  ([ui  reste  des  sons  qui  separent  les  s  de  la  forme 
pleine.'^).  Non,  non,  il  est  attache  =  nd)tö,  tatasr.  Mais  enfm,  je  ne  l'ai 
pas  connu  =  medfe,  Upäkbnü. 

„Dans  tous  ces  exemples ,  heisst  es  dann  zum  Schluss  mit  Recht 
(p.  352),  les  reductions  sont  involontaires,  et  inconscientes  pour  tout  autre 
qu'un  jihoneticien.  Celui-ci  meine  laisse  i'chapper  Sans  les  reniurquer  une 
foule  de  f'aits  semblables ,  s'il  ny  applique  pas  constamment  son  attention. 
Cela  tient  en  partie  <)  ce  que  les  sons  et  ■'^yllabes  disparues  p(mr  Vauditeur 
ne  Ic  sont  pas  toujours  pofir  celui  qui  parle.  II  en  reste  souvent  des  mou- 
vements  de  langne  ou  de  Ihres  .  .  .  Souvent  aussi  un  son  disparu  laisse  une 
trace  dans  les  sons  qui  Ventouraient." 

In  Bezug  auf  den  Accent  niusical.  d,  h.  das  Helx^n  und  Senken  der 
Stimme,  weicht  J.  Passy  vielfach  von  den  Notationen  Beyers  und  seines 
Bruders  ab  und  erklärt  dies  dadurch,  dass  .,'((  meme  plirase,  dans  des  cir- 
constances  identiques,  peut  rtre  pronoucee  de  fagons  tres  differentes  i)ar  deux 
individus.  selon  des  mianves  de  sens  quelquef'ois  ä peine  appreciables;  ou  tout 
simplement  parce  que  l'un  a  une  prononciation  plus  musicale  que  l'nutre." 

Beyers  Kapitel  über  Sandhierscheinungen  wird  durch  folgende  Be- 
merkungen ergänzt.  Verschlusslatit  vor  Nasal  winl  diesem  assimiliert: 
point  de  mire  =  ])uenmir,  mademoiselle  =  niantnuazel,  une  heure  et  demie 
=  ün'orenmi,  adinirable  =  anmirabli. 

I  und  r  vor  labialem  Hall)vokal  gehen  oft  verloren :  trois  =  tun 
(nur  in  der  Volksaussprache),  pluie  =  piji,  j)lus  =  jni  (auch  bei  (iebildeten). 

Harmonie  rovulique  oder  nfraction  nennt  .(.  Passy  Erscheinungen 
vfie  sülnnel  inr  solennel,  nropri  Wir  Kurojx'en,  zi'te  für  j'etais.  Dergleichen 
sei  freilich  nicht  Gesetz,  sondern  rein  individuelle  Neigung. 

Sehr  zu  bedauern  sei  der  EinHuss  der  Orthographie  auf  die  Au.s- 
sprache:  ..11  y  a  des  gens  i|ui.  dans  leur  manie  ridicule  de  .prononcer 
toutes  les  lettres',  disent  s}ko  ou  sko  au  lieu  de  sgö:  dopte  ou  meme 
döpth-  au  lieu  de  dötr:  sküpitr  au  lieu  de  .■^külte.  Ce  ne  sont  plus  guere 
aujourd'hui  que  les  vieillards  et  le  peuple  qui  prononcent  ß  ,fils).  st'  (cinq), 
.sä  (sens),  srgreter,  .i^griier  on  sgreter  secretAire).  dd dsik  {Daintzii?ki,  fegodc 
(feconder),   vze  (faisait).   evije   (eile   vientV     Arnsi   la  tendance  si  frangaise 


Fhonetische  Studien.  125 

ä  Tassimilation  et  notammeiit  ä  la  vocalisatiun  des  consonnes  souftlees 
entre  voyelles.  tendance  ([iii  dcnnait  ä  notre  langue  tant  d'barmonie  et 
de  douceur,  est  brutalement  entravee  par  le  respect  stupide  de  la  lettre 
moulee"  (p.  354). 

Vierter  Band:  Crustav  Eolin  (in  Prag),  Essai  de  grammaire 
phonetique  (pp.  307 — 334).  Der  Aufbau  der  Grammatik  auf  rein  phone- 
tischer Grundlage  hat  mir  schon  bei  Kühn's  erstem  Versuch  den  Eindruck 
einer  blossen  Spielerei  gemacht,  und  auch  Eolin  hat  mich  durch  seine 
ganz  radikal  phonetische  Behandlung  der  Konjugation  von  der  Zweck- 
mässigkeit einer  solchen  hypermodernen  (irammatik  nicht  zu  überzeugen 
vermocht.  Wie  willkürlich  und  widersinnig  müssen  nicht  gerade  die 
Verbalformen  erscheinen,  wenn  man  sie  ganz  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
Entstehung  betrachtet,  von  der  die  gewöhnliche  Orthographie  trotz  aller 
ihrer  Inkonsequenzen  doch  immer  noch  ein  gut  Teil  dem  Sprachbevvusst- 
sein  erhält!  In  der  That  tragen  denn  auch  Rolins  Konjugationsregeln 
völlig  den  Stempel  des  rein  Aeusserlichen.  nur  zufällig  Richtigen.  Auch 
die  Vereinfachung,  die  dadurch  erreicht  werden  scdl,  ist  nur  scheinbar 
und  erzeugt  nach  anderen  Richtungen  nur  um  so  grössere  Schwierigkeiten. 
Mit  Unrecht  ruft  der  Verfasser  aus  (p.  307):  .,Combien  Fetude  detaillee 
de  la  grammaire  fran§aise.  de  l'accord  des  participes.  des  flexions  verbales 
a  degoütes  d'etrangers  de  poursuivre  Tetude  de  cette  langue,  (jui  leur  est 
si  sympathique.  et  combien  de  moments  precieux  qne  Ton  devrait  donner 
ä  Teducation  morale  et  intellectuelle  de  la  jeunesse  et  que  Ton  perd  ä 
s'occuper  de  ces  absurdes  vetillesi"  Nehmen  wir  z.  B.  den  uccord  des 
participes.  Die  phonetische  Grammatik  wird  hier  zu  lehren  haben:  ..Die 
participes  passes,  welche  auch  im  Femininum  vokalisch  auslauten.  l)leiben 
im  Singular  stets  unverändert.  Im  Plural  nehmen  sie  in  gewissen  Fällen 
(die  dann  gerade  so  genau  angegeben  werden  müssen,  wie  in  der  bis- 
herigen Grammatik)  vor  vokalisch  anlautenden,  enge  mit  ihnen  zusammen- 
gehörigen und  ohne  Pause  verbundenen  AVörtern  (d.  h.  also,  in  der  Bindung) 
oft  die  Endung  z  an."  Noch  komplizierter  gestaltet  sich  die  Itegel  für 
diejenigen,  deren  Femininum  sich  durch  angehängtes  f  oder  z  vom  Mas- 
culinum  unterscheidet  (vgl.  p.  333.  Anm.  1).  Rolin  würde  sich  die  Sache 
freilich  dadurch  beciuemer  machen,  dass  er  die  Fälle  der  Bindung  lan 
denen  allein  schon  jeder  Versuch  einer  rein  phonetischen  Grammatik 
scheitern  muss)  als  der  allein  seligmachenden  f,,Foic  pop2<fo"  —  vox  Dei  {!)" 
p.  333)  Umgangssprache')  niclit  zukommend  einfach  ignorierte.  Immerhin 
müsste  der  Fall  la  lettre  que  fai  ecrite  l)erücksichtigt  werden  und  würde 
zu  einer  ähnlich  äusserlichen  und  rein  mechanischen  Regel  führen,  wie 
sie  die  französischen  Grammatiker  für  das  adverbialisch  sein  sollende  tout 
vor  Adjektiven  leider  durchgesetzt  haben. 

Bietet  somit  der  eigentliche  grammatische  Teil  der  vorliegenden 
Abhanillung  nur  das  Interesse  der  Kuriosität,  so  enthält  andrerseits  die 
ihm  vorausgeschickte  Phonetique  mancherlei  Beachtenswertes.  Je  mehr 
französische  Stimmen  sich  über  Aussprache  äussern,  um  so  besser  für 
uns.  Auch  aus  Bolins  Darstellung  der  französischen  Phonetik  verdient 
einzelnes  niedriger  gehängt  zu  werden. 

Das  allgemeine  Prinzip  .enger-  Artikulation  spricht  auch  Rolin  aus 


V)  Rolin  geht  soweit.  <lass  er  das  passe  defini  und  den  subjoyictif  de 
Vimparfait  am  liebsten  ganz  streichen  möchte:  ..('es  deux  derniers  temps, 
nous  aimerions  ä  les  faire  disparaitre  completement  dune  grammaire  phone- 
tique fc'est  ce  qui  les  attend).  et  ä  ne  conserver  le  participe  present  iju'ä 
catise  du  caractere  adjectif  (lu'il  a  dans  certains  cas'-  ip.  311). 


126  Referate  und  Rezensionen.    A.  Lange, 

mit  den  Worten:  Les  voyeUes,  ainsi  ijue  les  consonnes,  sont  jiroduites 
avec  une  grande  tension  musculaire"  (p.  318). 

In  der  Frage,  die  ims  schon  mehrfach  beschäftigt  hat,')  ob  in  den 
Diphthongen  der  unbetonte  Bestandteil  mehr  Konsonant  oder  Vokal  ist, 
neigt  Rolin ,  wie  wohl  alle  Franzosen .  da  sie  bei  ihrer  mangelhaften 
Kenntnis  des  Deutschen  den  Unterschied  zwischen  ihrem  unsilbigen 
■i  und  wirklich  spirantischem  deutschem  j  nicht  genügend  würdigen, 
zu  konsonantischer  Auffassung.  In  der  Konsonantentabelle  findet  sich 
unter  den  Fricativcs  nach  v-f.  z-s  als  drittes  Paar  j-x  (p.  314)  und  als 
Beispiele  dazu  (p.  317)  für  j:  nous  payons,  j'essayais,  hataüle,  veille, 
piller,  depuuiller,  hruyant,  ciiüler,  quille,  und  für  x:  pied,  epier.  In  einer 
Anmerkung  zu  der  Klasse  <ler  Friaitires  wird  hinzugeführt  (p.  315) : 
jS'il  y  avait  la  moindre  importance  pratique,  on  pourrait  ajouter  ä  ces 
sons  iü  et  IV,  (lui  ne  sont  qu'un  j  arrondi  et  un  u  reläche,  tous  deux 
ä  demi  articules.  Dans  l'enseignement  elementaire,  on  les  fera  passer 
pour  des  ä  et  ((,  on  glissera  ensuite  dessus,  et  Televe  arrivera  inconsci- 
emment  ä  les  prononcer  correctement.  Dans  le  midi,  le  son  (w)  n'est  pas 
encore  arrive  ä  ce  degre  de  developpement.  il  est  plus  tendu:  omue.  presque 
de  trois  syllabes."  An  andrer  Stelle  ip.  322  f.)  heisst  es:  .Quand  ü  ou 
u  figurent  dans  une  syllabe  en  combinaison  avec  une  voyelle  qui  les  suit, 
la  voix  ne  l'ait  (lue  glisser  sur  ces  sons  et  leur  fait  i)erdre  leur  caractere 
de  voyelles;  ils  ne  sont  plus  que  demi-consonnes  ou  demi-voyelles :  <u  et 
w:  \ioi,  Iwi,  ilsdnva,  rwa,  pice,  iliwe,  ömwadzüe  (au  mois  de  juini;  il  en 
est  de  meme  de  /  (=  j):  pje,  zvjcdre,  stjedre.'  Wie  beim  Lhiterricht  zu 
verfahren  sei.  wird  nochmals  wiederholt  (p.  323  Anm.  1):  „Dans  l'enseig- 
nement on  ne  i'era  aucun  cas  de  ce  plienomene;  en  pronon^:ant  lü,  ru, 
pu,  et  en  y  ajoutant  ensuite  i  ou  a,  etc..  In  -\-  i,  ru  -\-  a,  pu  -\-  e  en 
deux  syllabes.  et  enfin  en  une  seule  syllabe,  d'une  seule  emission  de  voix, 
ayant  bien  soin  de  mettre  Taccent  tonique  sur  la  derniere .  l'eleve 
n'arrivera  que  trop  facilement,  par  instiiict.  inconsciemment.  ä  la  juste 
prononciation.  qui,  du  reste,  n'est  (pe   naturelle.-     Ganz  meine  Ansicht. 

Diese  selben  ,,son,s  hätards'  glaubt  Kolin  auch  in  den  Fällen  er- 
kennen zu  dürfen,  wo  die  Vokale  i,  tt,  ü  in  letzter  Silbe  nach  starkem 
Nebenaccent  auf  der  vorletzten  nur  geflüstert  werden  (vgl.  hier  XP  232  f.): 
„II  se  peut  que  r(»n  ait  attairc  ä  ce  son  lä  oü  la  voyelle  finale  u  se  dfe- 
vocalise  par  un  deplacement  daccent  tonique:  vertu,  la  voyelle  iietant 
plus  exactement  articulee.  ("est  surtout  dans  ces  cas  de  deplacements 
d'accent  amenes  par  des  emotions  qu'il  y  a  souvent  Substitution  de  fonc- 
tions:  les  fonctions  malaires  substituent  tres  facilement  les  labiales" 
(p.  323,  Anm.  1).  bemerkenswert  ist  ferner,  dass  hruyant,  cuiller  einfach 
brüjä,  küjer  transkribiert  werden  p.  317i.  womit  auch  zu  vergleichen 
ist:  poignard,  poignee  de  mains  =  ponar,  poHcdmc  (p.  318).  Endlich  ist 
hervorzuheben,  dass  Rolin  ausdrücklich  konstatiert  (p.  317):  »j  -|-  j  se 
fondent  en  u)i  stul".  so  dass  also  nou^  vuyons  un<l  nous  royions  ganz 
gleich  lauten  (Vgl.  hier  \'^  139.  Anm.  1). 

An  mehreren  St(>llei)  wird  darauf  hingewiesen,  dass  das  Französische, 
abweichend  von  anderen  Sjtrachen.  die  Verwendung  iler  sog.  liiiuideu 
Konsonanten  (Eolin  nennt  sie  Fricutives-explosives  ;  /,  r,  m,  n,  u)  in  vo- 
kalischer Silbenfunktion  nicht  kennt.  Sie  dürfen  nicht  im  Munde  zurück- 
behalten, sondern  müssen  losgelassen  werden,  ^leur  trait  caracteristique 
etant  lexplosion  (ä  lexception  de  r)"  (p.  313 1.  .('es  sons.  ä  eux-memes, 
ne  peuvent  former  syllabe.  comme  dans  dautres  langues,  surtout  slaves; 
dans  parltü  nous  n'avons  que  deux  syllabes,  le  frottement  de  l  se  fond 

0  Vgl.  besonders  hkr  IX'  133  ff. 


Phonetische  Studien.  127 

dans  celui  de  r  mal  articule ,  Texplosion  de  l  coincide  avec  celle  de  t  ou 
n'est  pas  executee  du  touf'  (p.  316 ,  Anm.).  „L'element  principal  est 
rexplosion ;  eest  poivrquoi  elles  ne  peuvent  forraer  syllabe  .  .  . :  on  ne  dit 
pas;  aveklper,  mais  avekdlper  on  aussi  aoeJcbper''  (p.  323,  Anm.  2.).  Vor 
der  Verkümmerung  des  auslautenden  /-wird  ausdrücklich  gewarnt:  ,,Pour 
arriver  ä  bien  prononcer  les  r  linaux  ou  ceux  places  ä  la  fin  d'une  syllabe, 
commencer  par  les  /•  suivis  d'une  voyelle,  c'est-ä-dire  les  mettre  en  liaison  : 
le  pi-re^cst  venu,  rare ^  est  precieux,  et  ensuite  le  pere  de  mon  ami  .  .  . 
Pour  faciliter  aux  AUemands  l'r  final  d'une  syllabe,  nous  intercalons 
souvent  »  ;  mibergiste  =  6her{9)£ist,  gouvernante  =  guver(9)nät.''  (p.  317, 
Anm.  4). 

Was  ich  hier  XII 1^  p.  98  über  e  =  a  gesagt  habe,  wird  von 
Rolin  bestätigt:  ..«  nasal  remplace  c  dans  la  beuche  de  bien  des  per- 
sonnes:  mttnä  devient  prestjue  mdtnä". 

Zwischen  parlai-Je  und  parlais-je,  parlerai-je  und  parlerais-je  kon- 
statiert Rolin  einen  kleinen  Tuterschied:  .,La  difference  (|Uil  y  a  entre 
parlez,  parldrez,  passe  defini  et  imparl'ait  interrogatifs.  futur  et  conditionnel 
interrogatii's.  c'est  (jii'au  passe  defini  et  au  futur  Ye  nest  pas  aussi  ouvert 
qu'  aux  autres  temps."'  ip.  321).  Neben  je  sais  (=  sse)  wird  auch  je 
vais  (=  sve)  regelmässig  mit  /'  transkribiert,  was  doch  gewiss  nur  indi- 
viduell ist.  Ja.  es  heisst  sogar  (p.  322  Anm.)  ,.Des  petits  mots  d'un  tres 
frequent  usage,  tels  que  je  sais,  je  rais,  gai,  quai  etc,  influencent  tort  les 
autres;  on  commence  dejä  ä  prononcer  vre  pour  crai.-' 

,.ö  n'est  Jamals  final;  aussitöt  (jue  la  consonne  finale  devant  laquelle 
il  se  trouve  disparait,  il  devient  o ;  devote  —  devot:'     (p.  321.) 

,,o  seul  peut  figurer  et  ne  peut  figurer  qu'  ä  la  fin  des  mots  (ä 
quelques  exceptions  pres);  aussitöt  quil  rentre  dans  le  corps  du  mot,  il 
s'ouvre:  peüx  —  peiivent,  veüx  —  veident.'-     (p.  321.) 

Von  den  beiden  a-Lauten  ist  nach  Eolins  Meinung  a  dem  Unter- 
gang geweiht  ip.  321,  Anm.  2):  Les  d.  moins  nombreux ,  subissent 
Finfluence  des  a  et  sont  condamnes  ä  disparaitre  ä.  la  longue;  ils  dimi- 
nuent  de  jour  en  jour ;  saus  la  negation  pas  ils  auraient  dejä  disparu.'"  (?) 

Über  unbetonte  Vokale:  Sous  Taction  de  l'analogie,  les  voyelles 
atones  participent  du  caractere  de  leurs  toniques  correspondantes:  voilä 
le  guide  le  plus  sür  dans  la  fixation  de  l'ouverture  ou  de  la  fermeture, 
ainsi  (jue  de  la  quantite  d'un  grand  nombre  d'atones: 

gai  ayant  e,  gaiete  aura  plutöt  e  que  e; 

fabrege  .,  e,  abreger  .,  ..  e     ..    e; 

le  siege  ,,  <:,  sieger  „  ,,  e     .,    e; 

je  cree  „  e,  nous  creons     ,.  „  e     „    e; 

je  propose      ,.  ö,  proposer  .,         ,;  ö     .,    ö  (p.  322.) 

Zum  Schlufes  mag  noch  Rolins  Bemerkung  über  den  Wortaccent 
eine  Stelle  finden:  ,.Les  mots  isoles  (sauf  ceux  qui  representent  des  phrases 
eUipticjues)  nont  pas  d'accent  tonicjue.  Quant  aux  groupes  de  mots.  plus 
la  syllabe  est  rapprochee  de  la  finale.  ])lus  eile  se  prononce  fortement:  la 
syllabe  finale  est  la  plus  saillante,  ä  moins  ([uc.  sous  lo  coup  d'une 
emotion,  il  n'  y  ait  deplacement  daccent ;  alors  on  aura  soin  d'eviter  les 
chocs  d'accent:  on  ue  dira  pas  le  vert  pre,  mais  bien  la  certe  prairie:' 
(p.  327.) 

Albert  Harnisch.  Die  Verwertung  der  Phonetik  beim  Unterricht 
(pp.  335 — 349)  mag  allen,  die  Anfangsunterricht  zu  erteilen  haben,  an- 
gelegentlich empfohlen  sein.  Ich  freue  mich,  hier  in  allen  wesentlichen 
Punkten  dieselben  Ansichten  wiederzufinden,  die  das  Ergebnis  meiner 
eigenen  Erfahrungen  sind  und  die  ich  zum  grossen  Teil  schon  in  meinem 


128  Referate  und  Rezensionen.     J.  Block, 

(auch  von  Harnisch  mehrfach  citierten)  Aufsatz  über  Artikulationsgymnastü- 
ausgesprochen  habe.  Namentlich  pflichte  ich  auch  dem  bei.  was  p.  348 
über  das  völlig  gleichmässige  Betonen  aller  Silben  gesagt  ist.  Ebenso 
finde  ich  für  meine  Behandlung  der  gebundenen  Nasalvokale,  nämlich  unter 
Einbusse  der  Nasalität  ivgl.  hier  XI 2  231.  Anm.),  in  Harnisch  einen 
Gesinnungsgenossen  (p.  349  Anm.^  Dagegen  würde  ich  das  zum  Schluss 
von  ihm  transkribierte  Lesestück,  mit  dem  der  Unterricht  beginnen  soll, 
in  viel  kleinere  Takte  zerlegen,  nämlich  so:  r.zondm,  kiave  nbtikliemanifik, 
hmötra  asipiö  [Harnisch's  sipiö  ist  wohl  nur  Druckfehler],  mofis,  IMdi 
sdgräzeneral,  töbuklie  etanefe  treix),  me  ösöldaröme  dmtav^^ar  plüd9köfkls 
(Harnisch  hat  wieder  köfids)  äsamedr^at  kösamegöü. 

Au(i  LIST  Lange. 


Beyer,  Franz  und  Passy,  Paul,  Elementarbuch  des" gesprochenen  Fran- 
zösisch. Cöthen,  Otto  Schulze.  1893.  XIV.'  218  S.  8».  Preis 
2,50  Mark. 

Beyer.  Franz,  Ergänzungsheft  zu  Beyer -Passy ,  Elementarbuch  des  ge- 
sprochenen Französisch.  Cöthen,  Otto  Schulze,  1893.  VÖI, 
104  S.    8«.    Preis  1,00  M. 

Nach  dem  Vorbilde  von  Sweet's  Elementarbuch  des  gesprochenen 
Englisch  haben  zwei  Phonetiker,  der  Franzose  Paul  Passy  und  der  Deutsche 
Franz  Beyer  (über  dessen  Französische  Phonetik  für  Lehrer  u.  Studierende 
s.  diese  Zeitschrift),  es  unternommen,  ein  Eleinentarbuch  des  gesprochenen 
Französisch  auf  lautlicher  Grundlage  zu  schreiben,  welches,  ebenso  wie 
Sweet's  Werke,  Texte  (aber  nur  in  Lautschrift),  eine  (irammatik  der 
Umgangssprache  und  ein  Glossar  enthält.  Um  denjenigen,  welche  im 
Lesen  einer  Lautschrift  noch  nicht  geübt  sind,  das  Studium  des  Elementar- 
buches zu  erleichtern,  hat  Beyer  zu  demselben  ein  Ergänzungsheft  hin- 
zugefügt, welches  aus  zwei  Teilen  besteht:  der  1.  Theil  giebt  die  Texte 
des  Elementarbuches  in  gewöhnlicher  Orthographie,  der  2.  Teil  enthält 
einen  Kommentar  zu  diesen  Texten,  und  zwar  mit  Bezugnahme  auf  das 
Elementarbuch. 

Die  Lesestücke,  welche  meistens  dem  Maitre  phonetique  entnommen 
sind,  bestehen  aus  Prosastücken  und  einer  Reihe  von  Gedichten,  und  sind 
sowohl  inhaltlich  als  auch  formell  durchaus  elementar  gehalten.  Die 
Auswahl  ist  eine  sehr  glückliche,  da  die  Stücke  sämtlich  ihrem  Inhalte 
nach  recht  interessant  und  stilistisch  ganz  einfach  sind,  dabei  jedoch 
einen  reichen  Schatz  von  idiomatischen  Ausdrücken  und  Wendungen  ent- 
halten, wie  sie  eben  gerade  in  der  gesi)rochenen  Sprache  des  alltäg- 
lichen Lebens  vorkommen.  Die  prosaischen  Stücke  beziehen  sich  auf 
Gegenstände  des  gewöhnlichen  Lebens  (z.  B.  La  classe  No.  1.  Les  quatre 
points  cardinanx  No.  2,  Ma  chambre  No.  3.  Les  fleurs  No.  4  etc.),  oder 
sie  enthalten  Fabeln  (Le  coq  et  le  renard  No.  18),  kleine  Erzählungen 
(Louise  et  son  Lapin  No.  13,  Le  imuigeur  dliomtnes  No.  15.  Le  charlatan 
No.  20  etc.),  Märchen  {Les  vhanteurs  de  Bournois  No.  25).  ein  ganz 
reizendes  Lesestück,  welches  mit  unserem  deutschen  Märchen  Die  Bremer 
Stadtmusikanten  identisch  ist .  und  endlich  biblische  Stoffe  (L'Enfant 
prodigue  No.  22  nach  Ev.  Lucas  Cap.  15,  Jesus  et  Vnveugle  No.  23  nach 
Ev.  Johannes  Cap.  9).  Die  Gedichte  enthalten  ein  Rätsel  (No.  30),  eine 
Anzahl  von  Kinderreimen  {L'Enfant  gute  No.  26.  Les  Jours  No.  27,  La 
Semaine  du  paresseux  No.  28,  Les  Rimes  No.  32  etc.).  sowie  eine  Reihe 
von  anderen  kleinen  Getlichten  {Anne  de  Bretagne  No.  34,  La  Dot 
d'Auvergne  No.  35.   Notre  üne  No.  41.   L'Arbre  de  No'el  No.  36,   nach  der 


F.  Beyer.     Mementarhuch  des  gesprochenen  Französisch.      129 

deutschen  Melodie  ^0  Tannenhaum,  o  Tannenbaum"  zu  singen,  L'Hiron- 
delle  No.  38  etc.) 

Nur  wenige  Druckfehler  sind  zu  verbessern:  S.  36,  Z.  24:  Tu 
ras  vu.  —  S.  54,  Z.  9:  brillent  statt  brille.  S.  88.  Z.  21:  15)  statt  16). 
S.  99,  Z.  14:  14,16  statt  13,15. 

Die  im  Kommentar  angewandte  Lautschrift,  welche  mit  der  des 
El.-B.  und  des  Mmtre  photictique  übereinstimmt,  ist  einfach  und  klar. 
Es  scheint  mir  auch  vollkommen  ausreichend  zu  sein,  bei  den  Vokalen 
nur  zwei  a  («  lä-bas,  a  lä-bas),  zwei  e  {s  ebene,  e  ete)  und  zwei  ö 
(oe  sml,  0  ieu)  zu  unterscheiden.  Dazu  kommen  dann  ti  (loMp),  o  (chose), 
3  (coq),  i  (tini),  y  {im&),  d  le^on)  und  die  4  Nasale  5  (ton),  «  (tant),  f 
(vin),  d  (un),  also  im  ganzen  16  Vokale.  Die  Länge  wird  durch:  be- 
zeichnet {k(B:\  =:  coeur,  z:a»if  =  jamais).  die  Tonstärke  (der  expiratorische 
Accent)  durch  (')  {me:'zo  =  maison),  die  Tonhöhe  (der  rhetorische  Accent) 
bleibt  in  der  Lautschrift  unbezeichnet,  doch  wird  gelegentlich  im  Kom- 
mentar auf  denselben  aufmerksam  gemacht  (23,13  S.  87,  50,6  S.  95). 

Der  Verfasser  weist  mit  Recht  öfter  auf  die  häufige  Ver- 
schiebung des  Wortaccentes  von  der  letzten  tönenden  Silbe  auf  die 
vorletzte  oder  gar  drittletzte  Silbe  hin,  und  zwar  tritt  dieselbe  ein,  wenn 
das  betreffende  Wort  herv<»rgehoben  werden  soll.  Vgl.  die  Blumennameu 
'pa:kret  (päquerette),  'margrit  (marguerite),  'kuku  (coucou),  'primveir 
(primevere),  Kommentar  zu  6,  6 — 8,  ferner  'diismä,  'bje:  dus'mü  (douce- 
ment,  bien  doucement)  11,15,  'syrtu  (surtout)  13,5,  'syperb  (süperbe)  42,25, 
und  mit  schwebender  Betonung,  d.  h.  mit  gleicher  Tonstärke  auf  beiden 
Silben:  'ple:zi:r  (plaisir)  17,13.  Zu  43,16  ist  die  Betonung  a'lca-.blät  an- 
gegeben, mit  der  Bemerkung:  „In  Deutschland  pflegt  man  aJca'hlätt  zu 
sprechen."  Die  letztere  Betonung  ist  doch  aber,  so  scheint  mir,  die 
normale,  und  dem  subjektiven  Belieben  bleibt  es  anheimgestellt  (wie  auch 
in  den  übrigen  Fällen),  eine  Zurückversetznng  des  Accentes  eintreten  zu 
lassen,  je  nachdem  das  betreffende  Wort  mehr  oder  minder  stark  betont 
werden  soll. 

Der  Kommentar  ist  ferner  reich. an  sachlichen  Erläuterungen 
aller  Art,  namentlich  an  deutschen  Übersetzungen  etwas  schwierigerer 
Stellen  des  französischen  Textes.  Zu  denselben  möchte  ich  weiter  nichts 
bemerken,  als  dass  der  Ausdruck  „der  arme,  bresthafte  Esel"  (70,2) 
etwas  ungewöhnlich  klingt;  „kränklich"  anstatt  „bresthaft"  wäre  wohl 
vorzuziehen. 

Ferner  will  ich  auf  die  Fülle  grammatischer  Bemerkungen 
aufmerksam  machen,  welche  sich  hauptsächlich  auf  Angleichung  und 
Bindung  beziehen;  namentlich  der  Angleichung  wird  nur  in  wenigen 
französischen  Grammatiken  Erwähnung  gethan.  Dieselbe  beruht  auf  einem 
Assimilationsgesetz  (Kühn  u.  Ohiert  in  ihrer  franzi'isischen  Schulgrainmatik 
nennen  es  „Lautvermittlungsgesetz"),  nach  welchem  auslautender  stimm- 
loser Konsonant  vor  folgendem  anlautenden  stimmhaften  Konsonanten  selbst 
stimmhaft  wird,  und  umgekehrt  auslautender  stimmhafter  Konsonant  vor 
folgendem  anlautenden  stimmlosen  Konsonanten  stimmlos,  oder  kürzer: 
der  Endkonsonant  eines  Wortes  wird  dem  anlautenden  eines  unmittelbar 
folgenden  Wortes  angeglichen.  (Vgl.  El.-B.,  Grammatik  §  47).  Z.  B.: 
pypi^  davä  (pupitre  devant)  wird  zu  pypirf  (1,4),  grö«  vor  p  (8,21),  notZ 
vor  c,  statt  not  (9,15),  sord  statt  sort  vor  d  (10,2),  und  so  an  vielen 
anderen  Stellen.  Über  die  Bindung  bemerkt  Verfasser  zu  10,9  (S.  81), 
dass  „in  freier,  auch  gebildeter,  französischer  Rede  beträchtlich  weniger 
gebunden  wird,  als  in  unserem  Schulfranzösich.  Die  häufigen  Bindungen 
machen  auf  das  Ohr  des  Franzosen  den  Eindruck  des  Pedantischen,  Ge- 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV*.  9 


130  'Referate  und  Rezensionen.     J.  Block, 

schraubten,  Steifen."  Verfasser  verweist  dabei  auf  §  32  fg.  der  (rrammatik 
des  El.-B.  Selbstverständlich  ist  gegen  diese  Bemerkung  nicht  das  Ge- 
ringste einzuwenden,  und  namentlich  an  der  angeführten  Stelle,  wo  auf 
einem  Jahrmarkt  ein  Ausschreier  vor  seiner  Bude  ausruft:  s-ff-cP  'Ja  nie 
s-e  'pa  \  f£  'Ja  (c'est  un  chat,  mais  c'est  pas  un  chat).  ist  diese  Art  des 
Lesens  gewiss  berechtigt;  ebenso  No.  17,  wo  der  Dummkopf  sagt:  fsJc-i 
n-e  'pa  \  äko:r-3iri:'ve?  (est-ce  qu'il  n'est  pas  |  encore  arrive?  S.  23,12),  und 
so  an  vielen  anderen  Stellen  des  Buches,  wo  die  Sprache  ungebildeter 
Leute  wiedergegeben  werden  soll.  Dagegen  scheint  es  mir  ganz  unge- 
wöhnlich, il  fallt]  aller  au  nord  (12,7)  und  aprh\  avoir  dit  cela  (34,17) 
ohne  Bindung  zu  sprechen,  am  allerwenigsten  an  der  letzteren  Stelle,  die 
in  der  biblischen  Erzählung  von  Jesus  und  dem  Blinden  steht.  Desgl. 
Apres  I  avoir  dit  cela  (34,17).  Andere  Stellen,  an  welchen  ich  durchaus 
keinen  Grund  für  das  Unterlassen  der  Bindung  sehe,  sind :  Jean  avait  | 
o^jm  (12,10),  und:  .7?  faisait  \  apporter  tout  Tor  (40,22).  Ich  meine,  dass 
hier  die  Bindung,  auch  in  der  gewöhnlichen  Unterhaltung,  natürlicher  ist 
als  das  Fehlen  derselben. 

Eine  besondere  Berücksichtigung  lässt  Verfasser  dem  sogen,  tonlosen 
(oder  stummen)  e  (8)  zu  teil  werden.  Er  verweist  auf  §  39  des  El.-B.,  wo  die 
Regel  lautet:  „Der  französischen  Sprache  widerstrebt  in  der  Regel  die  un- 
mittelbare Aufeinanderfolge  dreier  Konsonanten,  dieselbe  ist  nur  zulässig, 
wenn  der  erste  oder  der  letzte  der  Gruppe  r,  l,  w  (voixi,  //  (lui), .;'  (veiller) 
ist.  Ist  dieses  nicht  der  Fall,  so  wird,  wenn  nicht  immer,  so  doch  ge- 
wöhnlich, der  Neutral-  oder  Vermittlungsvokal  3  eingeschoben,  und  zwar 
meist  am  Ende  eines  Wortes.  .  .  .  Dies  ist  namentlich  der  Fall  bei  den 
Wörtern  auf  -hl,  -br  u.  s.  w.,  wenn  aus  irgend  einem  Grunde  der  End- 
konsonant vor  anlautendem  Konsonanten  nicht  verstummt.*  Als  Beispiele 
werden  angeführt:  le  poäpb  frä:sf  (le  peuple  fran^ais).  dine  atabb  d-o:t 
(diner  ä  tablf  d'höte).  Verfasser  hat  hier,  meines  Wissens  zum  ersten 
Male  in  einer  Elementargrammatik,  versucht,  eine  bestimmte  Kegel  für 
die  Aussprache  des  tonlosen  e  aufzustellen,  und  er  hat  sich  zugleich  be- 
müht, diese  Regel  möglichst  knapp  und  einfach  zu  furmuliren.  Dass  man 
es  öfter  vermeidet,  namentlich  in  korrekter  Aussi)rache.  drei  aufeinander- 
folgende Konsonanten  zu  sprechen,  ist  gewiss  v(dlkommen  richtig;  nur 
scheint  mir  in  obiger  Regel  die  Einschränkung  nicht  stichhaltig,  dass  das 
tonlose  e  nicht  gesprochen  zu  werden  brauche,  wenn  der  erste  oder  der 
letzte  Konsonant  der  ( iruppe  einer  der  oben  genannten  ist ,  denn 
Verfasser  will  z.  B.  tonloses  e  gesprochen  haben  in  den  Ausdrücken : 
yarl9-du:z  (Charles  douze),  ports-kle  (porte-clefK  kurbsvwa  (Courbevoie) 
{El.-B.  S.  97,  Anm.),  obwohl  hier  der  erste  Konsonant  der  Gruppe 
jedesmal  r,  und  im  dritten  Beispiel  der  letzte  auch  noch  w  (=  oi)  ist. 
Da  ja  die  Aussprache  des  tonlosen  e,  eljenso  wie  die  oben  besprochene 
Accentverschiebung,  im  gegebenen  Falle  (d.  h.  wenn  drei  Konsonanten 
zusaramenstossen)  ziemlieh  subjektiver  Natur  ist  und  namentlich  auch 
vom  Tempo  der  Rede  abhängt,  so  glaube  ich,  dass  es  überflüssig  ist.  be- 
stimmte Konsonanten  als  Ausnahmen  aufzustellen.  Nach  den  von  mir 
angestellten  I'ntersuchungen  kommt  es  dabei  wesentl'ch  auf  den  Charakter 
desjenigen  Konsonanten  an,  welcher  dem  tonlosen  e  (im  Wortauslaut) 
vorangeht,  und  welche  Konsonanten  in  diesem  Falle  ganz  besonders 
das  Lautwerden  des  tonlosen  e  zu  begünstigen  scheinen,  habe  ich  in 
einer  Abhandlung  über  die  Aussprache  der  Schauspieler  des  Theätre- 
Francjais  und  des  Odeon  zu  Paris  (diese  Zeitschrift  XIV,  S.  258)  auszuführen 
versiicht,  auf  die  ich  hier  hinzuweisen  mir  erlaube.  Handelt  es  sich  dort 
auch  um  die  Sprache  der  Bühne,  so  werden  doch  wohl  dieselben  Gesetze, 
nur  in   beschränkterer  Anwendung,    aucli    für   die   Sprache   des   täglichen 


F.  Beyer.     Elementarbuch  des  gesprochenen  Französisch.      131 

Lebens  gelten  müssen.  Gegen  die  Stellen,  an  welchen  Verfasser  das  ton- 
lose e  gesprochen  haben  will,  ist  nichts  einzuwenden,  nur  meine  ich,  dass 
man  diese  Aussprache  daselbst  nicht  als  strikte  Regel  aufstellen,  sondern 
nur  bemerken  darf,  dass  die  Aussprache  des  tonlosen  e  an  diesen  Stellen 
möglich  und  unter  Umständen  empfehlenswert  ist.  Vgl.  5,13:  'psrts  'plym 
(porte-plume)  [obwohl  auch  hier  der  erste  Konsonant  der  Gruppe  r  und 
der  letzte  /  ist!]  9,18:  va'gä  t-/8mft'  ff:r,  oder:  va'gS  da  fmet'  fe:r  (nach 
Anm.  b)   (wagon  de  chemin  de  fer).   10,2:  mStra  (montre), 

18,16:  kek'/o:z  oder  kflk3Vb:z,  „nicht  aber  unser  schulmässiges 
(und  missbräuchliches)  kflk'/orz." 

30.10:  'sie  (geler),  „nicht  etwa  5ale  oder  gar  5fle,  wie  man  bei 
uns  nicht  selten  aussprechen  hört.'' 

35,23:  rfspfkta  (respecte). 

48,12:  ar/9Vf:k  farcheveque),  14:  riska  (risque). 

58,12,13:  ptit  (petite),    „natürliche   Sprechweise,   patit  poetische 
Form,  zum  Singen  eingerichtet". 

64,10:  tix-Aramä  (tendrement). 
Wenn  Verfasser  13,17:  resta  de'oir  (reste  dehors)  mit  a  spricht 
so  liegt  hier  der  Grund  doch  darin,  dass  das  erste  Wort  mit  t  auslautet,- 
während  das  zweite  mit  d  anlautet;  es  treffen  also  zwei  Dentale,  zwei 
homorgane  Konsonanten,  zusammen,  die  durch  a  in  der  Aussprache  unter- 
schieden werden,  und  hierbei  muss  ich  noch  einmal  auf  die  oben  zitierte 
Regel  über  das  tonlose  e  zurückkommen,  da  ich  in  derselben  jede  Be- 
merkung über  diesen  so  häufig  vorkommenden  Grund  für  gesprochenes 
tonloses«  vermisse;  es  wäre  wohl  noch  hinzuzufügen,  dass  dasselbe  häutig 
zwischen  zwei  homorganen  Konsonanten  (liq  +  liq.  spirans  -|-  spirans,  Ver- 
schlusslaut +  Verschlusslaut)  gesprochen  wird. 

Der  Kommentar  enthält  auch  zahlreiche  Winke  für  die  Aus- 
sprache einzelner  Wörter,  zu  denen  ich  mir  einige  Bemerkungen 
erlauben  möchte. 

Wenn  zu  10,16  die  „echt  kolloquiale"  Aussprache  st-animal  (cet 
animal)  angegeben  wird,  so  mag  dieselbe  an  dieser  Stelle  im  Munde  des 
ungebildeten  Ausrufers  iBerechtigung  haben;  ebenso  wenn  der  Gascogner 
p'te:tr  (peut-etre)  (27,23)  oder  der  Esel  Baptiste:  je  m'en  vas  (45,15)  sagt. 
Mit  Recht  liemerkt  Verfasser  zu  72,8:  5a.-/.:  (Jacques),  „nicht  sdJc,  wie 
man  in  Deutschland  auszusprechen  pflegf",  und  zu  26,17:  ^moesja  oder 
m9sj0  (monsieur),  nicht  aber  masjo,  wie  bei  uns  gewöhnlich  ausgesprochen." 
Gerade  das  letztere  Wort  wird  in  deutschen  Schulen  besonders  häufig 
falsch  gelehrt;  in  Paris  besinne  ich  mich,  im  vorigen  Jahre  die  Aussprache 
mit  a  einmal  in  einem  komischen  Couplet  gehört  zu  haben,  welches  eine 
Chansonettensängerin  in  der  „Scala".  dem  bekannten  cafe-concert  auf  dem 
boulevard  de  Strasbourg,  zum  Besten  gab.  60,2:  „a:n  1)  Esel,  2)  Anna. 
Bekanntlich  wird  liei  uns  Nr.  2  a»  gesprochen."  Die  letztere,  vom  Ver- 
fasser für  falsch  erklärte  Aussprache  mit  kurzem  a,  giebt  Sachs  in  seinem 
Wörterbuch  an;  doch  existiert  in  der  That  wohl  kaum  ein  Unterschied 
in  der  Aussprache  der  beiden  Wörter.  72,13;  „ga.'ye;  bei  uns  pflegt  man 
g&'Ne  auszusprechen."  In  dem  Gedicht  L'Hirondelle  (65,20)  soll  gelesen 
werden:  di  'do./j  statt  do  (dis  donc).  Es  ist  ja  möglich,  dass  Herr  Passy, 
wie  viele  andere  Franzosen,  dd:k  spricht,  al)er  es  ist  nicht  einzusehen, 
dass  dd  hier  nicht  ebenso  gut  (Jeltung  haben  kann.  —  Für  unzulässig  in 
dem  vorliegenden  Buche  halte  ich  die  Aussprache,  wie  sie  von  folgenden 
Wörtern  bezeichnet  ist:  3.4:  fsplike  (e^cpliquer),  18,16:  si  i  (s'ir.  19,21: 
t:afE  (tout  ä  fait),  22.2  pa:'ri  (Name  der  Stadt  Paris).  „Die  in  Deutschland 
gebräuchliche  Aussprache  dürft'j  pa'ri  (also  kurz)  sein."    32.22:  Quand  il 

9* 


132  Jieferate  und  Rezensionen.     Ä.  Rambeau, 

a  eu  tout  (lepense.  36,8 :  jusqu'ä  ce  qu'ils  ont  eu  fait  venir  les  parents. 
43,8:  dez-oef  (des  oeufs).     74,10:  syit  tä'frf:!-  fcelui  de  tun  frere). 

Es  ist  zwar  immer  ein  kühnes  I  unterfangen,  wenn  ein  Deutscher 
einem  Ausländer  in  seiner  Aussprache  Mängel  nachweisen  will,  aber  in 
diesen  Fällen  glaube  ich  dennoch,  gestützt  auf  bestimmte  Zeugnisse,  die 
ich  zu  diesem  Behufe  mir  von  Franzosen  verschafft  habe,  mit  Bestimmtheit 
behaupten  zu  kimnen,  dass  die  oben  angeführte  Aussprache  (S,4 — 7-l,10) 
nicht  diejenige  „des  von  gebildeten  Nationalen  in  natürlicher  Rede 
wirklich  gesprochenen  Französisch"  ist,  wie  sie  Passy  und  Beyer  doch. 
in  ihrem  Buclie  darstellen  wollen.     (Vgl.  das  Vorwort  z\imEl.-B.  S.  EH.) 

Diese  Altssprache  ist  kaitm  noch  als  kolloquial  zu  bezeiclinen, 
sondern  sie  streift  schon  an  das  Vulgäre,  kann  also  meiner  Meinung 
nach  in  diesen  Texten  nicht  angewandt  werden,  abgesehen  von  den  vor- 
hin angeführten  Stellen,  wo  sie  die  Sprechweise  von  Personen  geringen 
Standes  illustrieren  und  eine  komische  Wirkung  hervorbringen  soll. 

Zum  Schluss  seien  mir  noch  einige  Worte  über  die  Benutzting  des 
Buches  gestattet.  Dasselbe  ist  zunächst  für  Studierende  und  jüngere 
Lehrer  bestimmt  (Vorrede  zum  El.-B.  S.  VII),  und  diese  werden  denn 
auch  mancherlei  aus  demselben  lernen  können.  Wer  einmal  Sweet's 
Elementarbuch  sorgfältig  studiert  hat,  namentlich  die  Texte  in  Lautschrift, 
wird  sicherlich  den  ungemein  grossen  Nutzen  einer  solchen  Arbeit  für  die 
Vervollkommnung  seiner  eigenen  Aussprache  empfunden  haben  und  daher 
das  Erscheinen  eines  solchen  französischen  Elementarbuches  mit  Freuden 
begrüssen;  Beyer's  Ergänzungsheft  zu  demselben  trägt  nicht  wenig  dazu 
bei,  dieses  Studium  zu  erleichtern  und  zu  vertiefen.  Nur  meine  ich,  dass 
der  Kommentar  dieses  Ergänzungsheftes  mitunter  Dinge  enthält,  nament- 
lich Übersetzungsliilfen  (z.  B.  6o,i0— 15,  66.9,  11  etc.),  die  wohl  einem  An- 
langer Schwierigkeiten  bereiten  könnten,  aber  nimmer  einem  Studenten 
oder  Lehrer  des  Französischen.  Ich  glaube,  dass  es  nicht  schaden  könnte, 
wenn  der  Kommentar  in  dieser  Hinsicht  etwas  beschnitten  würde. 

Passy  und  Beyer  glauben  ferner  (Vorrede  des  El.-B.  S.  VO — IX), 
dass  ihr  Buch  sich  auch  für  Unterrichtszwecke  in  den  Schulen  ver- 
werten lässt,  sei  es,  dass  der  Lehrer  den  Schülern  die  transkribierten 
Texte  des  El.-B.  oder  diejenigen  in  gewöhnlicher  Orthographie  des  Er- 
gänzuiiffsheftes  in  die  Hand  giebt.  Hier  kann  ich  die  Ansicht  der  Ver- 
fasser nicht  teilen.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  nach  den  neuen  Lehr- 
plänen die  Benutzung  einer  Lautschrift  in  der  Schule  überhaupt  verboten 
ist,  bin  ich  persönlich  der  Meinung,  dass  transkribierte  Texte  wohl  zum 
Selbststudium  des  Studenten  oder  Lehrers  der  neuereu  Sprachen  sehr 
zweckdienlich  sind,  namentlich  wenn  demselben  ein  längerer  Aufenthalt 
im  Auslande  nicht  vergönnt  ist,  dass  sie  aber  nicht  für  den  Klassenunter- 
richt zu  empfehlen  sind.  Ich  kann  nicht  umliiii  zu  glauben,  dass  dadurch 
in  den  Köpfen  der  Schüler,  welche  nachher  doch  einmal  die  gewöhnliche 
Orthographie  kennen  lernen  müssen,  eine  Verwirrung  und  zugleich  auch 
eine  grosse  Verzögerung  des  Unterrichts  hervorgerufen  wird;  ich  meine, 
die  Hauptsache  ist,  dass  der  Lehrer  selbst  eine  gute  Aussprache  l)esitzt 
und  durch  häufiges  Vorsprechen  und  Vorlesen  die  Schüler  gewöhnt,  die 
fremden  Laute  richtig  nachzuahmen.  Auch  aus  einem  andern  Grunde 
noch  möchte  ich  die  transkribierten  Texte  des  El.-B.  Anfängern  nicht 
em])fehlen,  da  die  häufigen  kolloquialen  Formen  und  Zusammenziehungen, 
welche  das  El.-B.  Inetet  und  welche  nach  meiner  Meinung,  wie  ich  oben 
anzuführen  versucht  habe,  mitunter  sogar  unter  dem  Niveau  der  ge- 
bildeten Umgangssprache  stehen,  einem  jungen  Anfänger  nicht  vorzu- 
führen sind;  dieser  muss  die  fremde  Sprache  erst  vorwiegend  , theoretisch" 
erlernen,  wenn  ich  mich  dieses  Ausdruckes  bedienen  darf;  die  kolloquialen 


Breymann  u.  Möller,  Franz.  Elementarhuch  etc.  133 

Foraien  finden  sich  dann  später  schon  von  selbst,  wenn  er  in  die  Lage 
kommt,  die  Sprache  im  Auslande  praktisch  zu  gebrauchen. 

Wohl  aber  lassen  sich  die  Texte  des  Ergänzungsheftes  in  der  Schule 
in  der  Weise  verwerten,  dass  der  Lehrer  dieselben  gelegentlich  den  Diktier- 
oder Sprechübungen  zu  Grunde  legt,  namentlich  wenn  ähnliche  Stücke  in 
dem  eingeführten  Lesebuche  mangeln  sollten. 

Elbing.  Dr.  J.  Block. 


I. 

1.  Hermann    Breymann    und    Hermann    Mceller :    a)    Fran- 

zösisches Elementarbuch.  Vierte  verbesserte  und  be- 
deutend gekürzte  Autlage  des  Elementar  -  Übungsbuches  und 
der  Elementar  -  Grammatik.  Ausgabe  B.  VT,  119  S.  8^*.  — 
b)  Französisches  Übungsbuch.  Erster  Teil:  Zur  Ein- 
übung der  Laut-,  Buchstaben-  und  Wortlehre,  a)  Ausgabe  A. 
2.  Auflage.  VI,  205  S.  8°.  ^)  Ausgabe  B  (enthält  zugleich 
die  Grammatik  I).  2.  Auflage.  VIII,  273  S.  S".  —  c)  Fran- 
zösisches Übungsbuch  für  Gymnasien.  Erster  Teil. 
X,  239  S.  8".  München  und  Leipzig.  R.  Oldenbourg.  a,  b  1891; 
c  1892.     Preis:  a  M.  1,80;  b  «  M.  2,20;  b /3  M.  3,20;  c  M.  2,60. 

2.  Hermann  Breymann:   a)  Französische  Grammatik  für  den 

Schulgebrauch.  Erster  Teil:  Laut-,  Buchstaben- und  Wort- 
lehre. 2.  Auflage.  XII,  98  S.  8°.  —  b)  Ergänzungen  zum 
französischen  Unterrichte  an  Gymnasien  mit  besonderer. 
Berücksichtigung  des  Latein.  Anhang  zu  den  in  Gymnasien 
verwendeten  französischen  Grammatiken.  VI,  29  S.  8".  München 
und  Leipzig.    R.  Oldenbourg.   a)  1890;  b)  1892.    Preis:  a  M.  1,00. 

3.  Ernst    Regel:    Eiserner    Bestand.      Das    Notwendigste    aus 

der  französischen  Syntax,  in  Beispielen,  namentlich  für 
militärische  Vorbereitungs-Anstalten.  34  S.  kl.  8**.  Halle  a.  S. 
E.  Karras.    1892.     Preis:  M.  0,60. 

II. 

1.  Mozin -JPeschier:   Petit  Dictionnaire  Classique  frangais -  alle- 

mand  et  allemand  - frawjais  par  l'Abbe  Mozin.  Corrige  et 
enrichi  (Ihm  grand  nombre  de  mots  nouveaux  par  A,  Peschier. 
Quatrieme  edition  refondue  et  considerablement  augmentee  par 
Eugene  Peschier.  Tome  Premier.  Frangais- Allem  and.  XU, 
534,  IV  S.  8°.  —  Französisch  -  deutsches  und  deutsch  -  fran- 
zösisches kleines  klassisches  Wörterbuch  zum  Schul-  und  Privat- 
unterricht. Neu  bearbeitet  und  vervollständigt  von  A.  Peschier. 
Vierte  Auflage.  Umgearbeitet  und  bedeutend  vermehrt  von 
Eugene  Peschier,  L.  Gaille  und  A.  Bessou.  Zweiter  Teil. 
Deutsch-Französisch.  984  S.  8".  Stuttgart.  J.  G.  Cotta,  Nach- 
folger.   1891. 

2.  G,  von  Muyden  und  E.  B,  Lang:   Dictionnaire  de  poche  et  de 

coyage  francais - allemand  et  allemand-frangais.  Wörterbuch 
der  französischen  und  deutschen  Umgangssprache 
enthaltend  auch  1.  die  gebräuchlichsten  technischen,  militärischen 
und  Handelsausdrücke,  2.  die  Eigennamen,  deren  Schreibung  in 
beiden  Sprachen  abweicht,  3.  die  genaue  Angabe  der  Aussprache, 
4.   Deklinations-   und   Konjugationstabellen,   sowie   die  Angabe 


134  Beferate  nvd  Rezensionen.     A.  Ramheau, 

der  hauptsächlichen  grammatikalischen  Schwierigkeiten ,  5.  für 
die  Bedürfnisse  des  Reiseverkehrs  berechnete  Gespräche  u.  s.  w. 
I.Teil,  Französisch-Deutsch.  XVI,  234  S.  kl.  8°.  —  II.  Teil. 
Deutsch -Französisch.  320  S.  kl.  8°.  —  Anhang:  Der  Reise- 
begleiter. Praktische  Gespräche.  Winke  für  Reisende  nach 
Frankreich.  Aufnahme-Bedingungen  für  ausländische  Studierende 
bei  den  französischen  Hochschulen.  28  Seiten,  kl.  8**.  Berlin. 
E.  Goldschmidt.     1891. 

I:  1.  2.  Mehrere  oder  wohl  die  meisten  der  zahlreichen  fran- 
zösischen Schulbücher  und  methodischen  Schriften,  die  Breymann  allein 
und  im  Verein  mit  Moeller  veröffentlicht  hat,  darunter  die  zweite  Auf- 
lage des  „ Elementar buches"  (la),  die  erste  Auflage  des  ersten  Teiles 
des  „Übungsbuches"  (Iba)  und  die  erste  Auflage  der  „Grammatik  für 
den  Schulgebrauch'-'  (2  a)  habe  ich  früher  in  der  Zeitschrift  f.  fr.  Spr.  u. 
Litt,  besprochen.  Bei  dieser  Gelegenheit  habe  ich  schon  mein  begründetes 
Urteil  über  die  hervorragenden  Vorzüge  und  einige  Mängel  einzelner 
Werke  des  grossartigen  Lehrbücherunternehmens  al)gegeben.  Vgl.  Ztschr. 
IX^  S.  32,  37^38,  IX',  S.  252  und  XIP,  S.  296—298.  In  den  neuen 
Auflagen,  soweit  sie  mir  vorliegen,  haben  sich  die  Verfasser  redlich  be- 
müht, notwendige  Besserungen  und  auch  Kürzungen  (s.  vor  allem  das 
„Elementarbuch",  (1  a)  vorzunehmen.  Trotzdem  bleibt  ihnen  noch  manches 
zu  thun  übrig,  um  die  übermässige  Weitschweifigkeit  in  den  phonetischen 
Erörterungen  und  methodischen  Vorschriften  innerhalb  der  Lehrbücher 
allmählich  zu  beseitigen,  und  um  in  den  Übungsstücken  die  wissenschaft- 
lichen, mythologischen  und  altgeschichtlichen  Stoffe,  die  einen  zu  grossen 
Apparat  von  französierten  griechischen  und  römischen  Namen  erfordern, 
möglichst  zu  beschränken ,  statt  der  Sagen  und  Erzählungen  aus  dem 
klassischen  Altertume  die  Lesestücke,  die  sich  auf  das  moderne  Leben 
beziehen  und  echt  französische  Stoffe,  Frankreichs  Kultur.  Geschichte  und 
Geographie  behandeln,  immer  mehr  zu  bevorzugen. 

Bemerkenswerth  ist  als  neues  Werk  das  „Uebungsbuch  für  Gymna- 
sien" (Ic),  das  zugleich  die  Grammatik  (S.  113  ff.)  enthält.  Es  ist  als 
erster  Teil  Itezeichnet.  Man  hat  also  als  Fortsetzung  noch  einen  zweiten, 
wahrscheinlich  ebenso  umfangreichen  Teil  zu  erwarten.  Unwillkürlich  fragt 
man  sich,  wie  die  bairischen  Fachgenossen  an  ihren  Gymnasien,  wo  sich 
der  französische  Unterricht  trotz  der  sog.  Reform  mit  seinen  wenigen,  in 
die  obersten  Klassen  verlegten  Lehrstunden  noch  immer  in  einer  traurigen. 
unnatürlichen  Lage  befindet,  es  möglich  machen,  mit  diesen  zwei  statt- 
lichen Übungsbüchern  fertig  zu  werden  und  dabei  noch  eine  geeignete 
Lektüre  zu  pflegen.  Wenn  auch  das  „Uebungsbuch-  auf  dem  Titelblatt 
im  allgemeinen  „für  Gymnasien"  bestimmt  ist,  sd  haben  doch  die  Verfasser 
zunächst  und  vorzugsweise  die  humanistischen  Gymnasien  Baierns  im  Auge 
gehabt.     Denn  vgl.  Vorwort,  S.  III: 

„Die  neue  Schulordnung  vom  23.  Juli  1891  setzt  für  den  in 
den  obersten  vier  Klassen  erteilten  französischen  T'^nterricht  an 
unseren  Gymnasien  3  -(-  3  -|-  2  -f  2  Stunden  an  und  verlangt  mit 
Beendigung  des  3.  Unterrichtsjahres  den  Abschluss  der  Grammatik. 
Im  einzelnen  wird  vorgeschrieben:  für  die  erste  Gymnasialklasse 
Durchnahme  der  regelmässigen  Laut-,  Schrift-  und  Formenlehre, 
sowie  der  wichtigeren  üet^'eln  über  die  Wortstellung;  für  die 
2.  Gymnasialklasse  die  Einübung  der  sogenannten  unregelmässigen 
Verben  und  der  einfacheren  Regeln  der  Syntax:  passende  Sprech- 
übungen (!)  haben  den  Unterricht  zu  begleiten;  auch  ist  durch 
zahlreiche  (!)  deutsche  Uebersetzungs-Aufgaben  hinreichende  öe- 


Breymann  ii.  Möller,  Franz.  Elementarbuch  etc.  135 

legenheit  für  die  Befestigung  und  gründliche  Einübung  der 
grammatischen  Formen  zu  bieten.  Das  vorliegende  Unterrichts- 
buch wird  das  Bestreben  erkennen  lassen,  sich  den  Vorschriften 
der  neuen  Schulordnung  so  eng  als  möglicli  anzuschliessen " 

Der  Urheber  der  neuen  bairischen  Schulordnung  oder  der  neuen  Be- 
stimmungen für  den  französischen  Unterricht  in  bairischen  Schulen  —  jeden- 
falls ein  klassischer  Philologe,  der  alles  versteht  —  meint,  dass  „passende 
Sprechübungen  den  Unterricht  zu  begleiten  haben''.  Er  drückt  sich  immer- 
hin in  diesem  Punkte  etwas  milder  aus,  als  der  offenliar  ebenfalls  klassisch- 
philologische Verfasser  der  neuen  „Lehi'pläne  und  Lehraufgaben  für  die 
höheren  Schulen"  in  Preussen,  der  die  Notwendigkeit  solcher  Sprechübungen 
im  französischen  Unterricht  auch  im  Gymnasium  zu  wiederholten  Malen 
und  mit  grossem  Eifer  betont  und  von  allen  Lehrern  des  Französischen 
an  einer  derartigen  Anstalt  —  also  auch  von  den  zahlreichen  Lehrern,  die 
diese  Sprache  mündlich  nicht  beherrschen,  und  von  denen,  die  gar  nicht 
Fachleute  sind?  —  kurz  und  bündig  verlangt,  dass  sie  „in  jeder  Stunde" 
mit  ihren  Schülern  Französisch  sprechen.  Aber  alles  in  allem  betrachtet, 
sind  die  Anforderungen  für  den  französischen  Unterricht  an  bairischen 
Gymnasien  ebenso  hoch  gespannt  und  bekunden  vielleicht  eine  noch  er- 
staunlichere Unkenntnis  oder  Missachtung  der  thatsächlichen  Verhältnisse 
als  die  für  dasselbe  Fach  an  preussischen  Gymnasien,  wo  künftig  den 
Lehrern  des  Französischen  weit  mehr  Lehrstunden,  z.  T.  mit  viel  jüngeren 
Schülern,  von  Quarta  bis  Oberprima,  5  +  3-l-34-2-|-2  +  2-(-2,  zur  Ver- 
fügung stehen.  Unter  diesen  Umständen  wird  sich  das  „Uebungsbuch" 
von  B.  und  M.  an  den  Gymnasien  Preussens  und  der  Staaten,  in  denen 
die  Verhältnisse  ähnlich  oder  gleich  sind,  —  tüchtige  Fachlehrer  voraus- 
gesetzt —  gewiss  als  brauchbar  und  gut  erweisen  können.  Für  bairische 
Gymnasien  kann  es  nur  die  Bedeutung  haben,  dass,  wenn  es  dort  eingeführt 
ist,  es  dazu  beiträgt,  den  praktischen  Beweis  zu  liefern,  dass  die  Zustände 
und  Bedingungen  samt  den  Anforderungen  trotz  der  „grossartigen  Reform" 
unhaltbar  und  sichere  und  befriedigende  Ergebnisse  des  französischen 
Unterrichts  auch  fernerhin  noch  unmöglich  sind. 

Am  interessantesten  sind  die  „Ergänzungen  zum  französischen  Unter- 
richte an  Gymnasien  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Latein"  (2  b) 
mit  folgendem  Inhalt:  1.  Allgemeine  Bemerkungen.  1.  Einheitssprache. 
2.  Perioden.  3.  Bestandtheile.  —  II.  Verhältnis  des  Französischen  zum 
Latein.  A.  Betonung.  B.  Flexion.  C.  Wortl)ildung.  1.  Ableitung.  2.  Zu- 
sammensetzung. —  III.  Einige  Wortfamilien.  Der  sachkundige  Verfasser 
kennt  die  Bedürfnisse  der  Schule  und  versteht  es,  sich  zu  beschränken, 
unnötige  Gelehrsamkeit  zu  meiden  und  vom  Altfranzösischen  und  Vulgär- 
lateinischen das  wenige  herauszufinden,  das  dem  Verständnisse  des  Lateinisch 
lernenden  Schülers  nahe  gebracht  und  ihm  ohne  Schwierigkeit  klar  gemacht 
werden  kann.  Er  bezeichnet  sein  Büchlein  als  „Anhang  zu  den  in  Gymna- 
sien verwendeten  französischen  Grammatiken".  Ich  möchte  es  allen  philo- 
logisch vorgebildeten  Lehrern  des  Französischen  empfehlen,  selbstverständ- 
lich besonders  denjenigen,  die  an  Gymnasien  und  überhaupt  an  solchen 
Schulen  unterrichten,  in  denen  Lateinisch  gelehrt  wird.  Nach  meiner  Er- 
fahrung missachten  und  vergessen  allmählich  die  meisten  Neuphilologen 
ihre  auf  der  Universität  mühsam  erworbenen  und  durch  ein  nicht  leichtes 
Examen  bethätigten  altfranzösischen  Kenntnisse.  Manche,  die  diese  Kennt- 
nisse in  ihrem  Unterrichte  verwerthen,  —  sie  sind  zumeist  eben  erst  aus 
dem  romanischen  Seminar  der  Universität  hervorgegangen  oder  haben 
vor  nicht  langer  Zeit  eine  romanistische  Doktordissertation  verfasst  — 
thun  es  an  unpassender  Stelle,  in  ungeschickter  Weise  und  in  Uebermass. 


136  Referate  und  Rezensionen.     A.  Ranibeau, 

Nach  einiger  Zeit  bemerken  sie,  oder  werden  von  Vorgesetzten  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  der  Erfolg  ausbleibt  nnd  ihre  SclüUer  „zu  viel 
Fehler  machen".  Ihr  Eifer  erlahmt  mit  Heftekorrigieren  und  Regelnpauken: 
sie  folgen  dem  Beispiel  der  Mehrzahl  und  kümmern  sich  nicht  mehr  um 
das  Altfranzösische  und  „romanische  Philologie".  Bald  wird  ihnen  eine 
auf  wissenschaftlicher  Grundlage  aufgebaute  Grammatik,  etwa  wie  die 
von  Lücking,  ein  Buch  mit  sieben  Siegeln,  sie  wird  ihnen  unverständlich 
und  —  unbequem.  Andere  erkennen  nachträglich  mit  Eintritt  in  die 
Schulpraxis,  durch  eigene  Einsicht  oder  die  Lektüre  methodischer  Schriften 
und  den  Rat  älterer  Kollegen  geleitet,  die  Richtigkeit  der  sog.  Reforua- 
Methode  und  zugleich  zu  ihrem  Bedauern  ihre  vollständige  Unwissenheit 
auf  dem  Gebiete  der  Plionetik  und  der  lebenden  Sprache,  die  gründlich 
zu  lernen  sie  vor  dem  Staatsexamen  keine  Gelegenheit  gesucht  oder  ge- 
funden haben.  Die  Notwendigkeit  sowohl  wie  das  neu  erwachte  Interesse, 
das  um  so  reger  und  nachhaltiger  zu  sein  pflegt,  je  weniger  sie  Ijis  dahin 
von  Phonetik  und  der  lebenden  Sprache  kennen  gelernt  haben,  veranlasst 
sie,  sich  nun  ausschliesslich  mit  diesen  Gegenständen  zu  beschäftigen. 
Das  Ergebnis  ist  dasselbe:  die  altfranzösischen  Kenntnis.se,  die  sie  früher 
so  hoch  geschätzt  haben,  gerathen  nach  und  nach  in  Missachtung  und 
Vergessenheit. 

Hoffentlich  wird  die  kleine  Schrift  von  Breymann  in  dieser  Hinsicht 
recht  nützlich  wirken  und  manchen  jüngeren  Neuphilologen  davon  abhalten, 
sein  sprachgeschichtliches  Wissen  wie  eine  unbrauchbare,  lästige  Ware 
über  Bord  zu  werfen,  und  ihn  vielmehr  dazu  anleiten,  dieses  Wissen  im 
praktischen  Unterricht  in  angemessener,  verständiger  Weise  zu  verwerten. 
I:  3.  Zu  gleicher  Zeit  mit  dem  vorliegenden  Hefte  hat  Regel 
auch  einen  „eisernen  Bestand"  für  die  englische  Syntax  in  demselben  Ver- 
lage veröffentlicht.  Wir  leben  jetzt  im  pädagogischen  Zeitalter  der  „eisernen 
Bestände"  und  der  „kurzen"  und  „abgekürzten"  Grammatiken.  Eins  darf 
man  bei  diesem  Streben  der  Schulbticherverfasser,  den  grammatischen  Stoff 
für  die  Schüler  möglichst  zu  beschränken  und  die  „Regeln"  der  Syntax 
möglichst  einfach,  möglichst  ohne  Ausnahmen  zu  geben,  nicht  ausser  acht 
lassen:  je  kürzer  die  Grammatik  sich  gestaltet,  desto  „falscher",  desto 
„weniger  richtig"  wird  sie,  ein  desto  weniger  getreues  Bild  des  wirklichen 
Thatbestandes  der  Sprache  gewährt  sie.  Wer  mit  einer  solclien  „kurzen" 
oder  „abgekürzten"  Grammatik  die  fremde  Sprache  hauptsächlich  deduktiv 
lehrt,  die  Lektüre  nur  nebenbei  und  ohne  Rücksicht  auf  grammatische 
Eigentümlichkeiten,  die  sich  nicht  in  seiner  Grammatik  finden,  treibt, 
zurecht  gemachte  Einzelsätze  und  zusammenhängende  Stücke  aus  dem 
Deutschen  ins  Französische  oder  Englische  übersetzen  lässt  und  dabei  die 
„Fehler"  ausschliesslich  nach  den  aufgestellten  Regeln  und  Beisjjielen  misst 
und  rechnet,  der  lehrt  seine  Schüler  —  Falsches.  Anders  liegt  die  Sache, 
wenn  der  Lehrer  die  induktive  Methode  befolgt  und  die  Sprache  vorzugs- 
weise aus  der  Lektüre  und  den  sich  daran  anschliessenden  Sprech-  und 
Schreibübungen  lernen  lässt.  In  diesem  Falle  ist  die  Grammatik  nicht 
die  Grundlage,  sondern  nur  die  Begleiterin  und  Helferin  des  Sprach- 
unterrichts und  kann  dann  gerade  in  verkürzter,  aber  streng  systematischer 
Gestalt  recht  gute  Dienste  leisten,  indem  man  sich  derselben  zum  Wieder- 
holen und  ihres  Schemas  beim  Zusammenfassen  und  Gruppieren  des  aus 
der  Lektüre  geschöpften  Lernstoffes  bedient. 

R.  hat  bei  der  Zusammenstellung  seiner  kleinen  Arbeit  „lediglich 
praktische  Zwecke"  im  Auge  gehabt  (vgl.  Vorwort)  und  wohl  zunächst 
und  vor  allem  an  die  bekannten  Bedürfnisse  der  Vorbereitung  für  Schul- 
examina und  besonders  für  das  Examen  der  Einjährig-Freiwilligen  gedacht. 
Nach   dem  (irundsatze  „Exempel  wirken   mehr   als  Unterricht   und  Lehr" 


Breymann  u.  Möller,  Franz.  Elementarbuch  etc.  137 

giebt  er  „das  Nothwendigste  aus  der  französischen  Syntax"  fast  durch- 
gängig nur  „in  Beispielen"  und  fügt  von  Regelwerk  „nur  das  unumgäng- 
lich Notwendige"  bei:  „Er  hat  seine  eigene  Lehrerpraxis  zu  Rathe  ge- 
zogen, um  zu  bestimmen,  was  aufzunehmen  ist,  und  was  nicht"  (vgl. 
Vorwort). 

Mit  Rücksicht  auf  praktische  Zwecke  ist  das  Büchlein  sehr  empfehlens- 
wert. Es  ist  geschickt  und  übersichtlich  angelegt  und  lässt  sich  in  der 
Klasse  auch  neben  grösseren  Schulgrammatiken  gebrauchen,  etwa  neben 
der  von  Kühn,  die  sich  R.,  wie  er  selbst  sagt,  füi'  die  grammatische  An- 
ordnung zum  Muster  genommen  hat,  oder  neben  der  von  Lücking,  der  er 
wenigstens  indirekt  manches  zu  verdanken  scheint,  und  die,  obwohl  schwer- 
fällig, zu  sehr  schematisierend  und  philosophierend,  zum  Teil  ein  wenig 
dunkel  und  verworren,  doch  viele  Vorzüge  aufzuweisen  und  jedenfalls  die 
später  veröffentlichten  Schulgrammatiken  alle  mehr  oder  weniger  be- 
einflusst  hat. 

Bemerkungen  über  Einzelheiten: 

S.   8    „Konjunktiv   .   .   .    Nebensatz    ...     3.   Willensäusserung    (Absicht 

Wunsch) Nach    jusqu'    ä    ce    que,    avant    que    {attcndre 

— qiie  .  .  .  .)." 

Nb.  jusqu'  ä  ce  que.  Der  Konjunktiv  ist  allerdings  in  der 
heutigen  Schriftsprache  vorherrschend  geworden.  Aber  ein  Zusatz 
über  den  Gebrauch  des  Indikativs  ist  doch  immer  noch  notwendig.  — 

S.  9,  10  „.  .  .  .  4.  Annahme  oder  üngewissheit Nach  Superlativen 

und  nach  seid,  unique " 

Auch  hier  fehlt  ein  Zusatz  über  den  Gebrauch  des  In- 
dikativs. — 
S.  12  ^Une  ville  florissante;  une  ville  fiorissant  (?)  par  son  commerce". 
Trotz  der  Regel  über  die  Flexion,  resp.  Flexionslosigkeit  des  Part 
Praes.,  die  aus  diesen  zwei  Beispielen  abgeleitet  werden  soll,  halte 
ich  nur  H)ie  ville  florissante  par  son  commerce  für  richtig.  Das 
Part.  Praes.  fiorissant  wird  auch  im  zweiten  Falle  als  Adj.  be- 
handelt. Ein  anderes  Beispiel  oder  andere  Beispiele  sind  notwendig, 
um  die  gewünschte  Regel  zu  erläutern. 

S.  15  „Artikel   und  Substantiv Feste.     La  Saint  Jean   .  .  .  .,   la 

Saint  Michel  .  .  .  ." 

Nach  der  üblichen  Orthographie:  la  Saint -Jean,  la  Saint- 
Michel  (vgl.  Dict.  de  VAcad.  1879).  — 

S.  30  „Präpositionen.   .  ...   de  zur  nähern  Bestimmung i?Me  du 

Rhin,  de  la  Moselle,  aber:    Hue  Guillaume  {de  fehlt  vor  Personen- 
namen)." 

Aber  rue  de  Bichelieu  in  Paris  u.  ä.? 

II.  Die  zwei  Wörterbücher ,  die  ich  hier  anzuzeigen  habe ,  sind 
beide  in  ihrer  Art  brauchbare  Werke,  keineswegs  vollständig,  aber  dem 
Inhalte  nach  durchaus  ausreichend  in  Anbetracht  der  Ziele,  die  sich  ihre 
Verfasser  oder  Herausgeber  gestellt  haben. 

1.  Das  Petit  Dictionnaire  Classique  M oz in -Pe schier  i.st ,  wie 
schon  der  Titel  andeudet,  vor  allem  ein  Schulwörterbuch  und  behandelt 
demgemäss  sowohl  die  ältere  Sprache  seit  der  klassischen  Periode  als  auch 
die  neuere  und  neueste  mit  den  gebräuchliclisten ,  auch  letzthin  erst  auf- 
gekommenen, aber  geläufig  gewordenen  Ausdrücken.  Es  i.«t  eine  Um- 
arbeitung, Erweiterung  und  Erneuerung  eines  alten,  rühmlichst  bekannten, 
vor  der  Zeit  des  Sachs'schen  Werkes  in  Deutchland  und  Frankreich  weit 


138  Beferate  und  Rezensionen.     M.  F.  Mann, 

■verbreiteten  Schulbuches,  das  später  unter  <lem  Namen  Petit  Dictionnaire 
portatif  erschien  und  auf  einem  Auszuge  aus  dem  Grand  Dictionnaire 
Mozin,  dann  3Iosin-Peschier  beruhete.  Die  Vorrede  zur  dritten  Auflage 
des  Petit  Dictionnaire  portatif  zeigt  die  Jahreszahl  1864;  die  zweite  Auf- 
lage mag  etwa  in  den  vierziger  Jahren  entstanden  sein.  Die  vierte  Auf- 
lage, das  vorliegende  Petit  Dictionnaire  classique,  wurde  von  A.  Peschier, 
dem  ersten  Herausgeber,  der  im  Jahre  1878  starb,  unvollendet  zurück- 
gelassen, danach  von  seinem  Sohne  E.  Peschier  fortgesetzt  und  schliess- 
lich im  deutsch-französichen  Teile  mit  Hülfe  von  Gaille  und  Besson  be- 
endet. Seit  dem  Erscheinen  der  Hand-  und  Schulausgabe  des  vorzüglichen 
encyklopädiscben  Wörterbuches  von  Sachs  haben  die  Verleger  und  Heraus- 
geber der  älteren  wenn  auch  noch  so  bewährten  französisch-deutschen 
und  deutsch-französischen  Schulwörterbücher  keinen  leichten  Stand  gehabt. 
Diese  Erfahrung  haben  gewiss  auch  der  Verleger  und  die  Herausgeber  des 
Petit  Dictionnaire  classique  an  sich  maclien  müssen.  Indes  ist  es  ihnen 
immerhin  gelungen,  ihr  Werk  konkurrenzfähig  zu  machen  und  zwar  um 
so  eher,  weil  die  neuen  Auflagen  des  Sachs'schen  Wörterbuches  Stereotyp- 
Auflagen  sind.  Aber  ein  Vorzug  verbleibt  diesem  unbestritten:  eine  kon- 
sequente phonetische  Transkription.  Bei  Mozin-Peschier  fehlt  so  gut  wie 
jede  Aussprachebezeichnung. 

2.  Das  wenig  umfangreiche,  handliche  und  äusserlich  hübsch  aus- 
ausgestattete „Wörterbuch  der  französischen  und  deutschen  Umgangs- 
sprache" von  van  Muyden  und  Lang  ist  ein  ganz  neues  AVerk  und 
gehört  der  Sammlung  „Internationaler  Sprachführer'-  an,  die  die  Verlags- 
buchhandlung von  Goldschmidt  in  Berlin  seit  kurzem  begonnen  hat. 
Versehen  mit  einem  nur  das  Allernotwendigste  enthaltenden  Abriss  der 
französischen  Grammatik,  einem  kleinen  Gesprächsbuch  und  einigen  anderen 
Zuthaten ,  die  ich  oben  bei  der  Anführung  des  vollständigen  Titels  ver- 
merkt habe ,  dient  es  hauptsächlich  den  Bedürfnissen  des  internationalen 
Verkehrs.  Eine  „genaue  (?)  Aussprachebezeichnung"  bei  jedem  Worte  ist 
beiden  Teilen  ,  sowohl  dem  französisch  -  deutschen  als  dem  deutsch  -  fran- 
zösischen, beigefügt.  Aber  leider  ist  die  Art  derselben  durchaus  veraltet 
und  ungeheuerlich;  sie  muss  in  vielen  Fällen  zu  einer  falschen  Auffassung 
und  zu  Irrtümern  verleiten.  Vgl.  z.  B.  desesperant  =  deesaesspeerang, 
ressemblance  =  r^ssangblängss  (g  nach  n  in  kleinem  Druck),  ressemelage  = 
r'ss'mläjsch,  soiree  =  ssoaree,  arroser  =  orosee,  mot  =  mo  und  note  == 
not,  conjoint  =  kongjsclioaeng  u.  ä.  — 

Bewundermig  =  bev'ounnd'rounng,  Besuch  =  hez'oükh,  Bestechlich- 
keit =  becht'aighUghlcaitt,  lieb  =  llb  (!),  Medizin  =  maidits'lnn,  Unter- 
lage =  'öimnt'rl'ägue  u.  ä. 

Phonetik  und  phonetische  Transkription  scheinen  die  Verfasser  gründ- 
lich zu  verachten  oder  —  gar  nicht  zu  kennen.  In  dieser  Hinsicht  steht 
ihr  Werk  weit  zurück  hinter  dem  „Wörterbuch  der  englischen  und  deutschen 
Umgangssprache"  von  Krumm  acher,  das  ein  Jahr  später  in  derselben 
Sammlung  erschienen  ist,  und  dessen  Hauptverdienst  gerade  in  einer  ge- 
wissenhaft genauen,  wirklich  phonetischen  Umschreibung  der  Aussprache 
besteht. 

Hamburg,  Nov.  1892.  A.  Rambeau. 

Baltimore,  April  1893. 


Ä.  Bicard.   Manuel  d'Hisloire  de  la  Litterature  frangaise.      139 

Ricard,  Anseliue.  Manuel  d'Histoire  de  la  Litterature  frangaise,  Resume 
Encyclopedique  ä  l'usage  des  maisuns  d'education  et  des  Aspirants 
au  diplöme  de  professeurs  de  frangais.  IVe  edition  rcvue  et 
augineiitee.    Prague,  J.  G.  Calve,  1891.    VI  +  820  S. 

Emile  Faguet,  der  bekannte  zeitgenössische  Literarhistoriker,  erzählt 
einmal  von  einem  seiner  Freunde,  der  in  20  Jahren  20  Bände  geschrieben 
hatte,  folgende  Aeusserung:  ,,.7ai  envie  de  consacrer  les  vingt  annees  qui 
me  resteiit  devant  moi  ä  reduire  ces  ringt  rolumes  ä  ringt  nouvelles  de 
trente-cinq  lignes  eliacune.  ■Vy  gagnerais  peut-ctre  la  gloire  de  Merimee." 
Diese  Worte  fielen  mir  ein,  als  ich  Bicards  Handbuch  durchgelesen  und 
in  einzelnen  Abschnitten  geprüft  hatte.  Ich  weiss  niclit,  ob  Herr  Ricard 
einmal  den  gleichen  Wunsch  hegen  wird.  Sollte  es  der  Fall  sein,  so 
würde  nach  denselben  Proportionen  gerechnet,  von  seiner  Arbeit  in  ver- 
besserter Auflage  kaum  mehr  übrig  bleiben  als  der  Titel.  Und  das 
wäre  für  die  Mit-  wie  die  Nachwelt  kein  Schade,  denn  das  Buch  wäre 
überhaupt  besser  \ingeschrieben  geblieben.  Es  liegt  zwar  in  4.  durch- 
gesehener und  vermehrter  Auflage  vor,  aber  dieser  buchhändlerische 
Erfolg  beweisst  nur,  dass  es  in  Oesterreich  faule  de  mieux  gekauft  wird, 
einen  Schluss  auf  seinen  inneren  Wert  darf  man  daraiis  nicht  ziehen. 

Ricards  Buch  ist  nach  dem  üblichen  liecepte  derartiger  Handbücher 
verfasst.  Auf  (irund  mehr  oder  weniger  anerkannter  und  genannter 
Quellenschriften  werden  die  Autoren  und  Werke  in  chronohjgischer  Folge 
mit  den  üblichen  Gemeinplätzen  und  Citaten  abgehandelt,  ohne  dass  eine 
besondere  Rücksicht  auf  den  inneren  Zusammenhang  und  die  Erklärung  der 
grossen  Literaturerzeugnisse  aus  ihrer  Zeit  heraus  genommen  würde.  Dabei 
fehlt  dem  ganzen  die  rechte  Durcharbeitung  und  geschicktes  Zusammen- 
schweissen,  iind  was  des  Verfassers  eigene  Arbeit  ist,  die  französische 
Form  und  gelegentliche  Urteile,  ist  stellenweis  geradezu  befremdenerregend, 
insbesondere  wenn  man  an  die  Bestimmung  des  Buches  denkt,  den  (Kan- 
didaten zur  Erlangung  einer  Facultas  im  Französischen  zu  verhelfen.  So 
heisst  es  in  der  Vorrede  zur  1.  Auflage:  Ce  cadre  emhrasse  Ja  marche  de 
taute  la  litterature  frangaise  depuis  son  eclosion,  contient  son 
epanoiiissetnent,  ses  Ciges  de  grandeur  et  de  decadence,  ses  lüttes,  ses 
defaites,  ses  atinees  d'eclipse  et  son  eternel  retour  aux  jtrincipes 
d^m^dre,  de  morale  et  de  reritahle  grandeur.  L'histoire  Utteraire  de  la 
France  prouve  qu'apres  toiites  les  grandes  catastroplies  le  genie  national 
ä  SU  retrouver  dans  le  cahne  et  le  recueiUement  une  elasticite  nouvelle,  une 
franche  rigueur  et  un  remarquable  elan  de  jeunesse  et  de  virilitc;  la  poesie 
et  Veloquence  ont  toujours  brille  sur  ses  ruines  comme  les  fleurs,  syinholes 
de  vie,  sur  les  tombeaux ,  asiJes  de  tnort.  Desgleichen  in  der  Vor- 
rede zur  2.  Auflage:  En  somme  d  serait  difficüe  de  citer  rien  de  remar- 
quablement  hors  de  pair  dans  ce  laps  de  temps,  oii  Von  a  irop  sacrifie 
aux  disputes  politiques.  Derartige  Stilblüten  und  Härten  durcliziehen  das 
ganze  Buch.  So  beginnt  das  VIII.  Kapitel :  Le  gratul  sfecle  de  Louis  XIV 
est  un  arbre  majestueux  dont  nous  avons  entrevu  les  glorieux  rameaux 
dans  la  poesie,  dans  la  philosophie  et  dans  le  thedtre,  mais  il  faut 
encore  etudier  les  racines  qui  sont  dans  ses  croyances  et  dans  sa  foi. 
Und  wie  falsch  sind  dabei  Herrn  Ricards  Urteile.  S.  131  steht  der  Satz: 
Louis  XIV  basait  ses  choix  sur  le  taleni  et  sur  les  vertus.  Giebt  es 
keine  Memoiren  glaubwürdiger  Zeitgenossen,  die  gebieterisch  den  Zusatz 
verlangten:  et  sur  Vintrigue,  den  man  nicht  dick  genug  unterstreichen 
könnte?  Kurz  darauf  heisst  es:  On  ca  voir  la  doctritie  chretienne 
imposer  son  dof/me  et  semparer  des  ämes  en  deployant  le  plus 
magnifique  latigaye  que  la    houche  de   Vhomme   ait  jamais 


140     Refer.  n.  Res.  M.  F.  Mann,  A.  Ricard,  Manuel cfHistoire etc. 

parl^.  Ich  bin  überzeugt,  dass  die  Franzosen  gegen  diese  übertriebene 
Behauptung  selber  Einspruch  erheben  würden,  und  erinnere  Herrn  Ricard 
nur  an  die  folgenden  Verse  A.  Cheniers  auf  die  griechische  Sprache,  die 
ich  nach  dem  Gedächtniss  aus  dem  Aveuffle  anführe: 


und  an: 


Le  langage  divin  aux  douceurs  souveraines, 

Le  plus  beau  qui  soit  ne  sur  des  levres  humaines; 


Trois  mille  ans  ont  passe  sur  la  cendre  d'Homere, 
Et  depuis  trois  mille  ans  Homere  respecte 
Est  jeune  encore  de  gloire  et  d'immortalite. 

Und  von  Bossuet  wird  behauptet,  er  sei  Vatne  du  siecl^  de 
Louis  XIV  gewesen.  L'ame  de  Versailles,  Vinspirateur  de  Louis  XIV 
gehe  ich  zu,  mehr  aber  nicht!  Ferner:  Cef  athlete  vigoureux  se  montre 
partout:  .  .  .  .  ä  la  cour,  d'oii  il  hannit  saintewent  les  favorites.  In  Wirk- 
lichkeit aber  führte  er  sie  wieder  durch  eine  Hinterthüre  ein.  So  wird 
das  Bild  Bossuets  einseitig  gegeben.  Er  ist  zweifellos  der  grösste  prosateur 
dieser  Zeit,  und  nach  dem  Urteile  der  Zeitgenossen  nahm  er  wie  später 
Mirabeau  seine  Zuhörer  schon  durch  den  Zauber  seiner  Stimme  gefangen, 
aber  daneben  ist  er  ein  Protestantenhasser  der  ärgsten  Sorte,  ein  sectaire 
wie  Cromwcll,  dessen  Bild  er  gezeichnet  hat,  eigennützig  und  habsüchtig 
bis  zum  letzten  Athemzuge,  kurz  an  Charakter  im  höchsten  Grade  be- 
klagenswert. Wenn  Montaigne  mit  seinem  Ausspruche:  L'homme^  n'est 
ni  äuge  ni  bete  recht  hat,  so  steht  gerade  Bossnet,  der  Pere  de  TEglise, 
der  bete  humaine  am  nächsten,  während  Pascal,  der  Protestant,  sich  am 
weitesten  von  ihr  entfernt. 

Mehrfach  hätten  die  benutzten  Quellen  nachgeprüft  werden  müssen. 
So  heisst  es  S.  83  von  den  Aufnahmebedingungen  der  Äcademie  franeaise: 
Les  memhres  sont  elus  par  P Äcademie  ä  la  majorite  des  voix  et  le  clioix 
est  sanctionne  par  le  Soi<rerain  auquel  le  rccipiendairc  doit  une  risite. 
Glaubt  Herr  Ricard,  dass  die  heutige  Regierung  Frankreichs,  die  selbst  die 
Gefängnisse  nicht  mit  dem  Stempel  Libcrte  Egalite  Fraternitc  verschont, 
diesen  Paragraphen  unangetastet  gelassen  habe  ? 

Den  Abschluss  des  Buches  bildet  eine  Liste  alphabetiqne  de  noms 
propres  d'aiiteurs  ou  de  villes  et  de  certaitis  noms  commtins  offrant  quelque 
difficidte,  ai;ec  la  prononciation  figuree.  Ich  weiss  nicht,  welche  Schwierig- 
keiten in  der  Aussprache  Namen  wie  Gerbert,  Guizot,  Guy-Patin,  Helvetius, 
Lesage,  Hegnard,  Zola  und  andere  dem  bieten  können,  der  einige  elementare 
Kenntnisse  des  Französischen  hat.  Andrerseits  vermisse  ich  z.  B.  Stael, 
über  dessen  Aussprache  der  Anfänger  im  Zweifel  sein  kann.  Englische 
Namen  wie  Byron,  Newton  u.  a.  sprechen  nur  die  Puristen  und  die  Gigerl 
der  boulevards  englisch  aus,  die  grosse  Mehrzalil  der  Gebildeten  fran- 
zösisch, wie  überhaupt  die  aus  dem  iientigen  Englisch  entlehnten  Wörter 
(vgl.  clown,  (la)i(ly,  struggleforlifeur  etc.)  Montaigne  wird  vielfach,  und 
durchweg  von  den  Puristen,  wie  Montagne  gesproclien.  Uel)rigens  ist  die 
Transcri]>tioii  der  Laute  höchst  mangelliaft  und  trotz  IV.  Auflage  ist  das 
Buch  nicht  frei  von  Druckfehlern. 

Ungeachtet  seines  Erfolges  kann  eine  unabhängige  Kritik  Ricard's 
Manuel   nicht  empfehlen.     Es  ist  eine   durchaus   mittelmässige  Leistung. 

Paris.  M.  F.  Mamn. 


M  iszel  I  en. 


Hippolyte  Adolphe  Taine. 

t  5.  März  1893. 

Einer  der  bedeutendsten,  wenn  nicht  der  bedetitendste  Vertreter 
der  heutigen  französischen  Geschichtschreibung,  zugleich  ein  Kenner  und 
Verehrer  deutscher  Wissenschaft,  ist  an  der  Grenze  des  Mannes-  und 
Greisenalters  dahingesunken  —  Hippolj'te  Adolphe  Taine.  Seine  geniale 
Art.  die  Grundsätze  naturwissenschaftlicher  Forschung  auf  die  Geschicht- 
schreibung zu  übertragen,  diese  letztere,  welche  in  Frankreich  bis  dahin 
mehr  als  Kunst,  denn  als  Wissenschaft  galt,  und  desshalb  den  „Belles- 
Lettres"  zugerechnet  Avurde.  zum  Range  einer  „Science"  zu  erheben,  hat 
auch  bei  uns  neben  dem  Widerspruche  Bewunderung  und  Nachahmung 
gefunden.  Das  Leben  des  verstorbenen  Forschers  ist  kein  besonders  er- 
eignissvolles. Am  21.  April  1828  in  der  kleinen  Stadt  Vouziers  (Ardennen) 
als  Sohn  eines  Notars  geboren,  wurde  er  bis  zum  14.  Jahre  von  seinem 
Vater  unterrichtet  und  lernte  von  einem  Oheim,  der  in  Amerika  gewesen 
war.  Englisch.  Nach  dem  Tode  des  Vaters  kam  der  frühzeitig  gereifte 
Knabe  auf  das  College  Bourbon  in  Paris  und  ging,  nach  trefflich  be- 
standenem Baccalaureatsexamen  auf  die  Ecole  Normale .  welche  die 
Professoren  der  Gymnasien  heranzubilden  bestimmt  ist.  über,  j^lit  23  Jahren 
trat  er  in  das  höhere  Lehramt  ein.  musste  aber  an  mehreren  der  wenig 
geschätzten  Provinzialgymnasien  sich  ein  paar  Jahre  lang  herumdrücken. 
Paris  zog  ihn,  wie  alle  französischen  Jünglinge,  unwiderstehlich  an.  Dort- 
hin zurückgekehrt,  bestand  er  (1853t  mit  seiner  „These":  Lafontaine  et 
ses  fahles  (2.  umgearbeitete  Auflage.  1860.  jetzt  schon  in  11.  Auflage), 
das  Ddctorexamen  an  der  Sorbonne,  das  schwierigste  und  ehrenvollste  der 
drei  Hauptexamina  in  der  französischen  Prüfungsordnung.  Das  „Journal 
des  Debats"  öffnete  ihm  seine  Spalten  und  aus  dieser  journalistischen 
Tätigkeit  ging  zum  Teil  eine  Reihe  von  ehemals  aufsehenerregenden, 
jetzt  doch  mehr  oder  weniger  vergessenen  Geschichtswerken  hervor.  Ein 
Essay  über  Titus-Livius  (1854),  Schriften  über  die  französ.  Philo- 
sophen des  19.  Jahrh.  (1856).  über  die  englische  Litteratur  1 1864.  4  Bde.), 
besondere  Abhandlungen  über  John  Stuart  Mill.  über  Carlylc,  über  die 
Kunst  in  Griechenland .  Italien  und  den  Niederlanden .  Keiseskizzen  aus 
Italien.  Betrachtungen  über  Kunstphilosophie.  A'orstudicn  zur  Geschichte 
der  französ.  Revolution  u.  A.  liess  der  unermüdlich  Tätige  in  den  Jahren 
1854 — 1872  erscheinen.  ..Varia  delectant"  war  sein  schriftstellerisches 
Leitmotiv,  aber  nie  versank  er  in  einen  sich  zerstreuenden  Dilettantismus. 


142  Miszellen. 

Nicht  nur  ernste,  tief  eindringende  Studien,  sundern  auch  fest  abgegrenzte 
Grundgedanken  geben  seiner  wechselnden  litterarischen  Tätigkeit  ein 
starkes,  bisweilen  steifes  Rückgrat.  Ruhm  und  Auszeichnung  hatte  er 
vor  dem  Jahre  1870  wenig.  1863  wurde  er  Professor  der  ]\Iilitärschule 
zu  8aint-(_'yr,  später  der  Ecole  des  Beaux  Arts.  erst  1878  ehrte  sich  die 
französ.  Academie.  die  so  vielen  Mittelmässigkeiten  einen  Ruhmesplatz 
einräumt,  durch  die  Aiif nähme  eines  Mannes,  der  Alle  an  umfassender 
Geistesgrösse.  ausgebreiteten  Kenntnissen  und  philosophischer  Vertiefung 
überragte.  Das  Napoleonische  Regiment  mit  seinem  Anhange  frommer 
Heuchler  und  unlauterer  Streber  war  dem  Emporkommen  eines  unab- 
hängigen ,  jeder  Klugheits-Berechnung  unzugänglichen  Mannes  nicht 
günstig.  Die  katholische  Geistlichkeit  hatte  ihm  schon  seine  Provinzial- 
Lehrtätigkeit  verdorben;  nachdem  Taine  mit  seinem  naturwissenschaftlichen 
Glaubensbekenntniss  offen  hervorgetreten  war.  erliess  Bischof  Dupanloup 
gegen  ihn  als  Verderber  der  Sittlichkeit  eine  Art  Hü'tenbrief.  Erst  als 
das  Jahr  1870  die  Blicke  der  bedeutendsten  Männer  Frankreichs  auf  den 
mangelnden  .,esprit  de  science"  einer  glänzenden,  schöngeistigen  Cultur 
gelenkt  hatte,  und  als  man  von  der  Nacheiferung  deutscher  Wissenschaft 
die  Heilung  aller  Schäden  erhoffte,  wurde  Taine  eine  tonangebende 
Macht. 

In  Allem,  was  unser  Historiker  behandelt,  sei  es  Kunst.  Litteratm-. 
Philosophie.  Geschichte.  Tagespolitik,  geht  er  von  der  flacht  des  Tatsäch- 
lichen aus.  Keine  tatsächliche  Erscheinung  ist  ihm  etwas  Zufälliges,  allen 
liegen  bestimmte  Ursachen  zu  Grunde.  Physische  und  geistige  oder 
moralische  Vorgänge  sind  nach  seiner  Auffassung  Producte  bestimmter, 
einfacher  Urbestandteile.  ..Tugend  und  Laster."  sagt  er  einmal,  „sind 
Producte.  wie  Vitriol  und  Zucker"  und  für  den  Ehrgeiz.  Mut.  die  Wahr- 
heitsliebe gäbe  es  bestimmende  Ursachen .  wie  für  die  Verdauung .  die 
Äluskelbewegung.  die  animalische  Wärme.  Drei  Ausgangspunkte  bezeichnen 
die  Grundumrisse  geistiger  Erscheinungen:  Die  ..race".  das  ..milieu''  und 
die  Zeitumstände.  Natur  und  Klima  sind  die  Hauptbedingungen  des 
„milieu.''  Darum  wird  in  der  Schilderung  Lafontaines  so  grosser  Wert 
auf  die  landschaftlichen  \'ei-hältnisse  gelegt,  unter  denen  der  Fabeldichter 
aufwuchs.  So  hätten  wir  die  Lamarck-Darwinschen  Grundsätze  der  An- 
passung und  Vererbung  auf  die  Geschichtsschreibung  übertragen .  aber 
auch  die  Ansichten  vom  Kampf  ums  Dasein  und  von  der  Auswahl  der 
lebenskräftigsten,  anpassungsfäliigsten  Individuen  linden  wir  bei  Taine 
wieder.  Darum  sein  Cultus  der  grossen  Persönlichkeiten  der  Geschichte, 
in  dem  er  es  Carlyle  gleichthut.  eines  Ludwig  XI\'.  und  Napoleon,  eines 
Shakespeare  und  Byron,  eines  Michelangelo  und  Raphael.  Aber  sein  Cultus 
wird  nie  zur  unwissenschaftlichen  Bewunderung,  stets  sucht  er  die  bunt 
zusammenlaufenden  (ieistesfäden  einer  hervorragenden  Individualität  auf 
vereinfachte  Grundstciffe  zurückzuiiihren.  Bei  Shakespeare  findet  er  als 
„faculte  maitressc"  eine  bewegliche,  nervös  reizbare  Fantasie,  bei  Byron 
den  revohitionär-umstürzenden  Cliarakterzug.  Die  ganze  vielbewunderte 
und  vielangefeindete  (Tcschichte  der  englischen  Litteratur  besteht  eigent- 
lich nur  aus  einer  Reihe  von  Einzelporträts  der  hervorstechendsten 
Individuen.  Aber,  wie  die  Generationen,  so  lösen  sich  auch  die  Zeit- 
epochen im  harten  Kampfe  ums  Dasein  ab.  der  Sieger  in  diesem  Existenz- 
streite hat  in  Taines  Auffassung  das  i\echt  der  tatsächlichen  Macht  für  sich. 
Darum  weilt  er  bei  den  jedesmal  vorherrschenden  Lebensformen  und 
Persiinlichkeiten  mit  einer  ersichtlichen  Sympathie.  Wie  er  das  ,ancien 
regime."  die  Ideen  der  grossen  Revolution,  die  gewaltige  Persönlichkeit 
Bonapartes  in  hell  leuchtenden  Farben  sich  abspiegeln  lässt,  so  wählt  er 
die  düstersten  Umrisse,  wenn  er  das  Unterliegen  derselben  in  ihrem  Ringen 


Missellen.  143 

mit  neuen  Kräften  nnd  Ideen  schildert.  Der  im  Daseinskampfe  Siegende 
und  Ueberlebende  hat  auf  Taines  Anteilnahme  berechtigten  Anspruch. 
^Es  bleiben  todt  die  Todten  und  nur  das  Lebendige  lebt,''  dieses  Dichter- 
wort könnte  auch  der  Wahlspruch  von  Taines  naturwissenschaftlich-philo- 
sophischer Geschichtsconstruction  sein. 

Diese  Methode  scheitert  jedoch,  wenn  sie  sich  der  frei  bildenden 
Kunst  und  Dichtung  aufdrängt.  Sehr  ungenügend  darf  man  die  Definition 
nennen,  welche  Taine  von  dem  Wesen  des  Kunstwerkes  gibt:  ^L'oeuvre 
d'art  a  pour  but  de  manifester  (juelque  caractere  essentiel  ou  saillant, 
partant  quelque  idee  importante,  plus  clairement  et  plus  completement 
que  ne  le  fönt  les  objets  reels.  Elle  y  arrive  en  y  employant  un  ensemble 
de  parties  liees,  dont  eile  modifie  systematiquement  les  rapports.  Dans 
les  trois  arts  d'imitation:  sculpture.  peinture  et  poesie.  les  ensembles 
correspondent  ä  des  objets  reels."  Damit  kommen  wir  denn  doch  zu  einem 
Naturalismus  der  Kunst,  dessen  höchstes  Ziel,  wie  das  der  Natur,  die 
Darstellung  des  schönen  Menschen,  sei.  Goethe,  Michelangelo.  Eaphael, 
was  haben  sie  anders  gewollt,  als  schöne  Menschen  bilden  V  Darum  ist 
in  Taines  Kunstbetrachtungen  der  anatomische  Gesichtspunkt  stets  der 
vorherrschende. 

Aber  nicht  auf  den  Werken  über  Kunst  und  Litteratur  'beruht 
Taines  bleibender  Ruhm,  ein  „opus  aere  perennius"  ist  sein  letztes,  gross- 
artig angelegtes  Geschichtswerk:  „Les  origines  de  la  France  contempo- 
raine"  (1877 — 1890).  Nach  einer  mosaikartigen  Darstellung  des  ancien 
regime  im  ersten  Bande,  schildert  ej-  in  den  drei  folgenden  die  grosse 
Revolution,  im  Schlussbande  die  Napoleonische  Aera  mit  einem  Ausblicke 
auf  die  Gegenwart.  Hier  zeigt  sich  Taines  unendlich  detaillirte  Geschichts- 
kenntniss.  sein  unübertroffenes  Talent,  kleine  Züge,  selbst  Anecdoten  und 
Bonmots,  unter  seine  leitenden  Ideen  zu  stellen,  grosse  Personen  in  ihrer 
lebensvollen  Wirklichkeit,  ohne  Schminke  und  Retouchirung.  vorzuführen, 
den  massenhaften  Stoff  mit  seiner  gewaltigen  Gestaltungskraft  zu  gliedern 
und  seine  Beurteilung  von  nationalen  Vorurteilen  und  Ueberlieferungen 
freizuhalten.  Keiner  hat  die  alte  Aristocratie  Frankreichs  in  ihren 
glänzenden  gesellschaftlichen  Vorzügen,  in  ihrer  künstlerischen  und  litte- 
rarischen Bildung,  zugleich  aber  auch  in  ihrer  moralischen  Entartung 
schärfer  beleuchtet,  als  Taine.  Keiner  mit  den  Legenden  der  grossen 
Revolution,  den  jacobinischen  sowohl,  wie  mit  denen  der  Reaction  ent- 
schiedener gebrochen,  keiner  den  Napoleonischen  Lügenmythus  tiefer  in 
den  Staub  getreten.  Aber  man  glaube  nicht,  dass  Taine  den  wohlfeilen 
Massstab  der  moralisirenden,  bürgerlichen  Geschichtsschreibung  sich  borge, 
wenn  er  die  Verbrechen  eines  Danton,  Eobespierre.  Napoleon  schildert.  Die 
Moral  ist  ihm  nur  ein  Product  der  Race,  des  .,Milieu."  der  Zeit,  eine 
sittliche  Freiheit  gibt  es  für  ihn  nicht,  l^eberall  herrscht  das  Gesetz  der 
ehernen  Notwendigkeit,  dem  Zufalle  bleibt  kein  Raum.  Was  gekommen 
ist.  musste  so  kommen,  wie  der  Mensch  geworden  ist,  so  musste  er 
werden. 

Ist  Taine  darum  ein  Kosmopolit  zu  nennen,  der  seiner  nationalen 
Eigenart  sich  entäusserte?  Gewiss  nicht!  Als  echten  Franzosen  zeigt 
er  sich  in  seiner  Schilderung  Ludwigs  XIV.,  der  Gesellschaft  des  XVII.  Jahr- 
hunderts, der  Aufklärung  des  XVIII. ,  der  Hofpoesie  des  XVII.  Jahr- 
hunderts. Die  so  scharf  und  mitleidlos  beurteilte  Revolution  und  das  so 
grell  geschilderte  Napoleonische  Regime  sind  ihm  elementare  Kräfte,  die 
den  wohlgegliederten  und  doch  in  der  Grundlage  schwankenden  Bau  des 
alten  Frankreich  in  Trümmer  stürzen,  um  neuen  Gebilden  freie  Bahn  zu 
schaffen.     An  ihrer   entfesselten  Leidenschaft,  an   dem   Uebermasse  ihrer 


144  MiszeUen. 

ziellosen  Bestrebungen  gehen  sie  notwendig  zu  Grunde.  Dass  Napoleon  I.. 
dessen  Feldherrngenie  und  organisatorisches  Talent  Taine  vollauf  an- 
erkennt, doch  in  so  düsteren  Farben  und  mit  einem  sichtlichen,  inneren 
Missbehagen  geschildert  wird,  hat  seinen  besonderen  (xrund  —  Napoleon 
ist  Corse,  aber  nicht  Franzose.  Er  erscheint  ihm  als  das  Product  eines 
Atavismus,  eines  geschichtlichen  Rückschlages  in  die  Zeit  der  italienischen 
Bandenführer  des  XV.  Jahrb.  Nicht  ohne  Absicht  weist  Taine  darauf  hin, 
vi'ie  Napoleon  so  mangel-  und  fehlerhaft  Französisch  schrieb  und  sprach, 
vrie  er  ähnlich  klingende,  aber  grundverschiedene  Wörter  und  Phrasen 
verwechselte,  wie  seine  gewalttätige,  launenhafte,  elementar-rohe  Despoten- 
natur nichts  von  französischer  Bildung  an  sich  hatte.  —  Gewiss  bieten 
die  4  Bde.  über  die  Revolution  und  über  den  Bonapartismus  der  Kritik 
mancherlei  Angriffspunkte.  In  der  Auswahl  der  Quellen  ist  Taine  nicht 
immer  vorsichtig;  kleinliche,  oft  wenig  beglaubigte  Notizen  verwendet  er 
zu  Tragpfeilern  seines  Systems :  was  in  sein  Anpassungs-  und  Vererbungs- 
schema sich  nicht  fügt,  lässt  er  oft  bei  Seite.  Der  Fluch  des  Systems 
und  der  vorgefassten  Ideen  senkt  sich  drohend  auch  auf  sein  Geschichts- 
werk herab.  Ein  Wagniss  ist  es  an  sich  schon.  Resultate  der  Natur- 
wissenschaft, flie  nur  im  Allgemeinen  und  Grossen  anerkannt  sind,  zum 
Fundamente  einer  anderen  Wissenschaft  zu  machen.  Taine  vernachlässigt 
auch  die  äussere  Geschichte  über  der  inneren,  die  Kriege,  Schlachten  und 
Kabinetshändel  über  den  sozialen  Gestaltungen  und  grossen  politischen 
Umwälzungen.  Darin  hätte  er  von  Heinrich  v.  Sybel.  mit  dessen  Auf- 
fassung der  französ.  Revolution  und  der  Anfänge  Napoleons  er  sich  mehr- 
fach begegnet,  lernen  können.  Er  ist  mehr  Philosoph  und  Naturforscher, 
als  methodisch  geschulter  Historiker  und  Quellenforscher.  Seine  Geschichts- 
auffassung ist  nicht  der  Höhepunkt  der  Geschichtswissenschaft.  Diese 
kann  nie  zum  ausschliesslichen  Deteiininismus  sich  bekennen,  darf  die 
menschliche  Freiheit  und  die  selbsttätigen  sittlichen  Motive  nie  so  ausser 
Augen  lassen,  wie  Taine  es  thut.  Wären  persönliche  Freiheit  und  all- 
gemein gültige  Moral  auch  Irrtümer  und  Traumbilder,  der  Historiker  darf 
ihnen  nicht  zu  Gunsten  rein  naturalistischer  Grundansichten  entsagen. 
Aber  Taines  unvergänglicher  Ruhm  bleibt  es,  mit  einer  Geschichtschreibung, 
die  mehr  Rhetorik  als  Wissenschaft,  mehr  Parteidoctrin  als  vorurteilslose 
Forschung,  mehr  ein  zusammenhangloser  Einzelkram,  als  eine  Darlegung 
der  grossen,  leitenden  Ideen  und  bestimmenden  Einflüsse  war,  gebrochen 
zu  haben.  Er  hat  auch  das  Ideal  unseres  Altmeisters  Ranke,  die  Ge- 
schichtschreibung zur  Kunst  zu  erheben,  nahezu  verwirklicht.  So  echt 
französisch,  so  rein  academisch  sein  Styl  ist,  so  originell  schreibt  er,  so 
sehr  zeigt  er  die  Einwirkung,  welche  das  Studium  der  classischen  und 
modernen  Litteratur  in  ihren  Ur(iuellen  aiif  das  conventionelle  (Tcpräge  des 
französischen  Classizismus  ausüben  muss.  Characteristisch  für  Taine  bleibt 
in  dieser  Hinsicht  das  wohlbeglaubigte  Trteil  eines  deutscheji  Fürsten 
der  Gegenwart.  „Ich  habe,"  sagte  dieser  seinem  Bibliothekar,  „in  acht 
Tagen  das  Geschichtswerk  Taines  (die  (higines  de  la  France  contempo- 
raine)  durchgelesen  und  vieles  darin  gefunden,  was  auch  für  mich  neu 
war.  Aber  Franziisisch  schreiben  (d.  h.  Salon-  und  Conversationsfranziisisch) 
kann  dieser  Mann  nicht,  am  Rande  liabe  ich  daher  manche  stylistische 
Freiheiten  verbessert." 

Taines  ,,()rigines"  sind  von  der  radicalen  Partei  Frankreichs  nicht 
miniler  angegriffen  worden,  als  von  der  constitutionellen  und  der  bona- 
partistischen,  von  den  alten  Gegnern  des  Historikers,  den  Clericalen,  nicht 
weniger,  als  von  den  waschechten  Voltaireanern.  Die  Napoleonische  Partei 
hat  sogar  liegenschriften  vom  Stapel  gelassen,  die  auch  auf  diesem 
(iebiete  ihre  zukunftslose  Impotenz  bekunden.    Man  hat  Taine  vorgeworfen, 


MiszeUen.  145 

er  sei  Pessimist  und  mache  alles  schlecht,  weil  er  abgestorbene  Lebens- 
und Culturformen  rücksichtslos  preisgibt  und  der  Hoffnung  auf  eine  bessere 
Zukunft  Frankreichs  mit  kühler  Zurückhaltung  gegenübersteht.  Ihn  aus 
dem  Streite  der  Parteien  zu  ziehen,  sein  Wirken  mit  der  Objectivität  und 
der  zielbewussten  Ausscheidung  des  Kleinlichen  und  Unwichtigen  zu 
würdigen,  die  ihm  selbst  als  hiichste  Aufgaben  der  Geschichtschreibung 
vorschwebten,  das  muss  ein  ernstes  Streben  der  Fachgeno&sen  in  Deutsch- 
land, dessen  schönster  Ruhm  seit  Jahrhunderten  die  neidlose  Anerkennung 
des  Fremden  ist,  bleiben. 

R.  Maheenholtz. 


Herrn  Prof.  Stengels  Besprechung  meines  Vortrages  auf  dem  V.  Neu- 
philologentag über  die  Aufgaben  des  neusprachlichen  Unterrichts  und  die 
Vorbildung  der  Lehrer  geht  mir  erst  heute  zu.  Da  ich  durch  meine  hiesigen 
Pflichten  als  Generalkommissar  der  Deutschen  Unterrichtsausstellung  für 
die  nächsten  Monate  noch  ganz  in  Anspruch  genommen  werde,  muss  ich 
mir  eine  Erwiderung  für  spätere  Zeit  vorbehalten. 

Chicago,  3.  Mai  1893.  „  ,„ 

135  Dearborn  Avenue.  STEPHAN  WaETZOLDT. 


Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV^.  10 


Novitätenverzeichnis. 


Catalogue  cjeneral  de  la  librairie  fran^aise.  Continuation  de  l'ouvrage 
d'Otto  Lorenz.  T.  12.  (Periode  de  1886  ä  1890.)  Redige  par  D.  Jordell. 
4e  fascicule  :  Meynard-Zune.  In-8°  ä  2  col..  p.  721  ä  1052.  Paris, 
lib.    Per  Lam.  (1892.) 

Catalogue  general  des  mamiscrits  des  bibliotheques  publiques  de  France. 
Departements.  T.  22  :  Nantes.  Quimper.  Brest:  par  A.  Molinier.  In-8°, 
567  p.  Paris,  Plön.  Nourrit  et  Oe.  [Ministere  de  l'instruction  publique 
et  des  beaux-arts.].  —  T.  19  ;  Amiens,  par  E.  Coyec(iue.  In-8°.  C-619  p. 
Paris,  Plön.  Nourrit  et  Ce. 

Catalogue  general  des  manuscrits  des  bibliotheques  publiques  de  France. 
Paris.  Bibliotheque  Sainte-Genevieve ;  par  Ch.  Kohler.  T.  1er.  ln-8°, 
655  p.     Paris.  Plön,  Nourrit  et  Ce. 

Meyer,  P.,  Les  manuscrits  de  Bertrand  Boysset  ifini  [Romania  87 — 126]. 

Repertoire  general  de  bio-bibliographie  bretonne ;  par  Rene  Kerviler.  Avec 
le  concours  de  MM.  A.  Apuril.  ( 'h.  Berger.  A.  du  Bois  de  la  Villerabel, 
F.  du  Bois  Saint-SeM'in,  R.  de  L'Estourbeillon.  A.  Galibourg.  P.  Hemon. 
Fr.  Jegou.  Alb.  Mace.  etc.  Livre  premier  :  les  Bretons.  In-8°.  16 e  fas- 
cicule (Brev-Brous).  p.  321  ä  479.     Rennes,  Plihon  et  Herve. 

Schulze,  A.,  Di  roman.  Meerman-Hss.  des  Sir  Thomas  Philipps  in  der  Kgl. 
Bibl.  zu  Berlin.  IV,  28  S.  [In:  Verzeichniss  der  Meerman-Hss.  der  Kgl. 
Bibl.  zu  Berlin.     Berlin.    4".] 

Verzeichniss  der  Handschriften  im  Preussischen  Staate.  I.  Hannover. 
1.  (xöttingen.  1.  Universitäts-Bibliothek.  Philologie.  Literärgeschichte, 
Philosophie.   .Jurisprudenz,    gr.  8°.    (IX.  587  S.)  B.,  A.  Bath.     20  Mk. 


Angot,  A.     Histoire  de  Timprimerie  ä  Laval  jusqu'en  1789.    In-8°.  48  p. 

Laval,  imp.  Moreau.     [Extrait  du  Bulletin  historique  et  archeologique 

de  la  Mayenne.  12  e  serie,  t.  6.  1893]. 
Advielle   (V.) ,    Bauldrain    Dacquin ,    premier   imprimeur    de    la    province 

d'Artois.    In-8°,  15  p.  Abbeville.  imp.  du  Cabinet  historique  de  l'Artois 

et  de  la  Picardie. 


Memoires  de  le  Societe  Neo-  Philologique  ä  Helsingfors.  I.  Helsingfors, 
Waseniunska  Bokhandeln.  Paris.  H.  Welter.  1893.  412  S.  S".  Inhalt: 
Uno  Lindeloef.  Introduction.  Werner  Soederh.jelm.  Le  poeme 
de  Saint  Laurent  dans  le  ms.  Egerton  2710  du  3lusee  britannique. 
Werner  See  derb  je  Im.  Saint  Älartin  et  le  roman  de  la  Belle  Helene 
de  l'onstantinople.  Werner  Scederhielm.  Notice  et  extraits  d'un 
manuscrit  latin  -  frangais  du  XV «'  siecle ,  se  trouvant  en  Finlande. 
Annic  Edelfelt.    Liste    de   mots   tran^ais  emplo.yes   dans  la   langue 


A 


Novitätenverzeichnis.  147 

suedoise  avec  une  signification  detournee.  M.  Wasenius.  Liste  des 
manuels  de  trangals.  d'allemand  et  d'anglais  publies  par  des  auteurs 
finlandais  ou  paius  en  Finlande,  1600 — 1892.  Anna  Krook.  The 
English  Language  in  Finland.  F.  Gustafsson.  Das  Studium  der 
neueren  Sprachen  in  Finnland.  Axel  Wallenskceld.  Das  Verhältnis 
zwischen  den  deutschen  und  den  entsprechenden  lateinischen  Liedern 
in  den  „Carmina  Burana".  Edla  Freudenthal.  Gedanken  über  den 
neusprachlichen  Unterricht  in  Finnland.  Ivan  Uschakoff.  Zur  Er- 
klaerung  einiger  franzoesischen  Verbalformen.  Johannes  Oehquist. 
Über  einige  Schwankungen  im  deutschen  Sprachgebrauch.  \V:m 
Juutilainen.  Über  die  Lektüre  beim  modernsprachlichen  Unterricht. 
Uno  Lindeloef.  Beitraege  zur  Kenntnis  des  Altnorthumbrischen. 
Hanna  An  der  sin.  Lauttexte  u.  ihre  Verwertung  im  fremdsprach- 
lichen Unterricht.  AVerner  Soederhjelm.  Ueber  einige  Fälle  so- 
genannter formalen  Ausgleichung.  Max  Seiling.  Sveticismen  in  der 
deutschen  U^mgangssprache  in  Finnland.  Joos.  J.  Mikkola,  Etymo- 
logisches. 
Annuaire  de  VEcole  pratique  des  Hautes  Etudes ,  section  des  sciences 
historiques  et  philologiques.  Premiere  annee.  1893.  Paris.  E.  Bouillon. 
In-S". 


Cledat,  L.,  Phonetique  raisonnee  du  frangais  moderne.    [In:  ßev.  de  phil. 

frang.  et  proveng.  VI.  4.] 
Godefroy  (F.).    Dictionnaire  de  l'ancienne  langue  fran^aise.     72 e  fascicule. 

(Troche-Veintre.)    In-i«  ä  3  col.  (t.  8).  p.  81  ä  160.    Paris,  libr.  Bouillon. 
Guillaume  {P.J.     Le   Langage    d'Embrun  au  XV  e  siecle.     In-S**.  20  p. 

Montpellier,  impr.  Hamelin  freres. 
Hatz/eld  (A.J,  A.   Barmesteter,  A.    Thomas,   Dictionnaire  general  de  la 

langue  frangaise  du  commencement  du  XVII  "^  siecle  jusq'ä  nos  jours. 

Fascicules  9.  10.    In-S"  ä  2  col..  p.  625  ä  784.     Paris.  Delagrave. 
Koschwitz ,   E. ,    Les    parlers    parisiens.     Anthologie    phonetique.     Paris, 

H.  Welter.    1893.    XXII.  147  S.    4  fr.  50. 
Körting,  Gust.,  Formenlehre  der  französischen  Sprache.    1.  Bd.  Der  Formen- 
bau d.  französ.  Verbums  in  seiner  geschichtl.  Entwickelung.     Lex. -8". 

(LVI,  378  S.)    Paderborn.  F.  Schr.ningh.     8  Mk. 
Longnon   A. ,    Le   Nom    de    lieu    gaulois    ,Ewiranda'-.     In-8*^.    7   pages. 

Paris,  Leroux.  (1892.)  [Revue  archeologique.J 
Paris,  G.,  L'alteration  romane  du  c  latin.    [Annuaire  de   TEcoIe  praticjue 

des  hautes  etudes  1893.  S.  7—37.] 
Philipan,  P.,  Les  parlers  du  Forez  cis-Iigerien  aux  XIII«  et  XIV«  siecles. 

[Romania  XXII,  S.  1—44.] 
Sievers,  Ed.,  Grundzüge  der  Phonetik  zur  Einführung  in  das  Studium  der 

Lautlehre  der  indogermanischen  Sprachen.    4.  Aufl.    (XVI.  298  S.)  M.  5. 
Suchier,   Herm. ,   Altfranzösische  Grammatik.    I.  Thl.    Die  Schriftsprache. 

1.  Lfg.  Die  betonten  Vocale.    gr.  81".  (88  S.)    Halle  a.S.,  M.  Niemeyer. 

2  Mk. 


Villaud ,    I.  J.,    Systeme    metricjue    presente   dans    toute    sa    simplicitfe. 
In-8°  oblong.  2  p.  Bourges.  imp.  Tardy-Pigelet. 


Benjamin ,  E. ,  Les  Cent  Lettres  de  commerce  (frangais ,  espagnol  et 
anglais).    In-S"  oblong.  131  pages.    Ollendorff.    2  fr.    il892.i 

Brächet  A.  et  /.  Dussouchet ,  Exercices  sur  la  Grammaire  tran^aise 
complete    redigee    conform6ment    aux    programmes    de    l'enseignement 

10* 


148  Novitätenverzeichnis. 

secondaire  des  ieunes  filles,  de  renseignement  moderne  et  de  l'enseig- 
nement  primaire  superieur.  ln-16.  223  pages.  Paris.  Hachette  etCe. 
1  Fr.  8ü. 

Häusser,  Vroi.  E.,  Selbstunteirichtsbriefe  f.  die  modernen  .Sprachen,  unter 
Mitwirkg.  v.  Fachmännern  nach  eigener  Methode  bearb.  Italienisch. 
24  Br.     gr.  S».     (392  S.)     Karlsruhe,  J.  Bielefeld's  Verl. 

Henle,  Elise,  Wer  wUl  französisch  lernen?  Eine  Gabe  f.  unsere  Kleinen. 
Illustr.  V.  Pet.  Schnorr.     12".  (62  S.)  St.,  Schwabacher.     1,80. 

Krön,  Oberlehr.  Dr.  E.,  guide  epistolaire.  Anleitung  zum  Brief  schreiben. 
Im  Anschluss  an  die  Methode  Haensser  bearb.  iHaeusser,  P].,  Selbst- 
unterrichtsbriefe, Französisch.  1.  Suppl)  gr.  8°.  (20  S.)  Karlsruhe, 
.1.  Bielefeld's  Verl.     1,—. 

—  Lehrgang  der  französischen  Sprache  f.  die  ersten  Anfangsgründe  d. 
Unterrichts.  2.  Aufl.  gr.  8°.  (VIII,  168  Seiten)  B..  E.  S.  Mittler 
und  Sohn.     1,70. 

Lionnet,   B.  M,   Premier  cours  de  langue   fran^aise,  consideree  sous  le 

double  rapport  de  Texpression  orale  et  de  l'expression  fecrite.  In-12,  120  p. 

Robbe.  (1892). 
Ploetz,    Grast,    u.    Otto  Kares,   DD.,    kurzer    Lehrgang    der    französischen 

Sprache.     Uebungsbucli.     Verf.  v.  Dr.  Gust.  Ploetz.     Ausg.  B.   gr.   8**. 

iXIV,  281  S.)  B.,  F.  A.  Herbig.     2,—. 

—  Kurzer  Lehrgang  der  französischen  Sprache.  Uebungsbuch,  verf.  v. 
Dr.  Gust.  Ploetz.  III.  Hft.  (Syntax  des  Artikels,  d.  Adjektivs  u.  d.  Adverbs. 
(Die  Fürwörter.)     2.  Aufl.  gr.  8".  IV,   78  S.  B.,  F.  A.  Herbig.     —,80. 

Ricken,  Dr.  Wilh..  Grammatik  der  französisclien  Sprache  f.  deutsche 
Schulen,    gr.  8».     (X,  118  S.)     B.,  W.  (xronau.     1,20. 

—  le  tour  de  la  France  en  cinq  mois.  Nach  G.  Bruno's  ..Le  tour  de  la 
France  par  deux  enfants"  f.  d.  deutsche  Schuljugend  bearb.  gr.  8°. 
(III,  43  S.)     Ebd.     —,50. 

Schellhorn,  Dr.  0.,  das  Wichtigste  aus  der  französischen  Grammatik.  Zum 

Gebrauclie  beim  ITnterricht  u.  zur  Repetitiou  für  Examina  hrsg.    gr.  8°. 

(66  S.)     Jena,  F.  Mauke.     —.80. 
Strien,   Prof.    (lym)i.-Obcrlehr.  Dr.  G.,   Elementarbuch    der    französischen 

Sprache.      Ausg.    A:    Für    lateinlose    Schulen,      gr.    80.      {TV,   98    S.) 

Halle  a/S.,  E.  Strien.     1, — . 
Thiery ,    J.     Recueil    de    mots    et    famüles    de    mots    pnur    l'etude    de 

Torthographe  usuelle,  ä  Tusage  des  eleves   des  ecoles  primaires  (cours 

moyen  et  superieur).    2e  Mition,  revue  et  augmentee.    In-12,  108  pages. 

Lille,  Robbe.     (1892.) 


Ahlheim,  A.,  Die  Schriftstellerlektüre  der  Ober-Sekunda  nach  den  Grund- 
sätzen der  Konzentration.     I.  Theil.     Pr.     Bensheim.     23  S.     4°. 

Alge,  S.,  zur  Methodik  d.  französischen  Unterrichts.  Zugleich  ein  ausfühi-1. 
Kommentar  zu  d.  Verf.  "s  ..Leitfaden",  gr.  8°.  (III.  150  S.)  St.  Gallen. 
Huber  u.  Co.     2, — . 

Berg,  E.,  (bedanken  zu  einem  Gymnasial-Lehrplan.  Pr.' Oberlahnstein,  1892. 
24  S.     4". 

Flörke,  T.,  Das  Französische  als  Grundlage  des  fremdsprachlichen  Unter- 
richts.    Pr.     Hildesheim.     17  S.     4". 

Josupett,  0.,  Her  franziisische  T'nterricht  im  (Tvmnasium  nach  der  Schul- 
reform von  1892.  1.  Der  grammatische  Unterricht.  2.  Der  methodische 
Unterricht  in  Quarta.     Pr.     Rastenburg,  1893.     35  S.     8°. 

Kirschten,  W.,  Der  französische  Anfangsunterricht.  Eine  Lehrprobe.  Pr. 
Eisenberg.     23  S.     4». 


Novitätenverzeichnis,  149 

Knuth ,  (J. ,  Zum  Betriebe  des  französischen  Unterrichts  auf  (lymnasien 
(nach  den  neuen  Lehrplänen).     Pr.     Steglitz.     31  S.     4". 

Neel ,  Methode  Neel.  Lecture  en  commun  et  Legons  de  choses.  Edition 
en  huit  tableaux  (double  face.)  Tableaux  1  ä  8.  avec  grav.  Paris,  lib. 
Cohn  et  ('e. 

Eethivisch,  Conr.,  Deutschlands  höheres  .Schulwesen  im  19.  Jahrh.  Geschicht- 
licher Ueberblick  im  Auftrage  d.  königl.  preuss.  Ministeriums  der  geistl., 
Unterrichts-  u.  Medizinal-Angelegenheiten.  Mit  amtl.  Nachweisgn.  üb. 
den  Besuch  der  höheren  Lehranstalten  d.  Deutschen  Reiches,  gr.  8°. 
(VIII,  206  u.  53  8.)    Berlin,  K.  öaertner  1, — . 

Wolter,  Oberlehr.  Dr.  Eug. ,  zum  französischen  Unterricht.  Kritische 
Bemerkgn.  u.  prakt.  Erfahrgn.    Progr.  4".    (31  S.)    B.,  R.  Gaertner.    1, — . 

Zergiebel,  E.  H.,  Grammatik  und  natürliche  Spracherlernung.  Pr.  Cassel. 
19  S.  40. 

Amic,  H.      (teorge  8and.     Mes     Souvenirs;     Grand    in-16.     240   p.    avec 

gravures.     Paris,  C.  Levy.  3  Fr.  50. 
Anschütz,  B.     Boccaccios   Novelle    vom  Falken    und    ihre  Verbreitung   in 

der  Litteratur.  Nebst  Lope  de  Vega's  Komödie.    EI  Halcon  de  Federico. 

Erlangen,  Junge  (Münchener  Beiträge  zur  roman.  und  engl.  Philologie, 

Heft  13)  M.  2,—. 
Arbeliot,  Les  Benedictins  de  Saint -Maur  originaires  du  Limousin.     ln-8°. 

31  pages.     Paris,  Haton.     1892. 
Arnould,  L.     Anecdotes  inedites  sur  Malherbe.     Supplement  de  la  Vie  de 

Malherbe  par  Eacau.  publie  avec  une  introduction  et  des  notes  critiques. 

Tn-8«,  87  p.  Picard  et  fils. 
Belcze,  G.     Elements  de  litterature  mis  ä  la  portee   de  la  jeunesse,  avec 

questionnaires :   26^  edition.  In-32,  XII-378  p.  Paris.     Delalain  freres. 

1  Fr.  50.     (1892i.     [Cours  complet  d'enseignement  elementaire.] 
Beraneck,  J.     Didei'ot  et  la  reforme  ilu  theätre  au  dix-huitieme  siecle  (In : 

Bibliotheque  universelle  et  revue  suisse  1893,  1.). 
Berliic  Fernssis,  L.  de.   Le  dernier  Troubaire  (Eugene  Sej'mard).  In  8",  Ifi  p. 

Avignon.     ßüumanille. 
Borwann,    W.,   Der  Cid  im  Drama.     Beitrag  zur  vgl.  Literaturgeschichte 

und  Aesthetik.    (In:  Zs.  für  vergl.  Literaturgeschichte.    N.F.,VI.,  1.2.) 
Brandes,   G.,  die  Hauptströmungen  der  Litteratur  d.   19.  Jahrh.     Uebers. 

u.   eingeleitet   v.  Adf.  Strodtmann  u.  W.  Rudow.     4.  verm.  Aufl.     (In 

14  Lfgn.)     1.  Lfg.  gr.  8«.     (1.  Bd.  XVIII  u.  S.  1—80.)     L..  H.  Bars- 
dorf.    1,50. 
Bullrich,  Geo..  üb.  ( 'harles  dHJrleans  u.  die  ihm  zugeschriebene  englische 

Uebersetzung  seiner  Gedichte.    Progr.  4°.    (23  S.)    B.,  R.  Gaerner.  1, — . 
Carraroli,    La    leggenda    di    Alessan<lro    Magno.      Studio    storico-critico. 

Mondovi  1892. 
Carrier,  J.     La  Verite  histori(iue  sur  la  tonsure  de  Chateaubriand.     ^1-8", 

4  p.     Perigueux,  imp.  de  la  Dordogne.     (1892.) 
Carnei.     Histoire    de  la  litterature   fran^aisc   depuis  ses    origines  jusqu  a 

nos  jours  (complement  des  Etudes  sur  les  auteurs  frajicais);  2^  edition. 

In-18  Jesus,  x-ö44  pages.     Tours,   Cattier.     [Enseignement  sccondaire 

classique  et  moderne.] 
Champion,  E.     Voltaire.      Etudes    criti(iues.      (L'homme,    l'ecrivain,    le 

critique,  Diistorien,  le  courtisan,  Ic  patriote,  Voltaire  et  la  Revolution.) 

In-18  Jesus,   VIII-3U1   p.     Paris,  I^'lammarion. 
Chedieu  de  Eobethon,   E.     Chateaubriand    et  M'ne   <le  Custine.     Episodes 

et  Correspondance  inedite.     In-18  Jesus,  296  p.     Paris,   Plön,   Nourrit 

et  Ce.  3  fr.  50. 


160  NoviUttenverzeichnis. 

Chuquet,  A.     J.  J.  Rousseau,     ln-16,    207    pages    et,    portraiti      Paris, 

Hachette  et  Ce.  2  fr.     [Les  Grands  Ecrivains  frangais.] 
Collignon,  A.     Petrone  au   raoyen  äge   et   daiis    la   litterature    fran^aise. 

In-S",  51  p.     Nancy,  Berger-Levrault  et  O-.     [Extrait  des  Annales  de 

TEst.] 
Coppee,   F.     Discours    de   M.   Fran^.ois   Ooppee,    directeur    de    l'Academie 

frangaise,  prononce  au  Havre.  le  4  avril  1893,  ä  Tmcasion  du  centenaire 

de  Casimir  Delavigne.     In-i",  6  p.     Paris,  imprim.  Firmin-i)idot  et  Ce. 

I^Institut  de  France.] 
Droz,  E.    La  Critique  litteraire  et  la  science.     In-S",  31  j».    Paris,  Leroux. 
Emecke,  H.     Chrestien   von   Troyes  als  Persönlichkeit   und   als    Dichter. 

Versuch  einer  Charakteristik.     Diss.     Strassburg.     132  8.     8". 
Faguet,  E.     Dix-septieme   siecle.     Etudes   litteraires;   (Corneille,   Pascal, 

Meliere,    La  Rochefoucauld,    La  Fontaine,   Racine,  Roileau,    Bossuet, 

Mme  de  Sevigne,  Fenelon,  Mme  de  Maintenon,  La  ßruyere,  Saint-Simon.) 

llf  edition.      ln-18  Jesus,    VII-482   p.     Paris,   Lecene,   Öudin   et  C^. 

[Novelle  Bibliotheque  litteraire.] 
Feval,  P.  Nos  grands  auteurs.  In-18  Jesus,  362  p.  Paris,  Dentu.  1  fr.  (1892.) 
Fiat,  P.    Essais  sur  Balzac.     In-18  Jesus,  VlI-330  p.     Paris,  Plön,  Nourrit 

et  Ce.  3  fr.  50. 
Fontanie,  P.     Le   Sentiment   de   la   nature   chez   les   ecrivains    du   Bas- 

Quercy:   Cladel,   Pouvillon.     In-S",  31  pages.     Montauban,   imprimerie 

Forestie.     (1892.)     [Extrait   du   Recueil   de   TAcademie   des   sciences, 

belles-lettres  et  arts  de  Tarn-et-Garonne.] 
Franklin,  A.     La  Vie  privee  d'autrefois.     Arts  et  j\letiers,  ilodes,  Mceurs, 

Usages  des  Parisiens  du  XII^  au  XVII 1'-  siecle,  d'apres  des  documents 

originaux  ou  inedits.     „Le  Cafe,  le  The  et  le  Chocolat".     In-18  Jesus, 

XI-324  p.     Paris,  Plön,  Nourrit  et  Cp.     3  fr.  50. 
Fremy,  E.    Lamartine  diplomate  (1820-1830).    ln-8",  84  p.   Paris,  Leroux. 
Gaudot,  E.  G.     Rouget  de  Lisle  et  Thymne  national.     In-S",  17  p.  et  Por- 
trait.    Besangon,  imp.  .lacquin.     [Extrait  des  Annales   franc-comtoises 

(livraison  de  septembre-(icto1)re  1892).] 
Goncourt,  E.  de.     Les  Actrices   du  XVIIl  •■   siecle.     La  (iuimard,   dapres 

les  registres   des  Menüs  Plaisirs,   de   la  bibliotheque   de   TOpera.   etc. 

2**  mille.     In-18  Jesus.  11-335  p.  Paris,  Charpcnticr  et  Fasquelle.  3  fr.  50. 
Lanson,  G.     Boileau.     In-lfi.  207  p.  et  portrait.     Paris.  Hachette  et  ('p. 

2  fr.     (1892.)     [Les  Grands  Ecrivains  franrais.] 
Lepetit,  T.     Litterature  contemporaine.     Precis  classiciue  de  la  litterature 

frangaise  au  XVIJI*^  et  au  XIX^  siecle.  ä  l'usage  des  aspirants  et  des 

aspirantes    au    brevet   superieur   et    des   etablisscments    d'instruction. 

'i^  edition,   revue   et  corrigee.      In-12.    VII-377  p.      Paris.    Larousse. 

1  fr.  50. 
Lugrin,   maitre   Ernest,   histoire   de   la   litterature   frangaise   depuis   ses 

origines  jusqu'  ä  la  fin  du  XVIIIß  siecle.     gr.  8".     (VIL  352  S.i  Basel. 

B.  Schwabe.     3.60. 
Mangold,  Dr.  WUh.,  archivalisi  hc  Notizen  zui   Iranzi'isischon  Littcratur-  u. 

Kuiturgeschichte  d.  17.  .lahih.  Progr.  4".    i2ö  8.i    B..  B.  (iaertner.    1. — . 
Mühlan,    A.,    .lean    Chapelain    als    litterarischer    Kritiker      Diss.     Strass- 

burg  92.     30  S.     S". 
Nyrop,  Kr.,  En  Theaterforestilling  i  Mideldalderen.  Köbenhavn.    8°.    [Stu- 
dier fra  Sprog.  og  Oldtidsforskning.  Kr.  1. 
Paulhan  (F.),    .loseph  de  Jlaistre  et  sa  philosophie.     In-18.   167  p.    Paris. 

F.  Alcan.    [Bibliothe(|ue  de  philosophie  contemporaine.  |    2  ir.  50. 
Pellissier  (G.).     Essais  de  litterature  contemporaine.     In-18  Jesus.  399  p. 

Paris,  Lecene,  Oudin  etC«.  [Nouvelle  Bibliotheciue  litteraire.]  3  fr.  50. 


Novitätenverzeiclims.  151 

—  Le  Mouvement   litteraire   au  XIX e  siecle.    3e  edition.    In  16,  387  p. 

Paris,  Hachette  et  Ce.    [Bibliotheque  variee.]    3  fr.  50. 
Ricard.     Le  Grand  Siecle.     Mme  de   Sevisjue.     In-16.  226  pages.     Lyon, 

Vitte. 
Roä  (E.).     Lamartine.     In -8°.   235  pages  avec  gravures  et  2  portraits. 

Paris,  Lecene.  Oudin  et  C».    [C'ollection  des  classiques  populaires.] 
Sarrazin,   Prof.  Dr.  Jos.,   das   moderne  Drama   der  Franzosen   in   seinen 

Hauptvertretern.     Jlit  Textproben   aus  Dramen   von    Augier.   Dumas. 

Sardou  u.  Pailleron.    2.  i Titel-)  Aufl.   gr.  8°.    (VIIL  325  S.)   St.  1,1888). 

F.  Fromniann. 
Scliatzmann,   G.,   Die  wichtigsten   literarischen  und  ästhetischen  Ideen  in 

Boileaus  Episteln.     Pr.     Prag  1892.     25  S.     8". 
Söderhjehn,  W.,  Ueber  zwei  Guillaume  ('oquillart  zugeschriebene  Monologe 

[In:   Studien  zur  Literaturgeschichte.     Michael  Bernays  gewidmet  von 

Schülern  und  Freunden.     Hamburg  und  Leipzig.     Voss]. 
Sudre,  L.,  Les  sources  du  roman  de  Renart.     Paris.  Bouillon.     8".    12  fr. 
Taine,  U.,   die  Entstehung  des  modernen  Frankreich.     Autoris.  deutsche 

Bearbeitg.  v.  L.  Katscher.     2.    Aurt.    (In  26  Lfgn.i     1.    Llg.     Gr.  8°. 

(1  Bd.  S.  1—112.1     L..  Abel  &  Müller.     2.—. 
Teillei.     Yie  populaire   de   saint  Hilaire,  eveque  de  Poitiers,   docteur  de 

l'Eglise.  patron  principal  du  Poitou  et  de  vingt  paroisses  vendeennes. 

In-S".  44  pages.     Fontenay-le-Comte.  imp.  Gouraud. 
Tenot,  F.     Rabelais   et   sa   mission.      Etüde   en    vieux   fran(^ais.     In-16. 

88  pages.     Tours.  Pfericat  et  tous  les  libr. 
Thomas,  A.,  Les  premiers  vers   de  Charles  d'Orleans.     [Romania  XXII. 

128-133]. 

Benoit,  A.  Les  Anciennes  Inscriptions  des  abbayes  de  l'ordre  de  Premontrfe 
situees  dans  le  departement  des  Vosges.  In-8°,  39  p.  Saint-Die,  imp. 
Humbert.  [Extrait  du  Bulletin  de  la  Societe  philomathique  vosgienne 
(annee  1892—93).] 

Andreae  Capellani  regii  Francorum  de  amore  libri  tres.  Recensuit 
E.  Trojel.     Havniae,  Gad,  1892.     In-12o,  LVI,  370  S. 

Cucharmoys,  Jehane.  Le  sainct  voyage  de  Hierusalem,  ou  petit  traicte 
du  voyage  de  Hierusalem,  de  Rome  et  de  sainct  Nicolas  du  Bar  en 
Pouille,  reproduit  par  le  procede  Pilinski,  d'apres  l'edition  de  Lyon, 
pour  la  Societe  de  l'ürient  latin,  et  precede  d'un  introduction  par  le 
comte  de  jMarsy,  Geneve,  impr.  .1.  G.  Fick.     (1889.) 

Denys  Pyramus.  La  Vie  de  saint  Edmond  le  rei.  [In:  Memorials  of 
St.  Edmunds  abbey,  editet  by  Th.  Arnold,  vol.  II,  1892.  [Rerum 
Britannicarum  medii  aevi  scriptores.] 

Guilhiennoz,  F.,  Une  charte  de  Gace  Brule.     [R(maania  XXII.,  127  f.] 

Jeanroy,  A.,  Trois  dits  d'amour  du  XIIP  siecle.  [Romania  XXII, 
S.  45— 70.J 

Maugis  d'Aigreuwnt.  Chanson  de  geste.  Hersggcb.  von  F.  Castets. 
416  S.  8°.     [Revue  des  langues  romanes,  t.  XXX\1.] 

Pseudo-Callisthenes ,  die  syrische  Uebersetzung  des.  Ins  Deutsche  über- 
tragen von  V.  Rvssel.  [Im  Arcli.  f.  d.  Stu<l.  der  neueren  Spr.  u.  Lit. 
XC,  1,  2.  3.] 

Boileau.  Le  Lutrin.  Publie  avec  une  notice  et  des  notes  par  Ferdinand 
Brunetiere.  Petit  in-16,  51  p.  Paris,  Hachette  et  Ce.  30  ceut.  [Classi- 
ques fraugais.] 

Bossuet.     Sermuns   choisis   de  Bossuet.     Nouvelle  edition.   soigueusement 


152  Nomtätenverzeiehnis. 

revue  d'apres  les  meilleurs  textes  et  precedee  d'une  pieface  par  l'abbe 

Maurj'.     In-18  Jesus,  540  p      Paris,  Garnier  freres. 
Brantöme.     Memciivs  oi  Brantome.     (Ißtl'  Century.)    Lives  of  gallant  ladies. 

Für  the  first  time  translated    t'rom   the  french.     üiscourse   3:    On   the 

beauty   ol'   the   beauteuus   leg   and   the   virtue   thereof.     In-16,   24  p. 

Paris,  Liseux.  5  fr. 
Buffon.     Discours  sur  le  style;  Etüde  de  Thistoire  naturelle:  les  Epoques 

de  la  nature.     T.  1er.     in-32,  184  p.    Paris,  Berthier.  25  cent.    [Biblio- 

thei^ue  nationale.] 
Clmteauhnand.     Atala;   Rene:   les   Natchez.      In-16,    543   pages.      Paris, 

Hachette  et  Ce.  3  tr.  50. 

—  Genie  du  chrisiianisme.  In  4°,  VIII-358  pages  avec  gravure.  Tours, 
Cattier. 

Corneille,  P.     Le  Cid,    tragedie;    Edition  classique,    avec   introduction    et 

notes  par  N.  A.  Dubois.     In-18,  Vni-88  pages.     Paris,  Delalain  freres. 

40  cent.     (1892.) 
Feuillet,  0.     Theätre  complet.     T.  3.     (La  Belle  au  bois  dorniant :  le  Cas 

de    conscience;    Julie;    Dalila;    l'Acrobate.)     In-18    Jesus,    397    pages. 

Paris,  C.  Levy;   Libr.  nouvelle.     3  fr.  50.     (1892.)     [Bibliotheque  con- 

temporaine.J 
Froger,  L.     Les  Premieres  Poesies   de  Ronsard  (ödes  et  sonnets).    In-S", 

113  p.  Mamers,  Fleury  et  Dangin.     (1892.) 
Hugo,   V.     (Euvres  completes.     Edition   definitive,   d'apres  les  manuscrits 

originaux.     Victor  Hugo   raconte    par  ün  temoin   de   sa   vie   (1802 — 

1817).     (Euvres  de  la  premiere  jeunesse.     In-16,   243  p.  Paris,  Hetzel 

et  C«.  2  fr. 

—  (Euvres  completes.  Edition  nationale.  Illustrations  d'apres  les  dessins 
originaux  de  nos  grands  maitres.  II,  III,  lA",  Y:  Drame.  V:  Torque- 
mada;  Aniy  Robsart:  les  Jumeaux.  Fascicules  n^s  22,  23,  24,  25. 
4  vol.  Petit  in-4°,  p.  113  ä  456.     Paris,  imprimerie  Chamerot. 

La  Fontaine,  J.  de.  (Euvres  de  J.  de  La  Fontaine.  Nouvelle  editiou. 
revue  sur  les  plus  anciennes  impressions  et  les  autographes.  et  aug- 
mentee  de  variante.s,  de  notices,  de  notes.  d'un  lexique  des  mots  et 
locutions  remarquables.  de  portraits  de  fac-similes.  etc..  par  M.  Henri 
Regnier.  T.  10  et  11.  Lexique  de  la  langue  de  .T.  de  La  Fontaine, 
avec  une  introduction  grammatieale  par  M.  Henri  Regnier.  2  vol. 
In-S".  T.  ler,  OLXVO-508  p. :  t.  2.  471  p.  Paris.  Hachette  et  L'e. 
Chaque  tome,  7  fr.  50     [Les  Grands  Fcrivains  de  la  France.] 

—  L'Amour  et  Psyche.  Illustrations  de  ;\laruld.  ln-32.  262  pages. 
Paris.  Dentu.  2  francs.     [Petite  (.'ollectiou  Guillaume.] 

—  Contes  et  Mouvelles.  T.  ler.  ln-32.  126  p.  Paris.  Boulanger.  60  cent. 
[Petite  Bibliothciiue  dianiant.  | 

Mazarin.  Lettres  du  cardinal  Mazarin .  extraites  des  mauusciits  de  la 
bibliotheque  de  Grenoble.  Pnbliees  par  A.  Pru(rh<inime.  ln-8°,  7  p. 
(jrenoble.     [Extrait  du  Bulletin  de  TAcadenüe  delphiuale  (4^'  serie,  t.  5). 

Moliere.  Aiuphitryon.  comedie  en  trois  aetes.  Avec  une  notiee  et  des 
notes  par  Georges  Monval.  Dessin  de  L.  Leloir,  grave  ä  l'eau-forte 
par  Chanipollion.     In-16.  Xl-117  p.     Paris.  Flannnarion.     ('/  francs. 

—  Les  Precieuses  ridicules.  couiedie  de  Moliere.  Nouvelle  edition.  con- 
forme  ä,  l'edition  originale  de  1660.  avec  une  introduction  et  des  notes 
grannnaticales .  litteraires  et  histori(|Ues.  par  P.  Jacquinet  et  Kniile 
Boully.     In-12.  XX1I1-8Ü  p.     Paris,  Belin  freres. 

—  (Euvres  de  Moliere.  „L'Avare.'"  Illustrations  par  Maurice  Leloir. 
Notices  par  A.  de  Montaiglon.  ln-4**.  Xl-174  pages.  Pari;«.  Testard. 
(1892.) 


Novitätenver^eichnis.  153 

Moliere.  Le  Misanthrope .  comedie.  Edition  classique.  avec  introduction 
et  notes  par  N.  A.  Dubois.  In-18.  11-82  p.  Paris.  Delalain  freies. 
40  Centimes. 

—  (Euvres  corapletes  de  Moliere.  T.  l^i'.  (L'Etourdi;  le  Depit  arnonreux; 
les  Pr6cieuses  ridicules.)  illustrations  de  Louis-Edouard  F'ournier. 
In-32.  IV-318  pages.     Paris.  Dentu.  2  fr. 

Montaigne,  Michel  de.  The  Essays  of.  Transl.  by  Charles  Cotton.  Edit., 
with  some  Recount  of  the  Life  of  the  Author.  and  Notes,  by  W.  Carew 
Hazlitt.  2  ed..  Revised.  3  vols.  Portrait.  8°.  London.  Cf.  Bell  and 
Sons. 

Pascal,  B.  (Euvres  completes.  T.  2.  ln-16.  336  pages.  Paris,  Hachette 
et  Ce.     1  fr.  25.     (1892.)     [Les  Principaux  Ecrivains  frani^ais.J 

Racine,  J.  Berenice;  Bajazet  (tragedies i.  In-32.  Ih9  p.  Paris.  Berthier. 
25  Cent.     [Bibliotheque  nationale.] 

—  Esther;  Athalie  (tragedies).  In-32.  ino  p.  Paris.  Berthier.  25  cent. 
[Bibliotheque  nationale.] 

—  Phedre;  Britannicus  (tragedies).  In-32,  IfiO  p.  Paris.  Berthier. 
25  cent.     [Bibliotheque  nationale.] 

—  Theätre  choisi.  Avec  une  notice  biographique  et  litteraire  et  des  notes 
par  E.  Üeruzez.  In-16.  XL-683  p.  Paris.  Hachette  et  O.  2  fr.  50. 
(1892.) 

Sevigne,  M'^e  de.     Lettres  choisies.   In-32,  192  p.   Paris.  Berthier.    25  cent. 

[Bibliotheque  nationale.] 
Voltaire.     Siecle    de  Louis   XIV.     Ohapitre   des   beaux-arts,  publie,    avec 

une  introduction  et  des  notes  par  Emile  Bourgeois.    In-16,  XXXIX-27  p. 

Paris,  Hachette  et  Oe.     1  fr. 
Zola,  E.     La  Debäcle.     Edition    illustree.     Series    1    et   2.     In -4°,    pages 

1  ä  80.     Paris.  Flammarion.     50  cent.  la  serie. 

—  Le  Reve.  Illustrations  de  C'arloz  Schwabe  et  L.  Metivet.  Series  5 
ä  11.  (Ein.)  ^1-4",  p  129  ä  335.  Paris.  Flammari(m.  L'ouvrage  a 
ete  publie  en  onze  series  ä  50  cent. 

—  Der  naturalistische  Roman  in  Frankreich.  Autoris.  deutsche  Ueber- 
setzg.  v.  Leo  Berg.  8".  iX.  484  S.)  Stuttgart.  Deutsche  Verlags- 
Austalt.     geb.  5. — . 

Abrantes,  ilfme  d'  choix  de  memoires  et  ecrits  des  femmes  fran^aises 
aux  XVri«,  XVIIIf  et  XlXe  siecles,  avec  leurs  biographies:  par  .M'"« 
Carette.  nee  Bouvet.  ..Memoires  de  M^i^"  la  duchesse  d' Abrantes." 
In-16.  XVIII-379  pages.  Paris.  <lllend(.rf.  3  fr.  50.  [CoUection  pour 
les  jeunes  rilles.] 

Aiq,  Jfme  L.  d'.  Anthologie  feminine.  Anthologie  des  femmes  ecrivains. 
poetes  et  prosateurs,  depuis  Torigine  de  la  langue  fraui^aise  jus(]u'ä 
nos  jours.  In-16,  x-418  pages.  Paris,  aux  bureaux  des  l'auseries 
t'amilieres.  4.  rue  Lord  Byron.     6  fi'. 

Chansomiier  (le)  fraii<;ais,  contenant  un  choix  des  plus  jolies  chansous  des 
auteurs  du  bon  vieux  temps:  Piron.  Oolle,  Gallet,  Dorat.  Lattaignant. 
Panard.  etc.     Petit  in-18.  108  pages.     Paris.  Delarue. 

Cuentos  escogidos  de  los  mejores  autores  franceses  contemporäneos.  (Emire 
Zola.  A.  Daudet.  A.  Dumas  tils.  P.  Margueritte.  .1.  Lemaitre.  A.  Sil- 
vcstre,  M.  Prevost.  A.  Scholl.  .1.  Richepin,  etc.)  Traduccion  espanola, 
con  prefacio  y  noticias  literarias,  de  Enrique  (römez  Carrillo.  In-18 
Jesus,  VIIl-340  p.     Paris.  Garnier  hermanos. 


1 54  Novitätenverzeielmis. 

Auteurs  fran^ais.  Sanimluiig  der  besten  Werke  der  Iranzüs.  Unterhaltungs- 
litteratur  m.  deutschen  Anmerkgn..  hrsg.  v.  Rieh.  Molhveide.  V.  Bdchn. 
8".  Strassburg  i/E..  Strassburger  Druckerei  n.  Verlagsanstalt:  Cur- 
neille.  le  Cid.     (XL.  100  S.)     n.   1.—. 

Belese,  G.  Syllabaire  et  Premieres  lectures.  45^  edition.  In-18.  204  p. 
Paris.  Delalain  freres.     75  cent.     [Petit  Cours  d'enseignement  primaire.] 

—  Petit  Syllabaire  ä  l'usage  des  ecoles  priniaires.  Nouvelle  edition.  In-18, 
;{4  p.     Paris.  Delalain  i'reres.     15  cent. 

Bibliotheque  iran^:aise.  Collection  Friedberg  &  Mode.  Nr.  25.  8°.  B.. 
Friedberg  &  JMude.  25.  Waterloo.  suite  d'Un  Consent  de  1813  par 
Erkmann -Chatrian.  Hrsg.  u.  erläutert,  v.  Gewerbesch.  -  Oberlehrer 
H.  W.  aiabbach.  ilit  1  Karte  n.  1  Plan  v.  Pialzburg.  (VIII.  152  S.) 
Geb.  1.20:  Wörterbuch  dazu  (22  S.)  —.20. 

Chahtmet,  A.,  et  Bateühes.  Jean  Felber.  Lectures  courantes.  Edition 
speciale  au  departement  de  la  Loire.  Avec  la  collaboration  de 
M.  Bareilhes.  In-18  je  sus,  444  p.  avec  grav.  et  carte  en  coul.  Paris, 
Picard  et  Kaan.     1   fr.   (50. 

David-Sauvageol ,  A.  Morceaux  choisies  des  olassiques  trangais.  reunis  et 
annutes.  „Olasse  de  cin(|uieme. "  In-16.  III-818  p.  Paris.  Lemerre: 
Colin  et  Ce. 

Hartmunn's,  Mart.,  Schulausgaben.  Nr.  15.  8°.  L..  E.  A.  Seemann. 
15.  Eugene  Scribe.  le  verre  d'eau  ou  les  effets  et  les  causes.  Comedie. 
Mit  Einleitg.,  Anmerkgn.,  u.  e.  Anh.  hrsg.  v.  K.  A.  Mart.  Hartmanu. 
(XVI,  113  u.  24  8.)  kart.  1.—. 

Lelarge  et  Trevet.  Piecueil  de  morceaux  de  recitation,  avec  notices  bio- 
graphiques.  k  l'usage  des  candidats  au  certificat  d'etudes  primaii'es. 
Petit  in-18,  K4  pages.     Rennes.  Priaux-Goudal. 

Löhbach,  Herrn.,  Iranzösische  u.  englische  Gedichte  zum  Auswendig- 
lernen. Für  höhere  ]\lädchenschulen  zusammengestellt.  8**.  i52  S. i 
31.  Gladbach,  L.  Boltze. 

Prosuteurs  liauc^ais.  Ausg.  A.  m.  Anmerkgn.  zum  Schulgebrauch  unter 
dem  Text;  Ausg.  B.  m.  Anmerkgn.  in  e.  Anh.  5..  7..  19..  56.,  57..  68.. 
75..  70..  82..  87..  91.— 93.  Lfg.  '  12".  Bielefeld.  Velhagen  &  Klasing. 
5.  Histoire  de  la  seconde  guerre  puni(iue  par  Charles  Ridlin.  Nebst 
e.  Anh. :  Suite  de  Ihistoire  d'Annibal.  Hrsg.  v.  Dir.  Prot.  Dr.  K.  Randow. 
Ausg.  B.  (2.  Abdr.)  (98  u.  32  S.i  —  60.  —  7.  La  jeune  Siberienne. 
Par  le  Comte  Xavier  «le  Maistre.  Hrsg.  v.  Schulinsp.  Frdr.  d'Hargues 
(2.  Abdr.)  i9()  S.i  —  50.  —  19.  Un  philosophe  sous  les  toits  ou 
Journal  d'un  homme  heureux,  public  par  tilmile  Souvestre.  Hrsg.  v. 
Dir.  E.  Schmid.  Ausg.  A.  (2.  Abdr.i  (237  S.)  1.  20.  —  56.  3  Er- 
zählungen aus  Nouvelles  genevoises.  (Le  lac  de  Gers.  Le  col  d'Anterne. 
Le  Grand  Saint-Bernard.)  Par  Rodolphe  'Pöpffer.  Hrsg.  v.  Dir.  Prot. 
Dr.  K.  Randow.     (Ncmvelles   genevoises  IL  Tl.)    (2.  Abdr.i    (VII.  104  S.) 

—  60.  —  57.  2  Erzählungen  aus  Nouvelles  genevoises.  (La  vallet  de 
Trieut.  La  peur.)  Par  Kodtdphe  Töpiffer.  Hrsü.  v.  Dir.  Prof.  Dr.  K.  Bandow. 
(Nouvelles  genevoises  111.  Tl.)  (2.  Abdr.)'  (Vil.  73  S.)  n.  —  50.  — 
68.  Histoire  de  Charles  XII  par  V'(dtaire.  Auszug  in  1  Bde.  Hrsg. 
V.  Dir.  Prof.    Dr.  Otto   Ritter.      Ausg.  A.    1 184  S.' m.    1  färb.   Karte.) 

—  90.  —  75.  De  lAllemagne  par  Mme.  de  Stael.  Im  Auszuge  hrsg. 
Y^  Gymn. -Oberlehr.   Dr.  Gerh.  Franz.      Ausg.  A.  (VI,    190  S.)  n.  1, — . 

—  76.  Histoire  de  France  par  Vict.  Duruy.  1.  Bdchn.  (bis  zum  .1.  1431). 
In  Auszügen  hrsg.  v.  Oberlehr.  Dr.  KmiH^rube.  Ausg.  A.  (VI.  134  S.i 
— ,75.  —  82.  Jeunesse  de  Frederic  le  Grand  par  Paganel.  Im  Aus- 
zuge hrsg.  V.  Gymn. -Oberlehr.  Dr.  Gerh.  Franz.  Ausg.  B.  (IV.  62  u. 
19  S.    u.    — ,50.   —  87.     Choix  de  nouvelles  modernes.     Erzählungen 


Novitätenverzeichnis.  155 

zeitgenöss.  f ranzös.  Sehriftsteller.  Ausgewält  u.  hrsg.  v.  Dir.  Dr.  J.  Wych- 
graiii.  II.  Bdchn. :  Daudet.  Theuriet.  Legouve.  Ausg.  B.  (105  u. 
22  S.)  — ,60.  —  91.  Recneil  de  contes  et  recits  pour  la  jeunesse. 
II.  Bdchn.  Michel  Perrin,  par  Mme.  de  Bavvr.  T^e  Savoyard  et  son  ami, 
par  .1.  Girardin.  La  rente  du  chapeau,  par  Berquin.  La  tante  Dorothee. 
par  J.  Girardin.  Cendrillon.  par  Perrault.  Zum  Gebrauch  in  Mittel- 
klassen hrsg.  V.  Emil  Tournier.  (IV,  74  8.)  —.HO.  —  92.  Dasselbe. 
in.  Bdchn.  Le  petit  Marquis.  parMme.  de  Pressense.  L'abbe  de  Tfipee. 
par  Mme.  Foa.  I/Eglise  du  verre  d'eau.  par  ßerthoud.  La  Barlje-Bleue. 
par  Perrault.  Zum  Gebrauch  in  Mittelklassen  hrsg.  v.  Emil  Tournier. 
(IV.  86  S.)  —.60.  —  93.  Dasselbe.  lA^  Bdchu.  Le  petit  mathematicien. 
par  J.  B.  Pean.  La  belle  et  la  bete.  Histoire  d'une  piece  d'or.  par 
Mme.  la  Comtesse  de  Lucy.  Cecile  et  Nanette.  ou  la  voiture  versee. 
par  Mme.  la  (  omtesse  de  Lucy.  ( 'ecile  et  Nanette,  ou  la  voiture 
versee.  par  Mme.  Guizot.  Zum  Gebrauch  in  Mittelklassen  hrsg.  v. 
Lehr.  Dr.  Walther  Wüllenweber.     (IV.  129  S.)  —,60. 

Prosateurs  franqais.  95.  Lfg.  12".  Bielefeld,  Velhagen  &  Klasing.  Kart. 
95.  Choix  de  nouvelles  modernes.  Erzählungen  zeitgenöss.  französ. 
Schriftsteller.  Mit  Anmei-kg)!.  zum  Sehulgebrauch  hrsg.  v.  Dir. 
Dr.  J.  Wychgram.  III.  Bdchn.:  About.  Collas.  l'oppee.  Feval. 
Gourdon  de  Genouillac.  Mueller,  Revillon.  Richebourg.  (111  und 
24  S.)  —,60. 

Prosateurs  modernes.  II.  Bd.  12".  Wolfenbüttel.  .1.  Zwissler.  II.  Choix 
des  meilleurs  contes  ä  ma  Alle  par  J.  N.  Bouilly.  Bearb.  v.  H.  Bret- 
schneider.  (III,  110  und  Wörterbuch  35  S.)  —,75;  Wörterbuch  —,90; 
kart.  m.  Wörterbuch  1, — . 

Racine,  J.  Iphigenie,  tragedie  en  ciu(i  actes.  Edition  nouvellc.  k  I'usage 
des  classes,  par  N.  M.  Bernardin.  6^  edition.  In- 18,  143  p.  Paris, 
Delagrave. 

Ricken,  Dr.  W..  la  France.  Le  pays  et  son  peuple.  Recits  et  tal)leaux 
du  passe  et  du  present.  Livre  de  lecture  ä  lusage  des  ecoles.  gr.  8". 
(VI,  281  8.)  B..  W.  Gronau.  3,—. 

Schulbibliothek,  französische  u.  englische.  Hrsg.  v.  Otto  E.  A.  Dickmaun. 
Reihe  A. :  Prosa.  67—69  Bd.  8".  L..  Ilenger.  67.  Ausgewählte  Er- 
zählungen V.  FvanQois  Coppee.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  v. 
A.  Gundlach.  (VII.  88  8.)  1,—.  —  68.  Christophe  Colomb  v.  Jules 
Verne.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  v.  Otto  Mielck.  (VIII,  82  8. 
m.  1  Karte.)  1.  -.  —  69.  Conteurs  modernes.  Ausgewählte  Erzählgn. 
V.  Simon,  Theuriet.  Moret,  Revillon.  Richebourg.  Für  den  Sehulgebrauch 
erklärt  v.  Jos.  Vict.  Sarrazin.     (VII.  92  S.)  —,90. 

—  dasselbe.  Reihe  B. :  Poesie.  20— 23.  Bd.  8".  Ebd.  20.  Le  Ix.urgeois 
gentilhomme  par  Moliere.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von  ^\■.  Man- 
gold. (XX.  88  S.)  1,20.  —  21.  Horace.  Tragedie  par  Corneille.  Für 
den  Schulgebrauch  erklärt  v.  Paul  Schmid.  (XXX.  65  8.)  1.10.  22. 
Le  gendre  de  Monsieur  Poirier.  Comedie  par  Emile  Augier  et  .Uücs 
Sandeau.  Für  den  Schulgol)rauch  erkliirt  v.  .'os.  A'ict.  Sarrazin.  (Mll, 
90  S.)  1,10.  —  23.  Ma<lem(iiselle  de  la  Seigliere.  Comedie  par  .lules 
Sandeau.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  v.  .los.  Vict.  Sarrazin. 
(IX.  112  S.)     1.20. 

Smith,  L.  Guide  to  english  and  french  conversation.  for  the  usc  of  tra- 
vellers  and  students.     In-32.  366  p.  Paris.  Fonrant. 

Stiehler,  Ernst,  Auswahl  franziisischer  Gedichte  f.  hi>bere  Lehranstalten. 
8".     (XII,   140  S.)     Altenlmrg,  11.  A.  Pierer.     1.75. 

Textausgaben  franziisischer  u.  englischer  Schriftsteller  f.  den  Sehulgebrauch, 
hrsg.  v.  Osk.  Schmager.     14  u.    15.  Bd.  12".     Dresden,   G.  Kühtmann. 


156  Nomtätenverjzeichnis. 

14.  Pofesies  fran^aises,  recueillies   ä  Fiisage  des  ecoles    allemandes  par 

Realsch.-Prof.    Dr.  Jos.    Vict.  Sarrazin.      (VIII.    122  S.    n.  1,-.     15. 

Guerre  de  la  succession  d'Espagne  par  Voltaire.     Hrsg.  v.  Prof.  Gymn.- 

Oberlehrer  Dr.  (I.  Strien.     (X.  Uü  S.)  n.  1.-  . 
T/ders',  L.   A.    Expedition  der  Franzosen  nach  Ägypten  17i)8  -18U1.    Für 

die    oberen  Klassen    höherer  Schulen    hrsg.    u.  m.     histor..    geograph.. 

sachl.  u.  grammat.  Anmerkgn.  versehen  v.  i)r.  (  hr.  Joh.  Deter.     gr.  8°. 

(VIII,  löi  S.)     Gr.  iJchterfelde.     B.,  M.  Rockenstein   in  Komm.    1,20. 
Waldmami,  Studienlelir.  Dr.  Mich.,  die  wichtigsten  Iranzösischen  Synonyma 

zum  Gebrauche  t.  Schüler  höherer  Lehranstalten,     gr.  8".     (R'.  154  S.) 

Bamberg,  C.  C.  Buchner,  Verl.    Kart.  2,—. 


riat,  ]j.,  1  )ictionnaire  frangals-occitanien ,  donnant  lequivalent  des  mots 
franijais  dans  tous  les  dialectes  de  la  langue  d'oc  moderne.  I.  A-H. 
Montpellier,  Hamelin  Freres  189a.     492  S.  8". 

Timmermans,  Ä.  -  L'Argot  parisien,  etude  detymologic  comparee,  suivie 
du  vocabulaire.     In-8°,  XII-322  p.  Paris,  ('.  Klinksicck.     (1892.) 


Anfos  Martin,     La    Revoulucioun    charradisso    au   cieucle    republican    de 

Mouriero,    lou    14  de    julict    1892.      (Traducioun    franceso    vis-ä-vis.) 

In-80,  80  p.  Cavaillon,  Mistral.     (1892.) 
Armana  viarsih'es  per  l'annado   1893.      (ö.    annado.)      Recuci    de    conte, 

charadisso,  cansoun  e  galejado.     Armana    dei  troubaire  marsihes,   eme 

d'imagi,  de  rausico  e  uno  carto  dei  vent,  publica  souto  la  direicien  de 

Aguste  Marin.     ln-8°  carre,    9H  p.  Marsiho,    empremarie    dou  Pichoun 

Marsihes;  15.  (juei  dou  (anau. 
Armanac  patou'es   de  la  Bigorru.     Annado    1893.     ln-18.    48   p.   Tarbes. 

inip.  Lescamela. 
Blum,  V.     l'n  amonr  original,  chanson  nouvelle  cii  patois  de  Lille.     In-4" 

ä  2  cid..  1  p.  Lille,  imp.  W'ilmot-Cuurtecuisse. 
Carnaud,  A.     Lou  .Injamen.  la  Coundanatien  et  la  Mouar  de  Caramantran. 

melodrame  burlestine  en  un  acte  et  en  vers.  paroles  et  muskiue.     Petit 

in-S".   7   p.   de   te.\te  et   4   p.   de  ninsüiue.     Marseille.   Carnaud.     l  fr. 

(1892). 
CeVes,  J.    (.'hansons  lyonnaises.    In-S".  8  p.    liy(»n.  Iniprim.  nouvelle.    (I892i. 
Chanson,  la,  du  vieux  Lille,     ln-18.  4  i)ages.     Lille,  imp.  Prevost. 
Cluutsons  jiopidaires  du  pays  deVannen.     Conversion   de  ^Nlario-Madeleine. 

Recueilli  et  traduit  par  .1 .  M.  Cadic.     In-S".  7  p.     Vannes.  imp.  Lafolye. 
Extraits  des  oeuvres  patoises  de   (rois   ecrivains   castrais:   Ion    Scrmou    de 

3I0USSU  Plaenzolos;  Ions  Caoulets  farcits  de   Daubian-I'elisle;   la  Foun 

de  vSiloe  par  Alibert.     in-S",  4H  p.     l'astres.  imp.  Abeilhou. 
Lecomte,  E.    Eunn"  liete  au  villache.  chanson  nouvelle  en  jiatois  de  Lille. 

ln-4°  ä  2  col..  1  page.     Lille,  imprimerie  Liegeois-Six. 
—  Eunn'   petite   cabarctiere.   chansim  nouvelle  en  patois  de  Lille.     In -4'' 

ä  2  col..  1  page.     Lille.   Liegeois-Six. 
Lou  Franc  Proucenrau.    Armaiia  ile  la  Trouven^o  per  1893.    E'eshuechiemo 

annado.     ln-18.   144  p.     Dragnignan.     Latil.     50  ccnt. 
Li/re,  la,  chanson  en  patois  de  Roubaix.     In-4''  ä  2  cid..   1   p.   Lille,  iinp. 

Delory. 
iYojeosse.     La   Guerre   aux   petits   tonneaux.   chaiiücn    en   patois  de  Lille 

In  4"  ä  2  col..  1.  p.  avec  vign.     Lille,  imp.  Robbe. 
OuH    Tal.     Proubem  da  Rioura:    la  l-'ira  da  san  Marti;  Abarici.     Sagoune 

ediciou.     In-S";  24  p.     l'erpignan,  imp.  Latrobe. 


Referate  und  Rezensionen. 


Lloyd,  R.  J.,   Some  Besearclies   into   the  Nature   of   Voivel-Sound. 

Liverpool  1890. 
—  —  Speech  Sounds:  their  Nature  and  Causafion.     In:  Phonetische 

Studien  1890-1892,  Bd.  III— V  (Nicht  abgeschlossen). 

Kein  Freund  der  Sprachforschung  kann  diese  Arbeiten  Lloyds 
unberücksichtigt  lassen.  Einige  von  den  darin  ausgesprochenen 
allgemeinen  Principien  sind  meiner  Ansicht  nach  von  so  grosser 
Bedeutung  für  die  weitere  Entwickelung  der  Sprachwissenschaft,  dass 
ich  keine  Gelegenheit,  dem  Verfasser  Beifall  zu  spenden,  versäumen 
will.  Andererseits  halte  ich  Lloyd's  Behandlung  der  akustischen  Er- 
scheinungen bei  den  Vokalen  für  verfehlt,  und  es  ist  zu  befürchten, 
dass  mit  den  kerngesunden  und  trefflich  dargestellten  Grund- 
anschauungen auch  seine  ii-rigen  Ansichten  auf  dem  Gebiete  der 
Akustik  grosse  Verbreitung  rinden  werden,  wenn  der  Leserkreis  nicht 
rechtzeitig  gewarnt  wird. 

Über  das  Phänomen  des  Mitschwingens  und  die  Ee- 
sonanztöne  der  Hohlkörper.  Fast  auf  jeder  Seite  der  Lloyd'- 
schen  Arbeiten  werden  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  des  Mit- 
schwingens behandelt,  und  doch  hat  Lloyd  die  bezüglichen  Gesetze 
nicht  korrekt  dargestellt  und  —  was  schlimmer  ist  —  auch  selbst 
raissverstanden.  Phon.  Stud.  III  3  S.  261  lesen  wir:  „Every  cavity 
has  —  —  —  a  proper  tone  of  Us  own  to  which  and  to  its  appro- 
priate  overtones  it  is  always  ready  to  resound.  —  —  —  Änd  if  the 
cavity  in  question  is  distinguished  by  any  eccentricity  of  shape  it  is 
often  found  to  possess  niore  than  one  proper  tone,  to  each  of  ivhich 
and  to  ilieir  overtones  it  is  always  ready  to  respond".  Daselbst, 
S.  272 — 3  wird  gesagt:  „Every  cavity  is  always  ready  to  respond  to 
other  tones  which  are  very  nearly  of  the  required  pitch  or  whose  rates 
of  Vibration  are  simply  multiples  or  submidtiples  of  that  of  the  given 
cavity  —  —  — ." 

Bei  der  wenig  koncisen  Ausdrucksweise  bleibt  die  Auffassung 
Lloyd's  hier  recht  unklar.    Wenn  z.  B.  der  Klang  f  angegeben  wird, 


158  Eeferate  und  Rezensionen.     H.  Pipping, 

soll  da  ein  auf  B  gestimmter  Hohlraum  mit  B  oder  mit  f  antworten? 
Doch,  wie  wir  seine  Worte  auch  deuten  wollen,  richtig  sind  die  oben 
citirten  Sätze  auf  keinen  Fall,  und  die  Vergleichung  mit  anderen 
Stellen  zeigt,  dass  ein  vierfaches  Missverständnis  vorliegt. 

1)  Lloyd  glaubt  irriger  Weise,  dass  ein  Klang  von  der 
Schwingungszahl  m  den  Resonanztou  u  eines  Hohlkörpers  erregen 
kann,  wo  '^  eine  ganze  Zahl  ist.  um  einen  Versuch  von  Helmholtz 
in  seinem  Sinne  erklären  zu  können,  meint  Lloyd,')  eine  Stinungabel 
f  habe  den  Resonanzton  B  der  Mundhöhle  erregt,  „for  it  chimes  at 
every  tlnrd  pidse  tvith  the  forh".  Diese  Erklärung  ist  unerlaubt,  denn 
die  Analyse  des  Stimmgabelklanges  f  liefert  uns  keinen  Ton  B. 

2)  Ebenso  irrig  ist  Lloyds  Behauptung,  dass  ein  Klang,  dessen 
Grundton  die  Schwingungszahl  n  hat,  den  Resonanzton  m  eines 
Hohlkörpers  erregen  müsste,  sobald  ™  eine  ganze  Zahl  ist.  Die  Er- 
scheinung tritt  zw^ar  oft  ein,  aber  nur  wenn  der  betreffende  Klang 
den  Teilton  von  der  Ordnungszahl  ~  enthält.  Phon.  Sind.  IV  2,  S.  21H 
behauptet  Lloyd,  dass  die  Gabel  f  in  dem  oben  besprochenen  Vei- 
such  von  Helmholtz  noch  einen  zweiten  Resonanzton,  c^^',  der  Mund- 
höhle erregt  habe.  Diese  Behauptung  bietet  an  sich  nichts  Unwahr- 
scheinliches, da  der  erste  unharmonische  Oberton  der  Stimmgabeln 
in  der  Regel  ungefähr  6  mal  so  schnell  schwingt  wie  der  Grundton. 
Man  sieht  doch,  dass  Lloyd  an  diesen  unharmonischen  Teilton  gar 
nicht  gedacht  hat,  sondern  wirklich  glaubt,  dass  eine  Stimmgabel 
einen  beliebigen  harmonischen  Oberton  seines  Grundtones  zum  Mit- 
sclnvingen  erregen  kann.  Diese  xA.nsicht  giebt  sich  am  deutlichsten 
Phon.  St.  III  3,  S.  274  zu  erkennen.  Hier  steht :  „And  it  is  concci- 
vahle,  that  in  some  cases  a  forJc  ivhich  happened  to  vibrate  a  note, 
ivhich  was  simidtaneously  an  overtone  of  the  fundamental  and  an 
undertone  of  the  porch-resonance  niight  crolce  a  2}<^>'ticidarhf 
loud  residt". 

3)  Es  ist  wahr,  dass  viele  Hohlkörper  neben  dem  fundamentalen 
Resonanzton  auch  dessen  Oktave  verstärken,  einige,  besonders  die 
trichterförmigen,  die  ganze  Reihe  von  harmonischen  Obertönen. 
Falsch  ist  aber  die  Ansiclit,  dass  die  Grundresonanz  notwendig  mit 
harmonischen  Nebenresonanzen  verbunden  sein  müsste.  Indessen  ver- 
mutet Lloyd  {Phon.  St.  Vi,  S.  24)  dass  der  starke  Grundton  f  meiner 
y-Kurve  No.  5  nicht  mit  dem  tieferen  Resonanzton  der  Mundhöhle 
übereinstimme,  sondern  mit  dessen  Doppeloktave,  und  setzt  dabei  die 
Existenz  einer  sehr  problematischen  Xebenresonanz  als  etwas  wSelbst- 
verständliches    voraus.     Dass   die   von  Lloyd   gegebene   Deutung   in 


')  Phon.  St.  IV  2  S.  213. 


B.  J.  Lionel.  Some  liesearches  into  the  Nainre  of  Vowel-Sound.   159 

der  That  falsch  ist,  dafür  zeugt  meine  y-Kurve  auf  170  V.D.^)  Hier 
ist  der  Grundton  f  sehr  schwach,  der  zweite  Teilton  f  dagegen  stark, 
weshalb  an  einen  Resonanzton  F  gar  nicht  zu  denken  ist. 

Plion.  Stud.  III  3  S.  274  legt  Lloyd  indessen  eine  richtigere 
Auffassung  der  bezüglichen  Erscheinungen  an  den  Tag.  „Some 
votvels",  sagt  er,  „especially  tJwse  tvith  outwardly  divergent  aperture, 
posscss,  in  constant  association  tvith  their  porch  resonance,  its  ßrst  over- 
tone  also  in  very  great  force." 

4)  Nebenresonanzen,  welche  die  Untertöne  der  Grundresonanz 
repräsentiren ,  hat  —  soviel  ich  weiss  —  noch  kein  Mensch  ent- 
deckt. Indessen  stellt  Lloyd  {Plion.  St.  IV  2  »S.  208)  ihre  Existenz 
als   ein   Axiom   dar,    dem   keine  Begründung  vorausgeschickt  wird. 

Zuletzt  möchte  ich  noch  bemerken,  dass  Lloyd  den  Einfluss, 
welchen  die  Festigkeit  der  Wandungen  und  die  Weite  der  Öffnung 
auf  die  Breite  eines  Resonanzgebietes  ausübt,  nicht  gehörig  berück- 
sichtigt hat,  obgleich  die  verschiedene  Breite  der  Verstärkung  für 
die  Charakteristik   der  Vokale   von   grosser  Bedeutung   sein  dürfte. 

Combinationstöne  bei  den  geflüsterten  Vokalen.  Ein 
Laie  der  Lloyd's  Arbeiten  liest,  muss  die  Vorstellung  gewinnen, 
dass  Difterenztöne ,  ja  sogar  Summationstöne  bei  den  geflüsterten 
Vokalen  längst  bekannte  Erscheinungen  sind,  die  man  für  die  Vokal- 
theorie ohne  Bedenken  benützen  kann.  Ich  glaube  nicht,  dass  der- 
gleichen Combinationstöne  je  beobachtet  worden  sind ,  und  ilire 
Existenz  kann  schwerlich  a  priori  festgestellt  werden.  Flüster- 
geräusche sind  nicht  mit  anhaltenden  Tönen  von  konstanter  Höhe 
gleichzustellen. 

Geräusche  und  unharmonische  Teiltöne  bei  gesunge- 
nen Vokalen.  Bezüglich  der  Geräusche  bei  den  Vokalen  sagt 
Lloyd  PÄ.  St.  III 3.    S.  276:  „These  facts  all  suggest  tlie  conchisions: 

1.  that  vowel  cßiality  is  hid  accidentally  connected  tvith  the  tones 
emitted  hy  the  voccd  chords,  because  it  is  equally  present,  ivhether  they 
are  vibrating  or  not  :  and  ^.  that  it  has  a  very  essenfial  connedion 
tvith  the  irregulär  glottal  noises,  because  the  phenomena  of  both  are 
found  to  ßourish  and  declinc  pjari  passu  and  are  never  found  apart." 

Die  Behauptung,  dass  eine  bestimmte  Vokalqualität  nicht  vor- 
handen sein  kann,  wo  die  Kehlkopfgeräusche  fehlen,  ist  nicht  zu 
billigen.  Dr.  Oskar  Wolf 2)  hat  Versuche  darüber  angestellt,  in 
welchem  Tonstärkeverhältnis  die  einzelnen  Sprachlaute  zu  einander 
stehen,  und  es  stellte  sich  heraus,  „dass  die  Vokale  die  grösste 
Tonstärke    haben,    d.    h.    auf  die    weiteste   Entfernung   gehört   und 


')  Zur  Klangfarbe  der  gesungenen  Vokale.     Zeitschrift  für  Biologie 
Bd.  XXVn  N.  F.  IX  S.  67. 

^)  Sprache  und  Ohr.     Braunschweig  1871.     S.  59—61. 


160  E^erate  und  Rezensionen.     H.  Pipping, 

unterschieden  werden,  auf  welche  alle  Konsonanten  bereits  ver- 
schwunden sind".  Wenn  wir  nun  nicht  die  Behauptung  aufstellen 
wollen,  dass  die  vokalischen  Geräusche  stärker  seien  als  die  kon- 
sonantischen, müssen  wir  zugeben,  dass  die  Vokalqualität  nicht 
notwendig  mit  Geräuschen  verbunden  ist.  Dass  die  "\'okalqualität  bei 
den  Flüstergeräuschen  und  den  an  Geräuschen  wohl  verhältnismässig 
reichen  gesprochenen  Vokalen  deutlicher  hervortritt,  als  bei  den 
gesungenen,  ist  wahr;  wir  werden  unten  sehen,  wie  diese  Thatsache 
zu  erklären  ist. 

In  Bezug  auf  die  Streitfrage  von  den  unharmonischen  Teil- 
tönen bei  gesungenen  Vokalen  ist  Lloyd's  Standpunkt  etwas  unsicher. 
Ph.  St.  VI  S.  11  sagt  er:  „We  have  mthheld  assent  from  Pipping' s 
assertion,  that  the  vocalic  cavities  vibrate  only  to  multiples  of  the 
glottal  tone''.  Phon.  Stud.  V  2  pag.  137  drückt  derselbe  sich  weniger 
bestimmt  aus  („It  seems  prematiire  to  give  an  unqiialified  adhesion 
to  either  explanation"  etc.).  Offenbar  hat  der  Aufsatz  Hensen's  Die 
Harmonie  in  den  VoJcalen^)  ihn  etwas  umgestimmt.  Weit  davon 
entfernt,  diesen  Umschwung  zu  tadeln,  bedaure  ich,  dass  Lloyd  seine 
alte  Position  nicht  ganz  verlassen  hat.  Die  volle  Bedeutung  des  in 
dem  genannten  Aufsatz  vorgeführten  experimentellen  Beweises-) 
ist  ihm  wohl  nicht  aufgegangen,  da  er  denselben  nicht  besonders 
erwähnt. 

Es  wird  überflüssig  sein,  auf  alle  Details  dieser  Streitfrage 
einzugelien,  da  Lloyd  auf  diesem  Gebiete  kaum  etwas  Neues  bringt; 
um  seinen  Standpunkt  zu  kritisieren,  niüsste  ich  die  ganze  Polemik 
wiederholen ,  die  zwischen  Hermann  einerseits ,  Hensen  und  mir 
andererseits  geführt  worden  ist.  Nur  eins  möchte  ich  hinzufügen. 
Hermann  hat  unzweifelhaft  Recht,  wenn  er  mir  gegenüber  bemerkt. 
dass  ein  unliarnionischer  Teilton  dessen  Phase  am  Anfang  jeder 
Periode  einen  Sprung  macht,  unfähig  ist,  Resonanz  zu  erwecken. 
Durch  diese  Bemerkung  hat  Hermann  jedoch  seiner  eigenen  Vokal- 
theorie den  Todesstoss  gegeben.  Seit  dreissig  Jahren  wissen  wir, 
dass  das  specifisch  vokalische  Element  eines  Vokalklanges  diese 
Fähigkeit  besitzt.  In  der  Lehre  von  den  Tonempßndungeu  lesen  wir 
(S.  105)  Folgendes:  „Wenn  man  den  Dämpfer  eines  Claviers  hebt, 
so  dass  alle  Saiten  frei  schwingen  können  und  nun  stark  gegen  den 
Resonanzboden  des  Instrumentes  den  Vokal  A  auf  irgend  eine  der 
Noten  des  Claviers  kräftig  singt,  so  giebt  die  Resonanz  der  nach- 
klingenden Saiten  deutlich  A,  singt  man  0,  so  klingt  0  nach,  singt 
man  E,  so  klingt  E  nach,  I  weniger  gut."  Dieser  einfache  Versuch 
zeigt,  dass  die  Vokalkurven  in  Komponenten  zu  zerlegen  sind,  deren 


1)  Zeitschrift  für  Biologie.     1891. 
■')  S.  39—41. 


B.  J.  Lloyd.  Some  Eesearches  into  the  Nature  of  Vowel-Sound.    161 

Phasen  gleichniässig  fortschreiten,  dass  also  Hermanns  Bemühungen, 
Vokalkurven  aus  unharmonischen  Teiltönen  mit  wiederholten  Sprüngen 
der  Phasen  zusammenzustellen,  durchaus  keine  physikalische  Be- 
rechtigung hat,  sondern  höchstens  eine  graphische. 

Die  zahlreichen  Beweise  gegen  das  Vorkommen  unharmonischer 
Teiltöne  mit  gleichmässig  fortschreitenden  Phasen  bei  den  Vokalen 
können  hier  nicht  wiederholt  werden. 

Gesprochene  Vokale.  In  Bezug  auf  die  gesprochenen  Vokale 
bemerkt  Lloyd  mit  Eecht,  dass  sie  sich  von  den  gesungenen  durch 
den  fast  unaufhörlichen  Wechsel  des  Grundtones  unterscheiden^). 
Auch  der  Ansieht  Helmholtz'  über  die  verschiedenen  Wirkungsarten 
der  Stimmbänder  wird  Rechnung  getragen.  Dagegen  hat  Lloyd  sich 
nicht  völlig  klar  gemacht,  in  welchem  Grade  und  auf  welche  Weise 
die  Variabilität  des  Grundtons  einen  Unterschied  zwischen  den  ge- 
sprochenen und  den  gesungenen  Vokalen  hervorrufen  muss.  Eine 
sehr  schöne  Erörterung  dieser  Phänomene  findet  sich  in  dem  ge- 
nannten Aufsatz  von  Martens.  Besonders  interessant  ist  der  Nach- 
weis, dass  bei  den  gesprochenen  Vokalen  in  der  für  den  Vokal 
charakteristischen  Tongegend  eine  intermittierende  Erregung  der 
Fasern  der  Membrana  basilaris  bewirkt  wird. 

Accommodationstheorie.  Die  Hebungen  und  Senkungen 
des  Kehlkopfs  bei  energisch  gesprochenen  Vokalen  sind  offenbar  ein 
sekundärer  Process,  der  durch  die  Variationen  der  Tonhölie  hervor- 
gerufen wird.  Phon.  Stud.  VI  S.  8  stellt  Lloyd  die  Sache  in  dieser 
Weise  dar;  früher  (Phon.  Stud.  IV  2  S.  204)  glaubte  er,  der  Zweck 
dieser  Bewegungen  sei  die  Abstimmung  des  Ansatzrohrs  nach  der 
Sch\\'ingungszahl  der  Stimmbänder.  Aber  auch  nachdem  Lloyd 
seine  Auffassung  berichtigt  hat,  glaubt  er  bei  den  gesungenen 
Vokalen  eine  Art  Acconnnodation  der  Abstimmung  annehmen  zu 
müssen.  Ich  habe  mich  schon  früher  gegen  derartige  Accomo- 
dationen  ausgesprochen  ,2)  da  wir  beim  Studium  der  Vokalkurven 
kein  Bestreben  entdecken  können,  die  Tonhöhen  maximaler  Re- 
sonanz mit  dem  Grundton  wechseln  zu  lassen.  Nur  in  Bezug  auf 
die  Breite  der  Verstärkung  wird  eine  Art  Accommodation  stattfinden. 
Während  die  Mundstellung  —  wenn  die  Tonleiter  auf  einen  be- 
stimmten Vokal  gesungen  wii-d  —  im  Allgemeinen  unverändert 
bleiben  soll,  erlaubt  sogar  die  strengste  Schule  eine  Erweiterung 
der  Mundöffnung  in  den  höchsten  Tonlagen.     Diese  Erweiterung  der 


')  William  Martens.  Üher  das  Verhalten  von  Vocalen  und  Diph- 
tonr/en  in  gesprochenen  Worten.    Zeitschrift  für  Biologie.    Bd.  XXV. 

Hugo  Pipping.  Om  Hensen  fonautograf  som  ett  hjälpmedel  för 
spräkvetenskapen.     Helsingfors  1890. 

*)  Zur  Klangfarbe  der  gesungenen   Vokale.     S.  60 — 63. 
Ztschr.  f.  frz.  .Si»r.  u.  Litt.  XV^.  11 


162  Referate  und  Rezensionen.     H.  Pipping, 

Öffnung,  (leren  Einfluss  auf  die  Tonhöhe  maximaler  Resonanz  durch 
Vergrösserung  des  in  der  Mundhöhle  eingeschlossenen  Luftvolumens 
leicht  kompensiert  wird,  hat  wahrscheinlich  den  Zweck,  die  charak- 
teristischen Verstärkungsgebiete  breiter  zu  machen.  Je  höher  der 
Grundton  wird,  desto  weiter  auseinander  liegen  in  jedem  Gebiete 
der  Tonscala  die  vorhandenen  Teiltöne;  dadurch  kann  es  leicht 
passieren,  dass,  wenn  der  Grundton  steigt,  kein  Teilton  mehr  inner- 
halb des  ursprünglichen  Verstärkungsgebietes  fällt.  Diesem  Übel- 
stande wird  durch  Erweiterung  des  Gebietes  vorgebeugt. 

„Radical  ratio"  oder  „fixed  pitch".  Der  schwächste 
Punkt  in  den  Arbeiten  Lloyds  ist  ohne  Zweifel  die  Lehre  von  der 
,radical  ratio",  welche  die  „tixed  pitch"  Theorie  ersetzen  soll.  Es 
fällt  mir  zwar  nicht  ein  zu  bestreiten,  dass  bei  Vokalen  mit  mehr 
als  einem  Verstärkungsgebiete  das  Intervall  zwischen  den  Tonhöhen 
maximaler  Resonanz  zur  Charakterisierung  des  Klanges  beitragen 
könnte.  Habe  ich  doch  selbst  in  meiner  Abhandlung  „Zur  Klang- 
farbe etc."  S.  76  eine  ähnliche  Ansicht  kundgegeben.  Aber  wenn 
Lloyd  in  dem  Intervall  zwischen  den  Resonanztönen  das  Haupt- 
merkmal der  Vokale  sehen  will,  während  er  die  abscduten  Tonhöhen 
innerhalb  weiter  Grenzen  als  gleichgültig  betrachtet,  so  kann  ich  ihm 
nicht  mehr  beistimmen.  Es  wäre  eine  unverzeihliche  Zeitverschwendung, 
hier  alle  Erscheinungen  aufzuzählen,  welche  gegen  die  Lloydsche 
Lehre  sprechen,  und  ich  kann  mir  diese  Mühe  sparen.  Ein  einziger 
Versuch  genügt,  um  uns  vollständige  Klarheit  darüber  zu  geben,  dass 
Lloyds  Ansicht  nicht  acceptiert  werden  kann.  Ich  erlaiibe  mir  den 
Leser  auf  die  Bemerkungen  Hermann's  „Über  das  Verhalten  der 
Vokale  am  neuen  Edison'schen  Phonographen^)  zu  verweisen.  Aus 
diesem  Aufsatz  erhellt,  dass  jede  Veränderung  der  Rotations- 
geschwindigkeit eine  Veränderung  des  Vokalcharakters 
der  hineingesungenen  Vokale  herbeiführt.  Wie  gross  die 
Variationen  der  Rotationsgeschwindigkeit  bei  Hermann's  Versuchen 
waren,  wird  nicht  mitgeteilt.  Ich  habe  später  Gelegenheit  gehabt, 
ähnliche  Versuche  anzustellen  und  einem  grösseren  Kreise  von  Fach- 
genossen vorzuführen.  Es  zeigte  sich  dabei,  dass  die  Transponierung 
um  eine  Quarte  oder  Quinte  genüiite,  um  viele  Vokale  unkenntlich 
zu  machen,  andere  behielten  ihren  Grundcharakter,  doch  mit  deutlich 
wahrnehmbaren  Moditicationen.  Bei  diesen  Versuchen  blieb  die 
„radical  ratio"  natürlich  stets  unverändert,  dies  konnte  aber  die 
Abänderung  des  Vokalklanges  nicht  verhindern.  Ja  noch  mehr,  es 
zeigte  sich,  dass  trotz  der  vom  Phonographen  mit  unfehlbarer 
Genauigkeit  beibehaltenen  „radical  ratio"  ein  Vokal  durch  blosse 
Variation  der  Rotationsgeschwindigkeit  sich  vollständig  in  einen  andern 


V  Arcfüv  für  d.  ges-  Physiologie  Bd.  XLVII. 


E.  J.  Lloyd.  Some  Besearches  into  the  Nature  of  Voivel-Soimd.    163 

verwandeln  konnte.  (Z.  B.  u  (schwedisch)  in  ö  und  umgekehrt).  Da  also 
seihst  eine  sehr  kleine  \'eränderung  der  absoluten  Tonhöhe  genügt, 
um  den  Vokalcharakter  zu  verändern,  und  anderseits  genau  dieselbe 
„radical  ratio"  bei  zwei  völlig  verschiedenen  Vokalen  vorhanden  sein 
kann,  muss  jedermann  einsehen,  dass  Lloyd  das  richtige  "S^erhältnis 
zwischen  den  betreffenden  Momenten  bei  der  Vokalbildung  auf  den 
Kopf  gestellt  hat. 

Um  von  jenem  ebenso  einfachen  als  belehrenden  Versuch  mit 
dem  Phonographen  alles  Rätselhafte  zu  entfernen,  will  ich  hier  auch 
die  Erklärung  liefern,  warum  einige  Vokale  durch  die  Abänderung 
der  Rotationsgeschwindigkeit  stärker  beeinllusst  werden  als  die 
anderen.  Diese  Erscheinung  steht  mit  der  verschiedenen  Breite  der 
Verstärkungsgebiete  in  Zusammenhang.  Nehmen  wir  an,  dass  das 
charakteristische  Tongebiet  eines  Vokals  sich  von  c^"^'  bis  d^^'  er- 
streckt. Durch  Beschleunigung  der  Eotationsgeschwindigkeit  trans- 
ponieren war  den  Vokalklang  eine  Terz  höher.  Das  nunmehr  vor- 
handene Verstärkungsgebiet  erstreckt  sich  von  e^^  bis  fls^^,  liegt 
also  ganz  ausserhalb  des  alten.  Wenn  das  charakteristische  Gebiet 
breiter  ist  und  sich  beispielsweise  von  g"  bis  g'"  erstreckt,  so  bedeutet 
die  Transponierung  um  eine  Terz  verhältnismässig  w^enig.  Die 
Grreuzen  des  neuen  Gebietes  sind  h"  und  h'"  und  letzteres  hat  die  ganze 
Strecke  von  h"  bis  g'"  mit  dem  alten  gemeinsam.  Diese  Erklärung 
steht  mit  den  Resultaten  der  Versuche  in  vollständigem  Einklang. 
Am  wenigsten  emptlndlich  gegen  Variationen  der  Tonhöhe  sind  die 
Vokale  a  und  ä,  welche  sich  infolge  der  weiten  Mundöffnung  auch 
durch  möglichst  breite  Verstärkungsgebiete  auszeichnen.  Hermann, 
der  die  verschiedene  Breite  der  Verstärkungsgebiete  gar  nicht  be- 
rücksichtigt und  also  seine  Beobachtungen  ganz  unbefangen  anstellen 
konnte,  bemerkt  ausdrücklich,  dass  a  seine  Erkennbarkeit  am  längsten 
behielt. 

Wenn  es  nun  aber  feststeht,  dass  Lloyd's  Theorie  von  der 
„radical  ratio"  falsch  ist,  so  fragt  es  sich,  wie  er  zu  seiner  An- 
sicht gekommen  ist.  Diese  Frage  zu  beantworten  muss  ich  denen 
überlassen,  welche  Gelegenheit  gehabt  haben,  seine  Experimente 
nachzumachen.  Dass  in  seinen  Versuchsieihen  Fehler  vorhanden 
sind,  dafür  zeugt  nicht  nur  die  von  ihm  aufgestellte  allgemeine 
Vokaltheorie,  sondern  auch  gewisse  Einzelheiten  in  den  Resultaten. 
Das  Intervall  zwischen  den  beiden  Tönen  maximaler  Resonanz  wird 
bei  einigen  Vokalen  viel  zu  gross  angesetzt.  Bei  einer  „radical 
ratio"  30  bis  40,  müsste  entweder  der  liöhere  Ton  oberhalb  des 
Gebietes  der  sicheren  Tonhöhenschätzung  verlegt  werden  oder  auch 
der  tiefere  Ton  weit  unter  dem  normalen  Sprechton  (besonders  bei 
Frauen  und  Kindern)  liegen,  was  eine  deutliche  Aussprache  des 
Vokals  unmöglich  machen  würde.     Die  Abweichungen  von   frülieren 

11* 


164  Beferate  und  Bezensionen.     H.  Pipping, 

Befunden  in  Bezug  auf  die  Anzalil  der  \'erstärkungss:ebiete  will 
ich  nicht  unbedingt  als  Fehler  anrechnen,  da  ich  wohl  weiss,  wie 
g-efährlich  es  ist,  zwei  Laute  als  identisch  zu  betrachten,  wenn  sie  von 
Forschern  verschiedener  Nationalität  untersucht  worden  sind,  und  dass 
die  Analyse  keines  einzigen  Vokals  als  vollständig  abgeschlossen 
betrachtet  werden  kann.  Eigentümlich  ist  doch,  dass  Lloj'd  gerade 
für  u  die  „radical  ratio"  1  giebt,  obgleich  wenigstens  der  deutsche 
Vokal  ohne  Zweifel  zwei  Eesonanztöne  hat. 

Zuletzt  möchte  ich  noch  gegen  die  Art  und  Weise  Einspruch 
erheben,  in  welcher  Lloyd  die  Vei-suche  anderer  Forscher  mit  seiner 
Theorie  in  Übereinstimmung  bringen  will.  Ich  habe  schon  oben 
gezeigt,  dass  er  sich  dabei  gegen  die  Gesetze  des  Mitschwingens 
versündigt  hat.  Am  wenigsten  gelungen  ist  jedenfalls  die  Besprechung 
der  Versuche  von  Willis.  Hier  muss  die  gesunde  Urteilskraft  Lloyd's, 
die  sich  an  vielen  anderen  Stelleu  kundgiebt,  einen  furchtbaren 
Kampf  mit  seinem  festen  Glauben  an  die  „radical  ratio"  bestanden 
haben,  bevor  er  sich  entschliessen  konnte,  den  fehlenden  Ton,  den 
er  für  seine  Theorie  nötig  hatte,  in  den  Spreehorganen  des 
Zuliörers  zu  suchen. 

Like  artikulations  —  like  sounds?  Der  Sieg  der  „fi.xed 
pitch"  Theorie,  welche  als  endgültig  betrachtet  werden  muss,  ist 
für  die  Sprachforschung  von  überaus  grosser  Bedeutung.  Die  Be- 
hauptung, dass  eine  gegebene  Articulation  bei  allen  Individuen  den- 
selben Laut  erzeugen  müsse, ^)  kann  nunmehr  nicht  aufrecht  erhalten 
w^erden.  Hier  müssen  wir  wieder  auf  Helmholtz  zurückgreifen  und 
seine  bald  vernachlässigten,  bald  raissverstandenen  Bemerkungen 
als  die  einzig  richtigen  acceptieren.  In  der  Lehre  von  den  Ton- 
empßndunfien  S.  171  sagt  Helmholtz:  „Was  der  kindlichen  und 
weiblichen  ^lundliiUile  an  Geräumigkeit  abgeht,  kann  durch  engeren 
Verschluss  der  Öffnung  leicht  ersetzt  werden,  so  dass  die  Eesonanz 
doch  eben  so  tief  werden  kann,  wie  in  der  grösseren  männlichen 
Mundhöhle." 

Helmholtz  hat  selbstverständlich  niemals  Ijehaupten  wollen, 
dass,  unter  Beibehaltung  der  Articulatinnsfurm,  die  geringere  Mund- 
öffnuug  den  Verlust  an  Volumen  ersetzen  könnte.  Das  Meiste,  was 
wir  über  die  Resonanzverhältnisse  der  Hohlkörper  wissen,  haben 
wir  von  Helmlioltz  gelernt,  und  er  bedarf  gewiss  keiner  Belehrung 
darüber,  dass  gleichgeformte  Kugelresonatoren  von  verschiedenen 
Dimensionen  auch  verschiedene  Resunanztöne  haben  (siehe  den  ge- 
nannten Aufsatz  von  \'ietor).     Nein,    Helmholtz   hat  schon  vor  De- 


1)  Lloyd.     Vowel  Sound.     S.  172. 

Victor.     Haben  die  Vofc(de  feste  Resonanzhöhen?    Phon.  Stud.  III. 
Seite  62. 


E.  J.  Lloi/d.  Sonic  Researdies  into  the  Nature  of  Voivel-Sound.    1 65 

ceiinien  weiter  geblickt,  als  die  meisten  Sprachforscher  heutzutage. 
In  den  oben  citierten  Worten  wird  zum  ersten  Mal  der  wichtige 
Lehrsatz  ausgesprochen,  dass  eine  und  dieselbe  Articulations- 
form  bei  verschiedenen  Individuen,  deren  Sprechorgane 
nicht  kongruent  sind,  nicht  denselben  Laut  erzeugt, 
sondern  dass  die  Einheitlichkeit  eines  Lautes  innerhalb 
einer  Gruppe  von  Individuen  in  der  Regel  —  und  vor  allem 
wo  Geschlecht  und  Alter  verschieden  sind  —  nur  durch  Varia- 
tionen in  der  Articulationsform  erzielt  werden  kann.  Die 
Wichtigkeit  dieses  Satzes  für  die  Klassifikation  der  Vokale  liegt  auf 
der  Hand;  hier  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  vorher 
nicht  berücksichtigten  Umstand  lenken,  der  für  den  Lautwandel 
Bedeutung  haben  kann.  Wenn  ein  Kind  die  Sprachlaute  (ich 
denke  zunächst  an  die  Vokale)  seiner  Eltern  nachahmt,  gewölmt 
es  sich  nach  dem  oben  gesagten  an  eine  Artikulationsweise,  die  den 
Erwachsenen  fremd  sein  muss.  Indem  es  heranwächst,  bemüht  es 
sich  natürlich  fortwährend,  wenn  auch  unbewusst,  diejenigen  Laute 
hervorzubringen,  die  es  von  Anderen  und  auch  in  der  eigenen  xA.us- 
sprache  zu  hi3ren  gewohnt  ist.  Aber  zugleich  muss  das  Kind  die 
Neigung  haben,  dem  einmal  erworbenenen  „Bewegungsgefühl'"  zu 
gehorchen.  Indessen  da  sich  die  Dimensionen  des  Ansatzrohrs  mit 
den  Jahren  verändern,  kann  es  nicht  zu  gleicher  Zeit  den  An- 
forderungen des  Ohrs  iind  denen  des  Bewegungsgefühls  genügen,  und 
als  Resultat  des  Kampfes  geht  ein  Vokal  hervor,  der  mit  dem  ent- 
sprechenden Laute  der  älteren  Generation  nicht  völlig  identisch  ist. 

Lloyd's  Behauptung,  dass  gleiche  Articulationen  auch  gleiche 
Laute  hervorbringen,  wird  nur  unter  der  Voraussetzung  aufgestellt, 
dass  seine  Theorie  von  der  „radical  ratio"  richtig  ist.  Dass  die 
Stabilität  der  Articulationen  mit  der  der  Resouanztöne  nicht  Hand 
in  Hand  gehen  kann,  sieht  Lloyd  vollkommen  deutlich  ein.  In  dem 
Aufsatz  Voivel  Sound  S.  172  sagt  er:  „Thls  great  truth  is  h?/  no 
means  seif  -  evident ,  and  Stands  in  fad  in  absolute  tliough  implied 
contradiction  to  the  dodrine  of  absolute  pitch." 

Ich  habe  oben  verschiedene  Ansichten  Lloyds  ziemlich  scharf 
zurückgewiesen.  Um  so  angenehmer  ist  es  nachher  die  Überzeugung 
aussprechen  zu  können,  dass  Lloyd  eine  grosse  und  wichtige 
Reform  in  dem  Studium  der  Articulationen  zu  Stande  bringen  wird. 
Mit  Recht  hebt  Lloyd  hervor,  dass  die  Existenzberechtigung  der 
„organischen-  Schule  bloss  eine  temporäre  wai'.  Solange  uns  die 
Mittel  fehlten,  die  wesentlichen  d.  h.  die  akustischen  Eigenschaften 
der  Sprachlaute  objektiv  festzustellen,  mussteu  wir  uns  damit  be- 
gnügen, alle  Einzelheiten  bei  den  Ansatzrohr -Articulationen  aufzu- 
zählen, ohne  zu  verstehen,  wie  diese  Summe  von  einzelnen  Articu- 
lationen das  erwünschte  Resultat   hervorbrinaen   konnte.     Nunmehr 


\ 

166  ReferaU  lind  Besemionen.    H.  Pipping, 

sind  objektive  akustische  Analysen  ausführbar,  wir  dürfen  also  jetzt 
nicht  zufrieden  sein,  wenn  wir  beobachtet  haben,  dass  die  Zunge 
])ier  gehoben,  dort  gesenkt  ist,  die  Lippen  gerundet  u.  s.  w.  Die 
Physiologie  des  Ansatzrohrs  hat  heute  zur  Aufgabe,  die  Anzahl  und 
Forra^)  der  vorhandenen  Resonanzräume  festzustellen,  damit  wir 
verstehen  können,  warum  die  betreffende  Articulation  den  vom  Ohre 
gehörten  Laut  hervorbringen  muss.  Es  ist  klar,  dass  ich  von  meinem 
Standpunkte  aus  die  Lloyd'schen  Angriffe  auf  die  „Organiker"  leb- 
halt unterstütze.  Noch  weniger  als  Lloyd  kann  ich  ihre  Systeme 
billigen,  da  ich  den  Polymorplüsraus  nicht  als  eine  zufällige  Er- 
scheinung betrachte ,  sondern  als  ein  Korollarium  bestimmter  ph3'^si- 
kalischer  C4esetze. 

Die  Aussölinung  der  „organischen"  Schule  mit  den  Akustikern 
ist  das  grosse  Ziel,  welches  sich  Lloyd  vor  allem  gesetzt  hat,  und 
wir  wollen  hoffen,  dass  sein  Mahnungsruf  nicht  wirkungslos  ver- 
liallen  wird.  Es  ist  in  der  That  kaum  zu  verstehen ,  dass  ein 
„Organiker",  der  Lloj^d  gelesen  hat,  dennoch  fortfahren  könnte,  die 
akustischen  Erscheinungen  principiell  zu  vernachlässigen,  sofern  er 
nicht  auf  den  Namen  eines  Phonetikers  verzichtet  und  blos  als 
„Elocutionist"  gelten  will.  Mit  den  Akustikern  steht  die  Sache  etwas 
anders.  Wenn  sie  bis  jetzt  die  Mundstellungen  nicht  sehr  eingehend 
studiert  haben ,  so  beruht  dies  kaum  auf  irgend  welcher  feindlichen 
Stimmung  gegen  Untersuchungen  dieser  Art.  Bei  der  Unregel- 
mässigkeit der  im  Ausatzrohr  hergestellten  Hohlräume  ist  die  Fest- 
stellung der  Resonanz  auf  Grund  der  Gestalt  und  Dimensionen  dieser 
Kavitäten  unausfüiirbar.  Wir  müssen  also  zuerst  durch  Analyse 
oder  Synthese  der  Klänge  ihre  Komponenten  bestimmen;  die  Beob- 
achtung der  Formationen  des  Ansatzrohrs  giebt  uns  nacliher  Auf- 
schlüsse über  die  Mittel,  durch  welche  das  bekannte  akustische 
Resultat  erzielt  wurde.  Berichtigungen  der  Resultate  werden  auf 
diesem  Wege  nur  selten  zu  Stande  gebracht  werden  können.  Doch, 
kein  Mittel,  ein  besseres  Verständnis  der  verwickelten  phonetischen 
Ersclieinungen  zu  gewinnen,  darf  verschmäht  werden,  und  icli  lialte 
deshalb  auch  die  an  uns  Akustiker  gerichtete  Mahnung  Lloyd's  nicht 
für  übertiüssig. 

Es  ist  wirklich  zu  bedauern,  dass  Lloyd  sich  der  „lixed  pitch" 
Theorie  nicht  anschliesst,  sonst  hätte  er  in  sehr  anschaulicher  Weise 
zeigen  können,  wie  die  Pliysiologie  des  Ansatzrohrs  und  die  Phj'sik 
der  Sprachlaute  auf  neutralem  Boden  sicli  die  Hände  reiclien.  Diesen 
neutralen  Boden  bietet  die  Pliysiologie  des  Uhrs.  Wenn  letztgenannte, 
von  den  Phonetikern  fast  regelmässig  vernachlässigte  Disciplin  be- 
rücksichtigt wird  und    wir   uns    zugleich    auf   den  Standpunkt   der 


')  Meiner  Ansicht  nach  aucli  die  absohiten  Dimensionen. 


B.  J.  Lloyd.  Some  Researches  into  the  Nature  of  Voivel-Sound.    167 

„fixed  pitch"  Theorie  stellen,  so  gelangen  wir  notwendig  zu  folgender 
Ansicht  über  die  Natur  der  Vokale: 

1.  Ein  Vokal  wird  nicht  durch  bestimmte  Zungen-,  resp. 
Lippenartikulationen  charakterisiert.  Um  Vokale  hervorzubringen, 
die  einander  möglichst  ähnlich  sind,  müssen  zwei  Individuen,  deren 
Sprechorgane  verschiedene  Dimensionen  haben,  auch  zu  verschiedenen 
Artikulationen  ilu-e  Zuflucht  nehmen.  Viele  Vokale  können  sogar 
nach  Exstirpation  der  Zunge  gut  gesprochen  werden^).  Der  Phono- 
graph hat  weder  Zunge  noch  Lippen  und  spricht  doch  alle  Vokale 
vorzüglich. 

2.  Die  Vokale  werden  nicht  durch  bestimmte  Vibrationsformen 
der  Luftpartikel  charakterisiert.  Die  Kurve  eines  Vokals,  wenn  auf 
c  gesungen,  hat  wenig  Ähnlichkeit  mit  der  Kurve  desselben  Vokals 
auf  g'  u.  s.  w.  Wiederum  kann  genau  dieselbe  Schwingungsform 
verschiedenen  Vokalen  entsprechen,  je  nachdem  die  Periodendauer 
wechselt,  wie  aus  den  oben  besprochenen  Versuchen  mit  dem  Phono- 
graphen hervorgeht. 

3.  Wie  sehr  die  Bildungsweise  und  die  Schwingungsform  bei 
einem  Vokal  wechseln  mögen,  Eins  bleibt  konstaut.  Jedem  einzel- 
nen Vokal  entsprechen  bestimmte  Gebiete  der  Membrana 
basilaris;  wenn  ein  gegebener  Vokal  ertönt,  liegen  die  am 
stärksten  erregten  Fasern  der  Grundmembran  stets  inner- 
halb der  für  den  Vokal  charakteristischen  Gebiete. 2) 

Zwei  Vokalklänge  können  also  nach  verschiedenen  Richtungen 
hin  von  einander  abweichen.  Bei  einigen  Vokalen  liegen  die  am 
stärksten  erregten  Fasern  alle  in  einer  Gegend  der  Membrana  basi- 
laris, bei  andern  sind  zwei  Verstärkungsgebiete  (oder  mehr)  vor- 
handen. Wenn  die  Centra  der  Verstärkungsgebiete  zusammenfallen, 
kann  jedoch  bei  einem  Vokal  das  Gebiet  sehr  eng  sein,  bei  dem 
andern  ist  es  breit.  Wiederum  können  zwei  Verstärkungsgebiete  an 
Breite  gleich  sein,  während  die  Centra  nicht  zusammenfallen,  und 
schliesslich  haben  wir  bei  Vokalen  mit  wenigstens  zwei  Verstärkungs- 
gebieten die  gegenseitige  Entfernung  dieser  Gebiete  zu  berück- 
sichtigen. 

Ein  jeder,  der  unsere  Kenntnis  von  der  Phj'siologie  des  Ohrs 
beim  Studium  der  Sprachlaute  verwerten  will,  wird  linden,  wie 
scharfes  Licht  auf  viele  Erscheinungen  geworfen  wird,  die  ihm  vorher 


^)  Vgl.  M.  W.  af  Sc  hui  ton.  Totale  Exstirpation  der  Zunge  und 
deren  Einwirkung  auf  die  Sprache.  Deutsche  Zeitschrift  ülr  Chirurgie, 
Bd.  XXXV. 

-)  AVegen  der  Functionen  der  ^lembrana  basilaris  siehe : 

Hensen.  Zur  Morphologie  der  Schnecke.    Ztschr.  f.  wiss.  Zool.  XIII. 

Helmholtz,   Tonempf.,  IV.  Aufl.  S.  238— 24.S  und  Beilage  XI. 

Hensen,  Ph5'siologie  des  Gehörs.  (Hermann's  Handbuch  1112)  2  Kap. 


168  Referate  und  Rezensionen.     H.  Pipping, 

dunkel  schienen.  Ich  bin  dem  Leser  die  Erklärung  schuldig,  warum 
der  Vokalcharakter  bei  den  gesprochenen  und  den  geflüsterten 
Vokalen  deutlicher  hervortritt  als  bei  den  gesungenen.  Wir  wollen 
sehen,  ob  die  Berücksichtigung  der  Physiologie  des  Ohrs  uns  in  den 
Stand  setzt,  die  gewünschte  Erklärung  zu  liefern. 

Wenn  ein  Vokal  auf  einen  Ton  von  der  Schwingungszahl  n 
gesungen  wird,  werden  nur  solche  Fasern  der  Membrana  basilaris 
erregt,  deren  Schwingungszahlen  n,  2n,  3u,  4n  u.  s.  w.  sind,  und 
von  diesen  Fasern  natürlich  diejenigen  am  stärksten,  welche  inner- 
halb des  charakteristischen  Gebietes  liegen.  Die  Anzahl  der  letztei-en 
ist  indessen  recht  klein,  besonders  wenn  der  Crrundton  einigermassen 
hoch  ist;  die  Lage  und  Breite  der  Verstärkungsgebiete  kann  also 
nur  skizziert  werden.  Dazu  kommt,  dass  die  Eeizung  der  mit  den 
Fasern  verbundenen  Nerven  kontinuierlich  ist,  also  wohl  auch  relativ 
wenig  fühlbar. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  bei  den  gesprochenen  ^'okalen. 
Der  Grundton  ist  variabel,  und  die  Teiltöne  folgen  seinen  Schwan- 
kungen. Daher  ki3nnen  alle  oder  wenigstens  die  meisten  Fasern  des 
cliarakteristischen  Gebietes  der  Reihe  nach  erregt  werden,  sodass 
die  Lage  und  Breite  desselben  deutlich  hervortreten  muss.  Auch 
noch  ist  hier  die  Intennittenz  der  Reizung  zu  beachten,  (siehe  oben). 

Dunkler  ist  der  Vorgang  bei  den  geflüsterten  Vokalen,  da  die 
Gesetze  des  Hörens  in  Bezug  auf  die  Geräuschlaute  noch  ziemlich 
unerforscht  sind.  Wahrscheinlich  ist  jedenfalls,  dass  hier  ein  Gemisch 
von  Tönen  vorhanden  ist,  welche  vorzugsweise  die  charakteristischen 
Fasern  erregen.  Da  diese  Töne  keineswegs  harmonisch  sind,  viel- 
leicht auch  nicht  von  konstanter  Höhe,  so  ist  es  gut  möglich,  dass  in 
kuizer  Zeit  fast  alle  Fasern  des  charakteristischen  Gebietes  in 
Schwingungen  versetzt  werden.  Auch  die  Möglichkeit  einer  inter- 
mittierenden Reizung  ist  nicht  ausgeschlossen,  da  die  Töne,  welche 
zuweilen  aus  den  Geräuschen  herausgehört  werden,  rasch  abzuklingen 
pflegen. 

Zuweilen  müssen  auch  noch  psychologische  Faktoren  berück- 
sichtigt werden,  bevor  der  Eindruck,  den  die  Sprachlaute  aut  uns 
machen,  völlig  verstanden  werden  kann.  Es  hat  bei  einigen  Forschern 
Bedenken  erregt,  dass  viele  Vokalkurven  kaum  eine  Spur  von  Grundton 
zeigen,  obgleich  unser  Ohr  dem  entsprechenden  Klang  die  Schwingungs- 
zahl beilegt,  welche  ilnn  unbestritten  zukommen  würde,  wenn  ein 
starker  Grundton  vorhanden  wäre.  Die  Richtigkeit  der  Beobachtungen 
über  die  geringe  Stärke  des  Grundtons  lässt  sich  indessen  nicht  be- 
zweifeln, da  verschiedene  Forsclier  mit  verschiedenen  Apparaten  zu 
ähnlichen  Resultaten  gekommen  sind.  Und  wenn  wir  uns  die  Saclie 
genauer  überlegen,  werden  wir  flnden,  dass  die  betreffende  Erscheinung 


R.J.Lloyd.  Some Eesearches into tfie Nature of Votvel-Sound.    169 

durch  ein  läng:st  bekanntes  und  in  Bezug  auf  die  höheren  Teiltöne 
ohne  Bedenken  angewandtes  psychologisches  Gesetz  zu  erklären  ist. 

Obgleich  die  harmonischen  Teiltöne  eines  Klanges  in  unserem 
Ohr  getrennt  vorhanden  sind,  werden  sie  von  uns  als  ein  Ganzes 
aufgefasst.  Was  wir  gewöhnlich  den  „Ton"  c  nennen  und  als 
eine  einheitliche  Emplindung  betrachten ,  ist  streng  genommen 
die  Erregung  einer  ganzen  Reihe  von  Fasern  in  der  Membrana 
basilaris,  nämlich  derjenigen,  deren  Schwingungszahlen  132,  2  X  132, 
3  X  132  u.  s.  w.  sind.  Aber  nicht  alle  diese  Fasern  brauchen  erregt 
zu  werden,  damit  der  betreffende  „Ton",  welcher  eigentlich  „Klang" 
heissen  sollte,  gehört  werde.  Viele  Teiltöne  können  fehlen,  und 
doch  bleibt  die  Emplindung  der  Tonhöhe  unverändert,  nur  die  der 
Klangfarbe  wechselt.  Kein  Mensch  hat  daran  Anstoss  genommen, 
dass  bei  der  Klarinette  die  Abwesenheit  aller  geradzahligen  Teiltöne 
die  Tonhöhe  nicht  beeinflusst.  Da  wäre  es  in  der  That  überraschend, 
wenn  der  Wegfall  eines  einzigen  Teiltones,  des  ersten,  die  Empfindung 
der  Tonhöhe  stören  müsste.  Wer  ein  solches  Resultat  erwartet, 
der  hat  die  strengsten  Konsequenzen  der  Theorie  des  Hörens  noch 
nicht  gezogen,  der  ist  bei  der  Ansicht  stehen  geblieben,  nach 
welcher  der  „Grundton"  den  „Obertönen"  gegenübergestellt  werden 
sollte,  anstatt  mit  den  letzteren  in  die  bescheidene  Reihe  der  Teil- 
töne zu  treten. 

Vieles  spricht  für  die  Richtigkeit  der  hier  gegebenen  Deutung. 
Wenn  der  Grundton  das  massgebende  Moment  bei  der  Schätzung 
der  Schwingungszalil  abgeben  würde,  dann  müsste  diese  Abschätzung 
besonders  leicht  vor  sich  gehen,  wo  nur  der  Grundton  vorhanden 
ist,  während  die  Obertöne  fehlen.  Dies  ist  aber  durchaus  nicht  der 
Fall.  Im  Gegenteil  ist  die  Bestimmung  der  Tonhöhe  nie  unsicherer 
als  bei  einfachen  Tönen.  Selbst  geübte  Musiker  irren  sich  dabei 
leicht  um  die  Oktave;  so  hat,  wie  bekannt,  Tartini  die  Höhe  der 
Differenztöne  falsch  angegeben. 

Die  geringe  Bedeutung  des  Grundtons  kann  auch  durch  ein- 
fache Versuche  dargelegt  werden.  Sehr  anwendbar  ist  hier  die 
Reihe  von  Metallzungen,  welche  Appun  für  die  Abstimmung  seines 
Vokalapparates  zusammengestellt  hat.  Den  Schwingungszahlen  ihrer 
Grundtöne  nach  repräsentieren  diese  Zungen  die  gewöhnliche  Reihe 
von  harmonischen  Teiltönen.  Wenn  alle  Zungen  auf  einmal  vibrieren, 
wird  ein  einheitlicher  Klang  gehört,  dessen  Schwingungs/ahl  mit 
dem  des  Gruudtones  übereinstimmt.  Wenn  man  nun  den  Grundton 
auslöscht,  während  die  übrigen  Zungen  mit  ihren  Vibrationen  fort- 
fahren, bemerkt  man  absolut  keine  Veränderung  der  Tonhöhe. 

Leicht  auszuführen  ist  folgender  Versuch  am  Klavier.  Mau 
lässt  einen  beliebigen,  an  Obertönen  nicht  zu  armen  Klang  in  das 
Instrument  hineintönen,   während  die   dem  Grundton   entsprechende 


170  Referate  und  Rezensionen.     F.  Holthausen, 

Saite  und  alle  noch  tiefere  Saiten  gedämpft  sind;  die  höheren  da- 
gegen lässt  man  frei  schwingen.  Das  Instrument  antwortet  mit 
einem  Klang,  der  dem  hineintönenden  an  Höhe  gleichkommt.  Dieser 
Versuch  am  Klavier  ist  jedenfalls  weniger  beweiskräftig  als  der  vorher 
beschriebene ,  da  die  Dämpfer  die  Bewegungen  der  Saiten  nicht 
vollständig  verhindern  können. 

Zu  beachten  ist  noch ,  dass  der  Grundton ,  selbst  wo  die 
Fourier'sche  Analyse  ihn  nicht  zu  entdecken  vermag,  gewöhnlich 
vorhanden  ist,  da  er  als  Differenzton  von  jedem  beliebigen  Paar 
benachbarter  Teiltöne  auftritt. 

Nach  dem  was  oben  gesagt  worden  ist,  wird  der  Leser  die 
Behauptung  Hermann's^),  dass  jede  Periodik  von  der  Schwinguugs- 
zahl  n  als  der  ,,Ton"  n  aufgefasst  werde,  richtig  beurteilen  können. 
Die  alte,  stets  gut  bewährte  Theorie  lehrt  uns,  dass  eine  beliebige 
periodische  Vibrationsform  von  der  Schwingungszahl  n  in  Partial- 
vibrationen  zu  zerlegen  ist,  welche  in  den  meisten  Fällen  den  Ton  ii 
als  Differenztou  geben  und  welche  ausserdem  immer  nur  solche  Fasern 
erregen,  deren  Schwingungszahlen  ganze  Vielfache  von  n  sind.  Wenn 
also  das  unbewaffnete  Ohr,  welches  zwischen  Ton  und  Klang  nicht  unter- 
scheidet, eine  Vibration  von  der  Schwingungszahl  ii  als  den  ,,Ton''  n 
bezeichnet,  selbst  wo  die  Sinusschwingung  n  fehlt,  so  ist  dies  nur. 
was  wir  zu  erwarten  hatten.  Anstatt  die  Theorie  des  Hörens  ver- 
dächtig zu  machen,  hat  Hermann  durch  die  von  ihm  hervorgehobeneu 
Thatsachen  —  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen  —  dieselbe  noch 
fester  begründet. 

Der  geneigte  Leser  wird  mir  hoffentlich  diese  Digression  ver- 
zeihen, wenn  ich  hinzufüge,  dass  Lloyd  die  betreffenden  Auseinander- 
setzungen Hermann's  mit  Anerkennung  erwähnt.''^) 

Die  Arbeit  „Speech  Sounds  etc."  ist  nicht  abgeschlossen; 
über  die  Konsonanten  haben  wir  noch  gar  nichts  erfahren.  Ich  bin 
sehr  begierig  auf  die  Behandlungsweise,  welche  diesen  Sprachlauten 
zu  Teil  werden  wird.  Da  die  akustischen  Eigenschatten  der  Ge- 
räuschlaute  noch  so  unklai-  und  schwierig  zu  erforschen  sind,  wird 
eine  Klassifikation  der  Konsonanten  nach  akustischen  Principien 
kaum  ausführbar  sein.  Hoffentlich  wird  die  Zukunft  die  dunklen 
Punkte  aufklären;  auf  keinen  Fall  sind  wir  verpflichtet  die  Vokale 
in  künstliche  Sj'steme  einzuzwängen,  bloss  weil  die  Aufstellung  eines 
natürlichen  Konsonantensystenis  vorläufig  auf  praktische  Schwierig- 
keiten stösst.  In  diesem  wichtigen  Punkte,  wenn  es  also  gilt,  die 
künstlichen  Lautsysteme  zu  bekriegen,   stimme   icli   mit  Lloyd  voll- 


^)  L.  Hermann,  FhonopUotographische  Untersuchungen  lU,  Archiv 
f.  d.  ges.  Physiologie  Bd.  XL VII,  S.  390. 
V  Phon.  Stud.  IV.  304. 


Studies  and  Notes  in  PMlology  and  Literature.  171 

ständig  überein.  Es  ist  widernatürlich,  zwei  Laute  in  verschiedene 
Ecken  des  Vokalschenias  zu  verlegen,  bloss  weil  sie  in  Bezug  auf 
die  Zungen-  und  Lippenartikulation  verschieden  sind.  Wie  oft 
kann  nicht  die  veränderte  Lippenartikulation  eingetreten  sein,  nur 
um  die  Wirkung  der  veränderten  Zungenartikulation  zu  kompensieren. 
Li  solchen  Fällen  haben  die  bezüglichen  Laute  alle  Aussicht  in  den- 
selben Worten  desselben  Dialekts  gleichzeitig  angewendet  zu  werden, 
und  sie  müssten  in  einem  natürlichen  Sj'stem  unbedingt  neben 
einander  stehen. 

W^enn  ich  hinzufüge,  dass  Lloyds  Behandlung  der  akustischen 
Erscheinungen  eine  Fülle  von  scharfsinnigen  und  richtigen  Einzel- 
bemerkungen enthält,  hoffe  ich,  dass  der  Leser  in  mir  keinen 
blinden  Gegner  Lloyd's  sehen  wird.  In  ^delen  Principfragen  der 
Phonetik  betrachte  ich  ihn  als  einen  mächtigen  Bundesgenossen,  in 
Bezug  auf  das  Studium  der  Mundartikulationen  bezeichnen  seine 
Arbeiten  einen  Wendepunkt. 

Helsingfors.  Hugo  Pipping. 


Studies  and  Notes  in  Philology  and  Literature.  Published 
under  the  Direction  of  the  Modern  Language  Departments 
of  Harvard  University  by  Ginn  &  Company,  Boston  1892. 

—  128  S.     8». 

Laut  Vorwort  und  beigelegtem  Zettel  sollen  diese  Veröffent- 
lichungen fortan  jährlich  erseheinen  und  kürzere  Notizen  sowol  wie 
längere  Abhandlungen  von  Lehrern  und  Studirenden  der  neueren 
Sprachen  an  der  Harvard  University  bringen.  Die  folgenden  Hefte 
werden  umfangreicher  als  das  vorliegende  ausfallen,  dieses  soll  jedoch 
schon  durch  seinen  Inhalt  den  Charakter  der  beabsichtigten  Unter- 
nehmung als  eines  Organs  für  sprachwissenschaftliche  und  litterar- 
historische  Arbeiten  anzeigen. 

Der  Inhalt  des  ersten  Bandes  geht  zwar  mehr  die  Anglisten 
an,  doch  findet  sich  auch  allerlei  für  die  romanische  Philologie 
interessantes  und  beachtenswerthes  darin.  Den  Eeigen  eröffnet 
G.  L.  Kittredge  mit  einer  längeren  Arbeit  über  die  mittelengl. 
Übersetzimg  des  afrz.  Bosenromans.  Er  widerlegt  schlagend  Louns- 
bury's  Versuch  (in  dessen  Studies  in  CJiaucer,  Newyork  1892),  diese 
Dichtung  wiederum  Chaucer  zuzuschreiben  —  von  letzterem  könnten 
höchstens  die  ersten  1705  Verse  stammen,  ein  Zugeständnis,  das 
mit  dem  Ergebnis  von  Kaluzas^)  jüngst  erschienener  Schrift:  CJiaucer 


')    Dessen   neue,    für   die   Chaucer   Society   besorgte   Ausgabe   des 
nt  of  the  Böse  (frz.  und  engl.)  Part  I,  London  1891,  Ki.  natürlich 


Bomamit 

noch  nicht  benutzen  konnte. 


172  Beferate  und  Rezensionen.     F.  Holthausen, 

und  der  Rosenroman  im  Einklang  steht  (Kaluza  hält  indessen  auch 
noch  V.  5814 — 7698  für  echt).  —  Es  folgt  eine  sehr  interessante 
Abhandlung  von  E.  S.  Sheldon  über  den  Ursprung  der  englischen 
Buchstabennamen,  wobei  die  von  h,  y  und  z  als  besonders  schwierig 
ausführlichere  Behandlung  erfahren.  Für  h  ist  von  einem  vulgärlat. 
aka  oder  aMka  auszugehn,  das  ansprechend  aus  der  Aufzählung  der 
mutae  bei  Grammatikern  erkhärt  wird,  die  }x(a)  auf  h(a)  folgen 
lassen,  wobei  letzteres  natürlich  beim  Verstummen  des  Hauches  im 
vulgärlat.  zu  a  werde.  Man  sprach  also  a-ka,  und  dies  ward  der 
alphabetische  Name  für  h,  weil  k  selbst  fast  garnicht  gebraucht, 
sondern  durch  c  ersetzt  wurde.  Das  neben  zed  vorkommende  englische 
izzard  für  Z  möchte  Sheldon  aus  frz.  et  zcde  '  und  z'  ableiten,  wie 
man  am  Ende  des  Alphabets  wohl  gesagt  hätte.  Er  vergisst  jedoch 
nicht  hinzuzufügen,  dass  es  neuprov.  izedo,  katal.  idzda  heisst. 
Möglicherweise  könnte  der  Name  auch  aus  afrz.  li  zede  'das  z\  das 
zu  Vizede  umgestaltet  wäre,  entstanden  sein.  Den  eigentümlichen 
Namen  des  y:  ivai,  altengl.  wi  befriedigend  zu  erklären,  ist  dem 
Verf.  nicht  gelungen.  Er  setzt  es  =  nhd.  7ve  und  meint,  Kelten 
hätten  die  Bezeichnung  erfunden,  den  Laut  des  consonantischen  « 
(w)  in  ihrer  Sprache  we  genannt,  das  als  ui  (vgl.  got.  reiks  =  kelt. 
rig  =  lat.  reg-em)  ins  germanische  gedrungen  und  (warum?)  auf  y 
übertragen  wäre.  Nhd.  we  wäre  eine  Anlehnung  an  he,  ce,  de,  etc. 
Ich  möchte  eine  andere  Erklärung  wagen:  wi,  das  als  Name  für  y 
bereits  bei  Gregor  von  Tours*),  dann  in  einem  altengl,  Alphabet 
des  11.  Jahrh.  und  im  Ormulum  erscheint,  kann  ursprünglich  nur 
das  Y  des  gotischen  Alphabets  bezeichnet  haben,  von  Wulfila  zur 
Bezeichnung  des  spirantischen^)  w  gebraucht,  weil  es  in  der  Laut- 
verhindung Ml',  tv  im  Griech.  des  4.  Jahrh.  diesen  Wert  besass. 
Sonst  wurde  es  wie  im  Neugriech.  mit  Entrundung  als  i  ausgesprochen, 
und  daher  mag  das  i  im  Namen  des  Buchstabens  stammen,  wenn 
man  nicht  vielleicht  an  die  griech.  Namen  f.iv,  vv  (gespr.  mi,  ni), 
I?,  ni,  (fl,  yl.,  xpl  erinnern  darf.  Die  Goten  selbst  nannten  das  tv  (Y) : 
manne  (nach  der  Salzburger  Hs),  was  an  altengl.  wynn  neben  iven 
(vgl.  Anglia  13,  3  f.)  erinnert.  Y  hat  im  got.  Alphabet  selbst  die 
doppelte  Geltung  als  Spirans  iv  und  als  Vokal  y,  vgl.  Paylus 
flaikoc,  aiyaggeljo  evuyytkiov,  und  Symaion  J^v/ii£ioi' ,  wobei  die 
Herausgeber  die  Inconsequenz  begehn,  im  ersteren  Falle  wie  in  echt 
got.  Wörtern  (z.  B.  yas)  w,  im  letzteren  y  zu  setzen.  Hier  sprach 
der  Gote  aber  gewiss  mit  den  Griechen  /.  Dieser  Gedanke  an 
gotischen  Ursprung  des  Namens  dürfte  durch  Wörter  wie  Kirche, 


')  Über  Chilpriks  Buchstaben  vgl.  Wiramer.  Die  Runenschrift,  S.  72. 
Anm.  3. 

äj  Vgl.  .Tellinek,  Zeitschr.  f.  deutsches  Altert.  36,  266 ff. 


Studies  and  Notes  in  Fhüology  and  Liter ature.  173 

Pfingsten,  Pfaffe,  Heide,  Taufe,  Tetifel  eine  Stütze  gewinnen,  die 
auf  alte  gotische  Kultureiuflüsse  bei  den  Westgermanen  schliessen 
lassen.  — 

Sheldon  geht  auch  auf  eine  Anzahl  romanischer  Buchstaben- 
namen ein,  besonders  auf  die  merkwürdige  Bezeichnung  des  y  im 
ital.  als  fio,  was  dialectisch  =  lat.  filius  ist,  und  darauf  beruht, 
dass  Y  als  Abkürzung  für  vldq  i^eov,  filius  Bei  {=  Jesus  Christus) 
häufig  war.  Das  afr.  hat  dafür  fius  (fix),  das  prov.  fintz,  dessen  n 
Sh.  aus  fins  =  lat.  finis  erklären  möchte,  weil  y  ziemlich  am  Ende 
des  Alphabets  steht. 

J.  M.  Manly  handelt  dann  mit  grosser  Gelehrsamkeit  und 
vielen  Citaten  über  mittelengl.  (kentisch)  lok-sounday,  resp.  lokes  als 
Bezeichnung  des  Pfingstfestes.  Mit  Beziehung  auf  lat.  clausuni 
Pentecostes,  niederl.  beloken  pinxter  oder  sinxen,  wozu  sich  noch  frz. 
Päques  doses  (Sonntag  nach  Ostern)  stellt,  meint  M.,  der  Ausdruck 
müsse  ursprünglich  den  Sonntag  nach  Pfingsten,  also  den  Schluss 
der  Pfingstoctave,  und  erst  später,  als  man  diese  nicht  mehr 
beobachtete,  durch  Verschiebung  den  Pfingsttag  selbst  bezeichnet 
haben.  Doch  nicht  recht  glaublich!  Ich  denke,  es  wird  damit  der 
Schluss  derOsterzeit  gemeint  sein,  oder  auch  vielleicht  der  Ab- 
schluss  der  grossen  kirchlichen  Festzeit,  die  mit  Weihnachten  an- 
hebt. —  Nochmals  erscheint  dann  Kittredge  mit  einem  Artikel  über 
Henry  Scogan,  indem  er  Brandls  Äusserungen  über  diesen  Freund 
Chaucers  mehrfach  berichtigt  und  urkundlich  zusammenstellt,  was 
wir  von  seiner  Person,  seinem  Leben  und  Dichten  wissen. 

Den  Romanisten  endlich  bringt  Sheldon  wieder  einige  Etymo- 
mologien:  1)  frz.  traitre,  das  aus  lat.  iraditor  abgeleitet  wird; 
2)  frz.  suite,  das  auf  einer  Beeinflussung  des  Grundworts  secta  durch 
suivre  beruhen  soll;  3)  engl,  cruise  kreuzen,  das  S.  durch  die  anglo- 
norm.  geschriebene  Form  cruise  für  afr.  croisier  erklären  will,  die 
dann  die  Aussprache  verändert  haben  soll,  indem  man  dies 
ui  =  oi  fälschlich  als  üi  (wie  in  fruit)  genommen  hätte.  Ebenso 
soll  es  sich  mit  e.  demure,  tune,  gutes  und  rescue  verhalten; 
4)  e.  jeivel,  das  ja  nicht  von  afrz.  joel,  joyal  (nfr.  joyau)  herkommen 
kann,  sondern  als  deminutiv  von  jeu  betrachtet  wird.  Dies  wäre 
im  Frz.  etwa  durch  jouer  beeinflusst,  das  innere  i  beruhte  auf  Ver- 
mischung mit  joie  u.  ä. ,  und  so  kommt  S.  zu  einem  ursprgl.  *Jeuel, 
gieuel,  giuel  oder  jüel  als  Grundfonu  des  engl.  Wortes.  —  Es  ist  ihm 
offenbar  die  Arbeit  von  Behrens  über  die  frz.  Lehnwörter  im  eng- 
lischen entgangen,  der  überzeugend  in  jewel  Einfluss  von  frz.  jeu 
auf  afrz.  Joyal  annimmt,  und  in  einigen  der  unter  3  angeführten 
Wörtern  (wie  noch  in  nephew  und  endue)  Einwirkung  der  späteren 
continentalfrz.  Formen  mit  eu  constatiert.  Cruise  aber  kommt  (nach 
Skeat)  zunächst  aus  holl.  kruisen;  tune  ist  noch  ganz  unklar.  —  Zum 


174  Beferate  und  Rezensionen.     E.  Stengel. 

Schluss  bringt  K.  Francke  einen  kleinen  Beitrag-  zur  Goethe- 
philologie, indem  er  die  Vermutung  aufstellt,  der  Mummenschanz- 
aufzug des  Plutus  im  2.  Teile  des  Faust  dürfte  durch  Scenen  aus 
Mantegnas  Trmmph  Caesars  (eine  Skizze  der  betreffenden  Fiauren 
und  Gruppen  ist  beigegeben)  beeinjfiusst  sein.  Mir  scheinen  indessen 
die  Übereinstimmungen  zu  allgemein  und  die  Verschiedenheiten  im 
einzelnen  zu  gross,  als  dass  ich  F. 's  Gedanken  —  trotz  der  noch 
als  Stützen  beigebrachten  Notizen  —  überzeugend  linden  könnte. 

Mag  man  auch  Einzelnem  in  diesem  ersten  Bande  seine  Zu- 
stimmung versagen  müssen,  als  Ganzes  betrachtet,  erweckt  er  jeden- 
falls den  besten  Eindruck  von  ernstem  wissenschaftlichem  Streben 
jenseits  des  Ozeans.  Legen  wir  ihn  denn  mit  Dank  und  Anerkennung 
für  das  Geleistete  aus  der  Hand  und  wünschen  ihm  viele  tüchtige 

N^^^^^^l^^i"'-  Ferd.  Holthaüs-en. 


Üeiiitte,  Le  Rev.  P.  Henri.  Les  universUes  frangaises  au  moyen- 
dge.  Avis  ä  M.  Marcel  Fournier,  editeur  des  Statuts  et 
Privileges  des  Universites  franc^^aises,  avec  des  documents 
inedits.  Paris,  E.  Bouillon,  1892.  8"^.  99  S. 
Der  Verfasser  dieser  heftigen  Streitschrift  ist  den  Historikern 
durch  mehrere  verdienstliche  Werke  über  die  Uiüversitäten  des 
Mittelalters  wohl  bekannt.  Er,  dem  die  für  diesen  Gegenstand 
reichsten  Sammlungen  des  vatikanischen  Archivs  zur  Verfügung 
stehen,  scheint  es  sich  aber  leider  auch  zur  Aufgabe  zu  machen, 
die  Arbeiten  Anderer  auf  dem  gleichen  Gebiete  mit  argwöhnischen 
Blicken  zu  verfolgen  und  in  persönlich  gereizter  Weise  zu  kritisieren. 
Diesem  Schicksal  ist  bereits  der  Band  I  von  Kaufmann's  Geschichte 
der  detdschen  Universitäten  verfallen,  in  vorliegender  Schrift  kommen 
die  Werke  Marcel  Fournier's  an  die  Reilie.  Nachdem  zunächst  die 
„Invecfives"  Fournier's  „en  toiife  hrievcte"  zurückgewiesen  sind,  werden 
die  Fehler  und  Lücken,  welche  seine  Sammlung  Slatuts  et  Privileges 
des  Universites  frangaises  aufweist ,  an  einigen  Stücken  „comme 
specimen  de  Vensemhle"  aufgespiesst.  „Si  M.  Foiirnier  ne  veid  pas  la 
2iaix"  fährt  der  rev.  P.  Denitie  kampfmutig  fort,  „il  aura  la  guerre 
et  je  discuterai  tont  le  Eecncil  de  la  manicre  suirante,  en  nie  reservant 
pour  une  autre  fois  la  criticpie  de  son  ouvrage  Uistoirc  de  la  science 
du  droit  en  France."  Glücklicherweise  folgen  auf  die  43  Seiten 
herber  Polemik  noch  eine  Reihe  von  bislang  unveröffentlichten 
„Pieces  justißcatives" ,  welche  52  Seiten  füllen.  Es  sind  interessante 
Schriftstücke  für  die  Geschichte  der  Universitäten  Orleans,  Angers, 
Toulouse,  Montpellier,  Avignon,  Cahors,  Perpignan,  Orange  und  Billom 
während  des  14.  und  15.  Jahrhunderts.  g    Stengel 


Ferdinand  Lot.     L'enseignement  superieur  en  France  etc.    175 

AUaiii,  E.  L' Oeuvre  scolaire  de  Ja  revolntion  1789 — 1802.  Etudes 
critiques  et  docuraents  inedits.  Paris.  Finnin-Didot  1891. 
80.     436  S. 

Entgegen  den  üblichen  Lobpreisungen  der  grossen  Revolution, 
wonach  ihr  die  Schöpfung  der  französischen  Nationalschule  zu  ver- 
danken wäre,  sucht  Allain  auf  Grund  sorgsamer  Benutzung  der 
sehr  ausgiebigen  neueren  »Speziallitteratur  und  ausgedehnter  Durch- 
forschung der  Original-Urkunden,  die  fast  gänzliche  Unfruchtbarkeit 
dieser  „arche  sacrosainte"  auf  diesem  Gebiete  nachzuweisen.  Die 
aus  früheren  Jahrhunderten  überkommenen  Organisationen  wurden 
in  jenen  stürmischen  Jahren  zwar  recht  gründlich  zerrüttet  und 
geradezu  ausgerottet,  aber  etwas  Neues  und  Dauerndes  zu  schaffen, 
dazu  fehlte  den  Männern,  die  damals  die  Entscheidung  in  Händen 
hatten,  zwar  nicht  der  Wille,  aber  die  Kraft  und  auch  die  für  alle 
öffentlichen  Einrichtungen  so  überaus  wichtigen  materiellen  Mittel. 
Der  Verfasser  hat  den  Stoff  in  8  Kapitel  vertheilt,  welche  die 
Behandlung  der  Schulangelegenheiten  unter  der  Constituante  und 
Legislative,  unter  der  Convention,  dem  Directoire  und  dem  Consulat 
schildern.  Die  Fülle  des  angeführten  Detailmaterials  wirkt  oft  ver- 
wirrend und  man  kann  sich  dem  Eindruck  nicht  entziehen,  dass  der 
A'erfasser  allzu  sehr  darauf  bedacht  gewesen  ist,  die  Schwächen  der 
damaligen  Unterrichtsorganisationen  aufzudecken  und  die  Schäden, 
welche  die  überstürzte  Zerstörung  der  früheren  nach  sich  zog,  hei'vor- 
zuheben.  Lnmerhin  ist  es  aber  nützlich  den  Gegenstand  einmal, 
wenn  auch  einseitig  von  dieser  Seite  her  beleuchtet  zu  sehen,  zumal 
das,  wie  bereits  bemerkt,  fast  überreich  mitgeteilte  Quellenmaterial 
schon  an  und  für  sich  unser  Interesse  in  hohem  Masse  in  Anspruch 
nimmt. 

E.  Stengel. 

Lot,  Ferdinand.  L'eyisdgnement  superieur  en  France  ce  qu'U  est 
—  ceqiCU  devraitetre.  Paris,  H.  Welter  1892.  8".  144  S. 
Preis  2  Fr. 

Mit  rühmenswertem  Freimuth  sucht  der  Verfasser  dieser  Schrift 
die  Schäden  aufzudecken,  an  denen  der  akademische  Unterricht  in 
Frankreich  krankt.  Indem  er  zeigt,  wie  Frauki'eich  auf  dem  Gebiete 
wissenschaftlicher  Forschung  nicht  nur  von  Deutschland  und  Öster- 
reich, nein,  auch  von  Italien,  der  Schweiz  und  Schweden  überliügelt 
sei,  und  selbst  hinter  Russland,  den  vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
ja  hinter  Spanien  zurückzubleiben  droht,  appelliert  er  mit  warmen 
Worten  an  den  Ehrgeiz  seiner  Landsleute.  ,,//  faut  donc  nous  mettre 
ä  l'ceuvre  resolument  et  reorganiser  notre  enseignement  superieur  sans 
perdre  une  mifiute,  en  sorte  que  Je  XX«^  siede  n'ait  pas  ä  connaitre 


176  Referate  und  Bezensionen.    E.  Stengel, 

les  hontes  du  XIX  ^."  Aber  er  verhehlt  sich  am  Schlüsse  seiner 
Ausführungen  nicht,  wie  wenig  Aussicht,  gehört  und  befolgt  zu 
werden,  sein  Weckruf  habe.  „Quand  on  songe"  bemerkt  er  „que  la 
plupart  des  reformes  que  nous  avons  signalees  etalent  dejä  reclatnees 
par  Victor  Cousin  ü  y  a  soixante  ans,  au  peu  d'effet  produit  par  les 
paroles  ä  la  fois  indignees  et  eloquentes  de  Cousin,  de  Laboulaye, 
de  MM.  Renan,  Michel  Breal,  G.  Monod,  Lavisse  et  de  hien  d'autres, 
on  ne  peut  se  defendre  d'un  profond  decouragement  et  desesperer 
de  Vavenir." 

Die  äussere  Einteilung  des  Stoffes  bei  Lot  ist  leider  eine  etwas 
nachlässige.  Einem  einleitenden  Abschnitte  folgen  zunächst  4  weitere, 
welche  1.  L' Organisation.  Les  meihodes,  2.  Les  maitres,  3.  Les 
etudiants,  4.  Les  ^coles  speciales  behandeln.  Ein  fünfter  überschrifts- 
loser giebt  eine  Übersicht  der  verschiedenen  Wissenschaften,  welche 
eine  faculte  des  lettres  (d.  h.  die  pliilologisch-historische  Sektion 
einer  philosophischen  Fakultät)  umfasst  oder  umfassen  sollte.  Ohne 
jede  äussere  Trennung  schliesst  sich  offenbar  auf  S.  105  dann  ein 
sechster  Abschnitt  an,  für  den,  nach  den  Columnentiteln  von  S.  113 
an  zu  schliessen,  die  Gesamt  -  Überschi'ift  des  ganzen  Werkes  beab- 
sichtigt war. 

Ein  „Avertissement  final"'  und  eine  wertvolle  Bibliographie 
bilden  den  Schluss  des  trotz  mancher  unnützen  Wiederholungen  und 
trotz  recht  ungleicher  Behandlung  des  Stoffes  doch  recht  verdienst- 
lichen und  anregenden  Werkchens. 

In  der  Einleitung  geht  der  Verfasser  davon  aus,  dass  die 
Universitätsfrage  in  Frankreich  zwar  seit  dem  Tage,  an  welchem 
die  Convention  die  22  Universitäten  des  alten  Frankreich  aufgehoben, 
nie  von  der  Tagesordnung  verschwunden ,  dass  sie  aber  noch  jetzt 
ungelöst  sei.  Inzwischen  hätten  die  Wissenschaften  und  die  Gelehr- 
samkeit einen  wunderbaren  Aufschwung  genommen  „grdce  suHout 
aux  travaux  des  universitcs  allemandes",  während  „nous  n'avons  pris 
qu'ime  part  derisoire  au  mouvement  scientifique  qui  a  renouvele  Vesprit 
humain  et  la  face  du  monde".  Zwar  sei  besonders  in  den  letzten 
10  Jahren  vieles  geschehen.  Es  sei  aber  gefährlich  zu  glauben 
„que  notre  enseignement  superieur  etait  parvenu  ä  un  dcgre  de  pros- 
perite  remarquablc  et  que  le  plus  fort  pour  le  relever  etait  fait."  Das 
interessante  Buch  Liard's  Universites  et  Facultes ,  Paris  1890  er- 
wecke in  dieser  Hinsicht  viel  zu  optimistische  Vorstellungen.  Die 
jetzt  unbestrittene  wissenschaftliche  Hegemonie  Deutschlands  berulie 
in  der  Organisation  seiner  Universitäten.  „Certes  je  ne  nierai  ni 
IHtitelUgencc,  ni  Vopinidtrcte,  ni  le  travail  acharne  des  professeurs  et 
des  etudiants  allemands;  mais  d' autrcs peuples  avec  des  qualites  differentes, 
moins  de  perseverance  peut-etre,  mais  plus  de  vivacite,  peuvent  arriver 
ä  des   resuJtats  analogues  on  supcrieurs."    Lot   giebt   nun   eine   ge- 


Ferdinand  Lot.     L'enseignement  superieur  en  France  etc.     177 

drängte  Skizze  der  Organisation  des  deutschen  Uuiversitäts-Unterrichts. 
Sie  ist  im  wesentliclien  zutreftend,  aber  die  Tendenz  des  Verfassers, 
die  deutschen  Einrichtungen  als  Vorbild,  als  Ideal  für  die  in  Frankreich 
zu  schaffenden  hinzustellen,  verführt  ihn  doch  zu  manchen  irrigen  Be- 
hauptungen. Er  beginnt  gleich  mit  einer  recht  augenfälligen :  Toutd''abord 
en  Ällemagne  pas  d'ecoles  speciales;  V enseignement  superieur  se  con- 
centre  tout  entier  dans  vingt  et  ime  universites.  CJtacune  de  ces  uni- 
versites  donne  veritablement  un  enseignement  encyclopedique  sur  toutes 
les  branches  du  savoir  hmnain."  Die  letztere  Behauptung  trifft  in 
so  grosssprecherischer  Weise  auch  nicht  auf  unsere  grössten  Uni- 
versitäten zu,  wir  könnten  schon  zufrieden  sein,  wenn  au  diesen 
keine  wesentlichen  Lücken  beständen!  Die  Unvollständigkeit  der 
kleineren  Universitäten  vollends  wird  für  die  deutschen  Studierenden 
nur  wegen  des  ausgiebig  benutzten  Freizügigkeitsrechtes  minder 
fühlbar.  Und  haben  wir  denn  keine  polytechnischen  Hochschulen, 
keine  Bau-  und  Bergbau- Akademien  etc.? 

Auch  zwei  von  den  4  Punkten,  welche  die  Hauptvorzüge  des 
deutschen  vor  dem  französischen  Universitätswesen  darstellen  sollen, 
überschätzt  Lot  ihrer  Tragweite  nach.  Zweifellos  ist  die  Belastung 
der  französischen  Professoren  mit  Abhalten  der  Abiturientenprüfungen, 
wodurch  nahezu  3  Monate  des  Schuljahres  beansprucht  werden,  im 
Interesse  ihrer  wissenschaftlichen  Studien  sehr  zu  beklagen,  auch  ist 
die  regelrechte  Erneuerung  der  deutschen  Professoren  aus  dem  in 
Frankreich  unbekannten  Privatdozentenstande  ein  unleugbarer  Vor- 
zug. Ebenso  ist  drittens  die  Einmischung  des  Staates  bei  Feststellung 
des  Lehrplans  zwar  unverträglich  mit  der  jeder  wahren  Wissenschaft 
unentbehrlichen  Freiheit.  Wenn  Lot  aber  bei  jüngeren  deutschen 
Professoren  Umfrage  halten  wollte ,  so  würde  er  erfahren ,  dass 
unsere  Uuterrichtsverwaltungen,  insbesondere  die  sich  immer  selbst- 
herrlicher gerirende  preussische,  neuerdings  auf  dem  besten  Wege 
sind,  in  diesem  Punkte  französische  Zustände  auch  bei  uns  einzu- 
führen. Noch  weit  weniger  trifft  unser  Verfasser  indessen  bei  einem 
vierten  Punkt  das  Richtige  „L'hegemonie  scientißque  de  V Ällemagne" 
sagt  er  S.  12  „vieHt  aurtout  de  ce  que  ses  universites  ne  decernerd 
pas  de  grades  donnant  acces  ä  des  fonctions  publiques.  Far  suite  elles 
peuvent  donner  un  enseignement  absolumod  desinteresse  et  scientifique, 
etant  debarassees  de  toute  preoccupation  d^exanien  et  de  concours." 
Die  Voraussetzung  Lot's  ist  fast  durchaus  unrichtig.  Die  Ver- 
hältnisse in  den  einzelnen  deutschen  Staaten  und  für  die  einzelnen 
Fakultäten  liegen  doch  gar  verschieden.  Soviel  aber  steht  fest, 
dass  der  wissenschaftliche  Unterricht  in  den  juristischen  Fakultäten 
der  preussischen  Universitäten,  welche  mit  Staatsprüfungen  am 
wenigsten  zu  thun  haben,  am  meisten  zu  wünschen  übrig  lässt.  Im 
Übrigen  liegt  z.  B.  der  theologischen  Fakultät  der  Universität  Marburg 

Ztschr.  f.>.trz.  Spr.  u.  Litt.  XV-.  12 


178  Referate  und  Rezensionen.     J.  Sarrazin, 

als  solcher  die  Abnahme  der  ersten  theologischen  Prüfung  ob,  die 
ärztliche  Vorprüfung  findet  unter  Vorsitz  des  jeweiligen  Dekans  der 
einzelnen  medizinischen  Fakultäten  statt  und  mehrere  andere  Prüfungs- 
kommissionen werden  in  Preussen  zwar  alljährlich  vom  Minister  er- 
nannt, bestehen  aber  naturgemäss  fast  ausschliesslich  aus  Professoren, 
ja  in  den  Fächern,  für  welche  nur  ein  Lehrstuhl  vorhanden  ist,  wird 
selbstverständlich  Jahr  aus  Jahr  ein  derselbe  Professor  zum  Exa- 
minator bestimmt.  Es  muss  daher  gerade  umgekehrt  in  der  innigen  Ver- 
bindung des  wissenschaftlichen  Unterrichts  mit  der  Staatsprüfung, 
darin,  dass  womöglich  derselbe  Gelehrte,  dessen  Vorlesungen  der 
Studierende  besucht,  zugleich  auch  über  seine  wissenschaftliehe  Be- 
fähigung in  der  Schlussprüfung  zu  entscheiden  hat,  der  wirkliche  Vorzug 
deutscher  Einrichtungen  erblickt  werden.  Etwaige  Missstände  werden 
in  der  That  durch  das  Recht  des  Untemchtsministers,  die  Pei-sonen 
der  Examinatoren  alljälulich  völlig  selbständig  zu  ernennen,  sowäe 
durch  die  Freizügigkeit  der  Studierenden  so  gut  wie  beseitigt.  Mit 
grosser  Besorgnis  für  die  gedeihliche  Entwicklung  des  wissenschaft- 
lichen Studiums  in  Deutschland  muss  uns  darum  die  Beobachtung 
erfüllen,  dass  eine  engherzige  Bureaukratie  in  Preussen  immer 
deutlicher  auf  die  Beseitigung  unserer  vortrefflichen  Einrichtungen 
hinarbeitet,  und  zunächst  auch  die  Prüfung  für  das  Lehrfach  vom 
akademischen  Unterricht  loslösen  will,  um  sie  einer  Central-Kommission 
zuzuweisen.  Die  traurigen  Erfahrungen,  welche  die  Juristen  mit 
der  nämlichen  Organisation  haben  machen  müssen,  genügen  also  noch 
nicht.  Es  müssen  eben,  koste  es,  was  es  wolle,  französische 
Zustände  bei  uns  herbeigeführt  werden! 

E.  Stengel. 


Lavisse.    Ernest.     iJtudes   et  etudiants.   —   Paris,  Armand  Colin 
et  Cie.,  1890.  XXXVII  und  354  Seiten.  Preis  3,50  Franken. 

Der  Historiker  Ernest  Lavisse  gilt  in  Frankreich  als 
„un  des  esprits  les  mieux  irempes  et  les  plus  üigoureux  de  la  nouveUe 
Sorbonne."  Er  hat  mit  dem  Freimut,  den  geistige  Überlegenlieit 
zuweilen  giebt,  einzelne  Missbräuohe  im  französischen  Unterrichtswesen 
gegeisselt  und  vor  allem  das  veraltete  Baccalaureat  unbarmherzig 
und  erfolgreich  angegriffen.  Als  Redaktionsmitglied  der  Revue 
internationale  de  VEnseigneinent,  hat  er  in  den  massgebenden  Kreisen 
Frankreichs  einen  merklichen  Einfiuss  ausgeübt,  und  als  Schöpfer 
der  „Association  des  etudiants"  in  Paris  den  Versucli  unternonmien, 
ein  französisches  Studentenleben  zu  schaffen,  welches  dem  gemüt- 
lichen Leben  deutscher  Musensöhne  einigermassen  nahe  konunen 
soll.  Im  rüstigsten  Mannesalter  ist  der  vortreffliche  Gelehrte  und 
Studentenpapa    in    die    Akademie    eingetreten,    zu    deren    hervor- 


Ernest  Lavisse.     Guides  et  etudiants.  179 

ragendsten  Zierden  er  zählt.  Sein  neuestes  Werk  Viie  generale  de 
rhistoire  polltique  en  Earope  verdiente  die  Elire  einer  Übertragung 
ins  Deutsclie. 

Vorliegendes  Buch  ist  eine  Fortsetzung  zu  den  1886  in  ver- 
schiedenen Zeitungen  erschienenen  QuesUons  d'enseignement  national, 
und  die  Gelegenheitsreden  und  Zeitungsaufsätze ,  aus  denen  es 
besteht,  bilden  nicht  unwichtige  Urkunden  zur  Geschichte  der  vor- 
läufig abgeschlossenen  ßeformbewegung  in  Frankreich. 

Nach  einer  warmempfundenen  Lebensskizze  des  1884  ver- 
storbenen Philologen  A.  Dumont  legt  Lavisse  seine  Ansichten  über 
die  Gymnasial  Studien  ausführlich  dar  (S.  35 — 109).  Obwohl  voll- 
ständig auf  klassischem  Boden  stehend  und  daher  ein  Gegner  von 
RaoulFrary,  verkennt  Lavisse  doch  nicht  das  veraltete  und  nutz- 
lose, was  die  Lehrpläne  belastet.  Er  zerpflückt  Wort  für  Wort 
einige  der  kühnsten  Leitsätze  aus  Frarys  Aufsehen  erregendem 
Buche  La  question  du  grec  et  du  latin  und  zeigt  das  Haltlose  einer 
grundstürzenden  Unterrichtsrefonn,  welche  die  Schuljugend  zu  Probir- 
material  herabsinken  lässt; 

„L'antiquiteestla  meilleure  ecole  de  la  jeunesse,  parce 
qu'elle  est  la  jeunesse  de  I'humanite",  sagt  er  treffend  und 
zu  den  Gegnern  des  Humanismus  gewandt:  „H  est  difficile  de  faire 
apprecier  les  bienfaits  de  la  culture  classique  ä  ceux  qui  ne  Font 
pas  regne;  mais  il  est  difticile  aussi  de  douner  ä  des  myopes  l'idee 
du  plaisir  que  Ton  eprouve  ä  contempler  et  —  comme  disent  les 
peintres  —  ä  lire  un  vaste  paysage.  ßien  de  plus  reel  pourtant,  ni 
de  plus  vif  que  ce  plaisir."  Dabei  ist  Lavisse  kein  einseitiger 
Verfechter  der  klassischen  Sprachen,  kein  Feind  der  modernen  Real- 
bildung: „H  faut  revenir  ä  l'idee  que  l'esprit  de  l'ecolier  est  un 
Instrument  ä  fagonner,  non  pas  un  ma gasin  ä  remplir,  et  que 
l'education  secoudaire  a  pour  unique  objet  l'education  intellec- 
tuelle  et  morale  .  .  .  L'ecolier  qui  aura  ete  mis  ä  ce  regime 
recevra  tout  ä  la  fois  l'education  eternelle,  celle  qui  convient 
ä  Thonuete  homme,  —  comme  on  disait  jadis,  —  de  tous  les  temps 
et  de  tous  les  pays,  et  l'education  qu'on  peut  appeler  relative, 
Celle  que  reclame  toute  generation  destineti  ä  vivi'e  ä  une  certaine 
date  en  un  certain  lieu.  H  emploiera  le  temps,  jadis  gaspille  en 
exercices  inutiles,  —  (man  denke  z.  B.  an  die  lateinischen  Vers- 
übungen französischer  Gymnasien!),  —  ä  penser  et  äecrire  dans 
sa  langue,  et  ä  etudier  notre  litterature  nationale."  Damit 
wäre  er  auf  dem  Standpunkt  derjenigen,  welclie  die  I^lutterspi'ache 
als  Mittelpunkt  echter  Bildung  bezeichnen.  Das  Enseignemeut 
classique  moderne  der  Franzosen  suclit  dieses  Ideal  —  vorläufig 
noch  sehr  unvollkommen  —  zu  vei wirklichen. 

12* 


180  Referate  und  Rezensionen.    J.  Sarrazin, 

Über  die  Schlussaktrede  für  die  Ecole  alsacienne  (S.  75 — 97) 
mit  dem  wehmütig  patriotischen  peroratio,  über  die  Gymnasial- 
erinnerungen (98 — 109)  können  wir  hinweggehen,  um  zu  den  wich- 
tigeren Sorbonnereden  überzugehen,  die  allerlei  Einblicke  in  das 
Prüfungs-  und  Studeutenwesen  bieten,  insbesondere  in  die  neue 
Sorbonne.  Während  die  Vorlesungen  der  philosophischen  Fakultät 
zu  Paris  meistens  von  Studenten  gar  nicht,  um  so  mehr  aber  von 
Wissensdurstigen  und  Müssiggängern  beiderlei  Geschlechts  besucht 
waren,  hat  die  Gründung  zahlreicher  Stipendien  (hourses  de  licence, 
hourses  d'agregation)  den  Lehrern  an  der  Sorbonne  neuerdings  ein 
mit  bestimmten  Leruzielen  ausgestattetes  Publikum  gegeben,  welches 
eher  dem  Zuhörerkreis  deutscher  Hochschulen  ähnelt.  Um  zu  ver- 
hindern, dass  diese  Studiants  de  Jettres,  die  übrigens  grossentheils 
aus  jüngeren  Gymnasiallehrern  bestanden,  welche  nach  einem  höheren 
„grade"  strebten,  ohne  Leitung  in  den  Tag  hineinarbeiteten,  oder  die 
jprogrammes  banausisch  Stück  für  Stück  sich  einpaukten,  Hess 
Lavisse  für  sie  Privatvorlesungen  (Conferences)  ins  Leben  treten, 
nachdem  die  Fakultät  zwei  Studienleiter  ernannt  hatte,  nämlich 
Lavisse  selbst  und  den  Altphilologen  Croiset.  Bald  gestaltete  sich  der 
Wiederbeginn  der  Vorlesungen  (la  rentree)  zu  einer  Art  Familien- 
feier, in  welcher  die  Lehrer  der  Fakultät  in  corpore  vor  den  ver- 
sammelten Jüngern  ei-schienen,  wobei  eine  angemessene  Ansprache 
gehalten  wurde.  So  wurden  die  lockeren  Bande  fester  geknüpft. 
Leider  sind  in  Frankreich  die  Studenten,  welche  nicht  eines  be- 
stimmten Examens  halber  Vorlesungen  über  den  und  den  Gegenstand 
hören,  noch  viel  seltener  als  in  Deutschland:  die  künftigen  Gjnnnasial- 
lehrer  (les  fufiirs  universitaires)  werden  hüben  und  drüben  immerdar 
die  Hauptphalanx  der  Zuhörer  bilden.  Dass  der  ganze  Zuschnitt 
der  Vorlesungen  in  erster  Reihe  diese  berücksichtigt,  scheint  den 
wissenschaftlichen  Historiker  Lavisse  etwas  zu  schmerzen:  „Le  travail 
affranchi  de  tout  examen  n'est  pas  organise  comme  il  le  faudrait 
k  la  Sorbonne.  Nous  ne  sommes  pas  encore  ce  que  nous  deviendrons 
certainement,  une  ecole  de  haute  vidgarisation  et  de  libres  recherches, 
capable  de  donner  Tinventaire  des  connaissances  acquises  et  d'accroitre 
ces  connaissances."  (Einleitung  S.  XXIII).  Die  deutsche  Hoch- 
schule schwebt  hier  dem  französischen  Gelehrten  vor  Augen.  Ob 
aber  der  eminent  praktische  Sinn  der  Franzosen  jemals  ein  Studium 
der  Philologie  oder  der  Geschichte  an  und  für  sich,  wie  es  an 
den  Universitäten  Deutsclilands  ohne  jede  Rücksicht  auf  eine  etwaige 
Staatsprüfung  betrieben  wird,  zur  Blüte  gelangen  lässt,  dürfte 
fraglirli  erscheinen,  so  lange  die  Unterrichtsverwaltung  für  die 
Prüfungen  Jahr  für  Jahr  bestimmte  programmeri  aufstellt.  Erst 
befreie  man  das  Staatsexamen  von  seinem  banausischen  Anstrich, 
meint    Lavisse,    dann    erlangen    die    französischen    Philologen    die 


Ernest  Lavisse.     ^tudes  et  etudians.  181 

für  Jünger  der  Wissenschaft  unbedingt  erforderliche  Freiheit  der 
Bewegung.  1) 

Die  Reden,  welche  Lavisse  von  1885 — 88  bei  der  rentree 
lüelt,  bieten  in  fesselnder  Gestalt  eine  Menge  seitdem  zum  Teil  ver- 
wirklichter Anregungen.  Ihre  Themata  lauten  Examens  et  etudes, 
^ducation  professionelle  et  education  scientißque,  L'adivite  personnelle, 
und  zusammenfassend  Ancienne  et  nouvelle  Sorbonne.    (S.  113 — 187.) 

Mit  der  Reform  des  französischen  Hochschulunterrichts  hängt 
aufs  engste  die  der  Dezentralisation  des  üniversitäts- 
studiums  zusammen,  d.  h.  die  Neugestaltung  der  gewöhnlich  zu 
Einpaukstationen  für  Prüflinge  heruntergekommenen  Eacultes  de  pro- 
vince.  Bei  verschiedenen  öffentlichen  Anlässen,  z.  B.  bei  den 
Jubiläumsfestlichkeiten  von  Montpellier,  von  Nancy  haben  Vertreter 
der  Regierung  es  öffentlich  ausgesprochen,  dass  Paris  zwar  Frank- 
reichs geistiger  Mittelpunkt  bleiben,  aber  der  Provinz  das  Recht 
eingeräumt  werden  müsse.  Gelehrte  aller  Fakultäten  ebensogut  aus- 
zubilden, wie  Paris.  Trotz  verschiedener  Anläufe,  welche  auf 
Lavisse's  Betreiben  Kammer  und  Senat  genommen  haben,  bleibt 
jetzt  noch,  nachdem  Frankreich  das  neue  Elementarschulgesetz  mit 
grossartigen  Opfern  und  gewaltigen  Anstrengungen  siegreich  durch- 
geführt, nachdem  für  Entlastung  der  Mittelschulen  und  Berück- 
sichtigung der  Ansprüche  neuzeitigen  Lebens  in  den  Gymnasial- 
lehrplänen vollauf  Sorge  getragen  ist,  bleibt  noch  die  Frage  der 
Hochschulorganisation  in  Frankreich  ungelöst.  „Nulle  part  la  vie 
commune  n'est  si  intense  que  chez  nous",  sagt  Lavisse  selbstbewusst, 
„mais  eile  serait  plus  feconde,  si  nous  disseminions  sur  notre  terri- 
toire  de  grandes  ecoles  qui  stirauleraient  ou  ranimeraient  tous  les 
esprits  divers  dont  se  compose  notre  genie  fran^ais.  Apparemment, 
nous  ne  redoutous  plus  un  reveil  du  federalisme:  les  üniversites 
provinciales  et  parisienne  serviront  en  commun  la  science  et  la 
patrie".  Bis  jetzt  besteht  neben  Paris  mit  ca.  10000  Studenten 
erst  in  Lyon  eine  vollständige  Universität  mit  ca.  1500  Studenten 
und  104  akademischen  Lehrern,  die  vonseiten  der  Departements- 
verwaltung und  der  Stadtgemeinde  reichliche  Unterstützung  geniesst, 
nicht  minder  auch  von  der  Sociefe  des  amis  de  V  Universite  lyonnaise^). 


^)  „L'office  le  plus  eleve  des  Ulliversites  sera  de  former  des  savants. 
Tous  leurs  eleves  n'atteindront  pas  ä  cette  dignite,  mais  tous  profiteront 
d'une  education  scientifique  qui  les  rendra  superieurs  ä  leurs  metiers, 
embellira  leurs  intelligences  et  les  cultivera.  Osons  dire  que  i'homme 
cultive  est,  chez  nous,  trop  rare;  trop  d'intelligences  fran(;aises  sont 
enfermees  entre  des  limites  etroites.'"     (S.  XXXI). 

^)  In  Freiburg  i.  Br.  besteht  eine  ähnliehe  Vereinigung  unter  dem 
Titel_  Akademische  Gesellschaft  mit  einem  Vermiigen  von  ca.  70,000  3Ik. 
Die  Überschüsse  werden  zur  Unterstützung  der  Seminarien  und  Universitäts- 
institute verwendet. 


182  Referate  und  Rezensionen.     H.  Haupt, 

Ehe  Frankreich  eine  Anzahl  wirklicher  Universitäten  mit  allen  fünf 
Fakultäten  aufweist,  müssen  viele  Kirchthurniinteressen  schAveigen 
und  die  Kleinstädte  ihrer  Scheinfakultätchen  jrewaltsam  beraubt 
werden.  Im  Lande  der  allmächtigsten  Bureaukratie  geht  das  aber 
nicht  leicht. 

Das  letzte  Drittel  des  Buches  gehört  den  von  Lavisse  persön- 
lich ins  Leben  gerufenen  und  mit  väterlicher  Liebe  gehätschelten 
Ässociations  cVetiidlants.  Auch  hierfür  sind  deutsche  Vorbilder  wohl 
massgebend  gewesen,  jene  philologischen,  neuphilologischen,  histoiischen, 
mathematischen,  naturwissenschaftlichen  Vereine  deutscher  Hoch- 
schulen, welche  die  und  die  Professoren  zu  Ehrenmitgliedern  ernennen 
und  dafür  die  Genugthuung  haben,  dieselben  nicht  bloss  bei  den 
Vorträgen  und  Diskussionen,  sondern  auch  beim  sog.  gemütlichen 
Teil  der  Abendsitzung  in  ihrer  Mitte  zu  sehen.  Nur  lebt  die 
Pariser  Association  des  etudiants  auf  grösserem  Fusse  wie  unsere 
akademischen  Vereine.  Am  24.  Mai  1884  ins  Leben  getreten  mit 
einem  Stand  von  80  aktiven  Mitgliedern,  zählte  die  Association 
Ende  1889  ausser  345  Elirenmitgliedern  im  ganzen  1550  aktive, 
welche  ein  farbiges  Band  tragen  (violettblaurut,  Univei-sitätsfarbe 
verbunden  mit  den  Pariser  Stadtfarben).  Aber  die  Begeisterung 
scheint  in  letzter  Zeit  etwas  abgekühlt  und  die  Mitgliederzahl 
wieder  im  Rückgang  zu  sein;  für  ein  Studentenlebeu  wie  das 
Deutsche  ist  der  Franzose  nun  einmal  nicht  geschaffen.  Um  den 
französischen  Studenten  diese  Pille  zu  versüssen,  nimmt  Lavisse 
eine  kleine  Dosis  berauschenden  Patriotismus  (vergl.  S.  262),  die 
in  den  folgenden  Partien  seines  munteren  und  fesselnden  Buches 
immer  wieder  sich  geltend  macht.  Das  Thema  La  Politique  etrangere 
des  etudiants  reizt  jeden  Franzosen  dazu.  Wir  können  deshalb  diese 
Inhaltsskizze  hiermit  schliessen,  ohne  auf  die  Festlichkeiten  von 
Bologna,  auf  die  Festsitzung  zu  Ehren  Emilio  Castelars  etc.  näher 
einzugehen.  Auch  ohne  diese  Kapitel  bietet  das  Buch  reiche  Be- 
lehrung über  Studien  und  Studenten  jenseits  der  Vogesen  und  wird 
deslialb  auch  in  Deutschland  allenthalben  willkommen  sein. 

Freiburg  i.  Br.  Joseph  Sarrazin. 


Dorfeid,  Karl.  Beiträge  zur  Gesch.  des  französ.  Unterr.  in  Deutsch- 
land. —  Programm.  Giessen  1892.  —  29  S.  4«. 
Eine  der  interessantesten  Programmarbeiten  der  letzten  Jahre, 
und  sicherlich  eine  derjenigen,  welche  die  mühevollsten  Vorstudien 
erfordert  haben.  Mit  Aufwand  grosser  Belesenheit  zeigt  Dorfeid, 
wie  das  ursprünglich  nur  den  „galanten  Studien"  der  Söhne  des 
Adels    dienende    Unterrichtsfach    allmählicli    in    den    alten    Schul- 


Alexandre  Berard,  les  Vaudois,  leur  histoire  etc,  183 

Organismus  eindrang,  zunächst  vermittels  der  Ritterakademien  uud 
gymnasia  illustria,  wo  besondere  Sprachmeister  Anstellung  fanden. 
Ebenso  waren  in  den  meisten  Städten  Ende  des  17.  und  im  18.  Jahr- 
hundert ein  oder  mehrere  maitres  thätig,  teilweise  schiffbrüchige 
Existenzen,  deren  Methode  in  Verruf  kam  und  die  reine  Übersetzungs- 
methode hervorrief.  An  Franckes  Pädagogium  wurden  1702 
zwölf  Stunden  französisch  in  2  Klassen  erteilt,  1721  als  ordent- 
liches Unten'ichtsf ach ;  aber  neben  dem  dortigen  Maitre  wirkten  die 
Klassenlehrer  als  informatores  ordinarü.  Dass  aber  die  franz.  Sprache 
als  Eindringling  angesehen  wurde,  zeigt  noch  die  Frankfurter  Schul- 
ordnung von  1765. 

Am  wertvollsten  sind  die  Nachweise,  die  D.  über  die  Methode 
giebt.  Die  Worms'sche  Schulordnung  von  1773  will  vom  franz. 
Anfangsunterricht  die  Grammatik  vollständig  entfernen  und 
damit  warten,  bis  die  Schüler  über  Sprachkenntnisse  verfügen. 
Ebenso  wurde  an  Basedow's  Philantropin  der  Unterricht  betrieben, 
da  1776  beim  Examen  der  Lehrer  mit  der  Klasse  ein  —  fast  möchte 
man  schreiben  Hölzelsches  —  Frühlingsbild  durchsprach.  Auch  das 
Konjugieren  in  ganzen  Sätzen  ist  keine  patentierte  Erfindung  der 
Reformer,  da  es  Chiflet  bereits  vorschreibt,  wähi'end  sein  Kollege 
Debonalle  mit  den  Zahlwörtern  seinen  Unterricht  begann.  Es 
wäre  zu  wünschen,  dass  der  in  dem  weitschichtigen  Stoff  ein- 
gearbeitete Verfasser  über  die  Entwickelung  der  Methode  im 
französischen  Sprachunterricht  sich  in  einer  ähnlichen  Schrift  äusserte. 

Freiburg  i.  Br.  Joseph  Sarrazin. 


Berard,  Alexandre,  les  Vaudois,  leur  histoire  sur  les  deux  versants 
des  Alpes  du  IVe  siede  au  XVIIB-  Lyon.  vStorck.  1892. 
80.  V.  -f  328  S.  12  frs. 
Zur  Subscription  auf  das  vorliegende  Werk  war  in  illustrierten 
Prospekten  mit  dem  Hinweise  aufgefordert  worden,  dass  der  weitere 
Kreis  der  Gebildeten  mit  der  Schrift  des  Verfassers  zum  ersten 
Male  ein  auf  streng  wissenschaftlicher  Grundlage  ruhende  und 
zugleich  gemeinverständliche  Gesammtdarstellung  der  Geschichte  des 
Waldenserthums  erhalte.  Da  nun  aber  an  populär  geschriebenen 
Bearbeitungen  der  Geschichte  der  Waldenser  thatsächlich  kein 
Mangel  ist  —  ich  nenne  vor  Allem  die  in  italienischer,  französischer 
und  englischer  Sprache  vorliegenden  Darstellungen  von  Em.  Comba  ^, 
so  musste  angenommen  werden,  dass  der  Verfasser  im  Gegensatz  zu 
seinen  Vorgängern  in  erster  Linie  sich  darum  bemühen  werde,  die 
überaus  wichtigen  Ergebnisse  der  neueren  wissenschaftlichen 
Forschung  über  die  Geschichte  der  waldensischen  Sekte  weiteren 
Kreisen  zugänglich  zu  machen. 


184  Beferate  und  Bezensionen.     G.  Gundermann, 

Mit  dieser  Annahme  sind  wir  freilich  gründlich  irregegangen. 
Der  Verfasser  ist  seines  Stoffes  in  keiner  Weise  Herr;  die  gesammte 
deutsche  Litteratur  über  das  Waldenserthum  von  Herzog  bis  auf 
Karl  Müller,  aber  auch  die  Arbeiten  von  Comba  und  Moutet  sind 
für  ihn  nicht  vorhanden;  die  Frage  nach  dem  Alter  und  der 
Heimath  der  waldensischen  Litteratur  wird  nicht  berührt.  Auch 
die  grundlegenden  älteren  Quellenschriften  kennt  er  nur  aus  Perrin, 
Leger,  Basnage  und  Arbeiten  ähnlichen  Charakters,  denen  er  ganze 
Abschnitte  ohne  Änderung  des  Wortlauts  und  ohne  den  geringsten 
Versuch  einer  Kritik  entnimmt.  Längst  abgethane  Hypothesen,  wie 
die  von  der  Entstehung  der  waldensischen  Sekte  im  4.  Jahi'huudert 
nach  Chr.,  werden  wieder  als  gesicherte  Thatsachen  produciert;  in 
der  Behandlung  der  Greschichte  der  Missionsthätigkeit  der  Waldenser 
(S.  75  tf.)  offenbart  sich  eine  kindliche  Unkentniss  aller  einschlägigen 
Verhältnisse,  Schliesslich  muss  die  Einfügung  einer  langen  Reihe 
von  Holzschnitten,  die,  dem  Werke  des  berüchtigten  Leger  ent- 
nommen, die  denkbar  scheusslichsten  und  widerlichsten  Scenen  aus 
der  Verfolgungsgeschichte  der  piemontesischen  Waldenser  darstellen, 
als  ein  Zeugniss  äusserster  Geschmacklosigkeit  bezeichnet   werden. 

H.  Haupt. 


Foerster,  Wendelin,  die  Appendix  Prohi.  Mit  einer  Lichtdruck- 
tafel. Separatabdruck  aus  den  Wiener  Studien  1892. 
Wien  1893.  46  S.  8". 
Seit  ihrer  Bekanntmachung  durch  Endlicher  (Analeeta  gram- 
matica,  Wien  1837)  hat  die  sogenannte  Appendix  Probi  in  immer 
steigendem  Masse  Beachtung  bei  Latinisten  wie  Romanisten  gefunden: 
enthält  sie  docli  eine  Menge  für  die  Sprachgeschichte  interessanter 
Nachrichten,  besonders  in  ihrem  dritten  Teile,  einem  kurzen  Traktate 
de  orthocjraphia,  wie  er  im  Sinne  der  nationalrömischen  Grammatik 
benannt  sein  könnte.  Der  Wichtigkeit  entsprach  leider  bisher  nicht 
die  Sicherheit  des  Textes.  Die  Hs.  No.  17  der  Wiener  Hofbibliothek, 
Palimpsest,  in  zierlicher  Cursive  des  siebenten,  oder  beginnenden 
achten  Jalirhunderts,  wahrscheinlich  in  Bobbio  gesclirieben,  hat  durch 
Feuchtigkeit  und  weiterhin  durch  Abklatschen  der  gegenüberstehenden 
Schrift,  besonders  aber  durch  Naclidunkeln  des  Pergamentes  stark 
gelitten.  Deshalb  enthält  Endlicbers  Abdruck  nicht  wenige  Lücken 
und,  wie  sich  jetzt  herausstellt,  auch  Ungenauigkeiten,  und  Keil's 
Text  beruht  im  wesentlichen  nur  auf  Endlicher.  Die  Unsicherheit 
der  Grundlage  musste  besonders  eniptindlich  werden  bei  genauerer 
Untersucliung  des  Lautstandes.  Man  wird  Foerster  allerseits  dankbar 
sein,  dass  er  sich  keine  Mühe  hat  verdriessen  lassen,  einen  zu- 
verlässigen Abdruck  zu  beschaffen.    Zwar  an  der  Hs.  selbst  die  Ent- 


Wendelin  Foerster,  die  Appendix  Probi.  185 

zifferung  vorzunehmen,  war  ihm  nicht  vergönnt,  doch  hatte  er  für 
den  grössteu  Teil  der  Wörter  (29 — 227)  den  von  Hartel  veran- 
stalteten, wohlgelungeuen  Lichtdruck  des  fol.  50"  der  Hs.  zur 
Verfügung,  der  auch  seiner  Ausgabe  beigefügt  ist.  Dadurch  hat 
Foerster  jedem  Gelegenheit  gegeben ,  selbst  nachzuprüfen.  Aus 
meiner  Beobachtung  des  Faksimile  trage  ich  folgendes  bei.  Die 
gelegentlichen  Correkturen  und  Bemerkungen  können  recht  wohl 
vom  Sclu-eiber,  wenn  auch  später,  hinzugefügt  sein.  Ob  aber  alle 
übergeschriebenen  Buchstaben  Correktur  bedeuten  ?  solche  liegt  sicher 
vor  in  55  uinia,  wo  wie  in  74  orbs,  200  tribla  Durchstreichen  hinzu- 
kommt, und  in  77  fragellum  ist  r  vielleicht  aus  ursprünglichem  l 
gemacht.  In  andern  Fällen  jedoch  darf  man  zweifeln,  ob  nicht 
Doppellesart  zu  verstehen  ist :  die  Form  wenigstens,  übergescliriebene 
Buchstaben  mit  beigesetzten  Punkten,  bedeutet  in  älteren  lat.  hss. 
durchaus  nicht  immer  Correktur,  sondern  häulig  nur  Variante,  was 
am  Rande  nicht  selten  durch  alias  oder  in  alio  exemplari  ausdrück- 
lich erklärt  wird.  So  kann  184  celips  sehr  wohl  die  gerügte  Sprech- 
form gewesen  sein  und  -e-  ist  vielleicht  nur  nach  der  zweiten  Form  60 
celeps  vom  Schreiber  lünzugefügt:  ähnlich  197  iunipirus  oder  iune- 
pirus  (volksetymologisch ,  Anklang  an  pirus),  141  fasiolus  oder 
faseolus,  non  fassiolus  oder  passiolus,  146  pusinnus  oder  pusillus, 
209  gratu  (wohl  aus  gratli  der  Vorlage  verlesen)  oder  glatri.  Doppel- 
form liegt  ja  auch  vor  204  musium  uel  musiuum  gegenüber  26  niu- 
sium.  Ob  solche  Varianten  nur  die  eigene  Auffassung  oder  Erfahrung 
des  Schreibers  aussprechen  wie  etwa  das  urteil  utnimque  dicitur  zu 
53  calida  non  calda,  oder  aus  einer  der  Vorlagen,  die  rückwärts 
liegen  bis  zum  Verfasser  hinauf,  mitgenommen  sind,  lässt  sich 
natürlich  schwer  entscheiden.  Jedenfalls  sind  die  übergeschriebenen 
Buchstaben  nicht  ohne  weiteres  als  Berichtigung  von  Schreibfehlern 
zu  nehmen,  und  wenn  sie  eine  zweite  Form  neben  der  ursprünglich 
gemeinten  andeuten,  so  wird  eben  das  Urteil  über  diese  Wörter 
noch  anders  lauten  müssen. 

Mit  den  Correkturen  haben  die  Dreipunkte  hinter  und  ent- 
sprechend über  manchen  Wörtern  schwerlich  etwas  zu  thun.  Wie 
das  Kreuz  hinter  134,  147  (hinter  146  ist  nicht  a,  sondern  Drei- 
punkt), so  sind  auch  die  Punktgruppen  gewiss  nur  Zeichen  eines 
Lesers  zu  irgend  welchem  uns  nicht  mehr  erkennbaren  Zwecke 
z.  B.  des  Unterrichtes,  der  gruppenweisen  Zusammenstellung  dgl. 
Solche  Punktgruppen  kommen  zahlreich  in  hss.  der  lateinischen 
Glossare  saec.  Vm — XI  vor  (vgl.  Corp.  Gloss.  II  p.  IX  sq.  XXIII  sq.): 
in  einer  hs.  saec.  X  sind  die  hebräischen  Wörter  sämmtlich  durch 
den  Dreipunkt  gekennzeichnet. 

Nach  einer  Uebersicht  über  die  vorliegende  Eechtschreibung 
und  die  Fehler  lässt  Foerster  den  Text  der  Äppiendix  mit  ausführ- 


186  Referate  und  Rezensionen.     W.  Golther, 

liehen  spraclilichen  und  kritischen  Bemerkungen  folgen,  zu  denen 
auch  Buecheler  und  üsener  beigesteuert  haben.  Durch  Vergleich 
des  Faksimile  habe  ich  folgende  Abweichungen  von  den  bei  Foerster 
gegebenen  Lesungen  gefunden: 

86  cloaca  nön  cluaca:  an  erster  Stelle  verleiten  die  Abklatsch- 
spuren leicht  dazu,  u  statt  o  zu  lesen ;  an  zweiter  Stelle  ist  clauaca 
unmöglich,  es  steht  cluaca  und  zwar  ac  in  Ligatur. 

89  facies  non  facis  ist  sicher:  d  beide  Male  mit  Ligatur. 

90  cautes  non  cautis:  so  Endlicher  und  Keil  richtig;  ti  mit 
Ligatur  und  s  zum  Teil  in  der  Falte,  aber  sicher ;  nicht  du  sondern 
call  mit  hochgezogenem  a  —  daher  unten  der  scharfe  Winkel  — , 
dessen  oberer  Teil  abgebröckelt  ist;  das  u  gewinnt  durch  den  Ab- 
klatsch den  Anschein  eines  o. 

94  nach  suppellex  non  superlex  kann  ich  den  Zusatz  utrumque 
dicitur  nicht  herauslesen:  nur  dicitur  ist  sicher,  unklar  das  vorher- 
gehende; ob  tironische  Note? 

96  nubes  non  nubs  sicher:  das  gerügte  nuhs  findet  sich  öfter, 
auch  Corp.  Gloss.  II  508,12. 

106  syrtes  non  sertis  und  über  se  ein  y,  also  si/rtis:  ser  in 
Ligatur  ist  deutlich.  Die  Form  sirtis  zweimal  in  Corp.  Gloss.  IV 
567,  34,  35,  sonst  oft  si/rtes,  aber  stets  als  Plural. 

108  sedes  non  sedis  ist  noch  zu  erkennen. 

115  glis  non  gliris:  das  zweite  Wort  ist  weder  glir  noch  liris, 
sondern  deutlich  gliris. 

117  tinea  non  tinia:  auch  das  letzte  Wort  ist  sicher  —  unter 
tinea  zwei  lange  Striche,  wohl  Abklatsch  von  der  folgenden  Seite. 

119  clamis  non  clamus:  nicht  zu  chlamis  corrigirt,  denn  das 
angebliche  Aspirationszeichen  über  c  ist  nur  Endschnörkel  von  x  des 
darüberstehenden  exter. 

131  puella  non  polla  (über  o  ein  e):  im  letzten  Worte  die 
beiden  II  nicht  verbunden,  sondern  das  hintere  durch  Abklatsch  bedeckt. 

14:1  fasiohis  {ühei- i  ein  -e-  geschv.)  non  fassiolus  (über /ein  p- 
geschr.,  der  Strich  über  erstem  s  ist  nur  Abklatsch):  das  erste  Wort 
lautet  weder  faciolus  —  dann  wäre  ci  in  Ligatur  —  nQQ\\  fassiolus, 
denn  das  angebliche  zweite  s  ist  nur  Abklatsch. 

148  aries  non  ariex  ist  sicher. 

151  opobalsamum  non  ahabalsimum  deutlich:  das  m  der  Endung 
in  beiden  Wörtern  hochgestellt,  über  erstem  a  des  letzten  Wortes 
2  oder  3  Punkte,  denen  solche  unter  m  am  Ende  entsprechen.  Un- 
betontes a  zu  i  mit  Anlehnung  an  ähnliche  Wortausgänge;  und 
nachdem  po  an  die  Haupttonsilbe  angeglichen  war  (Corp.  Gloss.  II 
385,  54  onanalauf-iov  vgl.  IV  133,  22  opubalsamu  und  oboualsamiim), 
wirkte  wohl  noch  die  Bedeutung  [Jacrima  balsami)  dazu,  ob  mit  ab 
zu  vertauschen. 


Godefroid  Kurth.     Uisfoire  poetique  des  Meromngiens.       187 

152  mensa  non  mesa  deutlich:  die  gerügte  Form  findet  sich  z.  B. 
auch  in  dem  bekannten  Papyrus  Corp.  Gloss.  II 563,  21  damesa :  parates. 

153  raucus  non  draucus  glaube  ich  ebenfalls  zu  erkennen. 
197  iunipirus  (über  tii  ein    e)  non  iuniperus  deutlich,  wie  Keil 

richtig  hat.  Im  gerügten  iuniperus  ist  anlautendes  i  ebenfalls  hoch- 
gezogen wie  immer  im  Anlaut,  zum  Teil  verdeckt  durch  Abklatsch; 
er  in  Ligatur  und  ii  hochgestellt. 

202  constahilitus  non  constabilitus  Fcerster  unzweifelhaft  richtig. 

Ich  zweifle  nicht,  dass  man  in  der  Hs.  selbst  das  meiste  noch 
fehlende  oder  unsichere  entziffern  kann,  auch  ohne  Anwendung  von 
chemischen,  angeblich  unschädlichen  Mitteln. 

In  der  Frage  nach  der  Herkunft  weist  Foerster,  wie  schon 
Ullmann,  Roman.  Forschungen  VII  148  ff.  gethan  hatte,  die  Ansicht 
von  Gaston  Paris  über  die  Entstehung  in  Afrika  zurück.  Die 
Appendix  ist  keine  einheitliche  Sammlung:  entstanden  ist  sie  wahr- 
scheinlich in  Rom  selbst,  nicht  in  Afrika;  auch  süditalienischer  Ein- 
fluss  ist  nicht  zu  erweisen.  Für  die  Zeitbestimmung  bringt  nichts 
beweisendes  47  homfagium  non  monofagium,  wo  Endlicher,  Ullmann. 
Foerster  omfacium  non  omfagimn  ändern  möchten:  schwerlich  richtig, 
monofagium  spricht  nicht  notwendig  für  das  Klosterleben.  Sein 
Gegensatz  ist  homfagium  ^=  homofagium.  Das  ist  nicht  lautliche 
oder  formale  Berichtigung,  sondern  begrifflicher  Gegensatz  ähnlich 
lautender  Wörter,  wie  er  in  den  Sammlungen  „de  differentiis"  häufig 
vorkommt.  Zu  derselben  Gruppe  gehören  die  vorhergehenden  45 
pancarpus  non  parcarpus.,  wo  ein  Compositum  mit  parcus  vorliegt 
(parcarpus  mit  dem  Silbenverluste  wie  ido(lo)latria  und  andere  Bei- 
spiele bei  Foerster,  Zusätze  zu  135):  und  46  theofilus  non  izofilus, 
wo  Foerster  die  Aenderung  ziofilus  mit  Recht  zurückweist,  seine 
Erklärung  aber  zofilus  =  theofilus  und  i  -f-  z  wie  i  +  s  impurum 
doch  grossen  Bedenken  unterliegt;  isofihis  =  idiofilus  ist  lautlich 
und  begrifflich  ohne  Schwierigkeit. 

Jei^a.  G.  Gundermann. 


Kurth,  Godefroid.  Histoire  poetique  des  Merovingiens.  Paris, 
Bruxelles,  Leipzig,  Brockhaus  1893.  8^  552  S.  Preis  10  frs. 
Pio  Rajna  (le  origini  deWepopea  francese  1884)  hatte  den 
Nachweis  erbracht,  dass  der  französischen  Heldensage,  welche  in  der 
Gestalt  Karls  des  Grossen  ihren  Mittelpunkt  hat,  eine  fränkische  in 
der  Merowingerzeit  vorausgegangen  sein  müsse.  Allgemeine  Er- 
wägungen, bestimmte  Zeugnisse,  Nachklänge  in  der  französischen 
Karlssage  und  in  den  fränkischen  Geschichtsquellen  ermöglichen  uns 
eine  Vorstellung  von  dem  Inhalt  der  merowingischen  Heldensage, 
welche  reich  entfaltet  war.     Godefroid  Kurth,   der  bereits  mehrere 


188  Referate  tmd  Rezensionen.     W.  Golther, 

wertvolle  Studien  zur  merowingischen  Geschichte  veröffentlicht  hat, 
behandelt  in  einer  sorgsamen  und  ausführlichen,  sehi-  klar  und  schön 
geschriebenen  Untersuchung  die  Frage,  in  wie  weit  die  fränkischen 
Geschichtsquellen,  besonders  Gregor  von  Tours,  Fredegar  und  der 
liber  historiae,  aus  der  Sage  schöpften.  Von  einigen  Stücken  galt 
sagenhafter  Ursprung  schon  längst  für  sicher  (vgl.  bereits  die  deutschen 
Sagen  der  Brüder  Grimm  II  Nr.  424  ff.).  Kurth  bemüht  sich,  indem 
er  die  Ergebnisse  historischer  und  philologischer  Forschung  gleich- 
massig  sich  zu  Nutzen  macht,  die  sagenhaften  Bestandteile  genau 
und  vollständig  zu  bestimmen  und  von  den  geschichtlichen  loszu- 
lösen. Die  Geschichtschreiber  haben  keineswegs  nur  schlichte, 
glaubhafte  Tatsachen  erzählt,  sondern  waren,  namentlich  für  die 
weiter  zurückliegende  Vergangenheit,  auf  die  mündliche,  mehr  oder 
weniger  sagenhafte  Überlieferung  angewiesen.  Zunächst  wird  die 
Gesinnung  und  Art  der  betreffenden  Autoren  geschildert,  welche  im 
allgemeinen  der  Aufnahme  eigentlicher  Sagen  eher  widei-strebten ; 
hierauf  erörtert  K.  die  vorhandenen  schnftlichen  Quellen,  welche 
ihnen  zu  Gebot  standen,  um  dadurch  festzustellen,  was  aus  münd- 
licher Tradition  oder  eigenem  Erlebnis  stammt.  Die  geschichtliche 
Thatsache  trennt  nun  K.  von  der  Sage,  die  nach  und  nach  um  diesen 
Kern  anwuchs.  Innerhalb  der  Überlieferung  lässt  sich  eine  volks- 
tümliche und  eine  kirchliche  unterscheiden;  die  letztere,  wenig  be- 
deutend, erzählt  Wunder  und  Heiligengeschichten,  die  erstere  kündet 
von  heldenhaften  Thaten,  von  bedeutsamen  Ereignissen.  Verschiedene 
Entwicklungsstufen  sind  zu  erkennen,  von  dem  sagenmässig  aus- 
geschmückten Berichte  bis  zum  epischen  Liede.  Die  Scheidung  der 
historischen  und  sagenhaften  Elemente  ergibt  sich  aus  inneren 
Gründen,  die  meistens  überzeugend  sind.  Die  Sage  wird  erwiesen, 
wo  die  Handlung  unwahrscheinlich  oder  unmöglich  ist,  wo  dagegen 
ihre  einzelnen  Züge  auch  sonst  in  Dichtungen  wiederkehren.  Mit 
Aufwand  grosser  Sorgfalt  weist  K.  jedesmal  den  sagenhaften  Charakter 
einer  Geschichte  nach  und  sucht,  wenn  irgend  möglich,  auch  die 
Entwicklungsstufe  zu  bestimmen.  Manche  feinsinnige  und  treffende 
Bemerkung  über  Einzelheiten  bei  der  Entstehung  der  Epen  läuft  hier 
mit  unter.  Man  begegnet  einem  methodischen  Versuche  zur  Er- 
kenntnis des  Unliistorischen ,  der  auch  sonst  bei  mittelalterlichen 
Geschichtsquellen  mit  Erfolg  anzuwenden  sein  dürfte.  Für  das 
Wesen  der  Sage  besitzt  der  Verf.  richtiges  Verständniss.  Philolo- 
gisch ist  er  in  der  Hauptsache  genügend  geschult;  Bedenken  aber 
erregt  die  seltsame  Bemerkung  auf  S.  117,  Thuringi  und  Tungri 
seien  ein  und  dei-selbe  Name  in  ursprünglicher  germanischer  Form 
und  in  lateinischer  Wiedergabe,  während  es  sich  doch  nur  um  Ver- 
wechselungen später  Autoren  handeln  kann,  wenn  diese  Namen 
gleichwertig  gebraucht  werden. 


Leopold  Sudre.    Les  sourees  du  roman  de  EenaH.  189 

In  seiner  Methode  wie  in  seinen  Ergebnissen  ist  Kurths  Buch 
lehrreich.  Es  bereichert  unsre  Kenntniss  der  germanischen  Helden- 
sage, indem  eine  blühende  fränkische  Sage  der  Merowinger  eben- 
bürtig den  poetischen  Schöpfungen  der  anderen  Stämme  zur  Seite 
tritt;  dem  Romanisten  eröffnet  sich  ein  weiterer  Ausblick  auf  die 
Vorläufer  der  französischen  Karlsepen.  Der  Historiker  lernt  Vor- 
sicht bei  Benützung  der  merowingischen  Geschichtschreiber,  bei 
denen,  wie  Kurth  in  seiner  schönen  Studie  über  die  Königin  Brunhild 
(revue  des  questions  historiques,  juillet  1891)  zeigte,  viel  tendenziöse 
Entstellung  und  Sagenbildung  in  Abzug  zu  bringen  ist. 

W.    (jOLTHER. 


Sudre,  Leopold.     Les  sotirces  du  roman  de  Benart.    Paris,  Bouillon. 
1893.     Vm.  356  S.     Mark  10. 

Sudre  unternahm  ein  nützliches  Werk,  wenn  er  einmal  Um- 
schau hielt  auf  dem  Gebiete  der  Tiersage,  die  wichtigsten  Er- 
gebnisse im  Hinblick  aufs  Ganze  zusammenstellte  und  durch  zahl- 
reiche feine  Beobachtungen  die  Forschung  im  einzelnen  weiter 
führte.  Die  französischen  Dichter  des  Mittelalters  haben  den  Stoff 
aus  der  älteren  Überlieferung  übernommen,  sie  waren  nicht  in  eigener 
Erfindung  schöpferisch  tätig,  höchstens  brachten  sie  einige  Zuthaten 
bei,  welche  aber  die  Grundzüge  der  Handlung  nicht  berührten. 
Diese  Grundlagen  des  roman  de  Renart  gilt  es  festzustellen.  Nach- 
dem J.  Grimms  Lehre  vom  germanischen  Ursprung  der  Tiersage 
nicht  Stich  hielt,  bieten  sich  als  andere  Erklärungen  die  antiken 
Fabeln  und  die  Tiermärchen  dar.  Die  Tiersage  erwuchs  auf  ge- 
lehrtem oder  auf  volkstümlichem  Grunde.  Die  eine  wie  die  andre 
Annahme  wurde  oft  allzu  einseitig  verfochten;  Sudre  erkannte,  dass 
beide  berechtigt  sind  und  suchte  beide  im  richtigen  Verhältnis 
heranzuziehen.  Sein  Ergebnis  ist,  dass  die  antike  Fabel  nur  in 
geringem  Umfang  auf  die  Entstehung  der  Tiersage  einwirkte. 
Zwischen  den  klassischen  Vorbildern  und  den  Geschichten  des  roman 
de  Renart  besteht  ein  gewaltiger  Abstand.  Hier  reiches,  bewegtes 
Leben,  Ausmalung  im  einzelnen,  dort  gedrängte  Kürze.  Ihre  Um- 
wandlung zu  der  Gestalt,  in  welcher  sie  uns  in  den  französischen 
Gedichten  entgegen  treten,  vollzog  sich  teils  in  der  klösterlichen 
Litteratur,  teils  in  mündlicher  Überlieferung.  An  letzter  Stelle  auf 
Fabeln  gehen  die  Episoden  „Renart  vor  Gericht",  „Renart  als  Arzt", 
„Der  Löwenanteil",  also  besonders  solche  Geschichten,  in  welchen 
der  Löwe  der  König  der  Tiere  ist,  zurück;  ebenso  die  Geschichte 
vom  Fuchs  und  Raben.  In  einem  einzigen  Fall  erweist  sich  eine 
Branche  XVIII  als  eine  unmittelbare  litterarische  Entlehnung,  als 
eine  Übersetzung  des  lateinischen  Gedichtes  sacerdos   et  lupus,   das 


190  Referate  und  Rezensionen.    D.  Behrens, 

aber  seinerseits  auf  der  miindliclien  Volkssage  beniht  (s.  324  ff.). 
Fast  alles  andere  stammt  aus  den  Tiennärchen,  aus  der  mündlichen 
Sage,  die  im  Volke  umläuft.  Der  Hauptteil  der  Untersuchung  ist 
diesem  Gedanken  gewidmet.  Der  Vf.  versteht  es,  seine  Ansicht  ge- 
schickt und  sorgsam  zu  begründen;  er  verfügt  über  eine  ausgedehnte 
Kenntniss  der  Märchen  und  führt  seine  Beweise  mit  eingehender 
Sorgfalt.  Schon  in  der  Gruppierung  des  Stoffes  kommt  die  Ver- 
schiedenheit der  Grundlagen  zum  Ausdruck,  wenn  das  1.  Kapitel 
j, Renart  und  Löwe"  die  gelehrte,  die  folgenden  Kapitel  „Renart  und 
Bär",  „Renart  und  Wolf,  „Renart  und  Vögel"  fast  durchaus  die 
volkstümliche  Strömung  zur  Voraussetzung  haben.  Besonders  hübsch 
ist  die  Behandlung  des  Märchens  von  den  wandernden  Tieren  (die 
Bremer  Stadtmusikanten)  S.  204  ff.;  hier  ist  der  volkstümliche  Ur- 
sprung unleugbar,  zugleich  aber  erkennt  man  auch,  dass  der  Schwank 
klösterliche  Kreise  durchlief.  S.  168  und  184  ist  ansprechend  er- 
klärt, wie  ein  älteres  Bärenmärchen  auf  den  Wolf  übertragen  ward. 
Häutig  möchte  man  bei  oberflächlicher  Betrachtung  eine  antike  Fabel 
vergleichen,  die  jedoch  bei  näherem  Zusehen  gar  keine  wirklichen 
Berührungspunkte  aufweist ;  zur  richtigen  Auffassung  führt  ein  ganz 
verschiedener  Weg  (vgl.  S.  226  ff.).  Die  Geschichte  vom  Fuchs  und 
Hahn  zeigt  die  Parallele  zu  einem  Märchen,  das  allerdings  auch 
einer  äsopischen  Fabel  zu  Grunde  liegt;  aber  die  Tierdichtung 
schöpfte  nicht  von  dort,  sondern  unmittelbar  wiederum  aus  der 
Volkssage  (S.  287).  Bei  der  Branche  Ib  (S.  250  f£.)  kommt  die 
Selbständigkeit  des  französischen  Dichters  einmal  ausnahmsweise 
mehr  zur  Geltung,  indem  die  Handlung  zwar  mit  Verwertung  einzelner 
Züge  der  Tiersage  aber  doch  im  ganzen  als  Satire  frei  aufgebaut 
ist.  Überliaupt  ist  die  Gruppe  „Renart  und  Wolf"  als  Ganzes  ge- 
nommen eine  Schöpfung  der  französischen  Dichter  mit  manchen 
Neuerungen  und  Veränderungen.  Die  einzelnen  Bestandteile  sind 
freilich  auch  hier  von  der  Überlieferung  gegeben  (S.  270).  Den 
Geist  der  französischen  Dichtung  hat  Sudre  nur  kurz,  aber  treffend 
geschildert  (S.  342);  in  den  alten  und  guten  Branchen  ist  die  naive 
Erzählung  vorherrschend,  erst  allmählig  tauchen  satirische,  moralische 
und  lehrhafte  Zuthaten  auf,  meist  zum  Schaden  des  poetischen  Ge- 
sammteindrucks.  In  der  Frage  nach  Heinrichs  des  Gleissners  Quelle 
stimmt  Sudre  (S.  29  Anm.)  mit  Voretzsch  überein;  die  Arbeit  von 
Büttner,  der  Reinliart  Fuchs  und  seine  französische  Quelle,  Strass- 
burg  1891,  kannte  er  noch  nicht.  Zu  Kapitel  IV,  S.  301  ff.  ist 
jetzt  noch  Reissenberger,  des  Hundes  Not,  Wien  1893,  zu  vergleichen. 
S.  345—8  findet  sich  eine  gute  Bibliographie  der  zur  Tiersage  vor- 
handenen Quellen. 

München.  Wolfgang  Golther. 


/.  Alton,  Anseis  von.  Karthago.  191 

Alton,  J. ,  Anseis  von  KartJiago.     Gedruckt  für  den  Litterarischen 
Verein  in  Stuttgart.     Tübingen  1892.     606  S.     8°. 

Spanien  ist  unterworfen.  Karl  überträgt,  bevor  er  nach 
Frankreich  heimzieht,  die  Herrschaft  über  das  neu  eroberte  Land 
seinem  Neffen  Anseis,  den  er  zum  Könige  krönt,  nachdem  die  Grossen 
seiner  Umgebung'  diese  Würde  in  Anbetracht  der  damit  verknüpften 
Verantwortung  und  Mühe  abgelehnt  liaben.  Unter  den  Beratern, 
die  bei  dem  jugendlichen  König  in  Spanien  zurückbleiben,  befindet 
sich  Ysore,  dessen  Tochter,  Letise,  zu  Anseis  in  Liebe  entbrennt. 
Als  sie  ihn  von  ihrem  Vater  zum  Gemahl  begehrt,  will  dieser  davon 
nichts  wissen.  Er  selbst  macht,  als  einige  Zeit  darauf  am  Hof  des 
Königs  es  sich  darum  handelt,  für  diesen  eine  Braut  ausfindig  zu 
machen,  auf  Gaudisse,  die  schöne  Tochter  des  in  Afrika  herrschenden 
Sarazenenkönigs  Marsilies,  aufmerksam  und  begiebt  sich,  nachdem 
sich  Anseis  mit  dieser  Wahl  einverstanden  erkhärt  hat,  zusammen 
mit  Eaimund  auf  die  Brautwerbung  übers  Meer.  Anseis  aber  bittet 
er,  während  seiner  Abwesenheit  Letise  zu  beschützen,  indem  er 
namentlich  die  Erhaltung  ihres  unbefleckten  Rufes  seiner  Fürsorge 
empfiehlt.  Auseis  verspricht  gerne  alles  und  ist  von  der  redlichsten 
Absicht  erfüllt,  sein  Wort  zu  halten.  Ysores  Tochter  aber  gelingt 
es,  die  Durchführung  seiner  guten  Vorsätze  zu  vereiteln.  Durch 
List  bringt  sie  den  König  dahin,  dass  er  ohne  es  zu  wissen  und  zu 
wollen,  sie  entehrt.  Als  Ysore  davon  Kunde  erhält,  ist  er  wie  um- 
gewandelt. Der  treue  Berater  des  Königs  wird,  obgleich  er  aus 
dem  Munde  seiner  Tochter  den  genauen  Sachverhalt  und  somit  die 
Unschuld  des  Anseis  erfahren  hat,  dessen  erbitterter  Feind.  Ysore 
beschliesst,  seinen  Christenglauben  abzuschwören,  zu  den  Sarrazeneu 
überzugehen  und  mit  deren  Hülfe  Anseis  aus  Spanien  zu  vertreiben. 

Die  erwähnten  Vorgänge  werden  in  den  2062  ersten  Versen 
unseres  Epos  dargestellt.  Fast  den  ganzen  Eest,  mehr  als  ^/g  des 
Ganzen,  nehmen  die  Schilderungen  endloser  Kämpfe  ein,  aus  denen 
der  Rachezug  des  Ysore  gegen  Anseis  sich  zusammensetzt.  Anseis 
kämpft  mutig,  muss  aber  der  Übermacht  weichen  und  wird  von 
einer  Position  in  die  andere  zurückgedrängt.  Endlich  beschliesst  er, 
Boten  nach  Frankreich  an  Karl  zu  senden,  der  mit  einem  grossen 
Heer  dem  hart  Bedrängten  zu  Hülfe  zieht.  Die  Sarrazenen  werden 
geschlagen,  Spanien  wird  von  neuem  erobert,  Ysore  wird  enthauptet, 
Letise  auf  Lebenszeit  in  ein  Kloster  gesperrt.  Anseis,  welcher  mit 
der  ihm  seit  Beginn  des  Krieges  treu  ergebenen  und  später  zum 
Christentum  übergetretenen  Gaudisse  sich  vermählt  hat,  herrscht 
über  Spanien  weiter.  Karl  kehrt  nach  Franki-eich  zurück,  wo  er 
einige  Zeit  darauf  in  Aachen  stirbt. 

Das  11  607  Verse  umfassende  Gedicht  ist  in  7  Handschriften 


192  Referate  und  Rezensionen.     B.  Behrens, 

überliefert,  von  denen  3  in  fragmentarischem  Znstande  sicli  befinden. 
Eine  eingeliende  Untersnchung-  über  das  Abhängigkeitsverluältnis  der 
Handschriften  hat  zu  einem  befriedigenden  Ergebnis  nicht  geführt, 
was  den  Herausgeber  veranlasste,  die  relativ  beste  Hs.  A.,  ausser 
wo  sie  offenbare  Verderbnisse  aufweist,  seiner  Ausgabe  zu  Grunde 
zu  legen.  Unter  dem  Text  werden  „wichtigere  Sinnvarianten"  der 
anderen  Hss.  verzeichnet,  „orthographische"  Varianten  nur  soweit 
berücksichtigt,  als  sie  „besonders  lehrreich  zu  sein  schienen".  „Eine 
orthographische  Uniformierung"  wurde  nicht  beabsichtigt,  doch 
wurden  „die  vielen  orthographischen  Schwankungen  der  Copisten 
der  Hs.  A  durch  die  aus  der  Untersuchung  der  Reime  gewonnenen 
Resultate  zu  beseitigen  gesucht".  Gegen  dieses  Verfahren  lässt  sich 
an  sich  nichts  einwenden.  Eine  Vergleichung  der  Ausgabe  mit  dem 
von  W.  Meyer -Lübke  im  9.  Bande  der  Zs.  f.  rom.  Phil,  veröffent- 
lichten Abdruck  einzelner  Partieen  unseres  Epos  nach  den  auf 
der  Nationalbibliothek  befindlichen  Hss.  legt  mir  nur  den  Wunscli 
nahe ,  dass  der  Herausgeber  im  Variantenapparat  in  noch  aus- 
giebigerer Weise  die  abweichenden  Lesarten  der  einzelnen  Hss.  ver- 
zeichnet und  in  der  seiner  Ausgabe  beigegebenen  sprachlichen  Unter- 
suchung noch  eingehender,  als  er  es  gethan,  orientiert  hätte  über 
die  Erwägungen,  die  ihn  im  einzelnen  Falle  veranlassten,  die  Spracli- 
formen  des  Copisten  der  Hs.  A.  durch  die  von  ihm  beliebten  zu  er- 
setzen. Im  Übrigen  hat  sich  Alton  seiner  Aufgabe,  einen  lesbaren 
Text  zu  liefern,  mit  grossem  Geschick  entledigt,  so  dass  ein  so 
competenter  Beurteiler  wie  A.  Mussafia  in  seiner  eingehenden  Be- 
sprechung der  Ausgabe  (Zs.  für  die  österreichischen  G-z/nmasien  1893, 
S.  138 — 144)  nur  weniges  zu  beanstanden  gefunden  hat. 

Beigegeben  ist  der  Ausgabe  ein  sehr  ausführliches  „Schluss- 
wort des  Herausgebers"  (S.  421—605):  I.  Bisherige  Erwähnungen 
und  Besprechungen  des  Anseis  von  Karthago.  IL  Handschriften. 
III.  Verhältnis  der  Handschriften  untereinander.  IV.  Übersichtliche 
Darstellung  der  Reime.  V.  a)  Dialekt  des  Anseis  von  Karthago, 
b)  Dialektische  Eigenthümlichkeiten  der  Handschrift  C.  VI.  Ab- 
fassungszeit des  Anseis  von  Karthago.  VII.  Geschichtlicher  Hinter- 
grund des  Anseis  von  Karthago.  VIII.  Italienische  und  französische 
Prosa  des  Anseis  von  Karthago.  IX.  Inhalt  des  Anseis  von  Kar- 
thago. Es  folgen:  Anmerkungen.  Wörterverzeichnis.  Eigennamen. 
Viel  tüchtige  gelehrte  Arbeit  wird  hier  geboten,  für  die  dem  Heraus- 
geber der  Dank  aller  gebührt,  die  für  französische  Sprache  und 
Litteratur  des  Mittelalters  sich  interessieren.  Mögen  ihm  die 
folgenden  Bemerkungen  das  Interesse  bezeugen,  mit  dem  Referent 
seine  lehrreiche  und  anregende  Arbeit  studiert  hat.  Nicht  auf 
alles  kann  ich  hier  eingehen,  was  mir  in  seinen  Ausführungen  der 
Ergänzung    und    Besserung    bedürftig    erscheint.      Ich    hätte    sonst 


J.  Alton,  Anseis  von  Karthago.  193 

vor  allem  bei  dem  Kapitel  zu  verweilen,  welches  die  sprachliche 
Uutersuchuug  enthält.  Vgl.  A.  Mussalia  in  seiner  oben  erwähnten 
Rezension  S.  140  f. 

Der  unbekannte  Dichter  des  Anseis  verräth ,  wie  S.  469  ff. 
gezeigt  wird,  eine  ausgedehnte  Bekanntschaft  mit  gleichzeitigen  oder 
älteren  epischen  Produktionen.  Daraus,  dass  diese  Anspielungen 
sich  auf  Denkmäler  beziehen,  welche  nicht  über  den  Anfang  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  herunterreichen,  ferner  daraus,  dass  die 
ältesten  uns  erhaltenen  Hss.  des  Anseis  nicht  nach  der  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  geschrieben  sein  können  und  aus  der  Sprache 
schliesst  Alton,  dass  das  Gedicht  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahr- 
hunderts entstanden  ist.  Das  letzte  der  erwähnten  Argumente 
hätte  ich  eingehender  dargelegt  zu  sehen  gewünscht,  als  es  von 
Alton  geschehen  ist,  wenn  er  S.  482  bemerkt  „Stil  und  Sprache, 
sowie  die  ganze  Darstellungsweise  des  Gedichtes  verweisen  auf  die 
erste  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts"  ohne  eine  Zusammenstellung 
derjenigen  sprachlichen  Erscheinungen  zu  geben,  die  er  als  charak- 
teristisch für  die  Abfassungszeit  des  Textes  ansieht.  Was  die  An- 
spielungen auf  andere  Epen  angeht,  so  sei  bemerkt,  dass  eine  Er- 
wähnung des  Königs  Artus  ausser  in  Vers  4154  auch  in  Vers  3059 
begegnet:  En  wie  cambre;  M  Ju  del  tens  Artu,  Coucent  les  contes. 
Eine  eingehendere  Untersuchung  hätten  wohl  die  Beziehungen  des  Anseis 
zur  ersten  Branche  (V.  1 — 3479.  S.  Voretzsch,  Ueber  die  Sage  von 
Ogier  dem  Dänen.  Halle  1891)  der  Chevalerie  Ogier  de  Banemarche  ver- 
dient. Ogier  wird  öfters  im  Anseis  erwähnt.  Z.  B.  10395  Ogiers 
ünt  Corte,  duremenf  a  caple.  An  einer  anderen  Stelle  wird  im  Anseis 
erzählt,  dass  Karl  an  die  Garonne  kommt,  und  durch  ein  Wunder 
es  ihm  ermöglicht  wird,  sein  Heer  durch  den  Strom  zu  führen: 
9535  Li  aige  part,  ne  cort  n'avant  nitriere.  Dann  heisst  es  unter 
Erwähnung  des  Helden  Ogier  weiter:  Quant  Vaperchiut  dies  Namles 
de  Baiviere,  Ogier  le  mostre,  ki  fu  confanoniere ;  L'os  Vaperchiut, 
s'entra  en  la  riviere.  Ogier  devant  cevaiice  en  la  frontiere.  Hierauf 
wird  ein  zweites  Wunder  erzählt.  Ein  weisser  Hirsch  zeigt  dem 
Heere  den  Weg:  9540  f.  Par  devant  aus  va  une  blance  eiere  Ki  lor 
fait  voie  parmi  la  sabloniere.  Ist  es  blosser  Zufall,  dass  zwei  ähn- 
liche Wunder  in  den  Enfances  Ogier  erzählt  werden"?  Hier  handelt 
es  sich  einmal  um  den  Uebergang  Karls  über  die  Alpen:  269  ff. 
Bex  ama  Kalle  e  si  l'avoit  mult  ckier,  Si  li  envoie  un  message  mouÜ 
fier:  Parmi  les  loges  vint  uns  cers  eslaissies  Blans  come  nois,  quatre 
rains  ot  el  cief.  Au  einer  anderen  Stelle  wird  berichtet,  dass  das 
Wasser  der  Tiber  in  seinem  Lauf  gehemmmt  wird:  3016  ff".  Cc 
dist  la  geste,  eserit  est  et  voir  fu,  Bessi  au  vespre  est  U  Toivrc 
tenus,  Oavant  n'ala,  n'oiußce  ne  se  remut.  Es  können  unserm  Autor 
ans   ganz    verschiedenen    Quellen    diese    offenbar    weit  verbreiteten 

Ztschr   f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV  =.  13 


194  Referate  nnd  Eezensionen.     D.  Behrens, 

Wundergeschichteu   bekannt   geworden   sein^)-      Im    Zusammenhang 
mit   anderem    bleibt    das  Vorkommen  im   Anseis   und    in   den   En- 
faiices     Ogier     immerhin    beachtenswert.      Alton     verzeichnet     im 
„Wörterverzeichnis"    ohne    nähere   Angabe:   hmier  son  doit    a  son 
dent  4995,    7003.     Der  Ausdruck  hätte    einer  Erläuterung  bedurft, 
und  es  hätten  die  Stellen,  an  denen  derselbe  im  Text  begegnet,  voll- 
ständig verzeichnet  werden  müssen.     Es  handelt  sich  um  einen  sonst 
in  der  mittelalterigen  Litteratur,  so  weit  ich  sehe,  selten  erwähnten 
heidnischen  Formalismus  beim  Schwur,   welcher  darin  bestand,  dass 
der  Schwörende  mit  dem  Finger  an  die  Zähne  klopfte: 
4993  Bist  U  mesages:  Voire  sans  traiement, 
La  moie  foi  vous  en  jur  loiaument, 
(Son  doi  leva,  si  le  hurte  a  son  dent) 
7003  Ysores  l'ot,  si  a  son  doit  leve, 
Isnelement  Va  a  son  doit  hurte, 
Che  senef'ie,  n'i  ara  fausete. 
Zu  diesen  beiden  von  Alton  angemerkten  Stellen  füge  hinzu: 
7008  Bist  Ysores:  „Jel  vous  jur  loiaument!" 
Leva.  son  doit,  si  le  hurte  a  son  dent. 
und  8530:   Bevor  Anseis  den  gefangenen  heidnischen  König  Felix 
einer  Gesandschaft   an  Karl   als  Führer   beigiebt,   verlaugt    er   von 
ihm  eine  förmliche  Betheuerung  seiner  Ergebenheit  mit  den  Worten: 
Et  sor  vo  loi  vuel,  que  le  ßanchies.     Dann  heisst  es  weiter: 
II  li  otroie,  dont  fu  li  dois  drechies, 
Hmies  au  dent,  che  fu  senefiies, 
N^en  mentira  pour  estre  detrencies. 
Das  gleiche  Rechtssymbol  begegnet  Enfances  Ogier: 
1602  Et  Karaheus  refait  sa  seurte, 

Hauga  son  doit,  ä  son  dent  Va  hurte; 
Pias  n'en  mentist  por  les  membres  eoper. 

*)  Vergl.  noch  Ogier  8089  f.;  Fierabras  S.  132;  Alton,  Anseis 
S.  478  f.,  wo  auf  G.  Paris,  Histoire  poctique  p.  249  etc.  verwiesen  und 
für  den  Dit  htcr  des  Anseis  Bekanntschaft  mit  der  Karlamagnus  -  Saga 
vermutliet  wird. 

')  Vgl.  Ogier  11588  Li  i^aien  Tot,  et  fiert  Je  doit  au  dent; 

Ke  l'en  mentist  por  un  membrc  perdünt. 
F.  Pfaft',  Eeinolf  von  Montelban  oder  die  Haimonskinder .     Litt.  Ver. 
17-1,  S.  665  citicrt  aus  Karlmeinct  (ed.   Keller,  Litt.  Ver.  45)  33.    14.  15: 
Der  Konynck  kloppde  vp  synen  zant, 
Dat  icas  syner  hocsten  trurcn  pant. 
und   macht    ebenda    auf  eine   weitere    einschlägige    Stelle    des    von    ilim 
herausgegebenen  mittelhoclulcutsclien  Textes  aufmerksam: 
14370  Da  gehen  sie  Sicherheit  bahle, 

der  soldan  und  sine  gesellen  Beinalt, 
sie  klopjfien  all  an  ir  zande. 
(Noch  ist  die  truwe  in  irem  lande, 
fl'p  si'r  ]inl-i')),   rl!  Sara r/ni')i  \ 


I 


J.  Alton,  Anse'is  von  Karthago.  195 

Auch  darauf  möchte  ich  hinweisen,  dass  eine  auftauend  grosse 
Anzahl  Eigennamen  (meist  Namen  von  Sarazenen)  im  Anseis  und  in 
der  Enfance  Ogier  übereinstimmen  und  die  Träger  derselben  z.  T. 
in  ähnlichen  Situationen  vorgeführt  werden: 

Anseis  2758   Ilnec  ont  pris  Änquethi,  le  Normant, 

Hugon  cfAiwergne  et  de  Biviere  Morant. 
Ogier  527  La  r'abatirent  Anquetin  le  Normant, 
Droom  le  viel  et  son  frere  Morant. 

Anseis  5227  tötltet  Anseis  den  Sarrazenen  Brunamont  im 
Kampfe.  Ogier  2993  wird  ein  Heide  gleichen  Namens  von  Ogier 
besiegt  und  getödtet.  Anseis  2624  Danemon  von  Anseis  getödtet; 
Ogier  3038  Banemont  von  Ogier  getödtet.  Vgl.  noch  mit  den  von 
Alton  S.  595  ff.  aus  dem  Anseis  angemerkten  Eigennamen  Acoupart 
Ogier  796,  991;  Anwravin  ib  2325,  991;  Baligant  ib.  789;  Butor  m?>l ; 
Corharant  3036;  Corbarins  2333;  Corsiible  1199;  Fauseron  660; 
Joifroi  1328;  Josscs  627;  Murgant  1970;  Quinquinant  750;  Bodoans 
2189;  Bubion  2088;  Salomon  508;  Sanson  505,  520;  Widelon  529 
u.  s.  w. 

Das  von  Alton  seiner  Ausgabe  beigegebene  Wörter- 
verzeichnis ist  sehr  reichhaltig  und  doch  bei  weitem  nicht  voll- 
ständig. Nach  welchem  Grundsatz  bei  der  Auswahl  der  verzeichneten 
Wörter  verfahren  wurde,  ist  nicht  recht  ersichtlich.  Weshalb  werden 
Wörter  wie  droiturier  (2577,  7713),  don  (63),  seignorage  (9214)  über- 
gangen, wenn  droit,  droitiire,  doner,  seignori  verzeichnet  werden. 
Derartige  Verzeichnisse  sollten  absolut  vollständig  sein  oder  nur  wirklich 
seltene  und  der  Erklärung  bedürftige  Wörter  enthalten.  Was  Alton  zur 
Erklärung  der  aufgenommenen  Wörter  beibringt,  befriedigt  nicht 
immer.  Hier  einige  Beispiele.  Zu  aramie  wird  auf  Demaison's  Aus- 
gabe des  Aymeri  de  Narhonne  verwiesen,  woselbst  es  im  Vocabul. 
heisst:  „impetuosite,  acharnement.  Le  sens  primitif  de  ce  nwt  est 
bataüle  dont  le  jour  a  ete  fixe  d'avance,  puis  il  a  signifie  combat  en 
general,  lutte  opiniätre."  Was  die  Grundbedeutung  angeht,  so 
wäre  ein  Hinweis  auf  Thevenin,  Contributions  ä  Vhistoire  du  droit 
germanique.  Paris,  Larose.  1880  (§  1  Sens  du  mot  adJiramir  dans 
les  textes  merovingiens  et  carloviugiens.  §  2  Sens  du  mot  arramir 
dans  quelques  coutumes  et  livres  de  pratique  judiciaire  fran(;ais) 
oder  auf  Brunner,  Beutsche  BechtsgescMcMe  §  102  mehr  am  Platze 
gewesen.  Aramir  ist  ein  Ausdruck  der  fränkischen  Rechtssprache, 
der  „festmachen,  rechtsförmlich,  zusagen"  bedeutet.  Das  hiervon 
abgeleitete  Subst.  arramie  (mit.  arramita,  ai'remita)  bezeichnet  das 
rechtsförmliche  Versprechen  und  den  rechtsförmlichen  Vertrag. 
Arramir  wie  bataille  heisst  einen  rechtsförmlichen  Vertrag  dahin  ein- 
gehen, dass  man  sich  verpflichtet,  für  die  Richtigkeit  einer  Aussage 

13* 


196  Referate  und  Rezensionen.     D.  Behrens, 

den  Kampfbeweis  auzutreteu.  Hieraus  abgeleitet  sind  die  Be- 
deutungen, die  das  Subst.  arramie  uacli  Demaisou  im  Altfranzö- 
sischen  ansrenommen  hat. 

Unter  avoes  vermisse  icli  einen  Hinweis  auf  Vers  4022,  wo 
damit  das  Verliältnis  des  Marsilies  zu  seiner  Gemalilin  ausgedrückt 
wird:  Dist  Rodoaus:  „Roine,  or  m'entendes!  Li  rois  Marsiles,  vostre 
drois  avoes^),  Mande  par  moi,  ke  vous  le  secores.  Par  toute  Aufrique 
l'ariereban  cries  .  .".  —  Interessant  ist  die  von  Alton  angemerkte 
Stelle  V.  6995:  Ysores  fordert  den  Ansei's  zum  Zweikampf  heraus 
mit  den  Worten:  N'est  pas  par  loiaute;  Ton  sairement  as  vei"s  moi 
trespase;  Sei  proveroie  au  brant  d'achier  letre  Vers  vostre  cors 
Sans  )iul  autre  avoe,  ke  tu  n'es  dignes  de  tenir  roiaute.  Alton 
giebt  hier  avoe  mit  „Schiedsrichter"  wieder.  Ist  es  nicht  vielmehr 
=  Anwalt,  Vorsprecher  im  Rechtsstreit?  In  den  Rechtsquellen 
kommt  avoue  in  dieser  Bedeutung  vor. 

banir  wird  mit  „versammeln"  wiedergegeben.  Mag  man 
diese  verallgemeinerte  Bedeutung  für  Vers  9977  allenfalls  gelten 
lassen,  so  ist  sie  doch  für  V.  9334  nicht  zutretfend.  Dort  heisst 
es  von  Karl: 

Letres  fait  faire,  dont  il  fii  hien  apris; 

Par  ses  mesages  les  trasmet  ses  amis 

Et  par  Vempire  les  barons  seignoris; 

Moiit  cruelment  les  a  li  rois  banis; 

Ki  n'i  venra,  sers  iert  racate'is, 

la  mais  mil  Jur  ne  sera  ses  amis. 
banir  heisst  ,.unter  Androhung  der  Banustrafe  entbieten."    Bekannt- 
lich war  das  Bannrecht  das  wichtigste  dem  Könige  zustehende  Recht 
in  frcänkischer  Zeit. 

caitif  „Kriegsgefangener  (?)  3356".  Dazu  S.  520  die  An- 
merkung „conie  caitis  .  .  con  ours  encaines  =  als  Gefangener  wie 
ein  angeketteter  Bär;  das  Wort  caitis  scheint  hier  noch  die  ur- 
sprüngliche Bedeutung  zu  haben;  vgl.  Foerster,  Aiol  zu  979". 
Nach  Foerster  wäre  „die  Grundbedeutung  schon  früh  verloren 
gegangen."  Ich  verweise  auf  Fierabras  4  Rolland  et  Ollivier 
emmenerai  je  chaitis.  Aye  100  Assez  en  ont  mene  cheiives  et  chetis. 
Aye  100  Seignors,  qu'a  il  dont  fet  de  trestous  les  chetis.  Qic'il 
enmena  anten  de  ccst  nostre  paisf  —  Parfoi!  tuit  sont  delivre, 
une  masse  en  a  ci.  Cour.  Looys  306  f.  Ren.  de  Montaub.  121/8 
Mort  Aymeri  de  Narb.  712. 

Coumain  begegnet  dreimal  im  Text:  794  D,  7853  B,  2637 
(gent  coumaine).     Der  Herausgeber  übersetzt  es  an  den  beiden  ersten 

*)  Der  man  ist  des  wibes  taget  heisst  es  im  Schwabensp.-Land- 
recht  10  (s.  Gengler,  Zs.  f.  deutsche  Kulturgeschichte  III  (1858),  S.  211, 
Anm.  88). 


/.  Alton,  Anseis  von  Karthago.  197 

Stellen  mit  „gemeiner  Soldat",  an  der  zuletzt  erwähnten  mit  „Ge- 
meindebauu".  Dazu  wird  hingewiesen  auf  Foerster,  Chev.  as  II  esp. 
zu  8154,  woselbst  folgendes  ausgeführt  ist:  li  comuns,  auch  la  comune 
,der  niedrige  Haufen,  das  Volk",  bes.  häufig  assembler  la  c.  „das 
Volk  in  Waffen",  etwa  =  „Landsturm".  Ich  glaube,  dass  Alton, 
wenn  er  über  die  Geschichte  des  Wortes  orientieren  wollte,  eher 
auf  Foersters  Glossar  zum  Aiol  hätte  hinweisen  sollen,  wo  commune 
zweimal  in  der  Bedeutung  „Heeresaufgebot  der  Bürgerschaft"  nach- 
gewiesen wird,  und  auf  L.  A.  Warnkoenig,  Französische  Staats- 
geschichte (Basel  1846),  S.  277  ff.,  wo  über  den  Ursprung  und  die 
Entwickelung  der  cominunes  in  Frankreich  eingehender  gehandelt 
wird.  Danach  handelt  es  sich  bei  den  communes  zunächst  um  be- 
schworene Bündnisse  der  niederen  Classe  einer  Anzahl  Städte,  zum 
Zweck  der  Erlangung  grösserer  Selbständigkeit  gegenüber  dem 
Landesherren,  der  Geistlichkeit  und  den  ritterlichen  Geschlechtern. 
Im  Interesse  der  Könige  lag  es,  diese  Communalbewegungen  zu  be- 
günstigen. „Durch  ihre  Intervention  traten  sie  zu  allen  diesen  sehr 
bevölkerten  Städten  in  ein  unmittelbares  Verhältniss  und  gestatteten 
den  Bürgern  die  geforderten  Freiheiten  nur  unter  Bedingungen, 
namentlich  unter  der,  von  ihnen  Kriegsdienst  verlangen  zu  können. 
Von  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  an  findet  man  beim  könig- 
lichen Heere  die  zahlreichen,  freilich  nur  zu  Fuss  dienenden  Schaaren 
der  Communen  (Copiae  Communiarum),  welche  in  den  Schlachten, 
z.  B.  bei  Bouvines,  nicht  selten  den  Ausschlag  geben."  Mit  Bürger- 
miliz  und  Bürgerwehr  lässt  sich  das  Wort  commune  an  mehreren 
Stellen,  an  denen  es  im  altfrz.  Epos  begegnet,  wiedergeben.  Nicht 
immer  trefien  wir  die  communes  im  Dienste  des  Königs.  Vgl.: 
Aiol  8664 :    L'enperere  fist  faire  ses  cartres  et  ses  bries, 

De  par  toutes  ses  teres  mande  ses  Chevaliers 

Et  toutes  ses  communges  a  ceval  et  a  pie. 
Ogier   3816    rückt    die   Bürgerwehr   der    Stadt   Dijon   gegen 
Bertran,  Gesandten  Karls,  aus: 

Li  borgois  out  la  graut  cloque  sonee 

Et  la  petita  tot  d'une  randonee 

E  la  comugne  est  tantost  asanllee, 

A  la  maison  Malsene  est  alee; 

L'assalt  comenchent  tot  a  une  huee. 

Die  Bürger  von  Aigremont  helfen  dem  Herzog  Beuves  gegen 
den  Gesandten  Karls,  Lothar,  und  dessen  Begleiter: 

Renaus  de  Montauban  S.  18: 

Far  le  mien  esciant,  Ja  perdisent  a  tant 
Quant  la  commune  vint  com  esfoudre  coratvt, 
0  haches  o  espees  comune  gent  malveillant. 


198  'Referate  und  Rezensionen.     D.  Behrens, 

En  la  sdle  se  fierenl  tot  piain  de  mautalant; 
La  troverent  roiaua,  nes  vont  pas  menacant, 
Ains  fierent  et  ocient  quan  que  vont  ataignant. 
S.  ferner  Garin  le  Loh.  I  140  (dazu  P.  Paris,  Anm. ),  II,  53,  206. 
In  der  von  Foerster  zu  Chev.   II  esp.  8154  angegebenen  Be- 
deutung „das  Volk  in  Waffen",    „Landsturm"    kenne  ich  das  Wort 
im  Altfrz.  nicht.     Der  Begriff  des  Landsturms  ist  der  Karolingerzeit 
nicht  fremd.     In   aussergewöhnlichen   Fällen,   namentlich   wenn   es 
sich  um  die  Vertheidigung  des  Landes  gegen  einen  plötzlichen  Über- 
fall  handelte,    war  jeder   (omnis   populus)    zum   Waffendienst    ver- 
pflichtet (s.  A.  Baldanus,    Das  Heerwesen  unter  den  späteren  Karo- 
lingern =  Grierke,  Untersuchungen  zur  deutschen  Staats-  und  RecMs- 
geschichte,  IV,  S.  51  ff.)  und  es  fehlt  in  der  altfrz.  Epik  nicht  an 
Stellen,    an   denen   von   einem  derartigen  Massenaufgebot  die  Rede 
ist.     So: 

Gar.  le  Loh.  I,  140: 

Nostre  empereres  a  fait  sa  gent  mauder, 
La  veissiez  communes  assembler, 
Et  les  riUains  venir  et  aüner. 
Diese  Stelle  ist  besonders  interessant,  weil  den  communes  die  mllains 
gegenübergestellt  werden. 
Aiol  10572:  Li  rois  a  fait  ses  bries,  les  cartres  saieler, 

Le  par  tonte  sa  tere  fait  ses  harons  mander, 
Tant  furent  grans  les  os,  ainc  hon  nes  pot  esmcr. 
De  la  nienue  gent  n''i  lalsa  point  aler, 
Car  il  uaut  le  secor  mont  durement  aster. 
Ogier  8122:   Par  le  pa'is  a  fait  li  rois  hucier 

Que  a  l'ost  viegne  qi  volra  gaagnier: 
Gart  ni  remaigne  r ilain  ne  manövrier: 
Cascuns  aport  ou  haue  ou  pic  d'achier. 
Renaus  de  Moutaub.  23:   Qui  armes  puet  porter,  si  viegne  maintenant, 
Qiii  ni  venra,  si  soit  apeles  recreant. 
Welchen  Begriff  die  Copisten  von  D.  und  B.   mit  dem  Wort 
coumain  im  Anseis  verbunden  haben,  dürfte  sich  schwer  mit  Sicherheit 
entscheiden  lassen.     Mit  „aemeiner  Soldat"  scheint  es  mir  jedenfalls 
wenig   glücklicli    wiedergegeben   zu    sein.      794  hat  D.  Sor   quoi  il 
montent    li    prince   et  li  comain  statt  Cevalier  montent,   borgois  et 
chiteain.     V-  2637  ist  gent  coumaine  im  verächtlichen  Sinne  von  den 
Heiden  gesagt. 

Conestablie  übersetzt  Alton  mit  „ Schlossherrschaft ",  womit 
es  nichts  zu  tluin  hat.     In  der  altfrz.  Epik  ist  mir  das  Wort  immer 
nur  begegnet  in  der  allgemeineren  Bedeutung  „Kriegstruppe,  Truppen- 
körper".     Z.  B.  Aye  112:   Et  est  venus  par  mer  ä  iel  connestablie 
Qu^i  sont  jj?«s   de   O*  de   la  gent  paiennie.     Alisc.   14:    Mais  tant 


J.  Alton,  Anse'is  von  Karthago.  199 

ferirent  en  leiir  connestablie  \  Quhme  bataüle  de  Turs  ont  desconfie. 
Ib.  153  XXin  paiens  ot  en  connestahlie.  Ayraeri  de  Xarb.  1728:  l^iä 
trois  C.  fureiit  dhine  connestablie.  Acquin  553:  Les  Bretoxs  sont 
en  lour  connestablie.  Ebenso  Anseis  4834:  3Iil  cevalier  d'itne 
conestablie.  Ib.  7139:  Plus  de  XX.  mil  dhine  conestablie.  Beachte 
ib.  5637.  VII.  mil  somiers  dhine  conestablie.  Zur  Bedeutunggeschichte 
vgl.  Littre  s.  v.  connetable  und  connetahlie.  Mit  „Schlossherrschaft" 
lässt  sich  frz.  chdfeUenie  wiedergeben.  In  unserem  Text  werden  die 
castelain  (Alton  verzeichnet  das  Wort  im  Glossar  nicht)  Vers  790 
erwähnt. 

Emparleor  ist  nicht  in  dem  von  Alton  in  der  Anmerkung 
zu  V.  6274  vorgeschlagenen  Sinne  zu  fassen,  sondern  hat  die  Be- 
deutung des  im  Altfr.  öfter  begegnenden  emparlicr.  S.  Godefroy 
s.  V.  emparlier  und  vgl.  Brunner,  Wort  tmd  Form  im  altfranzösisclien 
Process  (Sitzungsberichte  der  Kais.  Akad.  der  Wissenschaften. 
Phil.-histor.  Classe.     Bd.  LXII.     Wien  1868.     S.  750.) 

Esposer.  Alton  verzeichnet  die  Ausdrucksweise  esposer 
d'' urgent  et  cVor  mier  (6896,  6989  ff. :  Et  dist  li  rois  .  .  .  Jou  Vesposai 
voiant  tout  mon  barne.  De  der  argent  et  d'or  fin  esmere)  und  ver- 
weist auf  eine  von  ihm  zu  Vers  6896  gemachte  Anmerkung:  ^ Gau- 
disse espose  et  d^argent  et  d'or  mier,  d.  h.  er  heirathet  G.  mit  dem 
Anrecht  auf  das  ganze  Vermögen,  welches  sie  mitbringt."  Wie  sich 
dies  aus  den  W^orten  des  franz.  Textes  heraus  lesen  lässt,  ist  nicht 
leicht  ersichtlich.  Die  richtige  Deutung  gab  P.  Paris,  Garin  le 
Loherain  II,  69  f.  Hier  wird  die  eheliche  Verbindung  der  Herzoge 
Garin  und  Begues  mit  den  Töchtern  Milous  erzählt: 
Chascuns  des  contes  la  soie  recoiUit, 
Puis  les  menerent  au  mostier  Saint  Matiin: 
Deus  arceuesques  i  out  au  beneir  .... 
La  les  espousent  et  d\irgent  et  d'or  fin. 
Espouser  d'argent  et  d'or  fin  ist  eine  formelhafte  Wendung, 
die  in  einer  älteren  fränkischen  Sitte  bei  der  Eheschliessung  ihre 
Erklärung  findet.  Nicht  um  die  Mitgift  der  Braut  handelt  es  sich 
dabei,  wie  Alton  annimmt,  sondern  um  das  Muntgeld,  das  der 
Bräutigam  dem  Verlober  zahlte.  Fredegar  berichtet,  dass  Clodevich, 
als  er  die  Clotilde  heimführen  wollte,  dem  Könige  Gundbald  solidnm 
et  denarium  (ut  mos  erat  Francorum)  überreichen  Hess.  Vgl.  weitere 
einschlägige  Stellen  aus  mittelalterlichen  Autoren  bei  E.  Glasson, 
Histoire  du  droit  et  des  insiitidions  de  la  France.  LEI,  S.  13,  Anm.  4. 
Maisnie  ist  mit  „Gesinde,  Schaar"  nicht  glücklich  verdeutscht. 
Eher  Hesse  sich  an  mhd.  gesinde,  ahd.  gisindi,  Gefolgschaft,  denken. 
Vgl.  J.  Flach,  Jßtudes  romanes  dediees  ä  Gaston  Paris.  Paris  1891. 
>\  154 — 163,  wo  die  Bedeutungen,  die  das  Wort  in  der  altfran- 
zösischen Epik  hat,  eingehend  erörtert  werden.    „Les  parents,  groupes 


200  Beferate  und  Rezensionen.     D.  Behrens, 

autour  d'im  chef,  forment  Je  noyau  d'un  compagnonnage,  bien  plus 
etendu  .  .  .  .  la  maisnie,  la  maison  du  scigneur,  son  corps  d-elite,  le 
centre  de  resistance  de  son  armee,  son  meilleur  conseil,  son  entourage 
de  chaque  jour.  La  maisnie  se  complete,  en  deJiors  de  la  famille  par 
les  fils  des  vassaux  ou  des  allies  plus  fideles.  Ils  sont  nourris,  eleves, 
instruits  au  metier  d'armes,  avec  les  fils,  les  neveux,  les  autres  parents. 
Arrives  ä  Vage  dliomme  ils  sont  comme  eux,  armes  Chevaliers  par  le 
seigneur."  In  dieser  ursprünglichen  Bedeutung  begegnet  das 
Wort  in  unserem  Text.  V.  26  giebt  der  Copist  der  Hs.  D  sa  maisnie 
der  anderen  Handscliriften  wieder  mit  sa  gent  que  il  avoit  norrie. 
Nourris  ist  eine  häufig  im  altfranz.  Epos  wiederkehrende  Be- 
zeichnung für  am  Hofe  des  Königs  oder  eines  Grossen  erzogene 
Söhne  vornehmer  Abkunft,  die  dadurch  zu  ersteren  in  ein  besonderes 
Schutz-  und  Dienstverhältnis  traten,  zu  seiner  „maisnie"  gehörten. 
Siehe  aucli  hierüber  Flach  1.  c.  Ohne  Mühe  Hessen  sich  zu  den  von 
ilim  gesammelten  Belegen  andere  hinzufügen,  die  geeignet  sind,  das 
Verhältnis  des  Herrn  zu  seinen  notirris  näher  zu  illustrieren.  So 
Raoul  de  Cambrai  7003  f. :  Bernier  klagt 

Trop>  fis  que  fax  quand  je  Raoul  ocis: 

Nourrit  m^avoit  et  chevalUer  me  fit. 
ib.   6453  bestimmt  der  König  Ludwig  IV  für  einen  seiner  norris, 
Harchanbaut  de  Pontif,  Herrn  von  Abbeville,  die  Hand  der  Biautris : 

Et  ceste  dame  est  fille  au  sor  Guerri: 

Boner  la  vuel  a  1  de  mes  norris. 
Wie  intim  das  Verhältnis,  in  dem  Herr  und  nourri  zu  ein- 
ander stehen,  gefasst  wurde,  zeigt  recht  deutlich  die  folgende  Stelle 
aus  Garin  le  Loherain:  II,  189:  Ein  Bote  meldet  dem  Herzog  Begon: 

„Perdu  avez  vostre  charnel  ami, 

Rigaut,  Venfant  que  vous  avez  norri; 

Jci  devant  se  combat  II  gentis, 

Et  sor  lui  sont  si  morfel  anenü." 

—  Li  dus  VoT,  durrement  s'esmarri. 
Ib.  II,   65  sagt  der  König  Pipin: 

Et  j'ai  deus  contes  dedans  ma  cour  norris, 

Jl  sunt  mi  homnie  et  de  mon  fief  saisi; 

S'il  ont  mes  nicces  je  en  scrai  plus  fis. 
I,  249  nennt  Pipin  den  Begon  „le  mien  charnel  amin". 
Vgl.    nocli    ib.    II,    254,    256.      Auch    im    Anseis    begegnet 
noris   (ausser  a.   a.   0.,   wo  es  nur  die  Hs.   D  kennt)    11329:   Der 
Krieg  ist  beendet: 

Et  Vemperere,  Jci  est  vieus  et  fioris 
S'en  retorna,  s'en  maine  ses  noris ; 
Revenu  sont  droit  a  Costesoris. 


J.  Alton,  Änse)'s  von  Karfhogo.  201 

Der  Herausgeber  hat  die  Bedeutung  des  "Wortes  wohl  ver- 
kannt, wenn  er  es  im  Wörterverzeichnis  s.  v.  norir  mit  „Tisch- 
genosse" wiedergiebt.  Liess  sich  ein  adäquater  nhd.  Ausdruck  nicht 
linden,  so  musste  das  Wort  erlclärt  und  umschrieben  werden. 

Das  Verzeichnis  der  Eigennamen  ist  keineswegs  vollständig, 
wodurch  es  an  Wert  sehr  verliert.  Konnte  auch  darauf  in  einzelnen 
Fällen  verzichtet  werden,  sämtliche  Stellen,  an  denen  ein  Eigenname 
vorkommt,  zu  verzeichnen,  so  durfte  doch  keiner  der  im  Text  be- 
gegnenden Namen  vollständig  übersehen  werden.  In  Altons  Ver- 
zeichnis fehlen  u.  a.  Catires  (8056),  Blois  (8056),  Artisten  (9361), 
Baruße  (2864),  Flandres  (348),  Engles  (10075),  Loon  (912),  Lom- 
bardie  (351),  Honguerie  (350),  Bomaigne  (351),  Otrente  (349),  Pro- 
venche  (347),  Frise  (8008).  Zu  den  verzeichneten  Namen  werden 
über  Erlebnisse,  Heimat,  Verwandschaft  der  Personen  mehrfach 
Angaben  gemacht.  Der  Herausgeber  hätte  aber  hier  des  Guten 
noch  mehr  thun  können  und  sich  die  „Table  des  noms",  welche  der 
Ausgabe  des  Eaoul  de  Cambrai  von  P.  Meyer  und  A.  Lognon  bei- 
gegeben worden  ist,  als  Muster  nehmen  sollen.  Hinweise  auf  das 
Vorkommen  einzelner  Namen  in  anderen  Texten  giebt  Alton 
gelegentlich.  Ich  vermag  aber  nicht  zu  erkennen ,  nach 
welchem  Princip  er  hier  bei  der  Auswahl  verfahren.  Zu  Salemon 
vgl,  Acquin  (ed.  Joüon  de  Longrais)  S.  128,  283;  zu  Bispeu  ib. 
S.  128,  234;  zu  Justamon  ib.  228;  Estout  de  Lengres,  Ille  und  Galeron 
ed.  Foerster  S.  237;  Coine  ib.  2653.  —  S.  599  steht  Ji  Fris, 
Gondrebues  li  Fris,  plnygisch  9295  .  .  ."  Vgl.  Aymeri  de  Narbonne 
S.  266  Cest  Je  Gondeboldus,  rex  Frisiae  de  la  chronique  de  Turpin 
(eh.  XI,  XIV,  ed.  Castets,  p.  18,  24).  Alton  selbst  weist  unter 
Gondrebuef  auf  diese  Notiz  Demaisons  in  seiner  Ausgabe  hin.  Vgl. 
Renaus  de  Montauban  140,  16  Gondebuef.  —  Monbendel  wird  mit 
einem  Fragezeichen  versehen.  Der  Ort  wird  näher  beschrieben  in 
Renaus  de  Montauban  144,  3  As  puis  de  Ilonbendel  sont  les  os 
airavees;  Pres  fu  de  Montauban,  ä  sol  ■  i  i  i  i  ■  jornees,  Que  on  pucf 
veoir  la  tor  et  la  fumee.  Ib.  144,  27 :  Signor,  dist  Karlesmaine,  fai 
assis  Monbendel.  La  voce  en  est  tmdt  haide,  midt  i  a  fort  castel ....  — 
Salastre,  1.  Salatre.  Renaus  de  Montauban  161,  19  trägt  der  Bote 
des  Königs  Ton  diesen  Namen.  In  Mort  Aymeri  de  Narbonne  ein 
Sarrazene,  der  von  Guibert  d'Andrenas  besiegt  wird  (s.  Couraye  du 
Parcs  Ausgabe  S.  238). 

D.  Behrens. 


202  Referate  und  Rezensionen.     W.  Baldensperger, 

B Ullrich,  Georg.  Über  Cliarles  d' Orleans  und  die  ihm  zugeschriebene 
englische  Übersetzung  seiner  Gedichte.  Wissensch.  Beilagre 
z.  ProgTamm  der  2.  städtischen  Realscli.  zu  Berlin.  Ostern 
1893.     23  S.     Berlin,  Gärtner. 

Watson  Taylor  hat  1827  ein  Werk  erscheinen  lassen:  Poems 
written  in  English,  by  Charles  Duke  of  Orleans,  during  his  captivity 
in  England  after  the  battle  of  Azincourt.  Dasselbe  enthält  219  Ge- 
dichte, von  denen  141  Übertra?'une;en  französischer  Lieder  des 
Herzogs,  eins  eine  Übersetzung  eines  Gedichtes  des  Herzogs  Philipp 
von  Burgund  und  77  Übertragungen  von  Diclitungen  sind,  die  nicht 
von  Karl  herrühren.  Verf.  ist  der  begründeten  Meinung,  dass  Karl 
diese  219  Stücke  weder  selbst  übersetzt  noch  irgend  eins  derselben 
ursprünglich  in  englischer  Sprache  verfasst  hat.  Die  Gründe,  welche 
er  Taylor  gegenüber  geltend  macht,  sind  folgende.  Die  englische 
Sprache  beherrschte  Karl  nur  in  unvollkommener  Weise,  wie  das 
11  von  ihm  herrührende  englische  Gedichte  beweisen,  die  Übersetzung 
ist  dagegen  trefflich.  Auch  war  das  Französische  in  England  nicht 
so  unbekannt,  dass  er  seine  oder  gar  fremde  Gedichte  dort  durch 
Übertragung  hätte  einbürgern  sollen.  Karl  liebte  überdies  die 
Sprache  eines  Volkes,  das  ihm  und  seinem  Vaterlande  soviel 
Leid  zugefügt  hatte,  schwerlich.  Nur  langweilige  Mussestunden 
während  seiner  25jährigen  Gefangenschaft  in  England  füllte  er  mit 
englischen  Versübungen  aus.  An  Zeugnissen  für  eine  von  Karl  her- 
rührende englische  Übersetzung  fehlt  es  durchaus.  Den  Verfasser 
der  erwähnten  Übertragung  kennen  wir  allerdings  ebensowenig. 

Hr.  B.  schickt  seiner  Untersuchung  eine  Biographie  des  Herzogs 
voraus,  worin  er  den  Dichter  doch  nur  nebensächlich  berück- 
sichtigt. Auch  hätte  hier  das  Verhältniss  der  s.  g.  Jungfrau  von 
Orleans  zu  Karl,  den  sie  aus  der  englischen  Gefangenschaft  zu  be- 
freien vorhatte,  besprochen  werden  sollen.  Die  biographischen  Zu- 
sammenstellungen verdienen  sonst  wegen  ihrer  Vollständigkeit  und 
Übersichtlichkeit  alles  Lob. 

K.  Mahrenholtz. 


Boiinofou,  Paul.    Jluntaigne.    EHomme  et  l'Oeuvre.    In-4°;  XIIL 
504  S.     Paris,  Rouara  et  O^-     1893.     15  Fr. 

Eine  sehr  reichhaltige,  über  500  Seiten  sich  erstreckende  und 
gefällig  geschriebene  Arbeit.  Sie  scheint  zur  Feier  des  300jährigen 
Gedächtnisstages  des  Todes  von  Montaigne  verfasst  zu  sein,  denn 
das  Vorwort  ist  am  13.  September  1892  niedergeschrieben  worden. 
Zahb-eiche  Detailuntersuchungen,  welche  in  den  vergangenen  Jahren 
über    den    berühmten    Schriftsteller    und    seine    Familie    angestellt 


P.  Bonnefon.     Montaigne.     L'Homme  et  VOeuvre.  203 

worden  sind,  fanden  Berücksiclitigrung- ,  und  zwar  so,  dass  die  in 
jenen  Untersuchungen  zerstreut  liegenden  Notizen  hier  zu  einem 
Gesammtbild  vereinigt  werden.  Besonders  hat  Bonnefon  ausgiebigen 
Gebrauch  gemacht  von  den  Urkunden,  welche  Dr.  Payen  mit  unermüd- 
lichem Sammelfleiss  zusammengetragen  hat  und  welche  nun  in  der 
Bibliotheque  nationale  autTaewahrt  werden.  Mit  Hilfe  dieser  Vor- 
arbeiten versucht  er  in  einem  sehr  interessanten  Kapitel  die 
Bibliothek,  welche  Montaigne  in  seinem  einsamen  Thurm  auf- 
gestellt hatte  und  in  welcher  er  Tage  lang  seinen  Gedanken  nach- 
zuhängen pflegte.  Band  für  Band  zu  reconstruieren.  S.  p.  748  ff. 
Es  seien  uns  über  60  Bände  erhalten,  welche  bestimmt  zu  dieser 
Sammlung  gehörten.  Der  Sprache  nach  waren  es  ein  spanisches 
Werk,  zwölf  französische,  43  italienische,  5  griecMsche  und 
32  lateinische.  Betrachtet  man  sie  unter  dem  Gesichtspunkt  ihres 
Inhaltes,  so  vertheilen  sie  sich  f olgendermassen :  3  theologische 
Werke,  ein  medizinisches,  zwei  juristische,  ein  Eomau,  der  spanische 
Amadis,  elf  Dichter,  28  historische  Schriften  und  15  andere,  die 
schwer  einzureihen  sind.  (S.  p.  162  f.).  Hierbei  werden  auch  wich- 
tige Bemerkungen  hinzugefügt  über  den  Gebrauch,  den  Montaigne 
von  diesen  Büchern  machte,  über  seine  Eandglossen,  über  die  Aus- 
wahl, die  er  zu  treffen  wusste.  Durch  all  dies  gewinnen  wir  einen 
tieferen  Einblick  in  die  geistige  Individualität  des  Mannes  und 
können  uns  von  dem  Antheil  der  antiken  Litteratur  an  dem  Zu- 
standekommen der  „Essais"  einen  klaren  Begriff  machen.  Aber 
auch  von  manchen  anderen  Spezialstudien  über  Montaigne  hat 
Bonnefon  die  Avesentlichen  Resultate  aufgenommen:  für  die  Familien- 
clu'onik,  für  die  entfernten  Ursprünge  des  Geschlechts  „Eyquem", 
welches  der  eigentliche  Familienname  von  Montaigne  ist,  wurde 
besonders  das  im  Jahre  1875  erschienene,  gewissenhafte  Werk  von 
Th.  Malvezin:  „Michel  de  Montaigne,  son  origine  et  sa  famille" 
benützt. 

Doch  hat  es  der  Verfasser  nirgends  auf  Vollständigkeit,  auf 
Erschöpfung  des  gesammten,  jetzt  zu  Tage  geförderten  Materials 
abgesehen.  Er  will  dem  Leser  erst  eine  sichere,  alles  Wesentliche 
enthaltende  Informationsquelle  darbieten  oder,  wie  er  sich  selbst 
ausdrückt,  er  gibt  nur  einen  Blumenstrauss,  den  er  sich  bemüht 
hat,  geschmackvoll,  einfach  und  wahr  zu  gestalten. 

Wer  eine  Lebensbeschreibung  Montaigne's  zu  schreiben  beab- 
sichtigt, ist  in  erster  Linie  auf  die  Essais  desselben  angewiesen, 
welche  ja  eine  Art  Selbstbiographie  darstellen.  Einer  wahrhaft 
wissenschaftlichen  Benützung  derselben  stand  aber  bisher  der  Um- 
stand entgegen,  dass  wir  verschiedene  von  Montaigne  selbst  her- 
rührende Textgestaltungen  besitzen.  Bonnefon  war  nun  in  der 
glücklichen  Lage,  drei  sorgfältig  vorbereitete  und  ausgeführte  Aus- 


204  Referate  und  Rezensionen.     TT'.  Baldensperger, 

gaben  aus  neuerer  Zeit  zum  Vergleich  heranziehen  zu  können:  die 
Ausgabe  von  Dezeiiueris  und  Barkhausen,  welclie  den  Text  von  1580, 
d.  h.  in  der  Gestalt,  in  welcher  ihn  Montaigne  selbst  zum  ersten  Mal 
in  den  Druck  gab,  und  die  Varianten  von  1582  und  1587  enthält;  dann 
die  Ausgabe  von  Jouaust  und  Motheau  mit  dem  Text  von  1588; 
endlich  für  die  letzte,  nach  dem  Tode  Montaigne's  erschienene, 
stark  vermehrte  Textgestaltung  von  1595  die  noch  nicht  zu  Ende 
geführte  Ausgabe  von  Courbet  und  Rayer.  Die  Collection  dieser 
Texte  gestattete  dem  Verfasser  aus  den  successiven  Aenderungen,  die 
Montaigne  selbst  von  einer  Ausgabe  zur  andern  an  dem  ursprüng- 
lichen Text  vornahm,  den  Fortschritt  seines  Denkens  und  den  Ein- 
lluss  der  Lebenserfahrungen  auf  dasselbe  zu  bestimmen.  —  Die 
Materialien  werden  meist  chronologisch  und  sehr  übersichtlich  unter 
folgende  Kapitelüberschriften  geordnet:  Montaigne's  Familie,  Jugend, 
Magistratsamt,  Privatleben,  Eeisen,  Montaigne  als  Maire  von 
Bordeaux,  das  3.  Buch  der  Essais  und  sein  Lebensende,  die  posthume 
Veröffentlichung  der  Essais. 

Ist  die  Darstellung  überall  lichtvoll  und  gewandt,  so  ist  es 
uns  hingegen  nicht  immer  möglich  in  der  Beurtheilung  der  Ereig- 
nisse und  der  Thaten  Montaigne's  dem  Verfasser  zuzustimmen.  Was 
z.  B.  die  Stellung  des  berühmten  Denkers  in  den  Religionskriegen 
betrifft,  so  scheint  uns  der  Verfasser  aus  sehwachen  Anhaltspunkten 
Schlüsse  sehr  problematischer  Natur  zu  ziehen.  Die  Sendung 
Montaigne's  zum  Parlament  von  Bordeaux  und  die  übrigens  nicht 
ganz  klare  Rolle,  die  er  hier  gespielt  hat,  sind  nicht  derart,  dass 
sie  eine  sichere  Entscheidung  auch  über  seine  innere  Stellung  zu 
den  streitenden  Parteien  erlauben.  Dagegen  müsste  die  historische 
Forschung  mit  Rücksicht  auf  seine  sonst  bekannte  Geistesart  viel- 
mehr diejenigen  Momente  betonen,  welche  ihn  über  den  Glaubens- 
differenzen seiner  Zeit  stehend  zeigen.  Schon  der  Umstand,  dass 
er  in  beiden  Lagern  Anerkennung  gefunden  hat,  konnte  der  Ver- 
muthung  Vorschub  leisten,  dass  er  nicht  auf  Unterdrückung  einer 
Partei  gerichtete,  sondern  vermittelnde  Vorschläge  gemacht  halie. 
Näher  kommt  Bonnefon  der  geschichtlichen  Wahrheit,  wenn  er 
p.  248  Montaigne's  Individualität  mit  derjenigen  Heinrich's  IV. 
zusammenstellt  und  von  Beiden  aussagt:  Pour  Ihm  comme  pour 
Vaiüre  c'est  un  trait  de  nature:  tenir  la  halance  egaJe  entre  ks  opi- 
nions  philosophiques  est  aussi  meritoire  qtie  d'apaiser  un  ä  un  les  j^dtiis; 
savoir  s'ahstenir  quand  tont  Ic  nionde  affirme  est  aussi  louablc  que 
de  desarmer  les  dissensiotis.  Vielleicht  hätte  sich  der  Verfasser  bei 
dieser  Gelegenheit  auch  an  die  von  Montaigne's  Hand  an  die  Decke 
seines  Bibliothekszimmers  angebrachten  Inschriften  erinnern  dürfen: 
die  54  in  unseren  Tagen  entzifferten  Sentenzen  enthalten,  wie  er 
es  selbst  bemerkt,  die  Quintessenz  der  Essais  und  des  Denkens  von 


F.  Bonnefon.     Montaigne.     L'Homme  et  V  Oeuvre.  205 

Montaigne  überhaupt.  Daraus  empfängt  man  aber  „deutlich  den 
Eindruck  des  metaphysischen  Skepticismus",  dem  der  grosse  Schrift- 
steller huldigt. 

Eine  ähnliche  aus  apologetischen  Motiven  herrührende  üm- 
biegung  des  geschichtlichen  Urtheils  scheint  mir  noch  in  einem 
anderen  Falle  vorzuliegen.  Man  hat  Montaigne  wohl  mit  Recht 
den  Vorwurf  gemacht,  dass  er  im  Jahre  1585,  als  eine  furchtbare 
Pest  in  Bordeaux  ausbrach,  seiner  Pflicht  als  Maire  dieser  Stadt 
nicht  nachkam.  Er  hütete  sich,  den  Herd  der  Ansteckung  auf- 
zusuchen und  begnügte  sich  damit  Geschäftsbriefe  an  die  Stadt- 
behörden zu  schicken.  Es  sind  aber  subtile  Distinctiouen ,  welche 
Bonnefon  zur  Rechtfertigung  seines  Helden  anzubringen  sucht,  wenn 
er  S.  408  schreibt:  „Montaigne  hat  die  Stadt  nicht  verlassen 
wegen  der  Ansteckung;  er  war  einfach  abwesend,  als  die  Pest  aus- 
brach und  er  kehrte  nicht  zurück."  Man  dürfte  auch  hier  den 
Kern  der  Sache  besser  treffen,  wenn  man  den  eigentlichen  Er- 
klärungsgrund dieses  Verhaltens  in  der  Charakterbeschaffenheit  des 
Mannes  suchte.  Seine  Sache  war  es  nicht,  sich  heldenmüthig  auf- 
zuopfern. Kann  man  ihm  einen  Vorwurf  daraus  machen,  fragt  nachher 
Bonnefon  selbst  und  mit  Recht,  dass  er  kein  Held  war? 

Ein  besonders  genussreiches  Kapitel  dürfte  das  5.,  von  den 
Essais  handelnde,  sein.  Hier  wird  die  geistige  Physiognomie  des 
Schriftstellers  und  vor  allem  die  innere  Verfassung,  in  welcher  er 
sein  Werk  concipiert  und  niedergeschrieben  hat,  mit  grosser  Fein- 
heit gezeichnet.  Zur  schönen  Zierde  gereichen  dem  auf  schmuckem 
Papier  und  sehr  säuberlich  gedrucktem  Buche  die  zahlreichen  Ab- 
bildungen, die  es  enthält.  Es  sind  deren  über  80.  Sie  gehören 
teils  der  Zeitgeschichte  des  Mannes  an  (Stadtpläne,  Zeichnungen 
von  Schlössern,  Porträts  von  bekannten  Zeitgenossen),  teils  sind 
sie  direkt  dem  persönlichen  Leben  Montaigne's  entnommen :  so  mehrere 
Bilder  von  ihm,  welche  von  verschiedenen  Künstlern  entworfen 
wurden,  fac-similia  der  Titelblätter  von  den  Ausgaben  seiner  Essais; 
Grundrisse  seiner  Bibliothek,  seines  Thurmes,  seines  Grabmals  u.  s.  w. 

Im  Ganzen  genommen,  wird  man  dies  fleissig  ausgearbeitete 
Werk  von  Bonnefon  freudig  begrüssen  dürfen  als  eine  gute  Zu- 
sammenstellung der  wichtigsten  heute  bekannten  Materialien  über 
Montaigne,  in  welcher  man  sich  bequem  über  alle  den  grossen 
Denker  angehenden  Fragen  Raths  erholen  kann. 

W.  Baldensperger. 


206  Bejerate  und  Bezensionen.     Eugene  Bitter, 

Oeuvres  de  saiut  Fran^ois  de  Sales.  Edition  complete  d'apres  les 

autosraphes    et   les   editions   originales;    enricliie  de    nom- 

breuses  pieces  inedites;  pnbliee  par  les  soins  des  religienses 

de  la  Visitation  du  1®^  monastere  d'Annecy.     Geneve,  li- 

brairie    Trembley,    1892.      Tome    1^^:     Les    Controverses. 

Tome  II:   Defense   de  Fetendard  de  la  sainte  croix.     Prix 

de  chaque  volume:  Fr.  8. — . 

.     Le  1^1'  avril  1842,  en  lisant  k  TAcadeniie  frangaise  son  Rapport 

sur    la    necessite    d'une    nouvelle    edition    des    Pensees    de    Pascal, 

M.  Cousin  a  ouvert  une  voie  nouvelle  aux  recherches  de  l'erudition; 

et  comme  il  l'avait  fait  plus  d'une  fois  auparavant,  il  a  manifeste 

brillamment   cet   esprit  d'initiative  intellectuelle,   qui  a  ete  dans  sa 

longue  carriere  et  qui  demeurera  dans  l'avenir  le  solide  fundement 

de  sa  celebrite. 

„Le  temps  est  venu,  disait-il,  de  traiter  cette  seconde  anti- 
quite,  qu'on  appelle  le  siecle  de  Louis  XIV,  avec  la  meme  religion 
que  la  premiere,  de  Tetudier  en  quelque  sorte  pliilologiquement,  de 
reclierclier  avec  une  curiosite  eclairee  les  vraies  legons,  les  legons 
authentiques  que  le  temps  et  la  main  d"editeurs  inhabiles  out  peu 
k  peu  effacees.  Quand  on  compare  la  premiere  edition  de  tel  grand 
ecrivain  du  XVII®  siecle  avec  celles  qui  en  circulent  aujourd'hui, 
on  demeure  confondu  de  la  difference  qui  les  separe." 

La  librairie  Hacliette,  en  publiant  la  collection  des  Grands 
ecrivains  de  la  France,  qui  a  corameuce  ä  paraitre  en  1862 ,  et  qui 
comprend  aujourd'hui  pres  de  quatre-vingts  volumes,  semble  avoir  pris 
ä  täche  de  se  conformer  au  programme  trace  ä,  grands  traits  par 
M.  Cousin. 

Vers  le  meme  temps,  M.  Sainte-Beuve  ^)  disait  en  parlant  des 
poetes  du  XVI*^  siecle:  ,,Le  moment  serait  pourtant  venu,  je  le  crois, 
de  dresser  une  Anthologie  fran(jaise,  et  d'y  apporter  k  la  fois  la 
severite  de  Terudition  et  celle  du  goüt.  II  y  aurait  avant  tout  ä 
faire  un  travail  pliilologique  de  revision;  car  il  est  iucroyable  k 
quel  point  les  textes  de  ces  vieilles  poesies  se  sont  corrompus; 
l'incorrection  des  copies  ou  des  impressions  s"est  ajoutee  k  celle  de 
la  langue  pour  embrouiller  le  sens  de  certaines  pieces  qui,  bleu 
retablies,  pourraient  paraitre  ingenieuses.  Nos  Analecta  auraient 
besoin  par  moments  de  la  sagacite  d'un  Brunck  ou  d'un  Jacobs; 
mais  des  esprits  de  cette  trempe  ne  croiraient-ils  pas  s'y  rabaisser?" 
Le  voeu  de  M.  Sainte-Beuve  a  ete,  lui  aussi,  entendu  et  rempli; 
les  gracieux  poetes  de  Tecole  de  Ronsard  ont  vu  leurs  ueuvres  re- 
paraitre  au  jour  dans  des  editions  surveillees  avec  soin  par  des 
erudits  distiugues. 

*)  Article  sur  Frangois  I"',  poete,  public  en  mai  1847  dans  le  Journal 
des  savanis,  et  reeueilli  dans  le  volume  des  Demiers  portraits. 


Oeuvres  de  saint  Frangois  de  Sahs.  207 

On  ne  remarque  pas  sans  etonnement  que  les  grands  ecrivains 
ecclesiastiques  ont  ete  laisses  en  deliors  de  ce  mouvement.  C'est  une 
librairie  allemande  qni  a  donne  une  edition  critique  des  oeuvres  de 
Calvin.  Bossuet  et  Fenelon  attendent  un  editeur.  Heureusenient 
Frangois  de  Sales  vient  d'en  trouver  un. 

Les  religieuses  du  premier  monastere  de  la  Visitation,  k  Annecj', 
ont  entrepris  la  publication  d'une  edition  critique  et  definitive  des 
oeuvres  de  Fran^ois  de  Sales.  Elles  en  ont  confie  la  publication  ä 
Dom  Mackey,  de  Tordre  des  Benedictins.  Deux  grands  et  beaux 
volumes  viennent  de  paraitre.  11  s  contiennent  deux  traites  de 
polemique  contre  les  doctrines  protestantes,  lesquels  datent  de  l'epoque 
oü  le  jeune  gentilliomme,  prevot  de  l'eglise  cathedrale  de  Saint-Pierre 
de   Geneve  (in  partibus)  prechait   la   foi  catholique   en  Chablais. 

On  sait  que  cette  belle  coutree,  situee  sur  la  rive  raeridionale 
du  lac  Leman,  avait  ete  soumise  pendant  une  trentaine  d'annees, 
au  milieu  du  seizieme  siecle,  k  la  republique  de  Berne;  le  clerge 
catholique  en  avait  ete  chasse,  et  un  clerge  Protestant  avait  pris  sa 
place.  Rendu  au  duc  de  Savoie  par  le  traite  de  Nyon  (1564)  le 
Chablais  etait  reste  Protestant  pendant  trente  ans  encore.  A  la  fin 
du  siecle,  le  duc,  d'accord  avec  l'ev^eque  du  diocese,  prit  des  mesures 
pour  restaurer  la  foi  catholique  dans  cette  partie  de  ses  Etats. 

Le  14  septembre  1594,  Fran^ois  de  Sales,  accompagne  du 
chanoine  Louis  de  Sales,  son  cousin,  avait  traverse  la  Chandouze, 
petite  riviere  qui'  formait  la  limite  du  Chablais.  La  tous  deux 
s'etaient  mis  k  genoux,  pour  saluer  le  bon  ange  de  la  province,  le 
priant  de  leur  etre  favorable;  ils  ürent  ensuite  un  exorcisme  aux 
malins  esprits  qui  Fhabitaient.  Depuis  ce  moment,  et  pendant  sept 
ans,  jusqu'  au  mois  de  decembre  1601,  la  conversion  du  Chablais  au 
catholicisme  occupa  toute  l'activite  de  Frangois  de  Sales.  Tous 
ses  biographes  en  parlent  longuement;  dans  un  ouvrage  recent(^), 
M.  Pabbe  Gonthier  a  donne  de  cette  periode  de  sa  vie  le  recit  le 
plus  exact  qu'on  possede.  C'est  alors  que  le  jeune  controversiste 
ecrivit  les  deux  ouvrages  qu'on  vient  de  reimprimer. 

Destiue  par  son  pere  ä  la  magistrature,  FrauQois  de  Sales  avait 
fait  d'excellentes  etudes  aux  Universites  de  Paris  et  de  Pad(jue. 
„En  l'ecole  de  Paris,  dit-il  quelque  part,  j'ai  premierement  etudie 
en  lettres  humaines,  et  puis  en  philosophie,  avec  tant  plus  de  fruit 
et  de  facilite  que  ses  toits  memes  et  ses  murailles  semblent  de  vouloir 
philosopher,  tant  eile  est  adonnee  k  la  philosophie  et  theologie!" 
A  Padoue,  il  avait  partage  son  temps  entre  la  jurisprudence  et  la 
theologie,   donnant  chaque   jour   quatre   heures   k   l'etude   du   droit, 


*)  Gonthier.     La  tnission  de  saint  Frangois  de  Sales  en  CJtablais. 
Annecv,  1891. 


208  Referate  und  Rezensionen.     JEhigene  Ritter. 

pour  obeir  au  desir  de  son  pere,  et  reservaut  aussi  quatre  heures 
pour  ses  auteurs  preferes.  C'etaient  les  scolastiques  et  les  mystiques: 
il  avait  toujours  la  Somme  de  saint  Thomas  ouverte  sur  sou  pupitre ; 
c'etait  Saint  Bonaventure;  c'etaient  les  saintes  Ecritures  et  les  Peres 
de  l'Eglise.  Ces  derniers  surtout,  il  les  avait  lus  avec  fruit.  Le 
commerce  familier  que  l'etudiant  de  Padoue  avait  eu  avec  eux,  se 
trouva  grandement  utile  au  controversiste,  quelques  annees  plus  tard. 
L'antiquite  chretienne  avait  refleuri  cliez  ce  lils  de  la  Renaissance; 
il  y  a  peu  d'ecrivains,  dans  toute  la  litterature  fran^aise,  qui  se 
soient  comme  lui  penetres  de  l'esprit  de  ces  vieux  auteurs. 

Le  pere  jesuite  Possevin  avait  devine  l'avenii-  du  jeune  etudiant 
en  droit,  quand  il  lui  disait:  „Continuez  a  faire  de  la  theologie. 
Croyez-moi,  votre  esprit  n'est  pas  au  tracas  du  barreau.  N'est-ce 
pas  une  cliose  plus  glorieuse  d'annoncer  la  parole  de  Dieu  ä  plusieurs 
milliers  d'liommes,  dans  les  hautes  chaires  des  eglises,  que  de  s'echauffer 
les  mains  ä  battre  les  bancs  parmi  les  discussions  des  procureurs?" 
Ces  avis  ne  furent  pas  perdus;  ils  repondaient  aux  secrets  penchants 
d'un  esprit  ne  pour  la  religion,  et  qui  n"eüt  pas  trouve  en  dehors 
d'elle  sa  vocatiou  vraie.  Le  jour  vint  oü  Frangois  de  Sales  put 
obeir  ä  ses  goüts;  mais  les  etudes  juridiques  qu'il  avait  faites,  ne 
furent  pas  une  mauvaise  preparation  aux  travaux  du  controversiste, 
qui,  apres  son  entree  dans  le  clerge,  l'absorbereut  longtemps. 

La  controverse  entre  catlioliques  et  protestants  est  aujourd'hui 
assez  demodee;  et  les  ouvrages  qui  en  traitent,  meme  ceux  de  Bossuet, 
sont  bien  delaisses  des  lecteurs.  Ils  conservent  toutefois  un  interet 
historique.  On  ne  comprend  pas  completement  le  seizieme  siecle  si 
l'on  n'est  pas  descendu  dans  cette  salle  d'escrime,  si  l'on  n'a  pas 
considere  quelques -uns  de  ces  assauts,  apres  lesquels  le  sort  des 
peuples  a  ete  decide  pour  des  siecles,  Si  le  pays  de  Vaud  est 
Protestant,  si  le  Chablais  est  catholique,  sans  doute  c'est  parce  que 
les  ducs  de  Savoie,  dans  les  guerres,  un  jour  n'ont  pas  su  se 
defendre,  un  autre  jour  y  ont  reussi.  Mais  c'est  aussi  parce  que, 
dans  le  cliquetis  des  controverses,  les  peuples  un  jour  ont  aime  la 
voix  rüde  et  apre  de  Farel,  un  autre  jour,  ee  qu'un  advei-saire 
appelait  la  langue  ^enchanteresse  de  Frangois  de  Sales. 

Les  livres  du  controversiste  catholique  sont  ecrits  avec  talent, 
quoiqu'  ä  vrai  dire,  dans  les  sept  ou  huit  cents  pages  qu'on  vient 
de  reediter,  il  n'y  en  ait  gueres  que  l'on  puisse  detacher  du  contexte 
et  placer  dans  un  recueil  de  morceaux  choisis.  On  se  plait  ä  suivre, 
surtout  dans  les  Contrurcraes,  le  beau  courant  d'un  style  aise,  souple 
et  ferme;  mais  on  voit  bien  qu'on  n'est  pas  en  face  d'une  oeuvre  d'art. 
Daus  les  annees  penibles  que  Frangois  de  Sales  passa  ä  Thonon,  et 
oü  il  ecrivait  ses  Controverses,  il  n'y  avait  pas  dans  ce  coin 
de   province,    de  public  cultive,   capable    d'eveiller    ou    de    ranimer 


Oeuvres  de  saint  Franrois  de  Sales.  209 

son  talent.  Celui-ci  se  faisait  jour,  cependant,  et  beaucoup  de  chapitres 
SB  lisent  avec  agrement,  surtout  ceux  oü  l'auteur  parle  de  choses  contem- 
poraines,  et  oü  sa  verve  s'egaie  on  s'emeut  eii  face  de  ses  adversaires. 

La  Defense  de  Vetendard  de  Ja  sainte  croix  a  un  sujet  moius 
liehe  et  moins  varie  que  le  livre  des  Controverses.  üue  Oraison  des 
Quarante  Heures,  celebree  ä  Aiiuemasse,  pres  de  Geneve,  au  mois 
de  septembre  1597,  avait  ete  accompagnee  de  la  restauration  d'uiie 
ancienne  croix,  autrefois  abattue  par  les  protestants,  au  bord  de  la 
grande  route;  et  un  capucin  avait  fait  paraitre  ä  cette  occasion 
deux  feuilles  volantes,  sur  Tlionneur  qui  est  du  ä  la  croix.  Un  des 
pasteurs  de  Geneve,  Antoine  de  la  Faye,  prit  la  plume  et  repondit  k 
l'ecrivain  catliolique  par  un  Bref  traue  de  la  vertu  de  la  Croix  et  de  la 
maniere  de  llionorer.  La  Defense  a  ete  ecrite  pour  refuter  le  Bref 
traue  ä.  rencontre  duquel,  dit  malicieusement  La  Faye,  M.  de  Sales  s'est 
tellement  escarmourclie,  que  pour  combattre  quatre  petites  feuilles,  il 
a  dresse  un  livre  de  326  grandes  pages.  La  Faye  ne  laissa  pas  le 
dernier  mot  k  son  antagoniste:  il  ecrivit  un  livre  k  son  tour.  M.  Philippe 
Godet  a  donne,  dans  son  Histoire  Utteraire  de  la  Suisse  franqaise,  une 
interessante  analyse  de  cette  replique  de  La  Faye,  dont  on  ne  connait 
qu'un  seul  exemplaire,   et  qu'ou  ne  reimprimera  sans  doute  jamais. 

L'edition  preparee  par  Dom  Mackey,  des  deux  premiers  ouvrages 
de  Franrois  de  Sales,  est  tres  superieure  k  celles  qui  l'avaient 
precedee.  Les  Controverses,  qui  sont  un  ouvrage  posthume,  ont  ete 
publiees  d'apres  le  manuscrit  original;  tandis  que  le  premier  editeur 
(cn  1672)  dont  le  texte  avait  ete  suivi  par  tous  les  autres,  avait 
traite  les  papiers  laisses  par  FrauQois  de  Sales  avec  la  meme  liberte 
que  les  editeurs  de  Pascal  avaient  prise  pour  accommoder  au  goüt 
de  leur  temps  le  manuscrit  de  ses  Pensees.  Pour  la  Defense  de  la 
croix,  Dom  Mackey  a  reproduit  Tedition  originale  de  1600,  et  donne 
eu  notes  les  variantes  d'un  manuscrit  original  qui  contient  le  premier 
jet  de  l'auteur. 

Dom  Mackey  a  ecrit  l'introduction  generale  des  Oeuvres,  les 
prefaces  des  Controverses  et  de  la  Defense  de  la  Croix,  et  il  a  Joint 
quelques  notes  au  texte.  On  voit  partout  une  main  soigneuse,  des 
recherches  etendues  et  precises,  un  esprit  maitre  de  son  sujet.  ^) 


')  Je  n"ai  que  deux  menues  observations  ä  faire  sur  le  texte: 
Tome  premier,  page  32:  ,,Et  comment  pourroit  estre  le  trouppeau 
uny,  conduict  par  deux  pasteurs,  incogneuz  Tun  a  Tautre,  a  divers 
repaires,  a  divers  huchemens  et  redans."  On  ne  coiiipend  pas  le 
mot  de  redans.  Lisez  reclans.  Voir  le  Dictionnaire  de  Littre  au  mot 
reclame,  et  cehü  de  Godefroi  au  mot  reclain,  oü  Ton  remarquera  justement 
une  citation  de  Franrois  de  Sales. 

Tome  premier,  page  179:    _personne  ne  se  conte  de  la  version  de 
son  compaignon."     Le  manuscrit  porte  distinctement  conte;  mais  je  crois 
qu'il  y  a  lä  un  lapsus  calami  de  l'ecrivain.  et  qu'il  taut  lire  cuntente. 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV-.  14 


210  Referate  tmd  Rezensionen.    H.  J.  Heller, 

Uli  troisieme  volume  ne  tardera  pas  ä,  paraitre,  et  coiitiendra 
Vlntrodudion  ä  la  vie  devote,  d'apres  la  derniere  editlon  revue  par 
rauteur(1619);  l'edition  princeps  de  1609  sera  reproduite  en  appendice. 
On  ne  connait  que  deux  exemplaires  de  cette  edition  princeps:  celui 
que  possedent  les  religieuses  d'Annecy,  et  un  autre,  qui  est  ä  la 
Bibliotheque  imperiale  de  Vienne.  —  Le  Tratte  de  VAmour  de  Dien 
forraera  le  quatrienie  volume  des  Oeuvres.  Ainsi  les  quatre  ouvrages 
principaux  de  FranQois  de  Sales  seront  reproduits  dans  l'ordre  meme 
oü  il  les  a  composes. 

Dom  Mackey  se  propose  de  publier  ensuite  les  Eutretiens,  les 
Sermons,  les  lettres  et  les  Opuscules  de  son  auteur,  en  s'attachant 
toujours  ä  reproduire  le  texte  original,  et  ä  enricliir  son  edition  d'uu 
certain  noinbre  de  documents  inedits.  L'oeuvre  est  en  bonnes  mains, 
et  on  attend  avec  interet  les  volumes  qui  vont  successivement 
paraitre.  Des  aujourd'hui,  on  peut  dire  que  l'edition  nouvelle  depasse 
grandement  Celles  qu'ont  donnees  en  notre  siecle  Blaise  (1821)  Vives 
(1856)  et  Migne  (1861),  et  qu'elle  semble  meriter  le  titre  d'edition 
definitive. 

Eugene  Eitter. 


Morillot,  Paul.  Le  Roman  en  France  depuis  1610  jusqu'ä  nos 
jours,  lectures  et  esquisses.  Paris,  Masson  1893.  XI  und 
611  S. 
Der  Verfasser  bezeichnet  in  der  Vorrede  sein  Buch  selbst  als 
eine  ganz  neue  Erscheinung:  es  ist  in  der  That  keineswegs,  wie 
man  sonst  aus  dem  Titel  wohl  abnehmen  könnte,  eine  blosse  litterar- 
geschichtliche  Abhandlung,  sondern,  ausser  der  Darstellung  der  all- 
mühlichen  Entwicklung  und  Klassifikation  der  verschiedenen  Gattungen 
des  Ivomans  und  der  Charakteristik  der  hervorragenderen  Werke 
der  namhaftesten  Schriftsteller  aller  Eichtungen,  enthält  es  Proben 
der  bedeutsamsten  Stellen  aus  ihnen,  von  der  Astree  von  d'ürfe  an 
bis  zu  La  DebCicle  von  Zola;  man  könnte  es  daher  auch  eine  in 
Zusammenhang  gebrachte  Chrestomathie  zur  Einführung  in  diese 
Litteraturgattung  nennen;  obgleich  der  Angabe  des  Verfassers 
nach  für  die  Jugend  und  für  das  Laienpublikum  bestimmt,  ist  es 
demnach  zugleich  eine  sehr  willkommene  und  wichtige  Ergänzung 
aller  unserer  Litteraturgeschichten.  In  der  Einleitung  stellt  Morillot 
die  Ansicht  auf,  dass  aus  dem  Wesen  Celadon's  in  der  As  tree  die 
ernste  und  ideale  Eichtung  der  folgenden  Eomane,  die  übngens  fast 
durchweg  romans  ä  clcfs  waren,  hervorgegangen  sei,  eine  Eichtung, 
welche,  nach  einer  zum  Theil  durch  die  Satire  Boileau's  herbei- 
geführten Pause  von  fünfzig  Jahren,  in  der  Frincesse  de  Cleves  der 


Paul  MoriUot.     Le  Roman  en  France  etc.  211 

M™p  de  La  Fayette  ihren  Höhepunkt  erreichte;  dass  dagegen  der 
derbe  und  komische  Roman  Scarron's  und  Anderer  den  Spuren  des 
Hylas  in  derselben  Astree  gefolgt  sei,  wenngleich  man  Scarron  doch 
wohl  eher  von  Eabelais  abhängig  sein  lassen  möchte.  Als  beide 
Gattungen  in  Folge  der  Überproduktion  sich  erschöpft  hatten,  trat 
die  nouvelle,  zuerst  durch  die  Übersetzung  der  Novellen  des  Cervantes 
durch  Audiguier,  an  ihre  Stelle,  der  sodann  le  conte,  das  Märchen, 
folgte,  bis  im  18.  Jahrhundert  Le  Sage  dem  Roman  wieder  eine 
neue  Bahn  eröffnet,  mit  Nachbildung  spanischer  Originale  beginnend, 
welche  man  auch  dem  Roman  des  17.  Jahrhunderts  nachweisen 
kann.  Über  die  Entwicklung  der  Romantik  von  Chateaubriand  an, 
des  Realismus,  des  Naturalismus  stellt  Morillot  weiter  keine  neue 
Ansicht  auf,  als  dass  eine  Richtung  immer  von  einer  ihr  entgegen- 
gesetzten oder  wenigstens  gesteigerten  abgelöst  worden  sei;  die 
neueste  symbolistische  Richtung  wird  von  ihm,  wohl  weil  ihr  Wesen 
noch  ganz  im  Unklaren  geblieben  ist,  gar  nicht  erwähnt.  Auch  die 
belesensten  Litteraturhistoriker  werden  in  dem  Buche  Morillot's 
ihnen  noch  nicht  vorgekommene  Namen  von  Erzählern  und  An- 
führungen verschollener  Werke  linden,  z.  B.  Camus  (eveque  de 
Belley),  Gomberville,  Fromentin,  Duclos,  Cazotte,  Cliarles  de 
Bernard  etc.,  sowie  den  als  dramatischen  Dichter  so  bekannten 
Marivaux  als  Verfasser  echt  realistischer  Erzählungen  und  die  be- 
rüchtigte M°^ß  de  Tencin  als  Verfasserin  recht  anerkennenswerther 
Romane;  ausserdem  andere,  wie  Desmarets  de  Saint-Sorin,  dessen 
Ariane  von  Boileau  und  Lafontaine  erwähnt  wird,  oder  wie  Gombauld 
und  La  Calprenede,  die  man  bei  Boileau  angeführt  findet;  ferner 
die  Verspottung  der  Schäferromane  in  Le  Berger  extravagant  von 
Sorel  (1628)  und,  wenigstens  durch  den  Gegensatz  zu  denselben,  in 
dem  Roman  bourgeois  von  Furetiere  (1666),  endlich  die  Beein- 
flussung, die  Scarron  auf  einzelne  Figuren  und  Ausdrücke  Moliere's 
ausgeübt  hat.  Andererseits  werden  sie  manche  und  zum  Theil, 
wenigstens  in  kulturgeschichtlicher  Hinsicht,  viel  genannte  Namen 
vermissen,  so,  unter  den  älteren  Romanschriftstellern,  de  Sade  und 
Louvet,  den  Verfasser  des  Faublas,  unter  den  neueren  Montepin, 
Belot,  Merouvel,  Ernest  Daudet,  Delpit,  Huysmans,  Coppee,  Mael, 
Tinseau,  Claretie,  Catulle  Mendes,  Gyp,  Th.  Bentzon,  Henry  Greville, 
Jeanne  Mairet  und  andere;  nur  in  den  wenigsten  Fällen  hat  den 
Verfasser  bei  diesen  Weglassungen  wohl  die  Rücksicht  auf  die 
Jugend,  welche  allerdings  für  die  Auswahl  der  mitgetheilten  Stellen 
massgebend  gewesen  sein  wird,  geleitet,  überwiegend  aber  wohl  der 
noch  für  zweifelhaft  oder  doch  nur  für  ephemer  erachtete  Werth 
der  Erzeugnisse  dieser  Schriftsteller  und  Schrittstellerinnen.  Man 
wird  leicht  begreifen,  dass  diese  beiden  Umstände  auch  auf  die 
Charakterisirung    mancher    der    neuesten    von    Morillot    erwähnten 

14* 


212  Referate  und  Rezensionen.     E.  Stengel, 

Schriftsteller  Einliuss  haben  ausübeu  müssen;  man  wird  in  Folge 
dessen  hier  und  da  seine  Äusserungen  niclit  nur  zurückhaltend, 
sondern  stellenweise  auch  einander  widersprechend  linden,  indem  er 
bisweilen  einen  der  Familienvorurtheile  wegen  für  nöthig  gehaltenen 
ungünstigen  Ausspruch  in  einem  folgenden  Satze  aus  litterarischer 
oder  ästhetischer  Gewissenhaftigkeit  wieder  mildert,  wie  man  in 
der  Besprechung  der  Bücher  des  jüngeren  Crebillou  recht  deutlich 
bemerken  kann;  auch  stimmt  es  wenig  mit  dem  von  ihm  angegebenen 
Zweck  seines  Buches  und  seinen  übrigen  Urtheilen,  wenn  er  die 
etwas  zügellosen  oder  doch  mindestens  sehr  ausgelassenen  contes 
drölatiques  Balzac's  einfach  jolis  nennt.  Wenn  also  auch  in  erster 
Linie  für  Schüler  oder  junge  Leute  berechnet,  wird  das  Werk 
wegen  seiner  Reichhaltigkeit  auch  Lehrern  und  älteren  Litteratur- 
freunden  mannigfaltige  Anregung  und  vielfachen  Genuss  bereiten 
und  trotz  verschiedener  oben  angegebener  Lücken  selbst  Litterar- 
historikern,  namentlich  für  die  frühere  Litteratur,  reichliche  Aus- 
beute gewähren.  Ich  gestehe  wenigstens  ein,  mit  dem  grössten 
Interesse  manche  dieser  Abschnitte  aus  Büchern,  die  mir  sonst 
nicht  vor  die  Augen  gekommen  sein  würden,  gelesen  zu  haben  und 
dadurch  von  dem  Inhalt  derselben  doch  einigermassen  in  Kenntniss 
gesetzt  worden  zu  sein.  Es  fehlt  übrigens,  was  in  einem  Buche 
dieser  Art  zu  bedauern  ist,  nicht  an  einzelnen  Druckfehlern;  so 
liest  man  in  dem  Auszug  aus  d'Urfe  la  dottte  neben  le  doiäe  und 
kann,  weil  auch  teile  reproclie  gesagt  ist,  nicht  abnehmen,  ob  der 
Schriftsteller  das  eine  oder  das  andere  gebraucht  hat,  da  er  schwerlich 
zwischen  beiden  Formen  wird  abgewechselt  haben. 

H.  J.  Heller. 


Diipuy,  Adrien.  Histoire  de  Ja  Litterature  Frangaiseau  XVII^  siecle. 
Paris,  Ernest  Leroux  1892  XIV  u.  641  SS.  8». 

Diese  neue  Geschichte  der  französischen  Litteratur  des  17.  Jh. 
bildet  den  ersten  Teil  eines  Cours  d' Histoire  litteraire,  welcher, 
der  sich  schnell  entwickelnden  Bedeutung  des  litteraturgeschicht- 
lichen  Unterrichtes  an  den  franz()sischen  Lyceen  entsprechend,  eine 
allsemein  fassliche  und  zugleich  nichts  Nützliches  unerwähnt  lassende 
Darstellung  des  Gegenstandes  liefern  will.  Die  die  Litteratur  des 
18.  und  19.  Jahrhunderts  behandelnden  Bände  sollen  baldigst  nach- 
ft'lgen.  Die  älteren  Perioden  sind  vorläufig  bei  Seite  gelassen. 
Der  Verfasser  charakterisiert  sein  Werk  selbst  als  ein  popularisierendes 
und  verweist  ein  für  alle  Mal  auf  die  kritischen  und  geschicht- 
lichen Arbeiten  von  Sainte-Beuve  und  Michelet  als  auf  diejenigen, 
welche  er  besonders  benutzt,  und  denen  er  vieles  verdanke.     In  der 


Adr.  Bupuy.     Histoire  de  Ja  lAUerature  Frangaise  etc.       213 

Einleitung  setzt  er  die  Grundauffassung,  von  der  er  bei  seiner 
Darstellung  ausgegangen  und  den  Plan,  den  er  bei  ihr  befolgt,  aus- 
einander. Abweichend  von  der  in  derartigen  Büchern  sonst  her- 
kömmlichen Bewunderung  der  klassischen  Litteratur  des  17.  Jahr- 
hunderts in  Bausch  und  Bogen  unterscheidet  Dupuy  sehr  verständig 
zwischen  Inhalt  und  Form.  Er  meint  ganz  zutreffend:  qii'en  depit  des 
helles  et  flatteuses  fornmles  Je  XVII^s.  ne  peut  se  vanter  d^avoir  rendu 
heaucoup  de  Services  ä  la  justice  et  ä  la  raison,  ni  d''avoir  eu  un  amour 
bien  vif  pour  Ja  verite  . . .  II  constitue  pour  ainsi  dire  un  temps  d'arret 
dans  la  marche  du  progres.  Aber  fügt  er  hinzu :  ä  defaut  de  porfee 
pMlosophique ,  Je  siede  a  une  valeur  litteraire  indiscutable  .  .  ,  l'art  y 
a  recu  Je  plus  beau  developpement.  Wie  bedeutsam  diese  veränderte 
Auffassung  gerade  für  den  Jugeudunterricht  sein  muss,  leuchtet  ein, 
und  der  Verfasser  ist  sich  dessen  auch  vollkommen  bewusst:  A  force 
d^admirer  le  siede  en  bJoc,  sans  distinctions  ni  restrictions,  on  fait  de 
ses  aideurs  non  seulement  les  maUres  ä  parier  et  ä  ecrire  de  Ja 
jeunesse,  en  quoi  on  a  raison,  car  ils  y  ont  excelle,  mais  ses  maitres 
ä  penser:  on  les  lui  donne  pour  les  meilleurs  guides  de  Vesprit  et  de 
la  vie,  et  ici  on  va  certainement  trop  loin."  Abweichend  von  der 
gleichfalls  so  beliebten  Schönrederei  und  stofflichen  Armseligkeit 
der  französischen  Litteraturgeschichten  alten  Schlags  will  der  Ver- 
fasser passer  en  renne  toides  Jes  manifestations  un  peu  caracteristiques 
de  la  pensee  und  legt  entschiedenen  Werth  darauf  dem  Leser  so- 
wohl von  der  Person  des  Schriftstellers  wie  von  ihren  Werken  eine 
precise  Vorstellung  zu  verschaffen.  Den  gesammten  Stoff  theilt  er 
in  6  Abschnitte,  welche  über  die  Schriftwerke  aus  der  Zeit  1)  Hein- 
richs IV.  und  der  Eegentin  Marie  von  Medicis,  2)  Richelieus,  3)  der 
Fronde,  4 — 5)  Ludwigs  XIV  vor  und  6)  nach  Aufhebung  des  Edikts 
von  Nantes  berichten.  Dass  der  Stoff  nicht  immer  gleichmässig  be- 
handelt ist,  dass  die  Wertschätzung  der  Werke  sich  trotz  allem  und 
allem  in  den  üblichen  Bahnen  hält  und  noch  immer  fast  aus- 
schliesslich vom  kritischen  statt  vom  historischen  Standpunkte  aus 
erfolgt,  wird  bei  einem  Buche,  das  sich  an  Schüler  und  noch  dazu 
an  französische  wendet,  nicht  zu  verwundern  sein,  besonders  da 
selbst  Litteraturhistoriker ,  die  sich  höhere  Aufgaben  stellen  und 
die  eigene  wissenschaftliche  Forschungen  angestellt  und  verwertet 
haben,  noch  immer  die  gleiche  Auffassung  teilen.  Verglichen  mit 
den  bis  jetzt  vorhandenen  Darstellungen  ähnlicher  Art  gebührt  aber 
der  Dupuy'schen  entschieden  der  Vorzug  sowohl  wegen  der  Reich- 
haltigkeit ihres  Inhaltes  wie  wegen  der  Nüchternheit  und  Klarheit 
des  darin  zu  Tage  tretenden  Urteils. 

E.  Stengel. 


214  Referate  und  Rezensionen.     IL  Mahrenholtz, 

Fournel,  Victor,  Le  Tfiedtre  au  XVII«  siecle.  La  Comedie.  Paris, 
Lecene,  Ondin  et  C^e-,  Editeurs,  1892.  416  p.  8^. 
Der  jedem  Kenner  der  franz.  Litter.  des  XVII.  Jalirli.  be- 
kannte und  hochwerte  Litterarhistoriker  gibt  hier  eine  sehr  an- 
sprechende Zusammenfassung  seiner  langjährigen  Studien,  die  dem 
Verständnisse  weitrer  Kreise  angepasst  ist  und  daher  Spezialunter- 
suchungen, sowie  Erörterung  kritischer  Fragen  thimlichst  meidet.  In 
dem  ersten  Abschnitt:  La  Comedie  avant  Moliere  werden  nach  einem 
kurzen  Überblick  der  Entwicklung  der  älteren  Comödie  und  ihrer 
Abart,  der  Tragicomödie,  alle  namhaften  Lustspieldichter  von  Larivey 
bis  Pierre  Corneille  vorgeführt,  auch  der  Inhalt  vieler  Stücke 
angegeben.  Neues  wird  der  Kenner  kaum  finden,  auch  geht  F.  nur 
ganz  gelegentlich  auf  die  lateinischen,  spanischen  und  italienischen 
Quellen  dieser  Stücke  ein.  Bei  der  Besprechung  einzelner  Stücke 
d'Ouville's,  des  Bruders  von  abbe  Boisrobert,  ist  zwar  F.  mit 
Recht  der  Ansicht,  dass  d'Ouville  nicht  bloss  ein  prete-nom 
Boisroberts  gewesen  sei,  aber  das  schliesst  eine  gemeinsame  Arbeit 
beider  Brüder  nicht  aus.  Für  letztre  spricht  die  grosse  Verwandt- 
schaft einzelner  Stücke  dieser  zwei  Dichter,  welche  auch  F.  hervor- 
hebt, ohne  diese  interessante  Frage  tiefer  zu  ergründen.  Dass  von 
den  Stücken  B.'s  die  Belle  Plaideuse  trotz  ihrer  unleugbaren  Be- 
ziehung zu  Moliere  nicht  näher  besprochen  wird,  hat  uns  verwundert. 
Ebenso  ist  das  Verhältnis  von  Roti'ou's  Leux  Sosies  zu  Mdlieres 
ÄmpJiitryon  so  gut  wie  uiierörtert  geblieben.  Wenn  F.  nicht  die 
deutsche  Moliere-Litteratur  unbeachtet  Hesse,  als  ob  sie  im  Monde 
zur  Welt  gekommen  wäre,  so  würde  er  aus  Reinhardstöttners  Schrift: 
Die  Plautinischen  Lustspiele  in  späteren  Bearbeitungen  I.  Amphitruo, 
Leipzig  1880,  sowie  aus  des  Ref.  Moliere-Biographie,  S.  351 — 355, 
manches  haben  verwerten  können,  wovon  sich  bei  seinem  Gewährs- 
manne  Paul  Mesnard  nichts  findet.  Aber  die  chinesische  Mauer  an 
den  Vogesen  hindert  so  viele  Pariser  Litterarhistoriker,  ihren  Blick 
in  das  Land  der  deutschen  Kritik  zu  werfen.  Am  besten  hat  uns 
das  gefallen,  was  F.  über  die  Lustspiele  von  Pierre  Corneille 
sagt,  doch  hätte  hier  die  vielbesprochene  Frage  der  „drei  Einheiten" 
nicht  mit  ein  paar  allgemeinen  Bemerkungen  abgefertigt  werden 
sollen.  Interessant  ist  der  Anhang:  Les  Ti/pes  de  la  vieille  Comedie, 
der  reichhaltige,  an  sich  allerdings  bekannte  Zusammenfassungen 
gibt,  die  sich  in  dieser  Übersichtlichkeit  noch  nicht  finden.  —  Der 
eigentliche  Angelpunkt  des  Buches  ist  der  Abschnitt:  Moliere, 
p.  122 — 228.  Bei  einem  so  unendlich  oft  behandelten  Autor  wird 
man  auf  etwa  100  Seiten  nichts  erlieblicli  Neues  oder  Erschöpfendes 
suchen  wollen,  zumal  F.  wieder  alle  deutsche  Forschung  unberück- 
sichtigt lässt.  Die  schwächste  Seite  dieses  Essays  ist  die  Quellen- 
kritik.   F.  beruft  sich  nicht  nur  auf  ftrimarest,  sondern  auch  auf 


Victor  Fournel.     Le  Thcätre  au  XVII^  siede.  215 

den  Eloniire  Hypocondre,  auf  die  Bolceana  und  auf  andre  nur  mit 
grosser  Vorsicht  zu  benutzende  Quellen,  ohne  diese  Vorsicht  zu  üben. 
So  lässt  er  sich  von  dem  Verf.  der  Bolceana  einreden,  Boileau  habe 
Molieres  Versifikation  nicht  so  hoch  gestellt,  wie  dessen  Prosa,  trotz- 
dem der  Kritiker  grade  die  Verse  seines  Freundes  so  rühmend  be- 
wundert hat.  Auch  einige  schroffe  Behauptungen  F.'s,  wie  p.  129: 
Ce  sont  precisement  en  litterature  qiii  emprimtent  le  plus  und  p.  131 : 
Pourvu  qii^on  tue  celui  qu'on  a  vole,  tout  est  hien  sind  in  dieser  All- 
gemeinheit sehr  angreifbar.  Von  manchen  hergebrachten  Meinungen 
hält  sich  F.  glücklicherweise  frei.  So  bemerkt  er  S.  187,  Ludwig  XIV. 
habe  gerade  durch  seine  Aufträge  für  Hoffeste  und  durch  seinen 
eignen  wenig  veredelten  Geschmack  Möllere  in  das  niedrig  komische 
Fahrwasser  gedrängt.  Auch  manches  Legendenhafte  in  der  Über- 
lieferung von  Molieres  Leben  erkennt  F.  als  solches,  ohne  zu  einer 
schärferen  Unterscheidung  zu  gelangen.  In  der  Würdigung  der 
Hauptwerke  des  Dichters  und  namentlich  der  ethisch-religiösen  Seite 
des  Tartaffe  hält  er  die  rechte  Mitte  zwischen  Überschätzung  und 
Unterschätzung,  dagegen  werden  Sprache  und  Verskunst  Molieres 
zu  sehr  vom  heutigen  Standpunkt  und  nicht  genügend  aus  der 
damaligen  Sprachentwicklung  heraus  beurteilt.  Viel  zu  wenig  geht 
F.  auf  die  fremden  und  einheimischen  Quellen  der  Stücke  Molieres 
ein,  nicht  einmal  die  Beziehungen  zur  älteren  Comödie  sind  er- 
schöpfend behandelt.  Sehr  sorgsam  beschäftigt  er  sich  mit  den 
litterarischen  Gegnern  Molieres,  ohne  dass  er  nach  den  früheren  ein- 
gehenden Untersuchungen  neue  Gesichtspunkte  bringen  kann.  Die 
Erörterung  der  sogenannten  L'heresie  de  M.  Scherer,  die  bereits  s.  Z.  im 
Molieriste  zu  Tode  gehetzt  war,  hätte  sich  einer  grösseren  Sparsam- 
keit befleissigen  können,  so  wäre  Raum  für  Wichtigeres  übrig 
geblieben. 

Der  4.  und  5.  Hauptabschnitt:  La  comedie  contemporaine  de 
Moliere  und  Les  successeurs  de  Möllere  haben  besonders  durch  die  ein- 
gehende Besprechung  der  Stücke  Montfleurj^s,  Boursaults  und 
Regnards  Werth,  wohingegen  Thomas  Corneille  ziemlich  ober- 
flächlich abgethan  wird.  Über  Montfieury  ist  das  Urteil  nicht 
schwer,  er  war  ein  Bühnenfabrikant  nicht  ohne  Geist  und  Witz, 
der  sich  auf  die  theatralische  Technik  verstand.  Weit  tiefere 
Würdigung  hätte  Regnard  verdient,  in  dem  F.  schliesslich  doch  nur 
einen  Routinier  sieht.  Darin  geschieht  dem  Manne,  welcher  der 
einzige  würdige  Nachfolger  Molieres  unter  all'  den  Epigonen  war, 
schweres  Um-echt  (vgl.  unsre  Skizze:  Jean  Francois  Regnard, 
Oppeln  und  Leipzig  1887).  Wie  sehr  F.  kritischen  Untersuchungen 
aus  dem  Wege  geht,  zeigt  sich  z.  B.  darin,  dass  er  den  Autor  des 
Joueur  ohne  weiteres  des  Diebstahles  an  Dufresny  beschuldigt, 
obwohl  die  Sache  keineswegs  bewiesen  ist.     Die  Anleihen,  welche  R. 


216  Referate  und  Rezensionen.     R.  MährenhoUz, 

bei  Moliere  gemacht  liat,  konnten  viel  genauer  erörtert  werden 
(s.  d.  Ref.  obeng.  Skizze,  S.  15  ff.),  dass  R.  kein  Moliere  war,  bedurfte 
nicht  erst  des  Beweises,  da  er  selbst  zu  dem  grossen  Vorgänger, 
wie  zu  einem  unerreichbaren  Ideale  aufgeblickt  hat.  Auch  anderes 
in  diesem  Abschnitte  ist  anfechtbar.  So  soll  (S.  269)  Moliere  nur 
einmal  Nachahmer  der  Spanier  gewesen  sein  und  zwar  im  Festin 
de  Pierre,  wo  er  es  so  gut  wie  nicht  gewesen  ist.  In  Racines 
Plaideurs  findet  ebds.  F.  du  sei  attique,  was  wir  leider  nicht  ent- 
decken können.  Das  allerdings  schwer  lösbare  Verhältniss,  das 
zwischen  dem  Amant  indiscret  von  Quinault  und  Molieres  Etourdi 
besteht,  wird  nur  flüchtig  gestreift  (S.  246),  ebenso  die  zwischen 
de  Vise  und  Villiers  sehr  streitigen  Autorrechte  einzelner  Mach- 
werke. Richtig  ist  die  Bemerkung,  dass  Quinaults  3Iere  coquette 
mit  eine  Vorlage  für  Regnards  Joueur  gewesen  sei,  doch  wird 
wieder  das  Verhältniss  dieser  „3Iere  coquette"'  zu  der  de  Vises 
kurz  abgethan  (247  und  248).  Überhaupt  enthält  dieser  Abschnitt 
vieles  nicht,  was  wir  ungern  vermissen,  wie  z.  B.  die  Schätzung 
Molieres  bei  den  gleichzeitigen  Rivaleu  und  Genossen.  Auch  der 
vStreit  um  die  Ecole  des  Femnies  ist  ganz  summarisch  behandelt.  — 
Dancourt  wird  in  einem  folgenden  Unterabschnitt  (379 — 416)  ein- 
gehend geschildert,  vielfach  in  Übereinstimmung  mit  Jul.  Lemaitre: 
le  Tlieätre  apres  Moliere  et  la  comedie  de  Dancoioi.  Der  kultur- 
liistorische  Werth  der  Sitten-  und  Zeitschilderungen  D.'s  tritt  in 
dieser  Schilderung  besonders  hervor,  selbstredend  wird  das  faire 
Oeuvre  d'historloi  et  de  moraliste  nicht  als  seine  Aufgabe  angesehen 
(p.  406).  II  ne  se  propose  que  d'amuser,  so  urteilt  F.  mit  Recht 
von  dem  Verf.  dieser  witzig  unterhaltenden  Stücke.  Ebensowenig 
aber  übergeht  er  die  Schwächen  D.'s,  seine  Wiederholungen  der 
Charactertypen,  Szenen  und  Züge,  die  Mängel  in  der  Charakteristik 
und  in  der  Handlung,  das  Fehlen  tieferer  Ideen,  die  Durchseuchung 
mit  den  leichtfertigen  Anschauungen  der  zwei  letzten  Jahrzehnte 
Ludwigs  XIV.,  die  oft  unselbständige  Anlehnung  an  andre  u.  s.  w. 
Trotz  der  Anerkennung  der  Leichtigkeit  und  des  bühnenkundigen 
Geschickes,  die  sich  in  D.'s  Stücken  kundgeben,  möchten  wir  doch 
nicht  mit  F.  behaupten,  dass  einzelne  seiner  kleinen  Stücke  sich  mit 
denen  Molieres  vergleichen  Hessen. 

Sollen  wir  ein  Gesammturteil  über  das  besprochene  Buch 
fällen,  so  sind  die  Gewandtheit  der  Dai'stellung  und  die  eingehende 
Litteraturkenntniss  als  entschiedene  Vorzüge  zu  rühmen,  aber  das 
Ganze  ist  mehr  für  den  Laien,  als  für  den  Kenner  geschrieben. 
Daher  die  Inhaltsangaben  mancher  Stücke,  die,  obwohl  von  Dichtern 
2.  und  3.  Ranges  herrührend,  doch  demjenigen  nicht  fremd  sind, 
der  französ.  Litteraturgeschichte  zum  Spezialstudium  gemacht  hat 
und  manche  allgemeine  Betrachtungen  geschichtlichen,  kulturgeschicht- 


Ludw.  Fulda,  Molieres  Meisterwerke  in  deutscher  Übertragung.  217 

liehen  und  ästhetischen  Inhalts,  die  für  den  Sachkenner  auch  ent- 
behrlich sind.  Als  popularisirendes  Litteraturgeschichtswerk  im 
besten  Sinne  des  Wortes  kann  aber  Fournels  Buch  bezeichnet  und 
empfohlen  werden.  ^^  Mahrenholtz. 


Mangold,  W.  ArcMvälische  Notizen  zur  französischen  Lütrratur- 
und  Kulturgeschichte  des  XVII.  Jahrh.  Wiss.  Beilage  z. 
Progr.  d.  Askanischen  Gymnasiums  zu  Berlin.  Ostern  1893. 
25  S.     4*^.     Berlin,  Gärtner. 

Aus  dem  Kgl.  Geh.  Staatsarchiv  in  Berlin  veröffentlicht  Verf. 
Notizen  von  5  brandenburg.  Gesandten  in  Paris,  von  Christoph 
V.  Brandt,  Caspar  v.  Blumenthal,  Joh.  Beeck,  Pöllnitz  und  Meinders. 
Das  die  franz.  Litteratur  betreffende  war  schon  vom  Verf.  vor 
Jahren  in  dieser  Zs.  und  in  Schweitzers  Moliere-Museum  publiziert 
worden,  hat  aber  hier  Zusätze  und  auch  ein  paar  kleine  Berichtigungen 
erfahren.  Von  Wichtigkeit  ist  in  diesen  Notizen  nur  die  genaue 
Feststellung  der  ersten  Aufführung  von  Boursault's  PoHrait  du 
Feintre  (19.  Oct.  1663).  Aus  dieser  chrouolog.  Angabe  wird  von  M. 
mit  Grund  gefolgert,  dass  dieses  gegen  Moliere  gerichtete  Pamphlet 
erst  einige  Tage  nach  dessen  „Impromptu  de  Versailles"  aufgeführt 
worden  sei.  (S.  7.  Auch  für  die  Premieren  des  „Pourceaugnac"' , 
der  „Comtesse  d' Escarhagnas"  und  für  eine  Aufführung  des  „Tartuffe" 
in  Cregenwart  des  Cardiuallegaten  Chigi  (3.  Aug.  1664)  gewinnen 
wii'  genauere  Angaben.  M.  hat  mit  bekanntem  Fleisse  den  hier 
veröffentlichten  Notizen  eine  Reihe  lehrreicher,  erläuternder  Noten 
beigefügt. 

Der  2.  Theil  der  Programmabhandlung  enthält  eine  Anzahl  kultur- 
historischer Notizen  und  Schilderungen,  die  von  Brandt,  Blumenthal 
und  Beeck  herrühren  und  aus  den  Jahren  1660 — 1671  stammen. 
Neue  Aufschlüsse  von  Belang  geben  uns  diese  zum  grossen  Theil 
Hofgeschichte  betreffenden,  hie  und  da  auch  die  religiösen  Ver- 
hältnisse streifenden  Berichte  nicht  gerade.  Doch  lesen  sie  sich 
interessant  und  ihre  Treue  ist  unverkennbar.  Auf  einer  hohen 
Warte  stehen  diese  ehrenwerten  brandenburgischen  Diplomaten  aller- 

^^^  ^'^^^-  R.  Mahrenholtz. 


Ludwig   Fulda:   Molieres  Meisterwerke   in   deutscher    Übertragung. 

Stuttgart,  Cotta  Nacht.,  1892,  290  S.    8°.    M.  4,50. 

Diese   Übersetzung   enthält   drei    versilizirte   Stücke   Molieres 

Tartüff,  Misanthrop,  gelehrte  Frauen  und  ein  Prosastück,  den  Geizigen, 

und  hat,   da  sie  dem  Theaterbedarf  sich  geschickt   anpasst,   schon 


218  Referate  und  Rezensionen.     R.  Mahrenholtz, 

gute  Erfolge  gehabt.  So  ist  der  Tartüff  mehrfach  am  Deutschen 
Theater  iu  Berlin  und  am  Breslauer  Lobetheater  über  20  Mal  in 
einem  Winter  gegeben  worden,  Misanthrop  und  Die  gelehrten  Frauen 
sind  für  das  Deutsche  Theater  und  das  Kgl.  Schauspielhaus  zu 
Berlin  in  Aussicht  genommen.  Die  Bearbeitung  des  Geizigen  ist 
sehr  geeignet,  die  Dingelstedt'sche  Verbalhornisirung,  der  aus 
Molieres  Werke  einen  „derben  Schwank"  gemacht  liat,  zu  verdrängen. 
Vor  den  Übersetzungen  Baudissins  und  Launs  —  von  den  älteren 
zu  geschweigen  —  unterscheidet  sich  die  Fulda'sche  dadurch  sehr 
vorteilhaft,  dass  sie  die  plülologischen  Rücksichten  mit  den  poetisch- 
theatralischen sehr  geschickt  vereint,  dass  sie  statt  der  reimlosen 
Blankverse  Baudissins  oder  der  fünffüssigen,  paarweis  gereimten  Jamben 
Launs  das  Versmass  des  Goethe'schen  Faust  so  einsetzt,  dass  das 
Reimwort  immer  mit  der  Pointe  zusammenfällt  und  dass  sie  jenes 
übliche,  hausknechtsmässige  „Ihr,  Euch"  in  der  Anrede,  durch  das 
salonfähige  „Sie"  vex'drängt.  Verf.  weist  in  der  Einleitung  auch 
darauf  hin,  wie  mannigfach  sich  Molieres  Genius  mit  der  Charakter- 
komödie neuesten  Styles  berührt  und  befruchtend  auf  die  Wieder- 
erweckung des  deutschen  Lustspieles  wirken  kann.  Mit  seiner 
Übersetzung  hofft  er  dazu  beizutragen,  dass  der  grosse  französ. 
Dichter  wieder  den  gebührenden  Rang  im  Schauspiel-Repertoire  ein- 
nehme und  in  einer  würdigeren,  wirklich  verdeutschten  Gestalt 
auftrete.  Wir  können  dieser  Erwartung  nur  zustimmen,  denn  der 
Verf.  hat  es  meisterlich  verstanden,  das  Alterthümliche  in  Moliere 
leise  andeutend  zu  wahren  und  das  ]\[oderne  desto  stärker  hervor- 
treten zu  lassen,  dem  Ewig-Bedeutungsvollen  in  des  Dichters  Haupt- 
werken somit  gerecht  zu  werden.  Nur  dass  er  den  Schluss  des 
Ävare  so  umändert,  dass  Harpagon  mit  seiner  wiedergefundenen 
Kassette  allein  zurückbleibt,  während  er  bei  Moliere  abgeht,  um 
sein  Herzenskleinod  zu  holen,  möchten  wir  als  Eingriff  in  die  Rechte 
eines  grossen  Dichters  doch  nicht  billigen.  Dagegen  ist  die  Weg- 
lassung der  Wiedererkennungsszene  im  letzten  Acte,  die  für  unsre 
kritisch-verwöhnten  und  verstandesmässig  auffassenden  Zuschauer 
leicht  eine  unfreiwillig  komische  Wirkung  haben  könnte  und  auch 
sich  nur  aus  Verhältnissen  und  Anschauungen  der  Zeit  Molieres 
recht  begreifen  lässt,  sehr*  im  Interesse  des  Dichters. 

R,   M.\HRENHOLTZ. 


Erdinann,  Hugo,  Molieres  Psyche.  Inaugural-Diss.  Königsberg  1892. 

42  S.     8°. 
Der  Hr.  Verf.  geht  mit  grosser  Sachkenntniss  die  Bearbeitungen 
der  Psyche -Sage  vor  Moliere  durch,   um  die  Quellen  der  Tragedie- 
BaJlct   des   letzteren   festzustellen.      Dabei   zeigen   sich   starke   Ab- 
weichungen zwischen  Moliere  und  Appulejus,  geringe  Entlehnungen 


A.  Miihlan.     Jean  Chapelain.  219 

aus  Lafontaines:  Les  Amours  de  Psyche  et  de  Gupidon.  Als 
Neues  von  dem  Verf.  hervorgehoben  wird  die  Benutzung  der  Psyche 
des  Francesco  di  Poggio  (1645)  und  des  Auto  sacr amental,  La 
Fe,  sowie  des  Lustspieles:  Ni  Amor  sc  libra  de  Amor,  beide  von 
Calderou.  Andere  Benutzungen  werden  für  Moliere  zurückgewiesen. 
Von  geringfügigen  Einzelheiten  abgesehen,  die  bei  solchen  Quellen- 
untersuchungen stets  verschiedener  Auffassung  unterliegen,  stimmen 
wir  den  obigen  Resultaten  bei  und  halten  die  Arbeit  für  ein  er- 
freuliches Lebenszeichen  auf  dem  schlummernden  Gebiete  der  jüngsten 
Moliere-Litteratur. 

R.  Mahs-enholtz. 


Mühlan,  A. :  Jean  Chapelain.  Biogr. -krit.  Studie.  Leipzig, 
G.  Fock,  1893.     124  S.     S».     M.  3,50. 

Wie  schon  mancher  vor  ihm,  so  hat  auch  Hr.  M.  eine  Rettung 
des  durch  Boileau  und  Andre  in  Misskredit  gebrachten  Akademikers 
versucht  und  sie  ist  ilmi  ebensowenig  gelungen.  Zwar  ist  er  ver- 
ständig genug,  von  der  Pucelle,  der  schlimmsten  Todsünde  Ch.'s, 
möglichst  wenig  zu  sprechen,  aber  auch  sein  Bemühen,  Ch.'s  Cha- 
racter  und  kiitisches  Genie  in  desto  helleres  Licht  zu  stellen, 
scheitert  an  der  inneren  Unmöglichkeit.  Dass  Ch.  für  seine  Zeit 
ein  grosser  Gelehrter  gewesen  ist  und  bis  au  sein  Ende  eine  hervor- 
ragende litterarische  Stellung  eingenommen  hat,  bedurfte  nicht  erst 
des  Beweises. 

Hr.  M.  geräth  bei  seinem  Versuche,  ein  Lichtbild  des  Viel- 
angefeindeten zu  zeichnen,  mit  sich  selbst  in  Widerspruch.  Bis  zum 
Überdruss  rühmt  er  seinem  Helden  unverbrüchliche  Ergebenheit, 
Treue,  Freundschaft,  sogar  Aufrichtigkeit  und  Wahrheitsliebe  nach, 
um  S.  18  zugeben  zu  müssen,  dass  Ch.  „stets  es  verstanden  habe, 
günstige  Konjuncturen  für  seinen  Vorteil  auszunutzen."  Und  wie 
versteht  Ch.  dies?  Mit  verschämter  Bescheidenheit  bittet  er 
Boisrobert,  ihn  Richelieu,  seinem  Gönner,  zu  empfehlen  und  ihm  eine 
Pension  oder  ein  Amt  zu  verschaffen  (S.  20);  als  er  dann  das  hohe 
Erdenglück  hat,  den  Cardinal  von  Angesicht  zu  Angesiclit  zu  sehen, 
lässt  ihn,  den  sonst  so  Beredten,  das  Gedächtniss  in  Stich  —  er 
bleibt  in  seiner  Lobrede  stecken.  Kann  man  sich  mehr  auf  liöiische 
Berechnung  verstehen  ?  Im  Glücke  tröstet  er  andre  weniger  Glück- 
liche „mit  leeren  Phrasen"  über  die  Bedeutungslosigkeit  aller 
irdischen  Vorteile  (S.  21).  Da  ist  doch  wol  etwas  Heuchelei  im 
Spiele  ?  Als  geschickter  Höfling  weiss  er  Richelieu  zu  beweihi'äuchern, 
ohne  die  Eifersucht  Ludwigs  XIII.  rege  zu  machen  (S.  22).  Als 
dann  Richelieu  gestorben  ist,  nimmt  er  Boisroberts  Vermittlung  in 
ähnlich   eigennütziger   Weise   bei   Mazarin   in   Anspruch.     Dass   er 


220  Referate  und  Rezensionen.     R.  Mahrenholts, 

seine  gut  zahlenden  Gönner  auch  noch  über  den  Tod  hinaus  lobte, 
oder  einer  Marquise  de  Rambouillet,  der  er  seine  litterarische 
und  gesellschaftliche  Stellung  zuerst  verdankte,  zugethan  blieb,  ist 
doch  kaum  ein  besondres  Lob.  Schlimm  aber  erging  es  denen,  welche 
an  Chapelain  etwas  tadelten,  oder  sich  ihm  in  die  Wege  seiner 
litterarischen  Bestrebungen  stellten.  Schonungslos  schlägt  er  auf 
den  Abbe  Marolles  los,  weil  dieser  ihm  als  Übersetzer  Concurrenz 
machte,  eine  Übersetzung  der  Gruerra  di  Fiandra  von  Kardinal 
Bentivoglio  suchte  er  gar  vor  der  Veröffentlichung  zu  ersticken. 
Sich  selbst  verschaffte  er  natürlich  ein  Übersetzerprivileg.  AVeun 
jemand  ihm  in  der  Gunst  seines  trefflich  zahlenden  Gönners,  des 
Herzogs  von  Longeville,  Concurrenz  macht,  wie  der  Abbe  Priolo, 
aber  der  Wahrheit  dabei  weniger  vergibt,  so  hat  er  Chapelains  echt 
bedientenhafte  Entrüstung  zu  erfahren  (S.  68  u.  89).  Eigennutz 
war  die  Triebfeder  von  Ch.'s  „treuer  Dankbarkeit."  Die  Einkünfte 
der  Abtei  von  Corbie  will  er  von  dem  Minister  Colbert  wieder- 
erlangen, nachdem  er  ihn  vorher  mit  erheuchelten  Gefühlsplu'asen 
überschüttet  hat;  in  die  Verhimmlung  des  grossen  Fiuanzmannes  zieht 
er  als  hilfreicher  Vermittler  eine  Zahl  fremder  Gelehrter  hinein. 
Natürlich,  um  sich  Colbert  unentbeludich  zu  machen  und  für  eigne 
Eeclame  auch  ausserhalb  Frankreichs  zu  sorgen.  Gegen  seine  wahre 
Überzeugung  (S.  41)  verfasst  er  das  Urteil  der  Academie  über 
Corneilles  „Cid",  vorsichtig  dabei  die  öffentliche  Meinung  schonend 
(S.  43  f.).  Wenn  er  an  Corneille  später  gut  gemacht  hat,  was  er 
hier  verbrach,  so  war  die  Rücksicht  auf  die  zahlreichen  hohen 
Gönner,  welche  auch  der  alternde  Dichter  noch  am  Hofe  hatte, 
gewiss  nicht  zum  geringsten  Masse  bestimmend.  Ein  gut  Teil  Neid 
spricht  aus  seinen  Äusserungen  über  den  vielgefeierten  Marini  und 
über  Malherbe.  Dass  Ch.,  wie  Hr.  M.  wie  Recht  zugibt,  jeden 
Tadel  als  „Majestätsbeleidigung"  ansah  und  gegen  seine  Feinde  all' 
seine  einflussreichen  Verbindungen  aufrief,  zeigt  sein  Benehmen 
gegen  Menage  und  gegen  die  Kritiker  seiner  Pucelle.  Während  er 
seinen  Freunden  zur  Academie  und  zu  Pensionen  verhalf,  Hess  er 
Männer,  wie  Boileau,  Lafontaine,  Meliere,  leer  ausgehen  oder  gering 
bedacht  werden.  Die  von  M.  vorgeführte  Entschuldigung,  dass 
Meliere  damals  (1662)  noch  nicht  den  Tartuffe  und  Misanthrope 
(aber  die  aufsehenerregenden  Precieuses)  geschrieben  hatte,  ist  doch 
sehr  hillfällig  (S.  54).  Auch  mit  der  Religion  trieb  Ch.  ein  schlau 
berechnetes  Handwerk.  Er  spielte  zwar  den  Toleranten  und  nahm 
sich  der  Jansenisten,  die  Ludwig  XIV.  als  nützliche  Gegner  Rums 
keineswegs  unbedingt  verhasst  waren,  an,  aber  in  einem  Schreiben 
an  Bischof  Godeau  ist  er  der  eifrigste  Katholik,  für  den  es  ausser- 
halb der  Kirche  kein  Seelenheil  gibt  (S.  121).  Auch  sonst  zeigte 
er  sich  aus  Menschenfurcht  zweideutig.     (Vgl.  S.  56  u.  57.) 


Ä.  MiiMan.    Jean  Chapelain.  221 

An  der  Schrift  des  Hr.  M.  ist  ein  grosser  Fleiss,  der  sich 
namentlich  in  dem  eingehenden  Studium  der  Briefe  Ch.'s  offenbart, 
unverkennbar.  Doch  sein  Urteil  lässt  zuweilen  an  Schärfe  manches 
zu  wünschen.  Nachdem  er  S.  26  erzählt  hat,  durch  welche  schlau 
berechneten  Gründe  Ch.  die  andren  Mitglieder  der  bei  Valentin 
Conrart  sich  versammelnden  litterarischen  Gesellschaft  bestimmt  hat, 
sich  von  Richelieu  zur  Begründung  der  Academie  frangaise  gebrauchen 
zu  lassen,  rühmt  er  „dieses  mutige  und  zugleich  diplomatisch- 
geschickte Eintreten  für  die  Sache  des  Ministers."  Von  „Muth" 
wird  dabei  kaum  die  Rede  sein  können.  Auch  an  Widersprüchen 
fehlt  es  nicht.  S.  33  hat  Richelieu  die  Academie  nur  gegen  den 
„Cid"  vorgehen  lassen,  um  dem  Parlamente  zu  beweisen,  dass  „diese 
von  ihm  privilegirte  Körperschaft  keine  politischen,  sondern  lediglich 
litterarischen  Zwecke  verfolgt",  doch  S.  41  kommt  Hr.  M.  mit  dem 
wahren  Beweggrunde  zum  Vorschein.  Richelieu  habe  an  Ch.'s  ün- 
abhängigkeitssinn  und  den  in  dem  Drama  entwickelten  „spanischen" 
Ideen  Anstoss  genommen. 

Besondre  Mühe  gibt  sich  Hr.  M.,  seinen  Helden  als  litterarischen 
Kritiker  zu  preisen.  Aber  die  angefühlten  Urteile  Ch.'s  zeigen  nur 
eine  grosse  Beschränktheit.  So  soll  (S.  35)  „das  Übersetzen  eine  niedrige 
Gesinnung  und  einen  gedrückten  Geist  verraten",  das  Drama  nur 
„der  nützlichen  Unterhaltung  und  Belehrung  dienen"  (S.  40),  die 
Geschichte  „zum  Nutzen  des  bürgerlichen  Lebens  eingefühi-t  sein" 
(S.  51).  Ganz  irrig  ist  es,  Ch.  zum  Erfinder  oder  Ausgraber  der 
„drei  Einheiten"  zu  macheu  (S.  41).  Diese  missverstandenen  Aristo- 
telischen Theorien  hatten  schon  im  16.  Jahrh.  auch  ausserhalb 
Frankreichs  viele  Vertreter  gefunden  und  waren  in  dem  französ. 
Drama  schon  vor  Ch,'s  Fürsprache  zu  einer  gewissen  Herrschaft  ge- 
langt. Der  Verf.  möge  R.  Otto's  Einleitung  zur  Ausg.  von  Mairets 
„Silvanire"  und  Dannheissers  sorgsame  Abhaudl.  über  die  drei  Ein- 
heiten in  dieser  Zs.  daraufhin  ansehen. 

M.'s  Behauptung,  Ch.  hätte  ein  bedeutender  Dramatiker  werden 
können,  wenn  er  sich  diesem  Gebiete  der  Dichtung  beharrlicher  ge- 
widmet hätte,  ist  doch  eine  willkürliche  Annahme  (S.  32).  Dass 
Ch.  bei  einer  Komödie  Rotrous  Vaterstelle  vertreten  haben  will, 
mögen  wir  nur  für  eine  Prahlerei  des  eitlen  Dichters,  der  seine 
Versmacherei  sogar  vom  Papste  geki-önt  wissen  wollte  (S.  23),  an- 
sehen (S.  32).  Ungeschmälert  soll  dagegen  sein  Ruhmesanspruch 
auf  Schätzung  und  Pflege  der  französischen  Sprache  (S.  46)  und 
auf  vorurteilsfreie  Würdigung  der  älteren  französischen  Romane 
bleiben.     (S.  49.) 

Alles  in  Allem  ist  aber  Ch.  auch  nach  diesem  Rettungsversuche 
ein  kleinlicher  Höfling,  eitler  Streber,  mittelmässiger  Dichter  und 
altfränkischer    Kritiker.      Gewiss    werden    die    Mängel    seines    Ge- 


222  Referate  und  Bezensionen.     E.  Ritter, 

schmackes  und  seiner  ästhetischen  Bildung-  durch  die  Feliler  und 
Einseitigkeiten  der  g-anzen  Zeitrichtung-  entschuldigt,  ebenso,  wie  wir 
sein  poetisches  Schmarotzerthum  mit  dem  Masse  messen  müssen,  das 
andre  Zeitgenossen  uns  geben.  Aber  neben  dieser  rein  historischen 
Betrachtungsweise,  gibt  es  doch  auch  einen  absoluten  Massstab  in 
der  Moral  sowohl,  wie  in  der  Poesie  und  poetischen  Kritik.  Legen 
wir  diesen  an  Ch.'s  Person  und  litterarisches  Wirken,  so  ist  jede 
Art  der  Beschönigung  von  vornherein  erfolglos. 

E.  Mahrenholtz. 


Metzger,  Albert.  Les  dernieres  annees  de  madanie  de  Warens. 
Lyon,  lib.  Georg,  1891,  287  pages,  avec  un  plan  et  un 
fac-simile.     Tire  ä  300  exemplaires.^) 

Madame  de  Warens  (prononcez  Voiran,  et  non  pas  Varince, 
si  vous  voulez  parier  comme  les  contemporains  de  l'araie  de  Rousseau) 
avait  vecu  en  Savoie,  pendaut  trente-six  ans,  d'une  pension  que 
lui  faisait  le  roi  de  Sardaigne;  mais  eile  n"etait  pas  naturalisee  dans 
ce  pays;  eile  etait  demeuree  une  etrangere,  et  le  droit  d'aubaine, 
qui  existait  au  siecle  dernier,  donnait  au  souverain  le  droit  de 
mettre  la  main  sur  les  biens  des  etrangers  qui  mouraient  dans  ses 
etats.  Le  4  octobre  1762,  M.  de  Conzie  ecrivait  h  IJousseau:  „Notre 
digne  amie  la  baronne  de  Warens  est  morte  quehjues  jours  apres 
mon  depart  de  Chambery.  Un  m'a  informe  que  nos  tinanciers  royaux, 
sous  le  pre texte  d'aubaine,  avaient  faitcachetersa  cabane;  maisleur 
cupidite  aura  reste  peu  assouvie,  puisqu'ils  n'auront  trouve  chez  eile 
que  des  temoignages  de  piete,  et  des  preuves  de  sa  miserable  Situation." 

On  a  pense  que  madame  de  Warens  ayant  ete  emplo3"ee  k 
quelques  negociations  secretes  —  k  Paris  en  1730,  et  plus  tard  peut- 
etre  encore^j  -  -  les  scelles  avaient  ete  mis  sur  ses  pauvres  meubles 
alin  de  saisir  ses  papiers,  qui  pouvaient  contenir  quelques  traces  du 
role  qu'elle  avait  joue.  C'est  en  consequence  de  cette  mesure  que 
les  archives  de  Chambery  possedent  une  assez  forte  Hasse  de  papiei"s, 
contenant  surtout  des  brouillons  de  lettres  ecrites  k  divers,  par 
madame  de  Warens.  M.  Mugnier  s'est  servi  de  ces  documeuts  pour 
son  livre:  Madame  de  Warens  et  Jean  -  Jacques  Rousseau,  Paris, 
1891.  Mais  il  n'en  a  donne  le  plus  souvent  que  des  extraits  ou  des 
analyses.  M.  Metzger  les  publie  en  entier  et  textuellement;  il  en 
fait  autant  de  beaucoup  d'actes  notaries  oü  tigure  le  nom  de  madame 


')  Ce  volume  est  Ic  »(uatrieme  d'uno  serie.  J'ai  eu  roccasion  de 
dire  ici  meme  (Tome  XIY,  Referate  und  Recensionen,  page  18)  quelques 
mots  des  trois  premiers  volumes. 

*)  Mugnier,  Madame  de  Warens  et  Rousseau,  pages  353,  354,  et 
375.  —  Metzger,  Les  dernüres  annees  etc.,  page  110. 


A.  Metzger.     Les  dernieres  annees  de  madame  de  Warens.   223 

de  Warens,  et  qu'il  publie,  non  pas  d'apres  les  miuutes  des  notaires, 
ou  les  grosses  qu'ils  ont  autrefois  delivrees  aux  Interesses,  niais 
d'apres  la  copie  que  les  notaires  devaient  en  remettre  regitlierement 
au  tabellion:  ce  qiii  forme  une  grande  collection  de  volumes 
manuscrits,    dans  les   archives   du  Palais  de  Justice   de  Chambery. 

Cette  publication  integrale  a  des  avantages.  M.  Metzger  a 
reussi  d'ailleurs  ä  retrouver  quelques  pieces  qui  avaient  ecliappe  ä 
M.  Mugnier  (voir  par  exemple  pages  40,  118  et  suivantes,  192  et 
suivantes).  II  a  scrupuleusement  copie  la  graphie  de  madame  de 
Warens:  cette  fidelite  a  cet  inconvenient,  que  la  peine  qu'il  faut 
prendre  en  lisant,  pour  retablir  mentalement  l'ortograplie  correcte 
ä  laqnelle  nous  sommes  habitues,  fait  perdre  de  vue  ce  qui  est 
plus  interessant  que  des  vetilles  grammaticales :  l'allure  et  le  mouve- 
ment  du  style  epistolaire  de  madame  de  Warens.  Elle  avait  de  la 
facilite  et  du  charme;  eile  savait  plaire. 

Tout  ce  qui  concerne  ses  affaires  a  donc  ete  publie;  cependant 
nous  ne  sommes  pas  en  mesure  de  nous  en  faire  une  idee  nette. 
Nous  n'avons  pas  l'equivalent  d'une  serie  de  bilans  annuels,  d'uu 
compte  de  Profits  et  pertes.  On  a  fait  passer  sous  nos  yeux 
beaucoup  de  contrats,  une  volumineuse  correspondance,  mais  presque 
point  de  comptes.  Madame  de  Warens,  par  exemple,  eut  souvent 
k  faire  ä  ses  creanciers  des  delegations  sur  sa  pension:  la  serie 
complete  de  ces  pieces  serait  plus  parlante  que  toutes  les  paperasses 
qu'on  a,  et  qui  eveillent  notre  curiosite  sans  jamais  la  satisfaire. 

Nous  voyons  k  un  moment  (page  19)  qu'elle  avait  abandonne 
pour  une  annee  tous  les  quartiers  de  sa  pension  k  ses  creanciers,  et 
qu'en  consequence  eile  etait  aux  abois.  ün  peu  phis|  tard  (page  77) 
eile  fit  mieux,  eile  abandonna  k  ses  creanciers  la  moitie  de  cette 
pension,  se  reservant  l'autre  moitie  pour  vivre.  A  ce  compte,  eile 
n'aurait  ete  qu'un  peu  genee,  au  lieu  de  vivre  dans  la  belle  aisance 
qui  etait  son  partage  dans  les  premiers  temps.  Plus  tard,  la  misere 
noire  est  venue;  mais  nous  n'avons  plus  les  donnees  necessaires  pour 
nous  faire  une  idee  de  son  budget. 

Ce  qui  ressort  de  tous  les  renseignements  qu'on  peut  recueillir 
en  depouillant  ces  papiers,  c'est  la  justesse  des  dires  de  Rousseau. 
„Le  fameux  gar(^on  perruquier  est  rentre  dans  les  bonnes  gräceii 
de  madame,  de  sorte^)  qu'ils  sont  trois  rongeurs  dans  sa  maisou:'- 
voilä  ce  qu'ecrivait,  ä,  la  date  du  14  juillet  1756,  un  de  ceux  qui 
connaissaient  madame  de  Warens.     Cela  concorde  parfaiteraent  avec 


^)  de  Sajon  lit-on  (page  120)  dans  la  copie  du  document  original, 
que  M.  Charavay  a  fait  faire  pour  M.  Metzger.  II  y  a  lä  une  mauvaiso 
lecture  evidemment:  de  Sajon  ne  signifie  rien;  c"est  une  pctite  enigme 
cacographique ;  je  soumets  aux  experts  la  Solution  que  j'ai  cboisie  en 
lisant:  de  sorte.     Quoiqu'  11  en  seit,  il  n'y  a  pas  de  doute  pour  le  sens. 


224  Beferate  und  Rezensionen.     E.  Bitter, 

tout  ce  que  Rousseau  dit  et  laisse  entendre  sur  „les  fripons  dont  eile 
etait  obsedee."  On  peut  meme  preciser  la  personnalite  des  trois 
rougeurs: 

1.  Le  garQon  perruquier,  Winzenried,  quiavait  ete  en  delicatesse 
avec  madame  de  Wareiis,  au  moment  de  son  mariage,  au  printemps 
de  1754,  et  qui  veiiait  de  se  raccommoder  avec  eile; 

2.  Le  fameux  M.  Simon,  qui  s'etait  donne  comme  sachant 
faire  le  fer-blanc  par  la  lecture  de  tlieorie.  —  Je  me  demande 
ä  ce  propos  si  M.  Mugnier  (page  358)  commentaut  uue  lettre  oü 
madame  de  Warans  parle  ä  M.  d'Angeville  de  barils  de  fer-blauc, 
a  eu  raison  de  parier  des  lingots  d'argent  que  ces  barils  devaient 
contenir,  et  si  ce  n'etaient  pas  tout  uniment  de  simples  barils  de 
fer-blanc,  le  bruit  ayant  couru  qu'elle  s'occupait  d'en  fabriquer; 

3.  Le  secretaire  de  madame  de  Warens,  lequel,  le  15  octobre 
suivant,  se  mourait  d'un  abces  dans  la  poitrine. 

Rousseau,  en  quelques  mots  rapides,  a  parle  de  ce  taux  menage 
ä  plus  d'un  mari,  au  milieu  duquel  il  trouva  madame  de  Warens 
ä  son  passage  en  Savoie  (juin  1754)  „Dans  quel  avilissement'  dit- 
il.  Que  lui  restait-il  de  sa  vertu  premiere?  Je  ne  vis  plus  poui' 
eile  d'autre  ressource  que  de  se  depayser."  Du  temps  de  Claude 
Anet  et  de  Rousseau  lui-meme,  eile  vivait  au  moins  avec  des 
hommes  de  merite ;  mais  le  iiiveau  avait  baisse  bientot.  A^ers  la  fin, 
eile  avait  aupres  d'elle  un  personnage  equivoque,  Jean  Danel,  de 
Geneve,  qu'elle  appelait  saus  doute  son  secretaire,  et  ,iu"un  notaire 
(15  avril  1761)  appelait  son  agent. 

M.  Metzger  a  juge  bon  de  terminer  son  volume  par  un 
appendice  intitule:  A  propos  des  procedes  litteraires  de  M.  Mugnier. 
Celui-ci  a  repondu  par  une  brochure:  A  propos  d'une  attaqiie  de 
M.  Metzger. 

M.  Metzger  adresse  ä  M.  Mugnier  un  reproclie  qui  est  sans  fondement. 
A  l'entendre,  M.  Mugnier,  dans  son  volume:  Madame  de  Warens  et 
Rousseau,  aurait  mis  en  oeuvre  les  documents  publies  dans  les  trois 
Premiers  volumes  de  M.  Metzger,  sans  le  citer.  Mais  le  premier 
volume  de  M.  Metzger  ue  contenait  qu'un  seul  document  inedit,  que 
Ton  connaissait  depuis  longtemps;  et  au  moment  oü  ont  paru  (1888) 
les  second  et  troisieme  volumes  de  M.  Metzger,  M.  Mugnier  avait 
dejä  copie  de  son  cote,  sur  les  originaux,  ces  memes  documents  que 
M.  Metzger  a  reussi  ä  publier  avant  lui,  et  il  avait  communique  ses 
copies  ä.  deux  de  ses  amis. 

Au  lieu  de  se  plaindre  mal  k  propos,  M.  Metzger  aurait  du, 
en  premier  lieu,  epargner  au  lecteur  le  soin  de  recherclier  lui-meme, 
parmi  les  documents  que  coutient  son  dernier  volume,  ceux  qui  sont 
veritablement  inedits;  en  outre,  veritier  soigneusement  les  dates 
puur  lesquelles  son  livre  est  en  desaccord  avec  celui  de  M.  Mugnier. 


A.  Metzger.     Les  dernieres  annees  de  madame  de  Warens.   225 

Mugnier,  Metzger. 

Madame  de  Warens  et  Rousseau,  j  Les  dernieres  annees  etc. 

Page  313,  27  mai  1754  Page  11,  27  levrier  1754. 

Page  314,  7  aoüt  1754  Page  53,  27  aoüt  1754. 

Page  321,  8  novembre  1754  Page  57  et  62,  8  octobre  1754. 


Page  326,  13  novembre  1754 

Page  363,  7  septembre  1757 

Page  372,  24  mai  1760 

Page  376,  29  mars  1776 


Page  55,  13  septembre  1754. 

Page  147,  27  septembre  1757. 

Page  186,  28  mai  1760. 

Page  252,  29  mai  1776. 


Une  question  se  pose,  quand  on  suit  madame  de  Warens  dans 
tous  les  embarras  iinanciers  au  milieu  desquels  eile  se  debat.  Jusqu'ä. 
quel  point  Jean -Jacques  Rousseau,  qui  fut  ä  son  jour  un  de  ces 
rongeurs  qu'elle  aimait  ä  avoir  dans  sa  maison,  est-il  coupable 
de  ne  pas  lui  avoir  rembourse  les  depeuses  qu'elle  avait  faites  pour  lui, 
et  qui  constituaient  une  dette  sacree?  II  y  a  deux  periodes  de  sa 
vie,  dans  lesquelles  Jean -Jacques  est  sans  excuse. 

A  Venise,  il  avait  une  Situation  assez  aisee,  et  il  etait  libre 
de  tout  lien.  Les  relations  comnierciales  entre  Venise  et  Geneve, 
Geneve  et  Chambery,  etaient  assez  bien  etablies  pour  qu'il  lui  füt 
facile  de  faire  passer  de  l'argent  ä  madame  de  Warens. 

Dans  les  annees  qui  suivirent,  il  etait  gene,  et  il  devint  pere. 
Les  droits  de  madame  de  Warens  etaient  primes  par  ceux  de  ses 
enfants.  Au  reproclie  de  les  avoir  abandonnes,  il  serait  surabondant 
et  deplace  d'ajouter  le  reproclie  d'avoir  neglige  de  faire  face  ä  une 
ancienne  dette.  A  plus  d'une  reprise,  d'ailleurs,  il  paya  quelques 
acomptes. 

Mais  apres  sa  derniere  entrevue  avec  madame  de  Warens,  ä 
Grange  -  Canal  pres  Geneve  (laquelle  se  place  entre  deux  dates : 
le  21  aoüt  1754,  la  baronne  etait  encore  ä  Chambery;  —  le  22  sep- 
tembre, Rousseau  partait  poui'  faire  le  tour  du  lac  Leman)  un 
Symptome  grave  se  remarque.  Madame  de  Warens  ne  s'adresse  plus 
Jamals  ä  lui,  quoique  sa  misere  füt  bien  plus  grande  qn'auparavant, 
et  que  Jean-Jacques  füt  bien  davantage  en  etat  de  l'aider. 

La  lettre  du  10  fevrier  1754  (que  M.  Metzger  a  publiee  dans 
son  second  volume,  et  dont  il  a  donne  un  fac-simile  dans  le  troisieme) 
nous  permet  de  supposer  une  reponse  brutale  de  Rousseau  ä  une 
demande  d'ai^gent.  Les  entrevues  de  Chambery  et  de  Grange- 
Canal  ont  saus  doute  ete  penibles  ä  l'amour- propre  de  la  baronne, 
si  son  ancien  protege  lui  a  laisse  voir  l'impression  qui  fut  la  sienne, 
et  qu'il  rapporte  dans  les  Confessions.  Elle  etait  femme,  eile  fut 
fiere  une  fois,  et  des-lors, 

lila  solo  iixos  oculos  aversa  tenebat. 

Les  annees  de  1759  ä  1762  furent  celles  oü,  pecuniairement, 
Rousseau  se  trouva  dans  la  Situation  la  plus   brillante  de   sa  vie, 

Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV^.  15 


226  Referate  und  Rezensionen.     E.  Bitter, 

et  maclarae  de  Warens,  dans  la  plus  lamentable  de  la  sieniie.  II 
ne  tit  rieii  pour  eile.  II  avait  assez  de  credit  aupres  de  la  inarechale 
de  Luxembourf?  pour  qu'il  piit  aisement  interesser  la  charite  de 
cette  graude  dame  en  faveur  d'une  personne  ä  laquelle  il  devait 
taut;  mais  dans  sa  prosperite  il  avait  oublie  madame  de  Warens. 
Je  terminerai  ce  compte-rendu  en  publiant  ä  mon  tour  un 
document  inedit,  qui  existe  ä  la  bibliotheque  de  Neuchätel:  c'est 
une  lettre  adressee  ä  Eousseau,  pendant  son  sejour  ä  Motiers-Travers, 
par  un  de  ses  anciens  amis  de  Savoie.  Elle  temoigne  de  l'aimable 
Souvenir  que  gardaient  de  la  baronne  de  Warens  tous  ceux  qui 
avaient  vecu  dans  sa  societe. 

A  Besangon,  le  28  octobre  1763. 

Des  longtemps  je  vous  cherclie,  mon  eher,  et  n"ai  pu  decouvrir 
oü  vous  restiez.  Mon  lils,  qui  est  controleur  des  actes  k  Pontarlier, 
dans  un  voyage  qu'il  vient  de  faire  ä  Besancon,  m'a  appris  votre 
demeure.  J'aurais  du  en  etre  informe  plus  tot,  toute  l'Europe 
ayant  les  yeux  ouverts  sur  vous  et  sur  vos  ouvrages,  mais  je  suis 
presque  separe  de  la  societe.  La  main  nie  refuse  le  Service,  et  je 
ne  parle  qu'avec  beaucoup  de  difflculte.  Vous  vous  en  apercevez  sans 
doute,  en  voyant  une  main  etrangere  dont  j'empruute  le  secours. 
Je  me  sers  de  la  premiere  qui  se  presente,  pour  vous  marquer  l'em- 
pressement  que  j'ai  de  vous  donner  de  mes  nouvelles  et  de  recevoir 
des  vötres.  Les  teraps  d'intimite  entre  nous  sont  passes,  je  les 
regrette  veritablement;  celui  qui  s'est  ecoule  depuis,  vous  a  donne 
l'immortalite,  et  h  moi  il  ne  m'  a  laisse  que  la  simple  action  de 
vegeter;  je  ne  puis  me  tlatter  que  de  l'oubli  total  de  tous  ceux  que 
j'ai  connus.  Nous  etions,  vous  et  moi,  reunis  sur  la  meme  ligne, 
et  la  distance  qui  est  entre  nous  aujourd'  hui,  est  immense.  Je 
compte  toujours  sur  votre  amitie;  vous  me  l'avez  donnee,  vous  avez 
la  inienne,  je  serai  toute  ma  vie  votre  ami.  Si  ma  sante  pouvait 
me  permettre  de  vous  aller  embrasser,  le  nioment  de  mon  depart 
serait,  apres  celui  de  vous  voir,  le  plus  doux  de  ma  vie. 

Vous  connaissez  le  sentiment  de  l'amitie,  je  ne  puis  en  douter, 
jugez  par  lä  du  plaisir  que  j'aurais  d'etre  aupres  de  vous,  de  vous 
renouveler  les  marques  de  mon  sincere  attachement.  Je  suis  persuade 
que  vous  y  goüteriez  encore  quelque  douceur,  et  que  je  ne  serais 
pas  le  seul  satisfait  de  notre  entrevue.  Quoique  je  ne  sois  pas  dans 
le  cas  de  desirer  l'avenir,  parce  qu'il  doit  me  surcharger  d'aunees, 
je  voudrais  etre  au  printemps  prochain;  je  partirais  sur  le  champ; 
j'irais  prendre  mon  rils  <\  Pontarlier.  et  je  volerais  ä  vous.  II  n'y 
aurait  pas  de  distance  entre  votre  abord  et  le  renouvellement  bien 
tendre  de  notre  ancienne  amitie.  II  ne  nie  reste  que  le  seul  desir 
de  vous  en  marquer  la  constance.     Que  ne  puis -je  confier  bien  des 


Ä.  Metzger.     Les  dernieres  annees  de  madame  de  Warens.   227 

olioses  k  celui  qui  tient  la  plume!  je  serais  enchante  de  vuus  les 
rappeler,  et  entre  autres  les  amusements  doux  et  tranquilles  que 
nous  avons  goütes  ensemble  avec  madame  la  baroiine.  J'ig-nore  oü 
eile  est.  Si  vous  avez  quelque  relation  avec  eile,  faites-y,  je  vous 
prie,  mentioü  de  mon  respect.  Je  serais  Men  flatte  d'appreiidre  qu'elle 
conserve  encore  quelques  idees  des  bontes  qu'elle  a  eues  pour  moi. 
II  y  a  envirou  7  aus  que  je  suis  k  BesauQon  cliez  mon  frere  qui 
est  directeur  des  domaines;  j'y  ai  tout  ce  que  je  puis  desirer  pour 
ma  subsistauce,  uiais  pour  les  agrements  de  la  vie,  qui  en  fout  la 
partie  integrale,  ils  ne  semblent  plus  faits  pour  moi,  excepte  le  bien 
sensible  d'apprendre  de  vous-meme  que  vous  pensez  k  un  ami  qui  ne 
desire  de  vivre  plus  longtemps  que  pour  goüter  la  douceur  de  vous 
etre  constamment  attache.  Portez-vous  bien,  mon  eher,  et  donnez- 
moi  de  vos  nouvelles.  Pti .  our.xrxni'T 

UHARBONNEL. 

Dans  la  Correspondance  de  RousseauM,  il  y  a  une  lettre  de  lui, 
datee  de  Montpellier,  4  novembre  1737,  pour  laquelle  le  nom  du 
destinataire  n'est  pas  indique.  Quand  on  la  rapproche  de  la  lettre 
qui  la  precede  (ä  M.  Micoud,  23  octobre  1737)  on  est  conduit  ä 
supposer  qu'elle  a  ete  ecrite  ä  ce  Charbonnel  qui  se  rappelait  vingt- 
cinq  ans  plus  tard  au  Souvenir  de  Jean-Jacques.  II  etait,  je  pense, 
le  fils  du  marchaud  Jean  -  Antoine  Charbonnel ,  dont  M.  Mugnier 
a  parle  (page  137)  et  qui  tigure  dans  quelques  actes  notaries:  le 
testament  de  Rousseau,  27  juin  1737,  et  un  acte  du  2  mars  1738 
par  lequel  madame  de  Warens  loue  ä  un  metayer  un  petit  domaine 
aux  chanuettes;  —  ou  peut-etre  il  etait  Jean- Antoine  Charbonnel 
lui-meme. 

Encore  un  mot  sur  madame  de  Warens.  J'ai  dejä  parle  ici 
meme  (XIV,  18)  d'un  point  obscur  et  delicat  de  sa  vie.  C'est  en 
rendant  compte  du  beau  livre  de  M.  Mugnier  que  je  faisais  une 
objection  au  sentimeut  qu'il  a  exprime  sur  ce  point. 

On  sait  que  M.  de  Conzie  qui  avait  counu,  au  temps  des 
Charmettes,  Jean -Jacques  Rousseau  et  madame  de  Warens,  a  pu 
lire  dans  sa  vieillesse  les  premiers  livres  des  Confessions,  et  qu'il  a 
redige  alors,  en  quelques  pages  charmantes,  ses  propres  Souvenirs: 
document  precieux,  public  en  1856  dans  les  memoires  de  la  Societe 


*)  Je  note  ici  (un  peu  hors  de  propos,  je  ravoue)  que  M.  Slugnier, 
page  388,  cite  une  lettre  de  Eousseau  au  prince  de  Wirtemberg.  d'apres 
Streckeisen  (Oeuvres  et  correspondance  inedites  de  Rousseau,  page  397 j  qui 
l'avait  datee  du  11  mars  1763.  3Iais  qu'on  prenne  lautre  publication  de 
Streckeisen:  Rousseau,  ses  amis  et  ses  ennemis,  11,  2U3  et  205,  on  verra 
que  cette  lettre  de  liousseau  est  du  11  mars  1765.  En  mars  1763,  le 
prince  et  Rousseau  ne  se  connaissaient  pas. 

15* 


228  Referate  und  Rezensionen.     R.  Mährenlioltz, 

savoisienne  d'histoire,  et  reimprinie  par  M.  Metzger  daus  soii  premier 
vohime.     M.  Mugnier  (pag-e  328)  en  cite  ce  passage: 

Enfin  cette  charmante  et  rtigne  femme,  sans  argent  et  j'ose  quasi 
dire  sans  credit  et  accablee  de  dettes,  eut  Theureuse  ressoiuxe  de  plaire 
ä  i;n  vieux  seigneur  de  la  premiere  distinction  qni  fonrnit  durant 
qu'il  vecut  aux  journaliers  necessaires  de  la  subsistance  de  cette 
malheureuse  liaronne;  mais  le  noble  desinteressement  dont  son 
äme  avait  toujours  ete  penetree,  ne  lui  suggera  jamais  de  confier 
ä  ce  vieiix  seigneur  le  triste  et  inevitable  avenir  qui  la  mena(^ait. 
Aussi  apres  cette  perte  se  vit-elle  forcee  de  raendier,  pour  ainsi  dire, 
un  recoin  de  chaumiere  dans  un  des  faubourgs,  oü  eile  n'a  vegete  que  par 
les  secours  et  soins  charitables  de  ses  voisins,  qui  n'etaient  pas  (tant  s"en 
faut)  dans  Taisance.  Finalement,  accablee  de  differents  maux  qui  la 
retenaient  au  lit  depuis  plus  de  deux  annees,  eile  succomba  avcc  tous  les 
sentiments  d'une  femme  forte  et  bonne  chretienne. 

M.  Mugnier  a  commente  ce  texte,  et  cherche  ä  etablir  que  ce 
vieux  seigneur  n'etait  pas,  comme  on  l'a  dit,  M.  d' Allinges,  marquis 
de  Coudree.  J'ai  fait  remarquer  que  la  date  de  sa  mort  (23  janvier 
1755)  coincide  pourtant  avec  cette  hypotliese.  Madame  de  Warens, 
qui  avait  demeure  depuis  l'ete  de  1750  dans  la  maison  du  marquis, 
la  quitta  au  mois  d'aoüt  1754.  On  la  voit  ensuite  en  Chablais,  ä 
Evlan,  a  Geneve;  eile  revint  ensuite  ä  C'liambery  oü  eile  tiuit  par 
s'etablir,  au  printemps  de  1756,  dans  une  maison  du  faubourg  de 
Nezin,  oü  eile  resta  logee  jusqu'  ä  sa  mort.^) 

Je  ne  tiens  pas  particulierement  au  marquis  de  Condree. 
Qu'on  nie  trouve  ä  cette  epnque  la  mort  d'uu  autre  vieux  Sei- 
gneur de  la  premiere  distinction,  ayant  passe  ä  Chambery  ses 
dernieres  annees:  son  nom  prendra  place,  au  lieu  de  celui  de 
M.  d'Allinges,  dans  la  biographie  de  madame  de  Warens. 

Toujours  est-il  qu'il  faut  rappi'ocher  le  dire  de  M.  de  Conzie, 
de  ce  que  Jean -Jacques  laisse  entendre,  dans  le  11  vre  YIII  des 
Co)ifessions,  en  parlant  de  son  passage  ä  Chambery,  au  mois  de 
juin  1754: 

A  Lyon,  je  ((uittai  Gauffecourt  pour  prendre  ma  route  par  la 
Savoie,  ne  pouvant  me  resoudre  ä  passer  si  pres  de  raaman  sans  la 
revoir.  Je  la  revis  .  .  .  Dans  ([uel  fetat,  nion  Dieu!  (|uel  avilissemenr ! 
(^ne  lui  restait-il  de  sa  vertu  premiere?  Etait  ce  la  meme  madame 
de  Warens,  jadis  si  brillante?  Que  mou  cojur  tut  navrel  Je  ne  vis  plus 
piair  eile  (Tautre  ressource  que  de  se  dfepayser. 

Sans  doute,  quand  Rousseau  passa  ä  Chamber}',  il  entendit 
parier  de  madame  de  Warens  en  tres  mauvais  termes.^)     Dejä  vingt- 


')  Mugnier,  Madame  de  Warev>i  et  J.  J.  Bousscau,  pages  262  et 
329.    Metzger,  les  dernieres  annees  de  madame  de  Warens,  pages  123  et  201. 

'^)  Les  textes  cites  par  ^l.  Mugnier.  pages  2S5,  287  et  288,  attestent 
•in'  ä  Chambery  on  disait  alors  beaueonp  de  mal  de  la  pauvre  i'emme; 
qiKiiqu'ils  ne  fassent  d'allusion  directe  qu'  ä  ses  entreprises  industrielles, 
il  est  elair  que  les  commerages  de  la  viile  n'epargnaient  pas  sa  vie  privee. 


Fr.  Lambert.     Studien  zu  Rousseaus  Emil.  229 

quatre  ans  auparavant,  quand  il  etait  alle  ä  Vevey  faire  une 
espece  de  pelerinage  aux  lieux  qu'elle  avait  habites,  il  avait  craint 
pour  eile  les  mauvaises  langues: 

Une  de  mes  ineptes  bizavreries  etait  de  n'oser  m'informer  d'elle. 
II  me  semblait  qu'en  la  nommant  je  la  compromettais  en  quelque  sorte.  Je 
crois  meme  qu'il  se  joignait  ä  cela  quelque  frayeur  tiu'on  me  dit  du  mal 
d'elle.  On  avait  parle  beaucoup  de  sa  demarche,  et  un  peu  de  sa  couduite. 
De  peur  qu'on  n'en  dit  pas  ce  que  je  voulais  entendi'e,  j'aimais  mieux 
qu'on  n'en  pariät  point  du  tout. 

Cette  fois-ci,  c'etait  bien  pis.  Evidemment  on  lui  parla  d'elle 
Sans  menagement.  On  la  traita  de  femme  entretenue.  Elle  etait 
ägee,  eile  avait  des  dettes,  la  bonne  societe  l'avait  abandonnee;  eile 
etait  livree  «ans  defense  ä  la  medisance,  ä,  la  malignite  publique. 
Dans  ses  belies  aunees,  il  est  vrai,  eile  n'avait  nou  plus  respecte 
le  commandement :  Non  nwechaberis;  mais  c'etait  alors  une  jeune  et 
jolie  femme,  qui  gardait  les  apparences,  et  conservait  son  rang 
dans  le  monde.     Plus  tard,  tout  s'etait  gäte! 

Je  ne  ueglige  point  un  argument  de  M.  Magnier:  „la  pauvre 
femme  eüt  ete  vraiment  une  compagne  bien  peu  attrayante  .... 
Eayons  donc  cette  defaillance  attardee  du  passif  de  madame  de 
Warens. 

„Je  reponds  que  tout  depend  du  moment  oü  la  liaison  a 
commence;  or  nous  n'en  savons  rien,  si  ce  n'est  qu'il  faut  le  placer 
entre  l'automne  de  1741  et  le  printemps  de  1754,  pendant  ces  douze 
ans  oü  Jean- Jacques ,  qui  nous  aurait  renseignes  sur  ce  cliapitre, 
n'est  pas  venu  en  Savoie.  La  marge  est  grande.  On  peut  croire 
que  madame  de  Warens  a  garde  longtemps  son  charrae  et  sa  gräce ; 
qu'  apres  quarante  ans,  eile  a  pu  plaire  encore  ä  un  vieillard. 
Dans  l'arriere-saison,  la  campagne  est  encore  riante  sous  un  rayon 
de  soleil.  II  y  a  ce  qu'on  appelle  l'ete  de  la  Sainte-Martin.  Et  le 
noeud  etant  une  fois  forme,  la  force  de  l'babitude  sufüt  ä  en  expliquer 
le  maintien  et  la  duree. 

En  definitive,  cette  defaillance  attardee  que  veut  effacer 
M.  Mugnier,  me  semble  essentielle  ä  maintenir,  si  l'on  veut  s'expliquer 
avec  precision  ce  que  Rousseau,  dans  le  passage  cite,  n'a  fait  qu' 
indiquer  en  detournant  les  yeux. 

Eugene  Ritter. 


Lambert,   Fr.    Studien  zu  Rousseaus  Emil.    I.  Die  Abhängigkeit 

J.  J.    Rousseaus  in  seiner  Erziehungslehre  von  J.  Locke. 

Programmabh.  des  Real-Gymn.  d.  Franckeschen  Stiftungen 

zu  Halle  a.  S.,  1893.     34  S.     S». 

Verf.   stellt   sehr   eingehende   Parallelen   zwischen  Rousseaus 

„Emile^'  und  Locke  zusammen,  weist  aber  auch  darauf  hin,  dass  der 


230  Referate  und  Rezensionen.     R.  MahrenhoUz, 

Genfer  Philosoph  sich  nicht  immer  an  sein  englisches  Vorbild  hält, 
sondern  selbständii;-  weiter  fortschreitet.  Ein  Mangel  bleibt  es  aber, 
dass  die  andren,  au  Zahl  nicht  armen  Quellen  Rousseaus  unbeachtet 
gelassen  werden.  Verf.  würde  sich  bei  einer  derartigen  Vergleichung 
des  „Emile"-  und  früherer  Erziehungsschriften  wohl  überzeugt  haben, 
das  keineswegs  alles  aus  Locke  stammt,  was  mit  diesem  in  näherer 
oder  fernerer  Übereinstimmung  steht.  Locke  scheint  dem  Verf.  nur 
aus  einer  deutschen  Übersetzung  bekannt  zu  sein,  auch  für  den 
„Emile"  wird  nicht  auf  eine  bestimmte  Ausgabe  verwiesen.  Die 
umfangreiche  Litteratur  über  Rousseau  ist  garnicht  berücksichtigt, 
auch  die  allgemeinen  Zeitanschauungen  werden  in  etwas  ver- 
schwommener Weise  uns  geschildert.  Sonach  kann  die  Abhandlung,  doch 
als  ein  die  wissenschaftliche  Forschung  wesentlich  fördernder  Beitrag 
kaum  angesehen  werden,  so  sehr  auch  der  Fleiss  des  Verfassers  An- 
erkennung verdient. 

R.  Mahrenholtz. 


Tiersot,  Julien.  Rotiget  de  Lisle.  Son  oeuvre.  Sa  vie.  Paris 
1892.  Librairie  Ch.  Delagrave.  435  u.  XII  p.  8«. 
Unum,  sed  leonem  könnte  das  Motto  dieser  Biographie  Rouget 
de  Lisle's  sein.  Denn  auch  der  Verfasser  weiss  von  seinem 
Helden  nichts  weiter  zu  rühmen,  als  dass  er  der  Dichter  der  welt- 
berühmten Marseillaise  ist.  In  breiter,  stellenweis  ermüdender  Form 
führt  er  uns  das  lange,  aber  doch  nicht  ereignissvolle  Leben  des 
Dichters  vor,  gedenkt  ausfülirlich  seiner  meist  erfolglosen,  jetzt 
längst  vergessenen  Dichtungen  und  Compositionen,  scliildert  uns, 
wie  Rouget  vom  Royalisten  zum  eifrigen  Republikaner  wurde,  aber 
den  jacobinischen  Terrorismus  hasste,  wie  er  seinen  Widerstand 
gegen  die  Conventscommissare  mit  Verlust  seiner  Offizierstelle, 
später  mit  zweimaliger  Einkerkerung  büsste,  wie  er  sich  dem  Direk- 
torium auschloss,  gegen  Bonaparte's  Consulat  protestierte,  dann  in 
Vergessenheit  lebte,  durch  die  Reaction  des  Jahres  1814  und 
mehr  noch  durch  die  Juli -Revolution  (1830)  aus  seiner  Einsamkeit 
emporgezogen  wurde  und  endlich  im  Alter  von  76  Jahren  starb, 
Die  dritte  Republik  Hess  dann  sein  Andenken  und  sein  einziges 
opus  aere  perennius,  die  Marseillaise,  wieder  aufleben.  Doch  sind 
das  Thatsachen,  die  in  der  Hauptsache  bekannt  waren  und  das  un- 
nötige Detail  würden  wir  zuweilen  gern  entbehren.  Verfasser  hat 
sich  durch  genaue  Feststellung  des  Ursprunges  und  des  Datums  der 
Marseillaise  immerhin  um  die  Geschichte  dieses  Weltgesanges  ein 
Verdienst  erworben.  Der  eigentliche  Geburtstag  dieses  vom  Dichter 
selbst  componierten  Liedes  ist  die  Nacht  vom  25.  bis  26.  April  1792, 
sein  Zweck   war  die   Begeisterung  der  von  Strassburg  zum  Kampf 


J.  EUinger.    Andre  Cheniers  Gedichte.  231 

für  das  Vaterland  ausrückenden  französischen  Freiwilligen.  Ur- 
sprünglich aber  war  das  Lied  für  eine  patriotische  Soiree  im  Hause 
des  Strassburger  Maire  Dietrich  vei'fasst.  Ebenso  gibt  Hr.  T. 
mancherlei  interessante  Einzelheiten  über  die  Verbreitung  und  Er- 
gänzung der  Marseillaise  in  der  französischen  Armee  und  bei  den 
jacübinischen  Banden,  auch  über  die  Benutzung  der  Melodie  durch 
R.  Schumann  und  R.  Wagner.  Nicht  ohne  Wichtigkeit  ist  auch 
der  Nachweis,  dass  Rouge ts  Vater  keinen  Anspruch  auf  den  Bei- 
namen de  Lisle  hatte,  den  er  sich  nur  beilegte,  um  seinem  Sohne  den 
Eintritt  in  die  Pariser  Militärschule  zu  erleichtern.  Aber  diese 
und  andere  Kleinigkeiten  verleihen  einem  so  umfangreichen  Buche 
doch  keine  Existenzberechtigung.  Kürze  wäre  dringend  geboten 
gewesen.  Die  Beurteilung  Rougets  als  Dichter  und  Musiker  leidet 
an  grosser  Überschätzung.  Selbst  die  Marseillaise  ist  so  sehr  Aus- 
druck der  revolutionären  Zeitstimmung  und  sie  ist  so  mit  den 
Tagesleidenscliaften  und  Tagesphrasen  erfüllt,  dass  wir  der  Revolu- 
tion einen  vielleicht  grösseren  Anteil  zuschreiben  müssen,  als  dem 
Dichter  selbst.  Hr.  T.  zieht  nicht  ohne  Geschick  die  Ereignisse 
und  Wandlungen  der  Revolution  in  seine  Darstellung,  aber  er  steht 
mitten  in  der  republikanischen  Legende.  Die  französischen  Frei- 
schaaren  des  Jahi'es  1793,  jenes  raublustige,  undisziplinierte,  von 
herrschsüchtigen,  gewissenlosen  Conventscommissaren  gegen  die 
Offiziere  aufgehetzte  Gesindel,  das  seine  Siege  der  Zwietracht  und 
schlechten  Anführung  der  Coalitionstruppen  verdankte,  gilt  ihm  etwa 
als  dasselbe,  wie  die  Thermopylen-  und  Salamiskämpfer  der  alt- 
griechischen Fantasie.  Dass  Rouget  nach  dem  9ten  Thermidor  sich 
an  Freron  und  Tallien  anschloss,  bedeutet  für  T.  einen  Kampf 
gegen  die  Revolution,  deren  Hauptvertreter  ihm  eben  die  Jacobiner 
sind.  Nicht  ohne  Grund  ist  das  Buch  dem  derzeitigen  Präsidenten 
der  französischen  Republik  gewidmet.  Hr.  T.  verfügt  über  ein 
anmutiges  Schilderungstalent,  aber  es  fehlt  ihm  an  Kritik  und  an 
gründlicher  historischer  Bildung.  Viele  französische  Litterarhistoriker 
haben  eben  durch  die  Geschichte  nichts  gelernt  und  daher  —  auch 
nichts  vergessen. 

R.  Mahrenholtz. 


Elliiiger,    J.      Andre    Cheniers    Gedichte,    ein  Bild  seines  Lebens. 

(Jahresber.    der    Staats-Oberrealschule   in   Troppau,   1892. 

S.  35—54.) 

In  ansprechender  Weise  stellt  der  Verfasser  alle  Stellen  in 

Andre   Cheniers    Gedichten   zusammen,    die   sich   auf  die   frühesten 

Kindheitserinnerungen  bis  zu  den  letzten  Tagen   in   der  Kerkei'haft 

bezielien.     Neues  gewinnen  wir  daraus  kaum,   denn  auch  die  That- 


232  Referate  und  Bezensionen.     Th.  Süpfle, 

Sache,  dass  Ch.  schon  als  kleines  Kind  von  Constantinopel  nach 
Frankreich  kam  und  dass  er  die  Heimat  seiner  Mutter,  Griechen- 
land, nie  wiedersah,  war  schon  früher  bekannt.  Wir  erhalten  aus 
diesen  Zusammenstellungen  von  Neuem  das  Bild  eines  für  Natur 
und  Kunst  schwärmenden,  für  Liebe,  Freundschaft,  Menschenglück 
und  Völkerfreiheit  begeisterten,  jedem  Despotismus,  auch  dem  im 
Namen  der  Freiheit  geübten,  abgeneigten  Dichters.  Verdienstvoll 
ist  die  Berichtigung  einiger  Irrtümer  Lotheissens,  denen  der  Name 
des  frühverstorbenen  Litterarhistorikers  leicht  weitere  Verbreitung 
sichert. 

R.  Mahrenhültz. 


Meissner,  Fr.  Der  Einßuss  deutschen  Geisfes  auf  die  französische 
Litteratur  des  19.  Jahrhunderts  bis  1870.  VIII.  249  S. 
8«.     Leipzig,  Eenger,  1893. 

Als  uns  obiger  Titel  zuerst  zu  Gesicht  kam,  so  freuten  wir 
uns  über  das  Erscheinen  einer  Schrift,  welche  über  den  nämlichen 
Gegenstand  handelt,  welchem  wir  seit  längerer  Zeit  unsere  volle 
Liebe  zugewendet  und  über  welchen  wir  auch  vor  einigen  Jahren 
geschrieben  haben.  Wir  hofften,  in  ihr  entweder  neue  Forschungen 
oder  neue  Gesichtspunkte  zu  finden.  Leider  ist  unsere  Erwartung 
beim  Lesen  vollständig  getäuscht  worden.  Der  offenbar  noch  sehr 
junge  Verfasser  —  er  ist  Privatdocent  an  der  Universität  Basel  — 
war  nicht  bestrebt,  in  die  Tiefe  seines  ebenso  schweren  als  schönen 
Thema  einzudringen;  er  machte  keine  Quellenstudien;  er  begnügte 
sich,  aus  zweiter  Hand  Material  herbeizuschaffen  und  er  stellte 
dieses  lückenhaft  und  ohne  Übersichtlichkeit,  so  gut  es  eben  ging, 
in  höchst  flüchtiger  Weise  zusammen.  So  konnte  auf  diesem  noch 
jungen  Gebiet  der  internationalen  Litteraturgeschichte  statt  eines 
wünschenswerten  Fortschritts  nur  ein  bedauerlicher  Rückschritt 
erfolgen. 

Vor  allem  nun  müssen  wir  dem  H.  Dr.  Meissner  vorwerfen, 
dass  er  das,  was  er  auf  dem  Titel  verspriclit,  nur  sehr  wenig  ge- 
halten hat.  Denn  der  verheissene  Einfluss  des  deutschen  Geistes 
auf  die  Litteratur  Frankreichs  im  19.  .Tahrliuiulert  wird  in  dem 
Buche  nur  stellenweise  und  ohne  die  wünschenswerte  Begründung 
im  Einzelnen  behandelt  oder  vielmehr  berührt.  Es  bietet  in  der 
Hauptsache  nur  Mitteilungen  über  eine  grosse  Zahl  französischer 
Schriftsteller,  welche  die  Werke  unserer  Dichter  und  Denker  über 
den  Rhein  hinüber  vermittelt  haben.  Aber  auch  bei  der  Lösung 
dieser  wesentlich  beschränkteren  Aufgabe  geht  der  Verfasser  durch- 


Fr.  Meissner.  Der  Einfluss  deutsch.  Geistes  a.  d.frz.  lÄtter.  etc.  233 

aus  nicht  mit  der  nötigen  Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  zu  Werke. 
Obgleich  er  nämlich  keine  selbständigen  Studien  über  seinen  Gegen- 
stand gemacht  hatte,  versäumte  er  es  dennoch,  sich  nach  den 
neuesten  Forschungen  umzusehen  und  dieselben  zu  benützen. 

Bei  der  Darstellung  des  ersten  Abschnittes,  welcher  vom  An- 
fang des  19.  Jahi'hunderts  bis  1815  gehend  höchst  sonderbarer 
Weise  mit  einer  Besprechung  A.  v.  Humboldt's  schliesst,  und  ebenso 
bei  dem  zweiten  Abschnitt,  welcher  die  Zeit  der  französischen  Eo- 
mautik  zu  charakterisieren  verspricht,  hat  H.  Dr,  Meissner  nur  die 
kleine  Schrift  des  allerdings  verdienstvollen  H.  Breitinger  (1876) 
zu  Rate  gezogen.  Er  ist  ihr  vielfach  in  grösster  Nähe  gefolgt  und 
sogar  in  mehreren  Punkten,  wo  er  weniger  vertrauensvoll  sein 
musste.  So  z.  B.  hat  Breitinger  und  demgemäss  der  Verfasser  die 
Einwirkung  der  deutschen  Dichtung  auf  die  französische  Eomantik, 
deren  Wesen  hier  irrig  geschildert  ist,  viel  zu  gering  angeschlagen. 
Denn  nicht  nur  auf  mehrere  Gattungen,  sondern  sogar  auf  den 
Stoff,  auf  Gedanken,  Empfindungen,  poetische  Bilder  erstreckte  sich 
der  deutsche  Einfluss. 

Dagegen  fallen  dem  H.  Dr.  Meissner  folgende  starke  Versehen 
ganz  allein  zur  Last.  In  dem  Kapitel  über  Frau  von  Stael,  in 
welchem,  wie  auch  sonst  oft,  viel  Nebensächliches  zur  Sprache  kommt, 
erwähnt  er  das  Schreiben  des  Herzogs  von  Eovigo,  welches  das  Ver- 
bannungsdecret  zu  motivieren  suchte,  und  übersetzt  (S.  10  unten)  die 
Stelle  „il  ni'a  parii  que  Vair  de  ce  pays  ci  [la  France]  ne  yous 
convenait  point"  in  folgender  widersinniger  Weise:  „wir  haben  ge- 
funden, dass  die  Luft  jenes  Landes  (Deutschland)  uns  nicht  be- 
hage". Auf  Seite  26  wird  Benjamin  Constant  „ein  Schüler  oder 
Anhänger"  von  Frau  von  Stael  genannt,  während  er  zwar  ihr 
Freund,  aber  durchaus  nicht  ihr  Schüler,  sondern  in  seinen  Studien 
über  deutsche  Litteratur  vielmehi"  ihr  Vorläufer  war.  Bei  der 
Besprechung  von  Chateaubriand  ist  dem  Verfasser  infolge  einer  un- 
glaublichen Flüchtigkeit  ein  köstliches  Quiproquo  auf  S.  36  zu- 
gestossen.  Was  dieser  nämlich  von  einem  ziemlich  obskuren  Schiift- 
steller,  Delisle  de  Sales,  scherzhaft  sagte,  derselbe  sei  in  jedem 
Frühjahr  nach  Deutschland  gereist,  um  dort  neue  Ideen  zu  holen, 
das  verstand  H.  Dr.  Meissner  so,  als  ob  Chateaubriand  selbst  jedes 
Jahr  zu  dem  genannten  Zweck  nach  Deutschland  gereist  sei,  und 
er  führt  dies  als  einen  Beweis  dafür  an,  wie  hoch  Chateaubriand 
Deutschland  geschätzt  habe!  Nicht  minder  verblüffend  ist  folgendes 
Versehen.  Auf  S.  40  sagt  H.  Dr.  Meissner,  dass  Victor  Hugo  in 
dem  Drama  „Hernani"  den  Don  Carlos,  den  alsbaldigen  Kaiser 
Karl  V..  seinen  bekannten  Monolog  „in  einem  Keller  in  Frankfurt 
a.  M."  habe  halten  lassen!     Warum  nicht  etwa  gar  in  Auerbachs 


234  Referate  und  Rezensionen.     Th.  Siipße. 

Keller  in  Leipzig?  H.  Dr.  Meissner  hat  beim  Lesen  der  Beschreibung 
der  Loct'.lität  des  4.  Aktes  des  französischen  Stückes  („les  caveaux  qui 
renfcrmcnfletonibeaude  Chariemagne  ä  Aix-la-Chapelle")  ohne  weiteres 
les  caveaux  mit  la  cave  und  Aachen  mit  Frankfurt  verwechselt! 

Werfen  wir  noch  einen  kurzen  Blick  auf  den  dritten  und 
letzten  Abschnitt  des  Buches!  Er  ist  noch  misslungener  in  der  An- 
lage als  die  vorhergelienden.  Der  Verfasser  hat  nämlich  diese 
allerdings  lange  Periode  (1831 — 1870)  auf  nicht  weniger  als  199  Seiten 
und  zugleich  so  unselbständig,  so  wirr  und  abspringend  dargestellt, 
dass  die  Lgktüre  eine  wahre  Pein  für  den  Leser  ist.  Desto  bequemer 
freilich  hat  es  sich  der  Verfasser  gemacht.  Er  hat  nämlich  seinen 
Mitteilungen  ganz  einfach  die  auf  die  neuere  deutsche  Litteratur 
bezüglichen  Artikel  aus  der  Revue  des  Deux  Mondes  zu  Grunde 
gelegt  und  er  teilt  deren  Inhalt  mehr  oder  minder  ausführlich,  dann 
und  wann  einige  Bemerkungen  einstreuend,  ohne  alle  chronologische 
Reihenfolge  mit.  Wir  geraten  hier  in  ein  wahres  Chaos.  So  wird 
S.  49  von  Spindler,  S.  50  einiges  von  deutscher  Philosophie  ge- 
sprochen, S.  52  von  der  Edda,  S.  53  von  Chamisso,  S.  54 — 57  über 
Goethe,  S.  57—58  über  Börne,  Jean  Paul  und  E.  F.  L.  Robert, 
S.  59  wieder  über  deutsche  Philosophie,  S.  61  über  die  Nibelungen, 
S.  62  über  Heine,  S.  80  über  Luther!  Dazwischen  hinein  und  zwar 
an  den  verschiedensten  Stellen  wird  über  Klopstock,  Lessing,  Wie- 
land, Herder,  Schiller,  Tieck,  Tromlitz,  F.  Reuter,  Uhland,  Zedlitz 
bunt  durcheinander  geredet.  Erst  von  S.  159  an  ist  die  Darstellung 
im  Anschluss  an  die  Artikel  von  Saint-Rene  Taillandier  etwas 
weniger  ungeordnet,  aber  ebenso  ermüdend. 

Bezeichnend  für  die  Meinung,  welche  der  Verfasser  von  seinem 
frostigen  und  ganz  mangelhaften  Buche  hat,  ist  der  auf  S.  4  naiv 
ausgesprochene  Wunsch,  dass  es  die  Wiederannäherung  Deutschlands 
und  Frankreichs  befördern  helfen  möge! 

Th.  Süpfle. 


Goethe,  le  Faust.  Traduit  en  franyais  dans  le  metre  de  1" original 
et  suivant  les  regles  de  la  versiiication  allemande  par 
Fran^ois  Sabatier,  Paris,  Vh.  Delagrave,  1893  (186  Doppel- 
seiten, Gr.  8),  M.  3,50. 

Wenn  diese  neue,  mit  grosser  Begeisterung  für  das  grösste 
Werk  unseres  grössten  Dichters  unternommene  und  mit  ebensoviel 
Verständnis  als  Gewissenhaftigkeit  durchgeführte  poetische  Über- 
tragung des  Faust  bei  den  Franzosen  nicht  so  lebhafte  Aufnahme 
linden  sollte,  als  man  es  ihr  wünschen  möchte,  so  trägt  ohne  Zweifel 
das  verspätete  Erscheinen  die  Hauptschuld  daran.  Während  nämlich 
der  Verfasser  seinem  hohen  Ziele,   das  Goethe'sche   Original   nicht 


Frangois  Sabotier.     Goethe,  Je  Fatist.  235 

bloss  nach  der  Tiefe  des  Gedankens  und  Grefühles,  sondern  auch 
hinsichtlich  der  ganzen  äusseren  Form  so  vollständig  als  möglich  in 
französischer  Sprache  wiederzuspiegeln,  fast  die  Zeit  eines  ganzen 
Lebens  widmete,  so  war  ihm  in  der  Ausführung  seines  Ideals  ein 
anderer  Bearbeiter  vor  ungefähr  15  Jahren  mit  glänzendem  Erfolge 
zuvor  gekommen.  Wir  meinen  die  im  Grossen  und  Ganzen  vor- 
treffliche metrische  Übersetzung  des  Faust  durch  Marc-Monnier, 
welche  1879  erschien  und  schon  4  Jalire  darauf  zu  einer  zweiten 
Auflage  gelaugte.  Gegen  diese,  ebensowohl  in  Kraft  als  in  Zartheit 
des  Empfindens  dem  Original  nicht  selten  ganz  nahe  kommende 
Übertragung  hat  die  neue  von  Sabatier  den  Wettkampf  aufzunehmen. 
Ihr  eigentümlich  ist  zunächst  die  absolute  Vollständigkeit  der 
Übersetzung  in  diesem  ersten  Teile  des  Faust.  Der  Verfasser  hat 
von  Anfang,  von  der  Zueignung,  an  bis  zu  Ende  alles  übersetzt, 
nichts  in  einen  Anhang  verwiesen  und  sich  nicht  ängstlich  darum 
gekümmert,  ob  dies  oder  jenes  dem  französischen  Publikum  vielleicht 
weniger  zusage.  Ein  zweiter  Vorzug  ist  die  Treue  der  Über- 
tragung, welche  nicht  bloss  hinsichtlich  des  Sinnes,  sondern  auch, 
wenn  irgend  möglich,  im  Ausdrucke  selbst  erreicht  ist. 

Hierzu  befähigte  den  Verfasser  eine  hervorragende  Vertraut- 
heit mit  unserer  Sprache,  deren  tieferes  Verständnis  ihm  nicht  nur 
durch  eifriges  Studium,  sondern  auch  durch  seine  Verheiratung  mit 
einer  geborenen  Deutschen  und  durch  den  Verkehr  mit  hervorragenden 
Schriftstellern  unseres  Volkes,  namentlich  in  dem  Hause  von  Tieck 
in  Dresden,  von  dem  er  in  einer  deutsch  geschriebenen  Stelle  seines 
Tagebuches  bewundernd  erzählte,  immer  mehr  offenbart  wurde. 
Sein  Ringen  nach  dem  zutreffendsten  Ausdrucke  bei  seiner  Faust- 
Übersetzung,  welche  die  Hauptbeschäftigung  seines  reiferen  Alters 
war  und  nur  durch  eigene  dichterische  Versuche,  durch  Pflege  der 
Malerei  und  durch  Reisen  besonders  nach  Italien,  zeitweise  unter- 
brochen wurde,  war  so  gross,  dass  er  bisweilen  ganze  Wochen 
darüber  nachsann,  um  das  dem  deutschen  Original  entsprechendste 
Wort  aufzufinden.  Das  Streben  nach  möglichster  Vollkommenheit 
seines  Werkes  war  so  lebhaft,  dass  er  trotz  des  Drängens  seiner 
Freunde  inmier  zögerte,  seine  Übertragung  drucken  zu  lassen.  Der 
Tod  überraschte  den  unermüdlichen  Dollmetscher  der  gewaltigen 
deutschen  Dichtung,  bevor  er  sich  entschlossen  hatte,  seine  Übei- 
setzung  zu  veröffentlichen,  obgleich  er  seit  1881  die  letzte  Hand  an 
dieselbe  gelegt  hatte.  Aber  in  seinem  Testamente  hatte  er  die 
Herausgabe  seines  Werkes  angeordnet,  und  so  erschien  es  denn  auch 
kürzlich  mit  einem  oifenbar  von  einem  Freunde  des  Verstorbenen 
herrührenden  Vorworte,  welches  über  die  dichterischen,  künstlerischen 
und  politischen  Bestrebungen  des  begabten  Verfassers  nähere  Mit- 
teilungen giebt. 


236  Referate  und  Rezensionen.     P.  Voelkel, 

Wir  fügen  zu  der  Charakterisieruug  der  Übersetzung  von 
Sabatier  noch  folgendes  in  aller  Kürze  hinzu.  Bei  seinem  an  und 
für  sich  lobenswerten  Bestreben,  auch  in  formeller  Hinsicht  dem 
deutschen  Urtexte  so  nahe  als  möglich  zu  kommen,  ist  er  offenbar 
zu  weit  gegangen.  Um  nämlich  zur  anschaulichen  Wiedergabe  der 
in  der  deutschen  Dichtung  oft  plötzlich  wechselnden  Stimmungen 
sicherer  gelangen  zu  können,  hat  er  sich  die  grosse  und  undankbare 
Mühe  gegeben,  das  Metrum  des  Urtextes  im  Französischen  vollständig 
nachzubilden.  Dadurch  aber  wurde  er  häutig  bald  zu  Kürzungen 
bald  zu  Erweiterungen  des  Inhaltes  der  einzelnen  Verse  gezwungen, 
ohne  jedoch  den  Vorteil  erlangen  zu  können,  die  malerischen 
Hebungen  und  Senkungen  des  Originals  wiederzugeben.  Zugleich 
hat  er  sich,  obgleich  er  darauf  gefasst  war,  der  Gefahr  strengster 
Rüge  seitens  seiner  Landsleute  ausgesetzt,  indem  er  das  Verbot  des 
Hiatus  und  der  Elisionen  in  seineu  bisweilen  bis  zu  fünfzehn  Sylben 
anschwellenden  französischen  Versen  ohne  das  mindeste  Bedenken 
übertrat.  Sabatier  scheint  geglaubt  zu  haben  —  darauf  weist 
jedenfalls  der  Titel  seines  Werkes  hin  —  dass  die  Freiheiten  der 
oft  wenig  regelmässigen  Groethe'schen  Verse  geradezu  Gesetze  der 
deutschen  Verskunst  seien. 

Die  Übersetzung,  welcher  der  meist  korrekt  gedruckte  deutsche 
Text  gegenüber  steht,  ist,  wenn  väv  die  Übertragung  von  „Burgen" 
mit  „bourgs"  ausnehmen,  im  Grossen  und  Ganzen  von  Irrtümern 
ganz  frei.  In  der  Wiedergabe  der  ruhiger  gehalteneu  wie  auch  der 
scherzhaften  und  ii'onischen  Stellen  hat  Sabatier  Vortreffliches  ge- 
leistet. Wo  freilich  die  deutsche  Dichtung  an  die  tiefsten  Probleme 
des  Lebens  streitt  und  in  zartestem  Dufte,  wie  namentlich  in  den 
Monologen  und  den  Liedern,  webt  und  schwebt,  da  hätten  wii' 
seiner  Nachbildung  mehr  Schwung  und  Frische  gewünscht. 

Heidelberg.  Theodor  Süpfle. 


Lettres  ä   Lamartine.     (1818 — 1865)   publiees  par  Miue  Valentine 
de   Lamartine.     Paris ,    Calmanu    Levy ,    editeur ,    1893, 
1  vol.  in.  12. 
Über  einen  Zeitraum  von  fast  50  Jahren  sich  erstreckend  und 
bis  nahe  an  den  Tod  Lamartines  reichend  berühren  diese  Briefe  die 
mannigfachsten  Beziehungen   zu   berühmten  und   unberühmten  Zeit- 
genossen   und   rufen    tausend  Erinnerungen   an   Ereignisse   aus   des 
Dichters  vielbewegtem  Leben,  sowie  an  wichtige  Begebenheiten  der 
Geschichte  seines  Landes  und  Europas  wach.     Einhundertunddreissig 
Briefe  von   einigen  sechzig  Verfassern,    anhebend  mit   der  Wieder- 
herstellung der  Königsherrschaft,  fortlaufend  durcli  das  Julikönigtum, 
die  Revolution,  bis  gegen  das  Ende  des  zweiten  Kaiserreichs,   teils 


jffwe.  Valentine  de  Lamartine.     Lettres  ä  Lamartine.         237 

politischen,  teils  rein  persönlichen,  teils  litterarischen  Inhalts,  ge- 
schrieben von  Dichtern,  Denkern,  Künstlern,  Staatsmännern,  Fürsten 
und  Fürstinnen,  das  ist  die  bunte  Vereinigung,  die  uns  in  diesem 
Bändchen  von  300  kleinen  Seiten  geboten  wird,  fast  zu  Vielerlei, 
um  einheitlich  zu  wirken,  um  so  mehr  als  der  Schlüssel  oft  mühsam 
aus  Lamartines  weitschichtigen  oder  verzettelten  eigenen  Nachrichten 
über  sein  Leben  hervorgesucht  werden  muss  und  bisweilen  auch  in 
seinen  Werken  trotz  aller  Mühe  nicht  zu  linden  ist. 

Von  vierzig  Verfassern  enthält  die  Sammlung  nur  je  einen 
Brief,  was  man  bei  Vielen  nicht  umhin  kann  zu  bedauern,  wenn 
schon  dadurch  der  Anteil  der  übrigen  sechsundzwanzig  desto  stärker 
ausfällt.  Es  steht  nur  zu  hoffen,  dass  die  ausgeschiedenen  Briefe 
nicht  vernichtet  sind,  weil  keine  bessere  Ergänzung  zu  Lamartines 
eigenen  Briefen  gedacht  werden  könnte.  Und  wie  oft  möchte  man 
die  Antworten  wissen,  wenn  man,  mit  Macht  hingezogen,  einen  nach 
dem  andern  die  in  den  vier  Bänden  der  letzten  Ausgabe  enthaltenen 
Briefe  Lamartines  verschlingt!  Denn  mag  man  ihn  als  Dichter, 
Eedner  oder  Staatsmann  noch  so  sehr  bemängeln  und  verurteilen, 
seine  nicht  geringe  Bedeutung  in  der  Entwickelungsgeschichte  der 
Litteratur  des  XIX.  Jahrhunderts  und  zum  Teil  in  der  Geschichte 
behält  er  doch,  und  Nichts  ist  so  geeignet,  Licht  auf  Handlungen 
und  Schriften  zu  werfen  als  gerade  vertrauliche  Briefe.  Dazu 
würde  aber  gehören,  dass  sie  möglichst  vollständig  und  mit  den 
Er\\iederungen  vorlägen,  und  leider  vermissen  wir  das  für  Lamartine 
noch  zu  sehr ,  so  viel  auch  in  jeder  Beziehung  daraus  zu  ge- 
winnen wäre. 

Unter  den  Verfassern,  welche  in  vorliegender  Sammlung  durch 
nur  einen  Brief  vertreten  sind,  befinden  sich  Eoyer-Collard,  Edgar 
Quinet,  Jules  Janin,  Blanqui  der  Ältere,  Montalembert,  der  Marquis 
Gino  Capponi,  Genoude,  von  welchen  letzteren  beiden  Lamartine 
eine  grosse  Anzahl  zum  Teil  sehr  wichtige  Briefe  empfangen  hat; 
Auguste  Barbier,  der  Dichter  der  Jamben;  Joseph  de  Maistre, 
Manzoni,  Alphonse  Karr,  Ernest  Havet,  Victor  de  Laprade,  Ponsard, 
die  Malibran,  M°»e  Tastu,  Louis -Napoleon  Bonaparte  (vom  2.  Fe- 
bruar 1846). 

Durch  zwei  Briefe  sind  unter  Andern  vertreten  die  Königin 
Sophie  von  Holland,  Leopold  11  von  Toscana;  der  spätere  Erzbischof 
und  Cardinal  Herzog  August  von  Rohan,  der  damals  gerade  in  den 
geistlichen  Stand  trat;  Lamennais,  Chateaubriand;  der  zeitungs- 
mächtige Emile  de  Girardin,  der  Graf  Mole;  der  Graf  Marcellus, 
der  Entdecker  der  Venus  von  Milo;  Beranger,  Mistral,  Alfred 
de  Vigny,  Michelet;  Eugene  Sue,  der  den  Dichter  nach  dem  Morgen- 
lande begleiten  sollte;  George  Sand. 

Drei  Briefe  finden  wir  von  Cuvier,  der  Lamartine  bei  seiner 


238  Referate  und  Rezensionen.     P.  Voelkel, 

Aufnahme  in  die  Academie  im  Namen  der  erlauchten  Körperschaft 
zu  begrüssen  und  beglückwünschen  hatte,  und  sich  deshalb  vorher 
mit  der  Bitte  an  ihn  wendet,  ihm  den  Gedankengang  seiner  Auf- 
nahmerede mitzuteilen ;  von  Aime  Martin ,  einem  alten  Freunde 
Lamartines  und  Lehrer  der  französischen  Litteratur  an  der  Ecole 
polytechnique;  von  Sainte-Beuve,  und  zwar  zwei  an  Lamartine  selbst 
gerichtete  nebst  einem  sehr  anziehenden  vom  24.  Oktober  1856  an 
Jules  Saint- Amour  über  den  Dichter,  den  er  eine  der  Leidenschaften 
seiner  Jugend  nennt  unter  Anführung  des  reizenden  Ausspruchs 
V.  Hugos:  „Sie  ziehen  mir  Lamartine  vor;  das  kann  ich  Ihnen  nicht 
verargen:  ich  bin  Ihrer  Meinung;"  sowie  endlich  von  Tliiers,  von 
dem  Lamartine  in  seinen  politischen  Denkwürdigkeiten  trotz  ihrer 
weit  aus  einander  gehenden  Meinungen  mit  so  viel  Wärme  und 
Anerkennung  spricht,  und  dessen  drei  Briefe  zu  den  interessantesten 
gehören. 

Melu-  als  drei  Briefe  liaben  beigesteuert:  die  Herzogin 
von  Broglie  (4);  Charles  Nodier  und  Villemain  je  fünf;  sodann  die 
Marquise  von  Montcalm,  Schwester  des  Herzogs  von  Richelieu,  jene 
mütterliche  Freundin  des  jugendlichen,  unbekannten  Dichters,  und 
V.  Hugo  je  sechs.  Von  des  Letztern  Briefen  ist  zu  bemerken,  dass 
sie  sich  auf  die  Jahre  1829  bis  1856  erstrecken,  während  die  der 
Frau  von  Montcalm  in  die  Jalu-e  1818  bis  1832  fallen. 

Weitaus  die  meisten  Briefe,  nämlich  fünfzehn,  rühren  von 
M"^^  de  Girardin  her.  Drei  davon  sind  noch  Delphine  Gaj^  unter- 
zeichnet. Atmen  die  Briefe  des  hochbegabten  jungen  Mädchens 
Bewunderung  und  Begeisterung  für  den  an  Frankreichs  Dichter- 
himmel aufgegangenen  hellen  neuen  Stern,  so  wird  bei  der  Frau  im 
Laufe  der  Jahre  die  von  Lamartine  nicht  unerwiedert  bleibende 
Verehrung  immer  tiefer,  die  Beziehungen  immer  inniger  und  enger, 
und  es  bilden  diese  fünfzehn  Briefe  eine  willkommene  Ergänzung 
der  an  die  geistreiche  Frau  gerichteten  Briefe  Lamartines,  wie 
auch  des  Bildes,  das  er  von  ihr  in  seinen  Entretiens  faniiliers  ent- 
worfen hat. 

Wir  müssen  es  uns  liier  versagen,  jede  selbst  der  Haupt- 
gruppen gebührend  zu  würdigen:  lohnend  und  fesselnd  wäre  die 
Aufgabe.  Aber  auch  nur  zu  wählen  ist  bei  dem  Reize  jedes 
einzelnen  sehr  schwer.  Lässt  man  sich  von  dem  übersprudelnden, 
ungebundenen  Geplauder  der  Malibran,  der  zweiundzwanzigjährigen, 
die  Sprache  nicht  vollkommen  bewältigenden  Ausländerin ,  die  aus 
dem  ihr  nicht  behagenden  England  schreibt,  lächelnd  belustigen,  so 
findet  man  einen  Genuss  grundverscliiedener  Art  in  den  vornehm 
zartfühlenden,  innigst  teilnehmenden  Briefen  der  Marquise  von  Mont- 
calm, oder  denen  Montmorencys.  Der  von  Lamartine  in  seinen 
Denkwürdigkeiten    geschilderte   bieder    gerade    Sinn    der   Herzogin 


Jf»"«-  Valentine  de  LamaHine.     Lettres  ä  Lamarime.         239 

von  Broglie ,  der  Tochter  der  Frau  von  Stael ,  tritt  uns  auch  in 
iliren  vier  Briefen  voll  und  ganz  entgegen.  V.  Hugo  fällt  durch 
seine  derbe  Art  auf.  Ch.  Nodier  ist  genau  der  gemütlich  eigentüm- 
liche Anhänger  des  Alten,  den  wir  aus  seinen  Werken,  aus  den 
Schilderungen  Dumas'  und  Daudets  kennen.  Ausser  der  Malibran 
und  Manzoni  sind  die  Italiener  noch  durch  Capponi  in  einem  inter- 
essanten Briefe  vertreten. 

Wie  jeder  Verfasser  seine  ausgesprochene  Art  hat  und  dadurch 
wesentlich  zur  Mannigfaltigkeit  beiträgt,  so  wird  diese  andrerseits 
herbeigeführt  durch  die  unglaubliche  Yerschiedenartigkeit  der  be- 
handelten Gegenstände.  Der  junge  Rohan  hat  der  Welt  entsagt, 
hat  aber  des  Dichters  Grösse  geahnt,  vorherverkündigt,  und  ihn  in 
sein  Herz  geschlossen;  ihm  nun  teilt  er  seine  Empfindungen  bei 
dem  Eintrit  in  das  Priesterseminar  mit.  —  Der  Vicomte  Matthieu 
de  Montmorency  schilt  ihn  liebevoll  in  einem  Briefe  vom  März  1819, 
dass  er,  auf  dem  Punkte  abzureisen,  sich  nicht  blicken  lässt,  und 
fragt  an,  wo  ihn  der  gräfliche  Wagen  abholen  darf  zu  einem  Mittag, 
wo  man  ihn  mit  einflussreichen  Persönlichkeiten  in  Berührung  bringen 
will.  —  Der  berühmte  Petersburger  Einsiedler,  Joseph  de  Maistre, 
dessen  einer  Neffe  eine  Schwester  Lamartines  heiratete,  begleitet 
die  Zusendung  seines  Pape  mit  einem  sehr  launigen  Briefe  und 
mehreren  eigenhändigen  Widmungen,  die  einzukleben  und  zu  ver- 
teilen sind,  insbesondere  ein  Exemplar  an  Lamennais.  —  Die  Herzogin 
von  Broglie  spricht  von  der  grossartigen  Wirkung  der  Meditations 
und  freut  sich,  dass  der  Dichter  durch  seine  diplomatische  Anstellung 
in  Neapel  den  überschwänglichen  Lobeserhebungen  der  seichten,  im 
Grunde  verständnislosen  Gesellschaft  der  Weltstadt  entrückt  ist.  — 
Villemain  tröstet  Lamartine,  dass  ihm  die  Academie  den  unbedeuten- 
den Moralisten  Droz  vorgezogen.  —  Weiter  bittet  ihn  dann  der 
Präsident  de  Pansey,  in  seinem  Chant  du  Saere  vier  Verse  zu 
streichen,  über  welche  die  Familie  d'Orleans  ausser  sich  ist.  ■ —  In 
einem  reizenden  kleinen  Briefchen  dankt  der  Grossherzog  von  Tos- 
cana  in  seinem  und  seiner  Frau  Namen  für  Verse  zum  Namenstage 
ihres  Kindes  und  bittet  über  seine  Bibliothek  im  Palazzo  Pitti  zu 
verfügen,  jene  Räume,  von  denen  Lamartine  in  dankbarer  Erinnerung 
an  die  hohen  Gönner  mit  Rührung  in  seinen  politischen  Denkwürdig- 
keiten spricht.  —  Ein  unvollendet  gebliebener  Brief  des  bald  darauf 
verstorbenen  Ersten  Ministers,  Herzogs  von  Montmorency,  bezieht 
sich  auf  Lamartines  Duell  mit  dem  Oberst  Pepe.  —  Ein  Bild  voller 
Leben  bietet  ein  Brief  aus  Rom  von  der  Schriftstellerin  Frau  Sophie 
Gay,  der  Mutter  der  nachmaligen  Frau  von  Girardin.  Der  Dichter, 
der  in  Florenz  den  Besuch  der  durchreisenden  Damen  verfehlt  hatte, 
war  ihnen  nachgeeilt  und  hatte  sie  an  den  Wasserfällen  von  Terni 
eefunden.     Als  sie  sich   darauf  in  Rom   aufhielten,   schrieb   er   der 


240  Referaie  und  Rezensionen.    K.  Armbruster, 

Mutter  und  legte  den  Anfang  der  Elegie  Perte  de  VAnio  ein.  Die 
Damen  waren  gerade  mit  dem  Herzoge  de  la  Rochefoucauld  beim 
Herzog  von  Laval  zu  Tische,  als  dieser  ihnen  den  Brief  aushändigte 
jedoch  nur  unter  der  Bedingung,  dass,  falls  er  Verse  enthielte,  diese 
der  Tischgesellschaft  nicht  vorenthalten  würden.  Kaum  war  das 
Sigel  erbrochen,  so  rief  auch  schon  Frl.  Delphine:  Verse,  Verse! 
und  eilte  mit  dem  ungestüm  erhaschten  Briefe  in  eine  Fenster- 
vertiefung, um  ihn  mit  den  Augen  zu  verschlingen.  Aber  nur  un- 
willkürliche Ausrufe  der  Bewunderung,  wie:  entzückend,  göttlich! 
drangen  statt  der  versprochenen  Wiedergabe  der  Verse  zu  den  Ohren 
der  aufs  Höchste  gespannten  vornehmen  Tischgenossen.  Endlich  las 
das  schöne  junge  Mädchen  laut,  wenngleich  mit  betender  Stimme, 
und  mit  tiefer,  alle  Hörer  unwiderstehlich  ergreifender  Bewegung 
die  nur  eben  erst  von  dem  Dichter  hingeworfenen  Verse.  ...  — 
Dasselbe  noch  ungedruckte  Gedicht  las  dann  in  der  Sorbonne 
Villemain,  damals  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes.  —  Einen  ähnlichen 
Erfolg  schildert  ein  Brief  Aime  Martins.  Letzterer  hatte  seinen 
Schülern  den  Rossignol,  den  Matin  und  die  Novissima  verba  vor- 
gelesen und  die  jungen  Mathematiker  der  Ecole  pulyteclinique  zu 
einem  ebenso  unbeschreiblichen  wie  in  jenen  Bäumen  unbekannten 
Jubel  der  Begeisterung  hingerissen.  —  Den  Hannonies  hatten  auch 
Thiers  und  Sainte-Beuve  ihre  Bewunderung  gezollt  (Brief  Cazales), 
Ersterer  allerdings  nicht  ohne  den  Dichter  an  die  Notwendigkeit  des 
Feilens  und  der  vertiefenden  Arbeit  zu  gemahnen.  Cazales  für  sein 
Teil  stimmt  diesem  Rate  bei  und  fragt  Lamartine  freimütig,  ob  er 
sein  Leben  lang  dilettante  bleiben  wolle,  statt  als  wahrer  Dichter 
nach  der  höchsten  Vollendung  zu  ringen. 

Doch  wir  brechen  ab  und  erwähnen  nicht  die  \delen  mehr  oder 
minder  wichtigen  Briefe,  die  Lamartines  Thätigkeit  in  der  Kammer, 
seine  Reden  und  seine  Aufsätze  politischen  Inhalts  betreffen.  Es 
wäre  unmöglich,  hier  alles  Bemerkenswerte,  Bedeutende,  Schöne  her- 
vorzuheben oder  auch  nur  zu  streifen,  was  auch  diese  Briefe  in  so 
reichem  Masse  bieten.  So  verschieden  übrigens  die  Stücke  der  vor- 
liegenden Sammlung  nach  den  Gegenständen  oder,  je  nach  der 
Eigenart  der  Verfasser,  in  ihrem  Tone  sein  mögen,  sie  stimmen  so 
zu  sagen  alle  in  der  Wärme  und  Innigkeit  überein,  mit  der  sie 
geschrieben  sind,  und  haben  alle,  wenn  auch  mit  Unterschieden, 
den  Reiz  der  Form  für  sich;  nicht  einen  dieser  Briefe  möchte  man 
missen.    Ln  Gegenteil!    Und  dies  führt  uns  zu  einer  Schlussbemerkung. 

Können  nämlich  die  Briefe  dieser  Sammlung  für  den  Freund 
des  Dichters  nicht  die  unmittelbare  Bedeutung  von  ihm  selbst  her- 
nihrender  Briefe  haben,  so  bieten  dennoch  auch  sie  ihm  unendlich 
viele  Einzelheiten,  die  sich  dem  bereits  gewonnenen  Bilde  seines 
Wesens   und   seiner  Art   ergänzend   und   belebend   einfügen.     Weit 


Paul  Jörss,  Üb.  d.  Genuswechsel  latein.  Maskul.  u.  Femin.  241 

aber  geht  ihr  Interesse  darüber  hinaus  durch  die  Fülle  dessen,  was 
sie  für  jeden  bringen,  der  gern  das  Leben  eines  Landes  und  Volkes 
belauscht,  wie  es  sich  namentlich  auch  in  Briefen  kund  thun  kann. 
Die  ungemein  ausgedehnten  Beziehungen  Lamartines  verleihen  in 
dieser  Hinsicht  der  Sammlung  einen  besondern  Wert,  und  die  ausser- 
ordentliche Mannigfaltigkeit  entschädigt  durch  den  Reichtum  der 
wechselnden  Einzelheiten  in  hohem  Masse  für  das  Bedauern,  von 
dieser  oder  jener  Hauptperson  nicht  reichlichere  Beiträge  zu  tinden. 
Freilich  sind  wichtige  Freunde  und  Freundinnen  Lamartines  unzu- 
reichend oder  gar  nicht  vertreten,  über  deren  Abwesenheit  Nichts 
von  dem  Gebotenen  völlig  zu  trösten  vermag,  insofern  sie  zu  La- 
martine in  dem  allerinnigsten  Verhältniss  standen,  in  sein  Leben 
entscheidend  eingegriffen,  auf  seine  Richtung  bestimmend  gewirkt 
haben.  Wir  nennen  den  Jugendgenossen  und  treuen  Freund  La- 
martines, den  Grafen  de  Virieu;  verdanken  wir  doch  den  an  ihn 
gerichteten  zahllosen  Briefen  des  Dichters  den  reichsten  Aufschluss 
über  dessen  Entwickelungsgang.  Von  Genoude  werden  auch  noch 
mehr  Briefe  erhalten  und  sicher  der  Mitteilung  wert  sein. 

Wir  schliesseu  mit  dem  Wunsche,  dass  uns  die  Verleger  bald 
mit  einer  neuen  und  umfangreicheren  Auswahl  aus  den  vorhandenen 
an  Lamartine  gerichteten  Briefen  erfreuen  möchten. 

Paul  Voelkel. 


Jörss,  Paul,  Üher  den  Genuswechsel  lateinischer  Maskulina  und  Feminina 
im  Framösischen.  Wissenschaftliche  Beilage  zum  Jahresbericht 
über  das  Gymnasium  zu  Eatzeburg  Ostern  1892.  Leipzig,  1892. 
Gustav  Fock.     32  S.  gr.  8°.     Preis  1,20. 

Jörss'  Thema  hat  zwar  schon  öfters  eine  Behandlung  erfahren, 
doch  lassen  sich  ihm,  scheint  es,  immer  wieder  neue  Gesichtspunkte  ab- 
gewinnen, zumteil  da  der  Fälle  des  Genuswechsels  ausserordentlich  viele 
sind,  die  alle  erschöpfend  zu  bebandeln  eine  langwierige  Arbeit  in  An- 
spruch nimmt.  Die  vorliegende  Arbeit  bringt  freilich  kaum  neue  Gesichts- 
punkte bei.  Der  Vorwurf  kann  dem  Verfasser  nicht  erspart  bleiben  — 
und  daraus  erklärt  sich  der  Mangel  an  neuen  Gesichtspunkten  haupt- 
sächlich —  dass  er  die  Litteratur  über  den  Gegenstand  zu  wenig  zurate 
gezogen  hat.  Hätte  er  z.  B.  meine  Dissertation:  Geschlechtsivandel  im 
Französischen,  Maskulinum  und  Femininum,  Karlsruhe,  Maisch  und 
Vogel  1888,  Wilhelm  Meyers  Kritik  über  dieselbe  im  Litteraturblatt  Mai 
1889  Sp.  380  ff.  und  die  ausführliche  Besprechung  von  Behrens  in  dieser 
Zeitschrift,  Jahrgang  1889,  Heft  VI,  S.  155  ft".  gekannt,  so  wäre  ihm  das 
mühsame  Zusammensuchen  von  vollständigem  Material  erspart  geblieben. 
Es  hätte  nur  einer  Darstellung  der  Fälle  bedurft,  wo  seine  Ansicht  über 
Erklärung  eines  Genuswandels  von  der  meinigen  abwich.  Auch  hätten 
einige  offenbare  Fehler  vermieden  werden  können. 

Die  Arbeit  zerfällt   in  zwei  Hauptabschnitte,   von  denen  der   erste 
die   lat.    Maskulina,    der   zweite   die   Feminina,    den    Deklinationsklassen 
nach  geordnet,  bespricht.    Dieser  Einteilungsgrundsatz  ist  nicht  empfehlens- 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV^.  l(j 


242  Referate  und  Rezensionen.    K.  Armbruster, 

wert,  da  die  lat.  Deklinationsklassen  sich  auf  so  wenig  Typen  im  Afr. 
reduziert  haben,  dass  die  französische  Gestaltung  eines  Hauptworts  nicht 
mit  Sicherheit  auf  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten  lat.  Deklinations- 
klasse schliessen  lässt.  Das  Prinzip,  einen  etwa  eingetretenen  Genus- 
wandel ohne  weiteres  durch  Übertritt  des  Substantivs  in  eine  andere 
Deklinatidusklasse  zu  erklären,  von  dem  Jörss  manchmal  Gebrauch  macht, 
darf  man  somit  nur  mit  Vorsicht  anwenden.  Ausserdem  wird  Verwandtes 
räumlich  auseinandergerissen.  Diesen  Mangel  scheint  der  Verfasser  selbst 
empfunden  zu  haben.  Er  ordnet  daher  in  einem  Rückblick  (S.  30)  die 
172  behandelten  Fälle  von  Genuswechsel  nach  den  Ursachen  des  Wechsels, 
wobei  er  die  Fälle  in  10  Gruppen  unterbringt.  ,,Das  vom  klassischen 
Latein  abweichende  französische  Genus."  sagt  er,  ..ist  veranlasst  worden: 
1.  Durch  die  Analogie  der  romanisierten  "Wortformen,  insbesondere 
der  Endungen,  in  37  Fällen."  (Vergl.  Armbruster:  Geschlechts watulel 
S.  9—62).  Mit  Unrecht  sind  unter  diesen  Absatz  gestellt:  gorge,  los, 
oignon.  Gorge  kommt  von  einem  Typ  gurga,  der  sich  bei  den  Agrimens. 
findet,  vergl.  Diez,  gorgo.  Es  hat  sich  also  nicht  nach  forge,  orge  (Jörss 
S.  12)  gerichtet.  Losm..  kommt  vermuthlich  nicht  von  laudes,  sondern 
aus  prov.  lau  -\-  Nominativ  -s,  welches  Verl)alsubstantiv  von  laudo 
wäre  (Geschlechtswandel  126).  Wie  das  männl.  Verbalsubstantiv  merci 
die  Bedeutung  ,,Dank''  hat,  während  merci  fem.  von  mercedem  ,, Gnade" 
heisst,  so  heisst  prov.  lau,  frz.  lo  -\-  s  „ich  lobe",  „ich  stimme  zu"; 
mais  se  je  ai  le  los  (approbation)  de  nies  conseilleors  (Chans,  des  Saisnes 
XXVII.  Littre).  Die  übrigen  Bedeutungen  „Preis.  Ehre'  etc.  leiten  sich 
ohne  Schwierigkeit  hieraus  ab.  Es  wäre  doch  auftällig,  dass  weder  prov. 
lau,  noch  frz.  los  jemals  als  Fem.  vorkommt.  Damit  fällt  Jörss"  Ansicht, 
wonach  sich  los  nach  dos,  dos,  gros,  os  etc.  gerichtet  hätte,  dos  als 
Substantiv  scheint  ausserdem  jünger  als  los  zu  sein.  Zu  oignon  bemerkt 
der  Verf.  S.  26:  ,,Die  Einwirkung  des  Genus  anderer  Xamen  von  Garten- 
gewächsen auf  -an  (cresson,  esiragon,  houhlon,  marronj  ist  offenbar." 
Dabei  hat  er  vollständig  übersehen,  dass  schon  im  Lateinischen  unio  in 
der  Bedeutung  Perle,  Zwiebel  männlich  ist  (Geschlechtsw.  S.  133). 
Houblon  und  marron  zu  den  Gartengewächsen  zu  rechnen  scheint  ausser- 
dem nicht  verfechtbar.  Unrichtig  ist  ferner  (S.  12).  dass  j;aroi  sein  weibl. 
Geschlecht  in  der  afr.  Form  pareit  von  den  Femininen  auf  -atein 
fumüiteä  —-  humilitatem)  bezogen  habe.  Denn  die  Endung  eit  in  umiliteit 
findet  sich  nur  im  Dialekt.  Ausserdem  übersieht  Jörss.  dass  das  Wort 
im  Afr.  comm.  ist  (Masc.  Beispiele  s.  Geschlechtsw.  S.  89).  Auch  das  Prov. 
und  Altit.  weisen  comm.  auf,  das  Kat.  und  Span.  fem.  Die  Erklärung 
passt  demnach  für  die  andern  roman.  Spiachen  nicht.  Masc.  farm  ist 
nach  dem  ^'erf.  durch  Einwirkung  der  Endungen  -anum,  amen  zu  er- 
klären. Älerkwürdigerweise  fehlt  soif,  afr.  sei,  soi,  altprov.  set  m.  in  Jörss' 
Schrift  vollständig.  Die  Einwirkung  von  männl.  faim,  das  sich  nach 
2jain  erklären  mag,  auf  sei  (dial.  afr.  masc.  z.  B.  Band,  de  Conde  und 
Aiol)  erscheint  um  so  wahrscheinlicher,  als  diese  Erklärung  auch  für  das 
Prov.  genügen  würde,  falls  man  aus  dem  Vorkommen  von  neuprov.  fam 
als  comm.  (Behrens  Zeitschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Lit.  1889.  VI.  S.  164)  auf 
altfr.  comm.  schliessen  darf.  Auch  set  ist  neuprov.  comm.  (ibid.).  Art 
masc.  nach  den  Wörtern  mit  dem  Suffix  -art,  -ard  (S.  26)  ist  nicht 
genügend  erklärt,  weil  das  span.  Masc.  nicht  so  gedeutet  werden  kann. 
Zur  Erklärung  von  ombre  (afr.  männl.)  hätte  der  Einfluss  der  Endung  — bre 
Geschlecht siv.  S.  40)  genügt,  im  besonderen  mag  freilich  nombre  den 
Geschlechtswandel  unterstützt  haben.  Ein  weibl.  Beispiel  des  Wortes  findet 
sich  schon  im  lö.  Jahrh.  (Littre  Supplem.)  —  Autruche  entlelmt  nach 
Jörss  sein  fem.  Genus  Wörtern  mit  der  Endung  —uchc.     Angefülirt  hätte 


Paul  Jörss,   Üb.  d.  Genusweehsel  latein.  Maskul,  u.  Femin.  243 

werden  können,  dass  avis  struthio  afr.  regulär  ostruce  ergab  (Geschlecht?). 
Entweder  liegt  also  ^ni^wertauschung  — uce  zu  — uclie  vor,  vvodureh  sich 
der  Genuswandel  um  so  leichter  erklärte,  oder  das  Nfrz.  nahm  die  nor- 
mannisch-pikardische  Endungsgestaltung-  an.  3Ieiiuche,  das  Jörss  in  der 
Zusammenstellung  unter  sein  erstes  Erklärungsprinzip  setzt,  erklärt  er 
auf  Seite  8  aus  maris  Hucia,  setzt  also  eine  vlglt.  Nebenform  für  lucius 
an;  demnach  hätte  das  Wort  unter  des  Verfassers  viertes  Erklärungs- 
prinzip gehört  (vergl.  unten).  Das  Etymon  ist  insofern  nicht  vollständig 
aufgehellt  als  die  it.,  span.,  prov.  Form  mit  e  im  ersten  Bestandteil  nicht 
lautgesetzlich  aus  maris  lucius  oder  Hucia  entstanden  sein  kann.  Sollten 
diese  Sprachen  ihre  Bezeichnung  dem  Franz.  entlehnt  haben? 

Das  vom  klass.  Latein  abweichende  frz.  Genus  sei  veranlasst  worden 
2.  „durch  das  Streben  nach  äusserer  Unterscheidung  von  einzelnen 
homonymen  Wörtern  oder  von  begrifflich  getrennten  Wortgruppen  mit 
homonymen  Endungen,  in  37  Fällen."  Zu  diesen  37  Fällen  gehören  nach 
dem  Verf.  die  Substantiva  auf  -eur  (35)  und  die  zwei  Sonderfälle  ancre 
und  ;font.  Den  vielen  Erklärungsversuchen  der  Thatsache,  dass  die  Reflexe 
von  Wörtern  mit  der  lat.  Endung  -or,  -oris  in  den  meisten  rom.  Sprachen 
weiblich  geworden  sind,  fügt  Jörss  einen  neuen  hinzu  (S.  13):  „Wir  sind 
der  Ansicht,  dass  das  Galio-Eomanische,  ebenso  wie  das  Ehätische,  bei  der 
Übernahme  und  rmbildung  der  fraglichen  Wörter  (nämlich  der  Personalia 
auf  -or,  wie  creator,  und  der  Abstrakta,  wie  dolor)  den  begriftlichen  Unter- 
schied zwischen  beiden  Gruppen  sofort  herausfühlte  und  durch  geschlecht- 
liche Trennung  sinnfälliger  zu  gestalten  suchte.  Natürlich  konnten  nur 
die  abstrakten  Verbalsulistantiva  ihr  ursprüngliches  Genus  aufgeben.  Es 
entspricht  dieser  Vorgang,  wenn  anders  man  unsere  rein  psychologische 
Erklärung  desselben  gelten  lassen  will,  dem  Wesen  der  Kelto-Komanen 
ebenso  wie  dem  Geist  ihrer  Sprache.  Ein  ausgei)rägter  Sinn  für  logisch 
feine  Unterschiede  muss  den  romanisierten  Gallier  von  jeher  ausgezeichnet 
haben  etc."  Diese  Erklärung  setzt  voraus,  dass  der  Vorgang  nur  dem 
kelt.  Boden  eigen  sei.  Unberücksichtigt  bleibt,  dass  im  Rumän.,  Altspan., 
Port,  die  in  Frage  stehenden  Abstrakta  teilweise  cumm.  sind,  und  dass 
im  Altit.  fiore  als  Fem.  auftritt.  Einige  Ähnlichkeit  hat  des  Verf.  Deutung 
mit  Hornings  Erklärung  {Gräbers  Zeitschr.  VI.  443j,  der  ebenfalls  den 
Unterschied  zwischen  den  Nomina  actoris  und  den  Abstrakten  auf  or  zur 
Ei'klärung  beiziehen  will,  wenn  auch  nicht  auf  begrifflichem,  so  doch  for- 
mellem Gebiet.  Trotz  W.  Meyers  Einwänden  {Literaturbl.  1889  Sp.  381j, 
deren  Gewicht  ich  mir  nicht  verhehle,  bin  ich  von  der  Unlialtbarkeit  meiner 
Ansicht  (Geschlechtsivandel  (i9ff.)  nicht  ülierzeugt  worden.  Ich  halte  immer 
noch  *flöris,  flörem  für  den  Ausgangspunkt  der  Bewegung.  Wenn  W.  Meyer 
(1.  c.)  fiore  i.  trotz  Sauta fiore  als  Provenzalismus  bezeichnet,  so  bleibt  er 
eine  Erklärung  für  Santafiore  schuldig.  Wenn  es  ferner  heisst:  „Der 
Ausgang  vlglt.  -is  in  zweisilbigen  Wiirtern  war  so  gut  männlich  wie 
weiblich:  wurde  vom  ursprünglichen  Geschlecht  abgewichen,  wie  bei  mos 
und  flos ,  so  musste  irgend  ein  Grund  da  sein.  Diesen  Grund  finde  ich 
nur  in  den  Abstrakten  auf  -or'',  so  ist  dem  entgegenzuhalten,  dass  der 
vlglt.  Ausgang  -is  doch  vorwiegend  weiblich  war,  das  weibliche  Ge- 
schlecht also  leicht  sein  Übergewicht  geltend  machen  konnte.  Schwer- 
wiegender scheint  mir  der  Einwand,  dass  weibl.  mare  nicht  die  vielen  (?) 
andern  Substantiva  auf  -are  mit  sich  ziehe.  Auter  air.  habe  ich  ebenso 
wenig  wie  prov.  autar  als  Fem.  gefunden.  Zu  neutr.  autcl  fem.  vergl. 
Bec.  de  ling.  9,  166.  Dass  zu  dem  Genuswandel  noch  andere  Faktoren 
mitgewirkt  liaben  miigen.  will  ich  nicht  bestreiten.  —  Von  den  3ö  Vv'örtern 
auf  -eur  (gegen  47  bei  mir),  die  Jörss  anführt,  fehlen  aigreur ,  pudeur, 
torpeur  in  meinem  Verzeichnis.     Doch  giebt  Ji^rss    keine  Belege  zu   den 

16* 


244  Beferate  und  Bezensionen.     K.  Armbruster, 

dreien,  so  dass  nicht  ersichtlich  ist,  oh  aigreur  u.  piuleur  im  16.  .Tahrli., 
wie  andere  auf  -eur ,  als  Masc.  auftreten;  ich  kann  sie  nicht  als  Mascul. 
belegen.  Torpeur  registriert  erst  das  Akademiewörterhuch  von  1885. 
Warum  führt  Jörss  hei  frayeur,  labetir,  langueur,  moeurs  nur  Beispiele  an, 
hei  denen  das  Geschlecht  nicht  zu  ersehen.  Von  den  AVörtern,  welche  im 
1().  Jahrli.  männlich  gebraucht  wurden,  nennt  Jörss:  amour,  ardeur,  erreur, 
honneur,  laheur ,  moeurs.  Dazu  hätten  gefügt  werden  sollen:  /erveur, 
horreur,  humeur,  odeur,  rumeur,  sueur,  teneur.  Männliches  amour  findet 
sich  übrigens  schon  bei  Froissart,  moeurs  m.  hei  Thom.  le  mart.,  Froiss., 
Christ,  de  Pisan  etc.,  rumexir  m.  bei  Froiss.,  honneur  m.  bei  Froissart  und 
in  anglonorm.  Texten  aus  dem  14.  Jahrb.  Neuprov.  amour,  amou  vi. 
und  ounour  m.  möchte  ich  durcli  Einwirkung  des  N'frz.  erklären  (vergl. 
Behrens  Zeitschrift  1889.  VI.  S.  165.)  Unter  couleiir  vermisst  Behrens 
1.  c.  in  meiner  Arheit  eine  Erwähnung  der  neufrz.  Ausdrücke  le  couleur 
de  feu  etc.  Man  hat  in  le  coideur  de  rose,  le  couleur  d'cau,  le  couleur  de 
feu  (Moliere,  Impromptu  3:  Je  vous  trouve  les  levres  d'un  couleur  de  feu 
surprenant)  nicht  etwa  an  eine  Wiederherstellung  des  lat.  Genus  zu 
denken,  sondern  couleur  de  feu  ist  ein  neutraler  Ausdruck,  dem  der  neu- 
trale Artikel  le  vorgesetzt  wird  =  das  „Feuerrot."  Zwischen  masc.  laheur 
und  fem.  lahour  (afrz.)  hätte  Jörss  scheiden  sollen.  Ersteres  ist  höchst 
wahrscheinlich,  wie  das  it.  lavoro  Verbalsubstantiv  und  muss  als  Ableitung 
mit  starkem  Stamm  männlich  sein :  ähnlich  le  salut  zu  In  salut.  Der  Be- 
deutungsunterschied unterstützt  diese  Ansicht.  (Geschlechts iv.  S.  79,  SU, 
125).  —  Ausser  den  Wörtern  auf  -eur  stellt  Jörss  noch  unter  sein 
zweites  Erklärungsprinzip:  ancre  und  fönt.  Das  vorkommende  männl. 
ancre  hat  nach  dem  Verf.  „wohl  darin  seinen  Grund,  dass  man  in  über- 
triebener Sorgfalt  dies  Wort  von  seinem  ebenfalls  weihl.  Homonymon  encre, 
künstlich  trennen  zu  müssen  glaubte."  Da  afr.  eticre,  enque  meist  männ- 
lich ist,  worauf  auch  die  Etymologie  hinweist,  so  lässt  sich  Jörss  Er- 
klärung nicht  aufrecht  erhalten.  Freilich  bin  ich  auch  der  Ansicht,  dass 
beide  Wörter  auf  einander  eingewirkt  haben,  aber  nicht  abstossend.  son- 
dern anziehend  im  Geschlecht.  Das  männliche  Genus  im  Deutschen. 
Angels.  und  andern  germ.  Idiomen  steht  mit  dem  franz.  ]\Iask.  kaum  im 
Zusammenhang,  wie  man  vermuten  könnte.  Dass  der  Genuswechsel  von 
a)icre  das  16.  Jahrli.  nicht  überdaure,  ist  ein  Irrtum  bei  Jörss,  der  sich 
durch  die  JJeispiele  von  1685  aus  Littres  Suppl.  widerlegt  hätte.  Wie 
uvcre  m.,  so  erklärt  Jitrss  auch  afr.  foiit  fem.  aus  dem  Bedürfnis,  es  von 
dem  Homonymon  fond  =  fundus  zu  unterscheiden.  Diese  Erklärung  passt 
für  it.  fönte  comm.,  span.  fuente,  prov.  fon  fem.  nicht.  Das  frz.  Fem. 
hätte  im  Zusammenhang  mit  diesen  Formen  erklärt  werden  müssen.  Über 
den  Genusaustauscli  der  lat.  pons,  mons,  frons  {äis),frons  (tis),  fons  veröl. 
Gcschlcchtsio.  S.  54  ff.  u.  84. 

Das  vom  klassischen  Latein  abweichende  franz.  Genus  ist  ver- 
anlasst worden: 

;-5.  „durch  die  Geltung  der  Endungen  -us  und  -a  im  Vulgär- 
lateinischen, in  H.'i  Fällen."  In  diesem  Abschnitt  fasst  Jörss  alle  diejenigen 
lat.  Feminina  auf  -us  und  diejenigen  lat.  Maskulina  auf  -a  zusammen, 
welche  vlglt.  der  Form  wegen  Slask.  resj).  Feminina  geworden  sind.  Von 
den  Femininen  auf  -us  führt  er  die  Ptlanzennamen :  aune,  buis,  cedre, 
churme,  diene,  coudre,  cypres,  freue,  genievre,  myrte,  orme,  pin,  plane, 
plattine,  sapin  an.  Fau  (fagus),  peuple  (populus)  u.  a.  fehlen.  Dass  aune 
im  16.  Jahrh.  auch  weiblich  vorkommt,  z.  B.  bei  Ol.  de  Serres.  hätte  an- 
geführt werden  können,  ebenso  dass  coudre  im  Afr.  weibl.  ist  (wie 
neuprov.  cndra).  Wie  das  Wort  wahrscheinlich  zu  beurteilen,  s.  Geschlecht sio. 
S.  42.     Charme  als  Fem.  bei  Botrou.     Ausser  den  Baumnamen  werden  als 


Paul  Jörss,   Üb.  d.  Genuswechsel  latein.  Maskul.  u.  Femin.  245 

Reflexe  von  Fem.  auf  -ms  angeführt:  iuvent,  phare,  jiorche,  portiquc,  van. 
Dazu  hätte  auch  das  männl.  dorn  (Leod.  198)  gestellt  werden  können. 
Zu  iuventus  bemerkt  der  Verf  S.  25:  ,.Wie  die  älteste  frz.  Form  iuvent 
beweist,  ist  dies  Wort  im  Nominativ  übergegangen,  wobei  die  Endung  -us 
dem  lat.  Genus  verhängnissvoll  geworden  ist."  Es  ist  nicht  ganz  klar,  was 
der  Verf.  mit  ,,überg-egangen"  meint.  Entweder:  das  Wort  ging  im 
Nominativ  ins  Frz.  über,  dann  musste  es  doch  juvcns  lauten;  oder:  es 
ging  im  Nomin.  zum  andern  Geschlecht  über,  warum  heisst  dann  der 
Obliquus  nicht  juventut?  Man  hat  von  vlglt.  *  Juventus,  i  auszugehen 
(Geschlechtswandel  S.  110).  Zu  porticus  f.  findet  sich  schon  auf  lat.  In- 
schriften ein  Acc.  plur.  porticos.  Also  trat  das  Wort  ab  und  zu  in  die 
zweite  Deklination  über.  —  Unter  den  Mask.  auf  -a,  die  sporadisch  zum 
weibl.  Genus  übertraten,  führt  Jörss  die  bekannten  Fälle  prophete  und 
pajie  (afr.  zuw.  fem.)  und  die  neuerer  Aufnahme  comete,  planete  an.  Zu 
planete  konnte  erwähnt  werden,  dass  es  afr.  auch  männlich  vorkommt, 
als  wissenschaftl.  Ausdruck  sogar  noch  im  16.  Jalirh.  Von  den  Fluss- 
namen auf  -a:  Duria  —  la  Doire,  Garumna  —  Garomie.  Isara  —  Isere, 
Matrona  —  Marne,  Mosa  —  Mense,  Moseila  —  Moselle,  Sequana  —  Seine, 
Vistula  —  Vistule  isfVistula  schon  im  klass.  Latein  nur  Fem.  (s.  Georges). 
Es  hätte  also  mit  den  andern  nicht  ganz  auf  dieselbe  Stufe  gestellt  werden 
sollen.  Andere  kommen,  wie  Jörss  bemerkt,  doppelgeschlechtig,  doch  vor- 
wiegend weibl.  vor.  Unter  denselben  Abschnitt  stellt  Jörss  noch  tremble 
m.  Zitterpappel  aus  lat.  tremula.  Er  erklärt  das  masc.  Genus  als  Analogie 
nach  dem  Geschlecht  der  übrigen  Baumnamen.  In  dem  Fall  gehört  es 
eigentlich  unter  das  7.  Erklärungsprincip  des  Verf. :  ,Angleichung  an  das 
Genus  sinnverwandter  Wortgruppeu."  Indes  scheint  das  Et.ymon  tremula, 
das  freilich  im  botanischen  Namen:  populus  tremula  erscheint  und  in  den 
ital.  tremula  und  prov.  trmiola  sich  wiederspiegelt,  für  das  Franz.  nicht 
zu  gelten.  Jörss  selbst  setzt  als  mögliches  Etymon  eine  Form  *tremulus 
an.  Warum  er  sie  mit  einem  Stern  versieht,  ist  nicht  ersichtlich.  Bei 
Georges  findet  sich  überhaupt  nur  tremulus  f.  für  den  Baum.  Prov.  tremol, 
tremble  muss  ebenfalls  davon  abgeleitet  werden.  Das  Genus  erklärt  sich 
durch  den  Uebertritt  von  tremulus  zum  männl.  Geschlecht. 

Das  vom  klass.  Latein  abweichende  Genus  ist  veranlasst  worden: 
4.  „durch  vulgärlat.  Nebenformen  in  31  Fällen-'.  Der  Verf.  erklärt 
auf  diese  Weise  die  Tiernamen  colomb,  daim,  fourmi,  goupüle,  grenouille, 
lezard,  loutre,  merle,  rossignol,  singe.  Für  colomb,  lezard,  nierle  wird  auf 
die  lat.  Nebenformen  columbus,  lacertus,  merulus  als  Etymon  verwiesen. 
Nfrz.  coulon  (Sachs)  übersieht  Jörss,  wenn  er  bemerkt,  dass  das  Masc.  seit 
dem  16.  Jahrh.  durch  colombe  verdrängt  worden  sei.  Wie  der  Verf.  bei 
der  Erklärung  von  lezard  ohne  Annahme  einer  Suft'ixvertauschuiig  aus- 
kommen will,  ist  nicht  klar.  Der  Satz:  ..Erscheint  nicht  die  unmittel- 
bare Herleitung  aus  dem  lat.  lacertus  einfacher  und  natürlicher?"  soll 
doch  wohl,  im  Zusammenhaug  verstanden,  eine  Suffixvertauschung  von  der 
Haüd  weisen.  Das  prov.  lesert  m.,  neuprov.  leserto  f.  (J^ehrens  Zeitschr. 
1889.  VI.  168)  weisen  offenbar  auf  die  richtige  lat.  Endung.  Dieses 
Suffix  wurde  dann  in  der  männl.  Form  mit  dem  häufigeren  -ard  vertauscht, 
und  von  der  männl.  Form  entlehnte  auch  die  weibl.  das  a.  „Auf  nicht 
belegte  männl.  Formen",  fährt  Jiirss  S.  20  fort,  „weisen  zurück:  daim  — 
*dammus.  fourmi  —  *formicus,  loutre  —  *lutrus,  rossignol  —  *lusciniolus, 
singe  —  *simius,  goupil  —  *vulpeculus".  Dass  simius  nicht  belegt  sei,  ist 
ein  Irrtum;  Horaz  hat  simius  iste,  es  kommt  sogar  hoc  simium  neben  hie 
und  Jiaee  simia  vor.  Ob  afr.  loutre  m.  aus  vlglt.  Hutrus  erklärt  M'erden 
darf,  muss  trotz  ioutrus  der  Erf.  Glossen  gegenüber  den  Formen  der 
andern   rom.  Sprachen,   die  sämtlich    -a   aufweisen,   sehr   zweifelhaft  er- 


246  Referate  und  Rezensionen.    K.  Armhruster, 

scheinen.  Das  Wort  ist  im  Span,  und  Franz.  Buchwort  (vergl.  AV.  Meyer: 
Grammatik  der  rom.  Sprachen  I.  14U)  und  als  solches  einem  Genuswechsel 
leichter  unterworfen  als  ein  Erhwort.  Falls  man  einen  zeitweiligen  An- 
schluss  an  das  Genus  der  zahlreichen  Maseulina  auf  -tre  nicht  zugeben 
will,  dem  sich  z.  B.  afr.  fenetre  m.,  nfrz.  epeautre  und  orchestre  m.  unter- 
worfen zu  haben  scheinen,  so  wird  man  den  Einfluss  des  ( )berbegriffs  animal 
zur  Erklärung  beiziehen  müssen.  Deutsches  männliches  S2iel2,  frz.  epeautre 
m.  weist  nicht  etwa  auf  eine  früh  eintretende  Umbiegung  des  lat.  Ge- 
schlechts hin.  Denn  spelze,  spelte  mhd.;  spelza,  spelta  ahd.  sind  weiblich.  — 
Grenouille  kann  man  nicht  direkt  auf  *ranunculus  (Jürss  S.  8)  zurück- 
führen, da,  abgesehen  von  der  <7-Prothese,  der  Ausfall  des  n  sich  nicht 
erklären  lässt  favunculus  =  onde).  Es  liegt  die  Ansetzung  des  Suffixes 
-ucula  an  rana  vor  (s.  Diez  grenouille).  Für  fourmi  setzt  J(">rss  (S.  20) 
als  Etymon  *for7nicus  an.  Das  erscheint  bedenklich,  vergleicht  man  die 
Formen  der  andern  roman.  Sprachen.  Auch  waren  im  Afr.  Formen  mit 
Endungs-6'  neben  suchen  ohne  -e  gebräuchlich.  Da  sich  im  Lyon.  Ysop. 
und  bei  Mario  de  Fr.  ausserdem  schon  das  Fem.  findet,  so  wird  nicht 
gelten,  dass  „das  weibliehe  Genus  auf  falscher  Berichtigung  nach  dem 
Muster  des  klass.  Femininums  beruht.-  (Vergl.  Geschlechtsw.  S.  61.)  — 
Ausser  den  Tiernamen  fallen  unter  Jiirss'  4.  Erklärungsprincip :  asperge, 
äuge,  automne,  boul,  chartre,  chausse,  couille,  coujjle,  datte,  doie, 
emeraude,  fie,  figue,  genet,  moule,  mousse,  obole,  outre,  rame^,  rame-, 
tilleul.  Asperge,  äuge,  automne,  chausse,  couille,  datte,  doie,  emeraude, 
fie,  mottle,  mousse,  obole,  outre,  rame  lAst),  raine  (Ruder)  werden,  soweit 
sie  Feminina  sind  oder  zeitweise  als  solche  auftreten,  durch  das  .Medium 
von  lat.  Nebenformen  auf  a.  eigentlich  Pluralen  von  neutralen  Nebenformen 
der  Maskul.  auf  -us  erklärt.  Jürss  stützt  sicli  hierbei  auf  die  bekannten 
Fälle:  feuille,  joie,  graine,  fete,  merveille,  muraille,  pomme  etc.  »S.  6).  Er 
setzt  also  an  vlglt.  *alvea,  *asparaga,  *auciumna,  *calcea,  *cullea, 
*dactyla,  *digita,  *fica,  *muscida,  *musca,  *rama,  *remu,  *smaragda, 
*obola,  *carccra,  *utria.  Rame  (Kuder)  halte  ich  jetzt,  wie  W.  Meyer 
(Litcraturbl.  1889  Sp.  380  und  Gramm,  der  rom.  Spr.  I.  293)  für  postverbal 
von  ramer,  dessen  a  aus  e  sich  durch  nasale  Aussprache  erklärt,  chausse  = 
*calcea.  couille  =  *colea  {cullea  bei  Cato  Or.  2.  10 1.  afr.  fie  =  *fica 
(wie  pomme,  poire  etc.;  vergl.  prov.  port.  figa,  span.  kiga).  emeraude  = 
*smarag(la  (vergl.  span.  port.  csmeralda.  prov.  esmerauda).  doie  =  *digita 
(Kollektivum),  moule  =  *  muscula  (doch  wohl  vermischt  mit  mytila, 
mitula;  vergl.  it.  nicchia  und  wegen  des  Genus  das  weibl.  ahd.  musc(u)la) 
wird  man  anerkennen  dürfen,  wenn  auch  vielleicht  nicht  in  allen  Fällen 
die  Formen  auf  -a  als  ursprüngliches  Neutrum  des  Plural  zu  deuten 
sind.  i»agegen  ist  mousse  =  *musca  unmöglich,  da  das  Homonymon, 
das  Fliege  bedeutet,  ja  regulär  mouche  ergab.  Mousse  ist  vielmehr  von 
ahd.  mos  alizuleiten  (vergl.  Diez  II.  c.  s.  v.j.  Freilich  trat  auch  in  dem 
I'all  ein  Genuswechsel  ein;  man  hat  vielleicht  von  dtsch.  Formen  mit  a 
auszugehen  (s.  Kluge:  Etym.  TT7>.  s.  v.).  Junge  Fremdwörter  von  vlglt. 
l'luraien  neutr.  abzuleiten,  geht  nicht  an.  So  ist  das  Buchwort  figue  ein- 
fach von  ficus  f.  u.  m.  abzuleiten,  es  braucht  dazu  keiner  Form  *fica 
(vergl.  zur  Kedensart  /«ire  la  figue  Littre .  Suppl.).  Das  Fremdwort  outre 
mag  sein  (tcuus  dem  afr.  Erbwort  ouirc,  oire  {=  *utria  Neutr.  plur. ; 
vergl.  neuprov.  ouiro  fem.)  entlehnt  haben,  aber  es  geht  nicht  direkt  auf 
*utria  zurück  (Behrens  Zeitschr.  1889.  VI.  162).  Obole,  das  Cotgravc 
auch  als  ^lasc.  verzeichnet,  verdankt  sein  Fem.  dem  auslautenden  e  oder 
dem  Oberbegriff  monnaie.  Datte  ist  ähnlich  zu  beurteilen;  vergl.  die 
übrigen  rom.  Formen,  die  männlich.  Chartre  hätte  nicht  ohne  Beziehung 
auf  die  übrigen  rom.  Ketlexe  von  carcer  betrachtet  werden  dürfen.     Aus 


Paul  Jörss,  üb.  d.  Gemiswechsel  latein.  Maskul.  u.  Femin.  247 

it.  earcere  coiiim.,  port.  carcere  m..  span.  carcel,  prov.  carcer  fem.  erhellt, 
dass  von  *carcera  nicht  ausgegangen  werden  darf,  vielmehr  war  carcer 
vlglt.  comm.  (s.  Geschlechtsw.  S.  84).  An  *auctumna  kann  ich  nicht 
glauben,  obgleich  automne  schon  im  13.  Jahrh.  weiblich  auftritt:  la  au- 
tompne  fait  lo  moust  (Aime  du  Mont-Cassin  bei  Darmest.  et  Hatzf. 
Dictionn.  gen.  de  la  langue  fr.  s.  v.),  da  die  andern  rom.  Sprachen  Masc. 
aufweisen.  W.  Meyer  erklärt  das  weibl.  Genus  nach  coulonne  {Liter aturJjl. 
1889,  Sp.  381).  Für  couple  setzt  Jörss  als  Etymon  vlglt.  *copulus  an, 
nach  ihm  beruht  das  Femininum  „wohl  auf  gelehrter  Vergleichung  mit 
dem  klass.  copula."  Auch  copulus  scheint  im  Hinblick  auf  die  Formen 
der  übrigen  rom.  Sprachen  gewagt.  Männliches  asperge  und  äuge  ver- 
zeichnet Cotgrave;  letzteres  findet  sich  inännlicli  bei  Du  Bartas  und  ist 
es  dialektisch  jetzt  noch.  Es  ist  also  auch  bei  diesen  Wörtern  kaum  von 
einem  Neutr.  plur.  auszugehen.  Gegen  die  Gleichungen  boul  =  *betulus 
(oder  besser  *betullusi,  geyiet  =  *genistus.  tilleul  =  *tiliolus  ist  nichts 
einzuwenden.     Das  Primitiv  teil  weist  schon  auf  *tilius  zurück. 

Das  vom  klass.  Latein   abweichende  Genus   ist  veranlasst  worden: 

5.  ,,durch  Erhaltung  eines  alten  vlglt.  Genus,  in  14  Fällen:  cendre, 
concombre,  ecorce,  fin,  Jierse,  7narge,  ordre,  pause,  j^once,  poudre,  puce, 
ronce,  souris,  vertiz."  Dazu  hätte  chartre  (vergl.  oben)  und  eine  Keihe 
anderer  gesetzt  werden  können  (Geschlechtsw.  S.  84  ff.).  Zu  den  lat. 
Substantiven  auf  -ex,  -icis  hätte  bemerkt  werden  sollen,  dass  einige  von 
ihnen  Nebenformen  auf  -a  bildeten,  vergl.  ranche  =  *ramica.  afr.  couche  = 
*codica,  span.  port.  pulga  =  *pulica  etc.  Ecorce  direct  auf  corticem 
zurückzuführen  geht  wegen  des  Anlauts  nicht  an.  Vielmehr  weisen  die 
rom.  Formen  auf  scortea  (Gröber  in  Wölffl.  Arch.  II.  279).  Im  öliges 
2788  findet  sich  das  njännl.  a  tot  Vescorce.  Ist  es  richtig,  als  Genus  des 
afr.  cocombre  durchweg  Fem.  anzusetzen? 

6.  wird  das  vom  Lat.  abweichende  Genus  erklärt  „durch  die  Bildung 
rom.  Sekundärformen  in  8  Fällen:  frisson,  gland,  poison,  raison,  serpent, 
sort,  sovpQon,  val."-  S.  28  sagt  Jörss:  „Das  Franz.  hat  aus  manchen  lat. 
Neutren  einen  doppelten  Nutzen  dadurch  gezogen,  dass  es  beide  Numeri 
verwertete:  filum:  fil,  fila:  file;  folium:  fuel,  folia:  fuelle  etc.  Als  die 
Sprache  den  Vorteil  dieser  Doppelbildung  einmal  erkannt  hatte,  beschränkte 
sie  sich  nicht  mehr  auf  die  durch  das  Lat.  gegebenen  Vorbilder,  sondern 
hegann,  nach  deren  Muster  neue  Formen  zu  schaffen  durch  Anfügung 
eines  unorganischen  e.  "Worauf  es  uns  hier  ankommt,  ist  die  Thatsache, 
dass  derartige  Neubildungen,  die  wegen  ihres  unorganischen  End  -e  weib- 
lich werden  mussten,  das  Genus  der  primären  Ableitungsformen  beeintiusst 
haben."  Für  ^ZaM(^  =  glande,  .sorf  =  sorte,  bei  denen  auch  in  andern 
rom.  Sprachen  eine  ähnliche  Erscheinung  auftritt,  ist  diese  Erklärung 
richtig  (vergl.  Geschlechtsw.  S.  57  u.  Behrens  Zeitschr.  1889.  VI.  164,i. 
Für  nfrz.  männl.  serpent,  im  Lat.  und  Afr.  comm.,  braucht  es  kaum  einer 
andern  Erklärung,  als  dass  die  Sprache  ein  Genus  als  übertiüssig  über 
Bord  warf.  Uebrigens  i.st  dial.  das  Fem.  erhalten.  Wenn  val  männl.  ge- 
worden sein  soll,  weil  daneben  fem.  vallee  stand,  so  müsste  doch  wohl 
auch  chaux  männlich  werden  nach  chaussee.  Die  Formen  val  unil  valUe 
stehen  ja  so  weit  auseinander,  dass  val  nicht  wohl  als  Masc.  zu  vallee 
aufgefasst  werden  kann.  Es  wird  deshalb  die  Annahme,  val  m.  habe  sein 
Genus  mont  m.  entlelmt,  einleuchtender  sein.  S.  29  sagt  Jörss:  „Auch 
die  Neubildung  von  gelelirten  Nebenformen  hat  auf  das  Genus  bereits  vor- 
handener volkstümlicher  Ableitungen  eingewirkt.  Dies  beweist  das  Schicksal 
der  lat.  Feminina  frictionem,  potionem,  suspicionem.  Bis  zum  16.  Jahrh. 
waren  diese  Wörter  in  ihrer  volkstümlichen  französ.  Gestalt  noch  weildich. 
Erst  nach  Einführung  der  gelehrten  Nebenformen  la  friction,  la  potion, 


248  Referate  und  Rezensionen,    K.  Armbruster, 

la  suspicion  scheinen  die  primären  Bildungen  frisson,  poison.  soupQon 
endgültig  männlich  geworden  zu  sein."  Auf  der  folgenden  Seite  giebt 
sogar  Jörss  die  Möglichkeit  zu,  dass  männl.  raisoti,  das  zuweilen  vor- 
kommt, sein  Genus  dem  eingeführten  Fremdwort  la  ration  verdanke. 
Abgesehen  davon,  dass  männl.  raison,  soujj^on  schon  verhältnismässig  früh, 
vor  der  Einführung  der  Fremdwiirter  auftritt,  begegnen  z.  B.  auch 
frissoun,  souroun  im  Neuprov.  als  Mask.  Bei  welcher  Menge  von  Fremd- 
wörtern, die  neben  Erbwörter  vom  nämlichen  Wurzelwort  traten,  raüsste 
man  ausserdem  denselben  Einfluss  auf  das  Genus  der  Erbwörter  erwarten! 
Viel  einfacher  erklärt  sich  der  Uebertritt  zum  Mask.  durch  Angleichung 
an  Wörter  mit  dem  Suffix-on,  die  vorwiegend  männlich  sind. 

Das  vom  Lat.  abweichende  Genus  erklärt  sich  nach  Jörss 
7.  »durch  Angleichung  an  das  Genus  sinnverwandter  Wortgruppen 
oder  Begriffe,  in  8  Fällen:  arbre,  chanvre,  cidre,  geneste,  lierre,  Loire, 
ongle,  salz.  Arbre,  chanvre,  geneste,  lierre,  salz  hätten  sich  im  Geschlecht 
nach  den  übrigen,  vorwiegend  männl.  Baum-  und  Pflanzennamen  gerichtet. 
Gewagt  erscheint  die  Bemerkung  des  Verfassers  iS.  23):  ..Ausserdem 
(nämlich  ausserdem,  dass  die  Baumnamen  im  Lat.  die  männl.  Endung 
US  besassen)  mochte  die  sinnlichere  Anschauung  des  Volkes  mit  der  Vor- 
stellung eines  Ptianzenwesens  überhaupt  den  Begriff  des  Starken,  Erzeugenden, 
kurz  des  Männlichen  verbinden.'"  AVenn  die  Form  aui  das  Genus  in  so 
eklatanten  Fällen  wie  papa  lern.,  wo  der  Begriff  direkt  entgegenstand, 
einen  Einfluss  ausüben  konnte,  so  bedarf  es  bei  andern  Fällen,  wo  der 
Begriff  dem  Geschlecht  gegenüber  sich  gleichgiltig  verhält,  zur  Erklärung 
des  Genus  wandeis  der  Beiziehung  des  Begriffs  durchaus  nicht,  falls  nicht 
gewichtige;  Gründe  es  verlangen.  Weibliches  arbre  findet  sich  nicht  erst 
im  16.  Jahrb.,  wie  Jörss  annimmt  ivergl.  Geschlechts iv.  S.  64).  Es  fragt 
sich  demnach,  ob  das  fem.  Genus  bei  einigen  Schriftstellern  des  16.  Jahrb. 
als  Latinismus  bezeichnet  werden  darf;  es  kann  auch  eine  Erinnerung  au 
altes  volktümliebes  Fem.  sein.  Ebenso  scheint  chanvre  fem.  das  ältere 
Genus  zu  sein,  das  sich  in  vielen  Dialekten  erhielt;  das  Mascul.  ist  seit 
dem  IH.  Jahrhundert  belegt.  Zu  lierre  m.  vergl.  Geschlechtsiv.  S.  42  und 
Behrens  Zeitschrift  1889  VI.  162.  Noch  dialektisch  ist  es  fem.  Prov. 
edre,  Icdrc  m.  möchte  ich  nach  Geschlecht  und  Form  als  Fremdling  aus 
Nordfrankreieh  betrachten.  Saus  (salicem)  findet  sich  Band,  de  Seb.  1.  490 
mit  dem  etymol.  weibl.  Genus,  ebenso  in  heutigen  Dialekten  ivergl. 
Behrens  1.  c.  164).  Cidre  m.  erklärt  sich  nach  Jörss  dui'ch  vin,  pomme  m. 
Vergl.  dazu  Geschlechtsw.  S.  104  und  wegen  der  Form  vlglt.  *cisera  — cisre 
— cisdre  — cidre  Darmest.  et  Hatzf.  Dict.  de  la  lungue  fr.  s.  y.  Loire 
trifft  man  noch  männlich  bei  I^Iarot  II.  259.  Zu  ongle  bemerkt  Jörss 
S.  22;  ..Den  späteren  siegreichen  Genuswechsel  können  wir  uns  durch 
Assimilation  an  das  Genus  von  pied,  doigt.  orteil  entstanden  denken.  Auf 
blosse  Suffixverwechslung  (ungula:  ongle.  angulus:  «w^if)  möchten  wir  den 
vorliegenden  Fall  deshalb  nicht  zurückführen,  weil  die  andern  Feminina  auf 
— a.  welclie  aus  diesem  Grund  zuweilen  männlich  gebraucht  worden  sind 
{ombre,  regle  etc.),  ihr  ursprüngliches  Geschlecht  fast  alle  wieder  an- 
genommen haben.  Hier  muss  also  ein  stärkeres  Moment  gewirkt  haben, 
als  welches  wir  eben  das  psychologische  der  Attraktion  seitens  verwandter 
Begriffe  zu  erkennen  glauben."  \N'enn  Franche-Comte,  parentc  etc.  ihr 
weibliches,  naih  der  P^ndung  gewonnenes  Genus  beibehalten  haben,  warum 
nicht  auch  ongle,  dessen  vokal.  Wortanlaut  die  Unsicherheit  noch  unter- 
stützen musste?  Es  ist  mir  nicht  glauldieh,  dass  orteil,  pied,  doigt  gerade 
ongle  beim  Masc.  gehalten  hätten.  Warum  sollten  denn  nicht  gerade  so 
gut  main,  griffe,  pattc  nach  der  andern  Seite  gezogen  haben?  Orteil,  pied, 
doigt  sind  ja  nicht  die  Oberbegriffe  oder  Synonyma  von  ongle.     Mit  dem- 


Paid  Jörss,   Üb.  d.  Genuswechsel  lalein.  Maskul.  u.  Femin.  249 

selben    Rechte    könnte    man    sagen:    oeil    oder   nez   kann    weibl.   werden 
nach  tete. 

8.  trat  nach  Jörss  (S.  31)  Genuswechsel  ein  „dxirch  Verschmelzung 
zweier  Wörter,  die  anfangs  begrifflich  getrennt  waren,  in  2  Fällen:  rien, 
salut."  Bien  hätte  ich  eher  unter  Nr.  7  gestellt.  Denn  thatsächlich  han- 
delt es  sich  um  einen  Bedeutungswandel  des  einen  Wortes,  nicht  um 
2  etymologisch  verschiedene.  Hien  (Pronomen)  hat  sich  als  neutraler 
Begriff  den  andern  neutralen  Pronomina  angeschlossen,  wie  ^:)eM,  moins  etc. 
Chose  in  quelque  chose,  autre  chose,  personne  u.  a.  gehen  denselben  Weg 
(Geschlechtsw.  S.  135).  Ob  man  für  afr.  salut  m.  Gruss  direkt  als  Etymon 
*salutus  ansetzen  darf,  scheint  mir  fraglich.  Salut  ist  Verbalsubstantiv 
vom  starken  Stamm,  und  als  solches  männlich.  Freilich  wird  man  die 
Bildung  des  Verbalsubst.,  das  auch  im  Span,  saludo  und  it.  saluto  auftritt, 
schon  früh  ansetzen  müssen,  doch,  da  sie  den  andern  rom.  Sprachen  zu 
fehlen  scheint,  nicht  ins  Gemeinvulgärlt.  verlegen  dürfen.  Falls  das  prov. 
Saint  m. ,  welches  bei  Mistral  begegnet,  alt  ist,  so  dürfte  saluto  für  den 
rom.  Westen  in  Anspruch  genommen  werden. 

Das  vom  klass.  Latein  abweichende  Genus  ist  nach  Jörss  veranlasst 
worden : 

9.  ..Durch  Bedeutungsänderung,  in  einem  Falle:  brebis; 

10.  durch  willkürliche  Fixierung  in  einem  Falle:  limite."- 

„Das  lat.  verDea;(berbex),"  sagt  Jörss  S.  18,  ,,hatte  die  Bedeutung  des  frz. 
mouton,  wofür  ein  keltisches  Etymon  bereits  vorhanden  war.  So  konnte  das 
französ.  brebis  die  Bedeutung  des  nicht  verwerteten  lateinischen  ovis  und  damit 
das  weibl.  Genus  annehmen."  Das  Wort  ist  wohl  im  ältesten  Afr.  comm.  gewesen 
und  bezeichnete  einerseits  „Widder"  (pirpici  —  uuidari;  Kassel.  Glossen), 
andrerseits  „Schaf"  als  Aveibliches  Tier  und  im  allgemeinen  (arietem  immacu- 
latum  de  vervecibus.  Littre,  Supplem.  s.  v.).  Männliches  berbiz  findet  sich  in 
den  freilich  anglon.  Lois  de  Guill.  le  Conq.     Wal.  berbeace  heisst  Widder. 

„Auf  rein  willkürlicher  Fixierung  seitens  der  Grammatiker,"  sagt 
Jörss  S.  18,  ..scheint  der  Genuswechsel  von  limitem:  limitem:  la  limite  zu 
beruhen.  Dies  Wort  war  im  16.  Jahrh.  noch  männlich  .  .  .  Erst  Vaugelas 
hat  es  als  Femininum  fixiert:  Limites  est  feminin,  et  ne  se  dit  gueres 
qu'au  pluriel,  les  limites.^  Dem  ist  entgegenzuhalten:  Schon  im  16.  Jahrh. 
ist  der  Gebrauch  schwankend,  z.  B.  braucht  Pare  limite  weiblich.  Dabei 
ist  in  Rechnung  zu  ziehen,  dass  das  Wort  Fremdwort  ist,  ferner  dass  es 
vorwiegend  im  Plural  vorkam  und  noch  vorkommt.  Vaugelas  giebt  den 
Plural  für  seine  Zeit  als  geradezu  allein  richtig  an.  Der  Artikelgleichheit 
im  Plural  wegen  ist  die  Entscheidung,  welchem  Geschlecht  ein  Wort  an- 
gehört, wie  auch  im  Deutschen  bei  Pluralia  tantum,  schwierig.  Schliesslich 
wird  das  Fem.  der  weibl.  Endung  -es  halber  gesiegt  haben. 

Den  Schluss  der  Arbeit  bildet  ein  Wortindex.  Unmittelbar  vorher 
steht  eine  Berechnung,  wonach  von  den  172  behandelten  Fällen  (gegen- 
über 600  in  meiner  Arbeit)  14  Formen  im  Nfr.  erloschen  sind,  in  26  der 
Genuswandel  vorübergehend  war  in  2  {amour,  couple)  Zweigeschlechtigkeit 
noch  besteht  und  in  130  der  Genuswechsel  bis  heute  geblieben  ist.  Da 
der  Verfasser  etwa  30  Fälle  von  Genuswandel  aufführt,  die  in  meiner 
Arbeit  fehlen,  und  Behrens  in  seiner  Eecension  noch  etwa  50  Wörter 
giebt,  die  weder  bei  Jörss  noch  bei  mir  sich  finden,  so  ist  daraus  zix  er- 
sehen, dass  Jörss'  Arbeit  auf  mehr  als  das  Dreifache  hätte  ausgedehnt 
werden  können,  selbstverständl.  unter  der  Voraussetzung,  dass  man  die 
bei  mir  behandelten  Substantiva  aus  dem  Deutschen  (etwa  25),  die  Verbal- 
ableitungen und  Komposita  (etwa  25),  auf  deren  Behandlung  Jörss  [von 
vornherein  verzichtet,  abrechnet.  -^^^^  ArmbrüSTEB. 


250  Beferate  und  Rezensionen.     P.  E.  Lindström, 

Visiiig,  Jolian.     Professor    vid   Göteborgs  Högskola.     Fransk  Spräklära. 

Lund,  1892,  C.   W.  K.     Üleerups  Förlag,   264  S.    8°. 

Die  grossen  Fortschritte,  welche  die  romanische,  besonders  die 
französische  Sprachwissenschaft  in  den  letzten  Jahrzehnten  gemacht  hat, 
haben  in  Schweden  wie  in  mehreren  anderen  Ländern  eine  lebhafte  Arbeit 
auf  dem  (iebiete  der  pädagogischen  Schriftstellerei  hervorgerufen.  Er- 
wähnen wir  zuerst  die  treffliche  Grammatik  Widholm's,  in  deren 
letzten  Auflagen  der  Verf.  sich  die  neuen  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
zu  nutze  gemacht  hat,  dann  eine  Umarbeitung  der  allen  Ol  de' sehen 
Grammatik  von  G.  Gullberg  und  E.  Edström  und  —  last  not  least  — 
die  gewissermassen  epochemachende  Arbeit,  die  ich  hier  zu  besprechen  habe. 

Die  Vising'sche  Grammatik  ist  nicht  allein  für  die  oberen  Klassen 
der  Gymnasial-  und  Realschulen  verfasst,  sondern  aucli  für  Studierende, 
die  das  Studium  des  Fr.  fortsetzen.  Sie  enthält  zwei  Kurse,  von  weichen 
der  Schüler  einen  zu  lernen,  den  anderen  l)ei  der  Lektüre  und  der  Über- 
setzung ins  Französische  zu  gebrauchen  hat.  Sowohl  durch  eine  l)essere 
Formulierung  der  Regeln  als  durch  Auslassung  weniger  wichtiger  Sachen 
hat  der  Verf.  den  zu  lernenden  Kursus  beträchtlich  beschränkt,  und  man 
muss  ilim  dafür  dankbar  sein,  denn  dies  ewige  Lernen  von  Regeln  und 
Ausnahmen  und  Ausnahmen  von  Ausnahmen,  das  man  leider  hier  noch 
treibt,  giebt  keine  wirkliche  Herrschaft  ülier  die  Sprache.  Der  Verf. 
scheint  im  Gegenteil  mehr  Gewicht  zu  legen  auf  das  Auswendiglernen 
echter,  idiomatischer  Ausdrücke,  und  es  ist  sein  grosses  Verdienst,  dass 
er  in  den  den  Regeln  folgenden  Beispielen  dem  Schüler  ein  Bild  der 
Sprache  giebt,  wie  sie  in  der  Wirklichkeit  existiert,  nicht  inhaltsleere 
und  zusammenhanglose  Phrasen.  Auch  betreffs  der  schwedischen  tJlier- 
setzung  der  fr.  Beispiele  hat  sich  der  Verf.  Mühe  gegeben,  echte  schwedische 
Ausdrücke  zu  treffen,  so  dass  man  einerseits  wirkliches  Französisch,  anderer- 
seits wirkliches  Schwedisch  findet.  Was  die  Vising'sche  Grammatik  be- 
sonders bemerkenswert  macht,  ist  der  Umstand,  dass  die  Beisjiiele  unter 
jeder  Regel  gewöhnlich  eine  zusammenhängende  Erzählung  bilden.  Etliche 
derselben  hat  der  Verf.  aus  der  Litteratur  wörtlich  abgeilruckt.  die 
meisten  aber  hat  er  für  seinen  Zweck  umgearbeitet  oder  komponiert,  iind 
darin  ist  er  sehr  glücklich  gewesen,  die  Erzählungen  sind  geläufig  und 
leicht,  die  Repliken  witzig,  und  niemals  findet  man  sie  „gemacht."  Diese 
Leistung  verrät  einerseits  eine  tüchtige  Arbeit,  andererseits  eine  grosse 
Gewandheit  und  Herrschaft  über  die  Sprache.  So  hat  auch  der  Verf.  da- 
durch etwas  geschaffen,  das  man  gewöhnlich  als  eine  contra  dictio  in 
adjecto  betrachtet,  eine  Grammatik,  deren  Lesen  amüsieren  kann. 

Was  die  Beispiele  betrifft,  so  seien  hier  ein  paar  kleine  Bemerkungen 
gestattet.  Da  der  Schüler  nur  einen  Kursus  in  der  (trammatik  zu  lernen 
hat,  dürfen  die  Beispiele,  die  in  diesem  Kursus  vorkommen,  nicht  Aus- 
drücke enthalten,  die  den  darin  gegebenen  Regeln  widersprechen  und  die 
erst  im  anderen  Kursus  besprochen  werden.  Wir  finden  aber  im  B.  1 
§  241,  2  Qui  vous  amene,  —  V  =  Qu'cst-ce  qui  vous  amene,  vergl.  §  288, 
Anm.  2;  im  B.  3  §  275,  7  ü  est  vrai  =  (fest  vrai,  im  B.  2  i?  321  il  est 
vrai  =  c'est  vrai,  vergl.  §  269,  2,  b,  Anm.;  im  B.  3  §  321  Ce  doit  etre 
fort  interessant  de  courir  =  II  doit  ctre  fort  interessant  de  courir  — , 
vergl.  §  283,  1,  c,  Anm.  Beispiel  3  S  218,  2  (richtiger  3\  c,  [Ce  qui 
m'etonne  moi  —  e'est  qu'on  ait  des  orcilles  pour  i^ous  entendre)  sähe  man 
lieber  unter  i?  218,  4  (richtiger  ö),  Anm.  4,  wo  der  Verf.  von  Modus 
nach  Umschreibungen  redet  (vergl.  Une  chose  qui  in'etonnc,  cest  que 
ros  amis  sont  tuujours  de^  geniest.  Im  B.  4  §  218,  2  (richtiger  3),  a 
(Rejouis-toi,  au  contraire,  qu'il  y  ait  ä  Sparte  — )  ist  au  contraire  nicht 


Johan  Vising.     Fransk  Sprdklära.  251 

übersetzt;  man  kann  es  wohl  mit  dem  schwed.  i  stallet  wiedergeben.  Den 
Ausdruck  le  j;Zms  belle  im  B.  1  §  264  {Cest  le  matin  que  cette  fleur  est 
le  plus  belle)  soll  man  nach  Lücking,  Gram.  S.  147,  Anm.  vermeiden.  In 
B.  3  §  228  {Ne  sachant  aucun  metier  et  reduit  ä  detnander  Vaumdne.  ü 
disait  — )  hätte  der  Verf.  das  Part.  Präs.  {ne  sachant)  mit  einem  Iniperf. 
(nicht  Plusquamperf.)  übersetzen  sollen,  so  dass  der  Schüler  ohne  Schwierig- 
keit eine  Bestätigung  der  vorhergehenden  Regel  findet,  dass  das  Part. 
Präs.  Gleichzeitigkeit  ausdrückt. 

Der  treffliche  Abschnitt  über  die  Aussprache  enthält  vieles,  das 
von  dem,  was  man  in  unseren  Schulen  lehrt,  abweicht,  aber  Vising's 
Autorität  und  die  Namen  der  Franzosen ,  welche  seine  Angaben  kon- 
trolliert haben  (E.  Gallio,  A.  Taverney),  bürgen  dafür,  dass  man  sich 
auf  dieselbe  verlassen  kann.  Andererseits  braucht  man  nicht  zu  fürchten, 
dass  Vising  die  vulgäre  Aussprache  aufgenommen  hat.  Nur  in  einem 
Falle  weiss  ich  nicht,  ob  ich  so  lehren  soll,  wie  es  der  Verf  thut; 
sehr  selten  hörte  ich  in  Paris  unter  Gebildeten  offenes  o  für  ou  in 
aujotird'hui;  G.  Rolin,  Phon.  Stud.  V.  S.  45,  schreibt  ozurdwi  {ozordiöi). 
Dagegen  lehrt  der  Verf.  §  37,  dass  das  e  in  les  offen  ist;  P.  Passy, 
Le  FraiiQ.  Pari. ,  giebt  für  dieses  und  ähnliche  Wörter  (des ,  mes, 
tes,  ses ,  ces)  denselben  Vokal  an  wie  für  et,  nur  zweimal  fand  ich 
hs;  G.  Eolin  Phon.  Sind.  S.  34,  Anm.  1,  sagt,  dass  der  fragliche  Laut 
halboffen  ist ;  die  Franzosen,  die  ich  befragt  habe,  glaubten  einen  be- 
stimmten Unterschied  zwischen  des  und  des  zu  hören. 

Da  der  Verf.  ein  hervorragender  Gelehrter  ist,  und  noch  dazu  eine 
reiche  pädagogische  Erfahrung  besitzt,  so  konnte  er  bei  der  Abfassung  seiner 
Grammatik  von  der  Einteilung  und  den  Regeln  anderer  Grammatiker  ab- 
strahieren und  eine  Arbeit  liefern,  die  völlig  auf  eigenem  Grunde  ruht.  In 
der  Formenlehre  hat  er  die  Genus-  und  die  Numerusmotion  der  Substantiva 
und  Ad jektiva  zusammen  behandelt;  die  Präpositionen  und  Konjunktionen, 
bei  denen  man  von  verschiedenen  Formen  nicht  sprechen  kann,  sind  aus- 
geschlossen. Der  Verf.  gehört  nicht  zu  denen,  die  nach  lateinischen 
Kategorien  ängstlich  spähen  um  Formen  zu  erhalten,  in  welche  der  neue 
und  fremde  Inhalt  gegossen  werden  kann.  Die  Rektionslehre  ist  aus  der 
Syntax  gestrichen,  weil  sie  in  die  Wörterbücher  gehört;  die  sogenannte 
Kasuslehre  ist  sehr  vereinfacht  worden,  weil  der  Verf.  gewöhnlich  nichts 
anderes  Kasus  nennt  als  das,  was  Kasus  ist.  Die  Regeln  weichen  öfters 
ab  von  dem,  was  man  in  anderen  Arbeiten  zu  finden  gewohnt  ist,  teils 
weil  der  Verf.  auf  die  moderne,  heutige  Sprache  Rücksicht  nimmt,  teils 
weil  er  eine  selbständige,  tiefergehende  Auffassung  hat,  teils  endlich 
mehrere  ganz  neue  Beobachtungen  bietet,  wodurch  sein  Buch  nicht  nur 
den  letzten  Ergebnissen  der  Wissenschaft  entspricht,  sondern  derselben  in 
mehreren  Punkten  vorangeht;  dies  gilt  besonders  von  der  Lautlehre,  dem 
Kapitel  über  das  Imperf  und  das  einfache  Perf.  und  auch  von  der  Lehre 
von  der  Stellung  des  attributiven  Adjektivs. 

Der  Verf  ist  ein  scharf  reflektierender  Kopf,  der  jedes  Wort  durch- 
dacht und  kein  AVort  zu  viel  geschrieben  hat.  Dadurch  erhält  der  Stil 
des  Buches  eine  gewisse  abstrakte  Straffheit  und  bildet  den  geraden 
Gegensatz  zu  der  Olde'schen  Grammatik,  deren  Stil  breit  und  konkret  ist. 

Nach  allem,  was  ich  hier  gesagt  habe,  versteht  man  leicht,  dass 
Vising's  Grammatik  zunächst  ein  fremdes  Aussehen  hat.  und  ich  fürchte, 
dass  alle  die  verdienstvollen  Eigenschaften ,  die  ich  hier  hervorgehoben 
habe,  in  den  Augen  mancher  ebenso  viele  Fehler  sind,  die  die  Aufnahme 
derselben  in  unsere  Schulen  verzögern  werden. 

Ein  Referent  hat  auch  die  Aufgabe,  die  Fehler  der  besprochenen 
Arbeit  hervorzuheben.    Dies  wird  mir  hier  eine  leichte  Arbeit,  teils  weil 


252  Beferate  und  Rezensionen.     P.  E.  Lindström, 

das  Buch  nur  zu  wenigen  Ausstellungen  Anlass  gab .  teils  weil  die  vor- 
handenen Fehler  von  zwei  schwedischen  Gelehrten  (0.  Oertenblad  in 
Pedagoffisk  Tidskrift  und  H.  Andersson  in  Verdandi\  schon  hervorgehoben 
worden  sind.  Wenn  ich  hier  eine  kleine  ..Nachlese"  bringe,  so  sind  es 
nur  Bemerkungen  subjektiver  Art,  die  den  Karakter  absoluter  Grültigkeit 
nicht  besitzen. 

Im  §  182  sagt  der  Verf. ,  dass  la  plupart  raask.  plur.  ist,  wenn  es 
allein  steht  und  von  Personen  gebraucht  wird.  Die  Ausdrücke  ..mask.", 
,plur."  u.  d.  beziehen  sich  meistens  auf  die  Kongruenz  der  attributiven 
Bestimmungen,  nur  wenn  diese  Bestimmungsgründe  nicht  zureichen,  auf 
die  der  prädikativen  Bestimmungen  und  den  Inhalt:  la  plupart  ist  dem- 
nach fem.  sing.,  nicht  mask.  plur.  In  §  209  beschreibt  der  Verfasser  den 
Konditionalis  als  das  Futur  der  Vergangenheit  und  fügt  hinzu  etwa: 
Besonders  zu  bemerken  ist  diese  Anwendung  in  Hauptsätzen  zu  Be- 
dingungssätzen, die  Tempora  der  Vergangenheit  haben.  Dies  l)egreift  der 
Schüler  nicht:  in  diesen  Hauptsätzen  hat  der  Konditionalis  eine  ganz 
andere  Funktion,  hier  ist  er  nicht  ein  Tempus,  sondern  ein  Mt)dus; 
besser  lehrt  man:  die  Formen  auf  -rais  etc.  haben  zweifache  Bedeutung; 
sie  sind  teils  1.  ein  Tempus,  vergl.  aujourd'hui  il  dit  qu'H  ira  ä  S.,  niais 
hier  il  disait  qu'il  irait  ä  G.,  und  zwar  Imperf.  des  Futurs,  teils  2.  ein 
Modus,  vergl.  s'il  avait  de  Vargent,  il  irait  u  G.,  und  zwar  Konditionalis; 
es  verlohnt  sich  der  ]\Iühe  nicht,  dem  Schüler  den  Zusammenhang  dieser 
zwei  Funktionen  klar  zu  machen  oder  von  irgend  einem  Zusammenhang 
zu  reden.  Im  §  245  lehrt  der  Verf..  der  partitive  Artikel  sei  de  vor  Adjektiven 
und  vor  dem  direkten  Objekt  in  negierten  Sätzen.  —  sonst  de  mit  dem  be- 
stimmten Artikel.  Hat  der  Verf.  Fälle  Avie  II  ne  s'y  mele  j'cis  d'envie  im  §  311. 
Anm.  2  u.  a..  wo  der  part.  Art.  de  auch  vor  dem  Subjekt  ist,  übersehen 
oder  absichtlich  ausgelassen?  Aehnlich  §  271,  3,  wo  der  Verf.  lehrt, 
dass  en  entweder  als  direktes  Objekt  oder  von  einem  nachfolgenden 
Quantitätsausdruck  abhängend  ein  vorhergehendes  Substantiv  in  un- 
bestimmter Stellung  wiederholt,  vergl.  B.  3  §  267,  2  Quant  ä  de  promptes 
reponses,  il  ne  ruus  en  manquei-a  pas,  wo  en  die  Funktion  eines  Subjekts 
hat,  wenn  man  mit  dem  Verf.  pas  nicht  als  ein  Quantitätsadverb  betrachtet, 
vergl.  §  311,  Anm.  2. 

Um  die  Anwendung  von  soi  näher  zu  bestimmen,  hätte  der  Verf. 
im  §  278,  2  hinzufügen  sollen,  dass  es  sich  gewohnlich  auf  ein  mask. 
sing,  bezieht,  vergl.  Haase,  Syntax  §  13.  Die  Anm.  2  §  304.  4  verstehe 
ich  nicht:  personne  und  rien  als  ursprüngliche  Substantive  können  nicht 
mit  anderen  Substantiven  verbunden  werden.  Im  §  313.  Anm.  4  lehrt  der 
Verf.,  dass  (juelque  chose,  weil  es  das  Substantiv  cJwse  enthält,  nicht  mit 
einem  anderen  Substantiv  verbunden  werden  kann,  aber  wohl  mit  einem 
Adjektiv,  und  er  führt  als  Beispiel  an:  qnelqne  chose  de  hon.  Aber  in 
dieser  AVeise  (vermittelst  der  Präposition  de)  verbindet  man  ia  ganz  ge- 
wöhnlich Substantive  mit  einander ;  ich  kann  daher  des  Verfassers 
Motivierung  zu  den  beiden  Eegeln  nicht  begreifen;  tind  betreffs  der  er- 
wähnten Pronomina  sagt  man  ja  z.  B.:  Elle  n' avait  rien  de  la  grandeur 
d'äme   de  Marie-Therese,  wo  rien  mit  einem  Stubstantiv  verbunden  wird. 

Im  Kapitel  von  der  Wortstellung  spricht  der  Verf,  in  §§  187 — 191 
von  der  Stellung  der  Hauptteile  des  Satzes  zu  einander,  im  §  192  von 
der  Stellung  der  untergeordneten  Satzteile  zu  einander;  in  keinem  Para- 
graphen findet  man  das  tertium  besprochen:  die  Stellung  der  untergeord- 
neten Satzteile  zu  den  Hauptteilen.  Und  doch  hätte  man  gern  ein  Wort 
von  der  Stellung  der  verbalen  Bestimmungen  zum  Prädikat  gesehen, 
besonders  von  der  des  direkten  Objekts  und  des  verbalen  Adverbiafs,  wenn 
es  ein  Präpositionsadverbial  ist.    Zwar  findet  man  die  Stellung  des  direkten 


Johan  Vising.     I  ransk  Spräldüra.  253 

(_)lijekts  im  §  187,  2,  Anm.  1  mit  ein  Paar  Worten  Ijesprochen.  aber  dies 
gehört  ja  nicht  hierher,  wo  der  Verf.  von  der  Stellung  der  Hauptteile 
spricht. 

Der  Verf.  sagt  in  der  Vorrede,  dass  man  die  Schüler  interessieren 
muss.  Ein  Mittel,  das  Interesse  zu  erwecken,  ist,  die  Grammatik  so 
darzustellen,  dass.  wenn  es  möglich  ist,  der  Schüler  den  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  den  verschiedenen  Eegeln  findet,  dass  er  sieht,  wie  dieselben 
nur  Aeusserungen  allgemeinerer  Gesetze  sind,  dass  er  nicht  nur  das 
das,  sondern  auch  das  warum  erfasst.  Dadurch  unterstützt  man  das 
Gedächtniss  des  Schülers  und  vermehrt  den  formellen  Bildungswert  des 
Sprachstudiums.  Dergleichen  aufklärende  Andeutungen,  die  der  Lehrer 
mündlich  weiter  auszulegen  hat,  macht  der  Verf.  öfters.  Ich  denke  be- 
sonders an  seine  Einleitung  zu  dem  Kapitel  von  der  Stellung  des  attri- 
butiven Adjektivs:  der  Verf.  schickt  einen  Hinweis  auf  §  81  voraus,  wo 
es  sich  um  die  Betonungsverhältnisse  der  fr.  Sprache  handelt.  Einen 
ähnlichen  Hinweis  hätte  der  Verf.  im  Kaijitel  von  der  "\^'ortstellung  im 
allgemeinen  geben  sollen,  ^sur  dann  kann  der  Schüler  den  Verf.  verstehen, 
wenn  er  §  187,  2.  Anm.  2  sagt  „sofern  das  Subjekt  nicht  zu  un- 
bedeutend ist,  am  Ende  zu  stehen",  oder  im  §  189  „nicht  attrihue-t-on, 
Aveil  on  als  unbetont  nicht  am  Ende  stehen  darf."  ..etait  ist  zu  unbedeutend 
nach  Celle  de  nos  peres  zu  stehen"  fnotre  boussole  est  heaucoup  meilleurt' 
qiie  n'ctait  celle  de  )ios  peres). 

In  §  187.   2,   Anm.   2  sagt  der  Verf.,   dass  die   einfache  Inversion 
bisweilen    eintritt,    wenn    der    Satz    mit    einer    Adverbial-    oder    Dativ- 
bestimmung  eingeleitet   wird.     Der  Verf.  hat  nicht,   wie   es   in   anderen 
Grammatiken  zu  geschehen  pÜegt,  hinzugefügt:  wenn  das  Verb  intransitiv, 
reliexiv  oder  passiv  ist.     Dieser  Zusatz   darf  nicht   ausgelassen   werden. 
teils  aus  praktischen  Gründen,   teils   weil   es   sich  hier  um   eine   wichtige 
Satzart   handelt,    die   die    eigentümliche   Wortfolge   des  Fr.   bewirkt,    der 
Mangel   an    Kasusliexion    und    der    daraus    folgenden    Notwendigkeit    das 
Subjekt  und  das  Objekt  durch  die  Stellung  zu  unterscheiden.     Nur   wenn 
keine  Verwechslung  des  Subjekts  und  des  Objekts  möglich  ist,  d.  h.  wenn 
kein  Objekt  vorhanden  ist.  oder  wenn  die  Objektsfunktion  durch  die  Forui 
des  Wortes  ausgedrückt  wird  [Je,  la,  les,  sc,  qiie)  kann  die  Inversion  eintreten, 
und  sie  tritt  bisweilen  ein,  wenn  der  Satz  mit  einer  Prädikatsbestimmung 
eingeleitet  wird  (Adverbial.  Dativbestimmung,  Präd.  teP).    Hier  füge  man  nun 
das  hinzu,  wovon  der  Verf.  im  §  189  redet:   diese  Inversion   findet   statr 
nicht  nur  in  Hauptsätzen  sondern  auch  in  Nebensätzen  (meistens  in  Frage- 
sätzen, Kelativsätzen  und  Komparativsätzen).     Wenn   man  die  Eegeln  in 
dieser  ^^'eise  darstellt,  versteht  der  Schüler  leicht,  warum  man  niclit  etwa 
sagen   kann:  pourquoi  tua  le  pere  le  fUs,   d.  h.    dass   in  Fragesätzen    die 
einfache  Inversion  unmöglich  ist,   wenn   es  ein  lietontes  Objekt  giebt,   ja. 
selbst  Fälle  wie  qni  cet  homme  )ia-t-il  pas  trompc  und  qui  na pas  trompr 
cet  homme  sind  nicht  länger  unverständliche  Konstruktionen,  der  Schüler 
findet  sie  ganz   natürlich.     Der  kurze  Sinn   der  vorstehenden  Anführung 
ist  der  Wunscli,  dass  der  Verf.  dem  Kapitel  von  der  Wortstellung  im  all- 
gemeinen zwei  Bemerkungen  vorausschicke:  eine  über  die  Tonverhältnisse, 
die   andere    ül)er    die   mangelnde   Kasusfiexion.      Dies    würde   freilicli    das 
betreffende   Kapitel   ein   wenig   umfangreicher  gestalten,   aber   wenn   der 
Verf.  von    der  Stellung   des   attributiven  Adjektivs   auf  ö'  ,  Seiten  redet, 
kann  er,  scheint  es  mir,  dem  Kapitel  von  der  Wortstellung  im  allgemeinen 
etwas  mehr  als  5  Seiten  widmen. 


^)  Dieser  Fall  ist  besser  in   diesem   Zusammenhana:   zu    erwähne^ 
als  in  §  188,  3. 


254     Ref.  u.  Rez.  P.  E.  Lindström,  J.  Vising.  Fransk  SpräMära. 

Kann  man,  wie  der  Verf.  S.  11  tliut,  fr.  s,  z  ^.tandvallsljud"  nennen? 
Zum  Schluss  will  ich  hier  eine  Anzahl  kleiner  Versehen  erwähnen,  die  in 
einer  künftigen  Auflage  zu  ändern  sind,  und  die  die  früheren  Recensenten 
übergangen  haben. 

S.  (57,  Z.  11  V.  u.  steht  cuillerais,  lies  cueillerais.  S.  73,  Z.  9  t.  o.  steht: 
faire  förtiga,  füge  hinzu:  mit  Ausnahme  der  3.  Pers.  Sing.  Präs..  die  il  tait 
geschrieben  wird.  S.  76,  Z.  8  v.  o.  steht:  (fem.  crue,  plur.  crus),  schreibe: 
(fem.  crue,  plur.  crüs).  S.  76,  Z.  18  v.  o.  füge  hinzu:  und  fem.  des 
Part.  Perf.  [crue,  crues).  S.  80.  Z.  6  v.  o.  steht  pluvrait,  lies  pleuvraif. 
S.  106,  Z.  15,  16  V.  0.  steht  quatre-vingt  im,  schreibe  quatre-vingt-un. 
S.  176,  Z.  15  V.  0.  steht  il  ä  faxt,  schreibe  il  a  fait.  8.  245,  Z.  11 
V.  0.  steht  Mark:  nul,  schreibe  31ärk:  1.  nul.  S.  276  steht  prieure, 
schreibe  prieur.  S.  87  steht  falloir  89.  lies  falloir  81.  S.  88  recouvrir 
steht  ouvrir  76,  lies  ouvrir  67.  S.  89  steht  rire  72,  lies  rire  71. 
Die  Zahlen,  die  die  Unterabteilungen  des  §  218  bezeichnen  sind  resp.  1, 
2,  2,  3,  4;  lies  resp.  1,  2,  3.  4,  5.  S.  128,  Z.  10,  9  v.  u.  steht:  jf.  §  217, 
2,  3;  lies:  jf.  §  218,  2,  4.  S.  247,  letzte  Zeile,  .steht:  jf.  %  267,  3;  lies: 
jf  §  267,  3,  Anm.  3.  S.  253,  Z.  10  v.  o.  steht  (§  303),  lies  (§  304). 
S.  157,  Z.  13  V.  u.  steht:  jf.  ock  §  226,  3;  eine  solche  Abteilung  giebt  es 
nicht.  Der  letzte  Teil  des  §  290  („das  nach  Präposition  und  in  Subjekt- 
sätzen gebrauchte  quov)  ist,  soviel  ich  verstehe,  sinnlos.  Die  Bemerkung  1 
im  §  307,  3  ist  zu  streichen;  in  diesem  Paragraphen  handelt  es  sich  um 
Pronomina,  nicht  um  Modi  nach  si-que,  quelqiie-que  und  toiit-que^). 
Schwierig  zu  verstehen  sind  folgende  Regeln:  §  206  („dermed  likbetydande 
satser"),"§  253,  2:  (,det  bestämda  substantivets  natur"!,  §  282,  2  („stark 
hänvisning" ).  (In  Fuyons  ces  societes  ou  Von  ne  fait  que  mcdire  hat  ces 
zweifache  Funktion:  es  ist  sowohl  demonstrativ  als  determinativ.)  Der 
letzte  Satz  im  §  317  kann  missverstanden  werden:  der  mit  ^men"  an- 
hebende Satz  kann  als  eine  Ausnahme  von  dem  vorhergehenden  Satze  oder 
als  eine  Beschränkung  desselben  aufget'asst  werden.  Indem  ich  noch  der 
Kuriosität  wegen  einen  Fehler  in  dem  Zusätze  zum  Druckfehlerindex  an- 
merke (166 — 4.  lies  166 — 3),  habe  ich  nichts  weiter  hinzuzufügen.  Aber 
ehe  ich  die  Feder  weglege,  will  ich  im  Namen  meiner  Mitstudierenden 
und  Mitlehrcr  Herrn  Professor  Vising  warmen  Dank  aussprechen  für  das 
viele  gute  und  neue,  dass  er  uns  in  seiner  Grammatik  geboten  hat,  und 
meinem  mit  Bewunderung  gemischtem  Erstaunen  darüber  Ausdruck  geben, 
dass  die  erste  Autlage  einer  Grammatik,  welche  so  selbständig  ist  und  so 
wenig  auf  altern  Werken  derselben  Art  ruht,  so  vollendet  und  korrekt 
hat  werden  können.  Anderseits  konnte  man  nichts  anderes  erwarten  von 
einem  Manne,  der  mehr  als  irgend  ein  anderer  bei  uns  die  zwei  Voraus- 
setzungen in  sich  vereinigt,  die  für  die  Abfassung  einer  fr.  Grammatik 
notwendig  sind :  Gelehrsamkeit  und  pädagogisches  Geschick. 

Göteborg,  Januar  1893. 

P.  E.  Lindström. 


*)  Solche  Bemerkungen  kann  man  möglicherweise  beim  Unterricht 
mündlich  machen,  nicht  aber  in  einer  Grammatik,  die  objektiv  und 
schematisch  sein  soll. 


M  iszel !  en. 


Aus  der  romanischen  Sektion  der  42.  Yersammlung  deutscher 
Philologen  und  Schulmänner  in  Wien. 

Über  den  glänzenden  Verlauf  dieser  grossen  Versammlung,  der  von 
Seiten  des  a.  h.  Hofes,  der  hohen  Regierung  und  des  Gemeinderates  der 
Reichshauptstadt  eine  so  grosse,  bisher  nie  gesehene  Auszeichnung  zuteil 
geworden,  ist  hier  zu  berichten  nicht  der  Ort;  hier  soll  nur  versucht  werden, 
einen  Einblick  zu  eröfinen  in  einen  Teil  der  stillen,  geräuschlosen,  aber 
desto  nachhaltigeren  Arbeit,  wie  sie  in  den  Sektionen  sich  zu  vollziehen 
pflegt.  Die  Tätigkeit  der  romanischen  Sektion,  ihre  Vorträge,  Ver- 
handlungen und  Beschlüsse  sollen  allein  Gegenstand  des  folgenden  Berichtes 
sein.  Ein  solcher  kann  aber  nur  in  geringem  Masse  als  Abbild  der  inhalts- 
reichen Tage  gelten;  denn  die  Fülle  der  aus  einer  persönlichen  Begegnung 
entspringenden  Anregungen,  welche  selbst  die  augenblicklich  greifbaren  Er- 
gebnisse der  Verhandlungen  an  Fruchtbarkeit  überragen  mögen,  entzieht  sich 
der  statistischen  Betrachtung.  Selbst  der  konki-ete  Teil,  die  Vorträge  können 
hier  nur  kurz  ihrem  Inhalte  nach  skizziert  werden;  da  sie  aber  vollinhaltlich 
noch  nicht  so  schnell  an  die  Öffentlichkeit  treten  dürften,  mögen  bis  dahin 
die  folgenden  ilitteilungen  manchem  vielleicht  nicht  unwillkommen  sein. 

Die  romanische  Sektion  zählte  diesmal  41  Mitglieder,  worunter  die 
Professoren  Tobler  (Berlin) ,  Freymond  (Bern) ,  Soldan  (Basel) ,  Stimming 
(Göttingen),  die  Docenten  Hartmann  (München)  und  Zenker  (Würzburg) 
von  auswärtigen  Universitäten,  die  Proff.  Cornu,  Jarnik  und  Lector  Rolin 
von  der  Prager  und  die  Proft".  Hofrat  3Iussafia  und  Meyer-Lübke  von  der 
Wiener  Hochschule ;  ausser  diesen  gehörten  Landes-Schulinspektor  Dr.  Joh. 
Huemer  (Wien\  Studienrat  Dr.  G.  Stern  (Gmunden),  melu-ere  deutsche 
und  viele  österreichische  Vertreter  des  Mittelschul-Lehrstandes  der  rom. 
Sektion  an.  Hofrat  Mussafia,  als  Leiter  der  vorbereitenden  Geschäfte, 
schlug  in  der  constituierenden  Versammlung  Prof.  Tobler  zum  Vorsitzenden 
vor;  da  dieser  ablehnte,  wurde  auf  seinen  Antrag  3Iussafia  zum  1., 
Meyer-Lübke  zum  2.  Vorsitzenden  und  Dr.  Zenker  zum  1.  Schriftführer 
gewählt.  In  den  drei  übrigen  Sitzungen  waren  folgende  Vorträge  Gegen- 
stand der  Tagesordnung: 

Prof.  Adolf  Tobler  sprach  über  einen  interessanten  Punkt  der 
Romanischen  Syntax,  deiii  bisher  nur  geringe  Aufmerksamkeit  zugewendet 
worden  ist,  nämlich  den  Übertritt  von  Adjektiven  in  die  Funktion 
von  Substantiven.  Er  ging  dabei  vom  Französischen  aus,  wies  a1)er 
Erscheinungen  gleicher  Art  mit  den  hier  gefundenen  auch  im  Lateinischen, 
den  übrigen  romanischen  und  auch  einigen  ausserromanischen  Sprachen,  wie 
im  Griechischen  und  im  Deutschen  nach,  wobei  der  Übergang  stufenweise 
verfolgt  und  den  Zuhörern  eine  Fülle  von  neuen  und  scharfsinnigen  Be- 
merkungen geboten  und  von  ihnen  mit  grossem  Beifalle  aufgenommen  wurde. 


256  Miszellen. 

..Eine  grosse  Zahl  von  Adjektiven  i*6  znnächst  ieCgrmimerenoI  zu 
bestimmten  Substantiven  getreten,  von  -wek-hcn  sie  sich  aber  dann  un- 
abhängig luacbin  konnten,  wo  der  Oberl)egriff  in  der  Re-le  nicht  mehr 
eigen:-;  angegeben  zu  werden  branclite;  der  substantivische  Name  al)er  wirkt 
insofern  weiter,  als  er  das  Geschlecht  des  Adjektivs  Ijestimmt:  vgl.  (e(ilise) 
cathedrale,  (assemhUe)  Constituante,  (relifjieux)  frmiciscain  etc.  Die  Namen 
mancher  Wissenschaften  (^Zes  matUematiques),  die  Namen  manclier  Gattungen 
und  Arten  in  der  Terminologie  der  Naturwis-senschaften  sind  auf  diese 
Weise  entstanden.  Ein  weiterer  Schritt  geschah,  indem  die  Bezeichnung 
•einer  Eigenschaft  männlicher  oder  weiblicher  Personen  durch  ein  Adjektiv 
zur  Bezeichnung  dieser  Personen  selbst  gebraucht  wurde:  vgl.  le  riche, 
une  vieille  etc.  Hierher  gehören  grossentlieils  die  Bezeichnungen  der  ViJlker, 
der  verschiedenen  Stände  und  Berufsarten,  der  politischen  Parteien,  der 
an  gewissen  Krankheiten  Leidenden  u.  a.  m.  In  allen  diesen  Fällen  ist 
es  noch  immer  möglich,  ein  Substantiv  hinzuzudenken,  zu  welchem  das 
Adjektiv  determinierendes  Attribut  gewesen  ist  oder  sein  könnte.  Schon 
•weiter  von  seiner  ursprünglichen  Funktion  entfernt  ist  das  Adjektiv  da, 
wo  in  ihm  überhaupt  alles  gegeben  wird,  was  für  den  Sprechenden  die 
Vorstellung  eines  Seienden  ausmacht,  indem  wir  das  Seiende  bloss  ver- 
möge einer  bestimmten  Eigenschaft,  ohne  weiche  es  nicht  wäre,  aufzu- 
fassen imstande  sind;  ein  Träger  der  Eigenschaft  liegt  dabei  ausserhalh 
des  Denkens  (vgl.  le  bleu,  .der  blaue  Fleck',  uu  plat,  du  rouge  etc.)  Davon 
zu  sondern  ist  der  (lebrauch  des  substantivierten  Adjektivs  zur  Bezeichnung 
des  mit  einer  Eigenschaft  behafteten  Teiles  eines  grösseren  Bestandes  oder 
Teiles  aller  Dinge:  vgl.  un  hlanc  d'ceuf,  le  las  de  chansse,  le  haut  des 
cieux,  gagner  le  large  etc.  (Diese  beiden  Arten  substantivischer  Verwendung 
des  Adjektivs  sind  oft  schwer  zu  scheiden.)  Die  Sprache  geht  aber  noch 
weiter.  Die  durch  ein  Adjektiv  zu  bezeichnende  Eigenschaft  lässt  nämlich 
innerhalb  ihres  Gesammtbereiches  noch  ungleiche  BeschaÖenheit ,  Unter- 
schiede bezüglich  des  Grades,  des  i\lasses  oder  des  Ursprungs  zu,  welche 
in  näheren  Bestimmungen  mannigfachster  Art  Ausdruck  linden  können. 
Während  das  Dciitsrhe  diesen  Gebrauch  nur  vereinzelt  aufweist,  wie  z.  B. 
bei  Farbenliezeichnungen  (,das  Grün  des  ]\leeres'  verschieden  von  .das 
Grüne'),  ist  er  im  Französischen  ungemein  häutig,  und  zwar  ebensowohl 
für  ]5ezeichnungen  der  räumlichen  Ausdehnung,  des  Wertes,  des  Gewichtes, 
wie  der  Farbe  (tous  les  verts).  Ein  solches  substantiviertes  Adjektiv 
(meist  von  einer  genitiven  Bestimmung  begleitet)  Ijedeutet  aber  nicht  nur 
die  Art,  wie,  sondern  selbst  die  Tatsache,  dass  eine  Eigenschaft  hier 
oder  dort  verwirklicht  ist:  vgl.  Virremcdiablc  de  son  aneantissement ,  le 
dehraiUe  de  sa  temte,  le  fragmentaire  des  documents  etc.  Auch  das  Part. 
Pf.  wird  so  verwendet  (le  mal  fände  de  ses  remarques).  Schliesslich  wird 
das  Adjektiv  in  substantivischer  Funktion  auch  ohne  nähere  Bestimmung 
geradezu  als  Ersatz  für  Abstracta  gebraucht,  wo  solche  der  Sprache  ab- 
gelien:  z.  B.  avec  serieux,  etre  au  complct  etc.  Dabei  wurde  immer  nur 
von  Adjektiven  gesprochen,  die;  in  ihrer  ursprünglichen  attributiven  Funktion 
jederzeit  noch  l)egegnen,  abgesehen  dagegen  von  Wörtern,  die,  ursprünglich 
zwar  auch  Adjektiva,  jetzt  nur  noch  als  Substantiva  auftreten,  Avie  Iwpital, 
hoire.  In  allen  diesen  Fällen,  mit  Ausnahme  der  beiden  zu  Anfang  be- 
sprochenen, liegt  nicht  ein  bestimmtes  Seiendes  als  Träger  der  Eigen- 
schaft im  Bewusstsein,  sondern  Avir  haben  es  mit  geschleiditslosem  Seiendem 
zu  thun,  weshalb  das  substantivierte  Adjektiv  im  Deutschen,  Lateinischen 
und  (iiiechisehen  hier  generis  neutrius  ist;  im  Französischen,  das,  von 
gewissen  vereinzelten  Erscheinungen  der  alten  Zeit  abgesehen,  Substantiva 
nur  entweder  männlichen  oder  weiblichen  Geschlechtes  kennt,  werden  sie 
als  masculina  gebraucht,  wie  die  afr.  Flexion  zeigt. 


Miszellen.  257 

Wirft  man  einen  Blick  auf  andere  Sprachen,  so  lindet  man  schon 
im  Lateinischen  und  Griechisclicn  Ausdrucksweisen,  welche  mit  den  he- 
sprochenen  gleichen  Wesens  sind:  vgl.  dextra,  siomnum,  humicliim  (die 
Feuchtigkeit)  etc.;  ebenso  werden  Part.  Pf.  gebraucht,  Avie  degeneratum, 
notum  (die  Thatsache,  dass  eine  Entartung  stattgefunden;  dass  man  wusste). 
Im  Griechischen  ist  die  substantivische  Natur  des  Adjektivs  schon  durch 
den  begleitenden  Artikel  ausser  Zweifel  gestellt:  vgl.  t6  ijavxoy  (der  Um- 
stand, dass  Euhe  herrschte)  u.  ä.  m.  Im  Deutschen  kommt  zu  den  Be- 
sonderheiten der  anderen  Sprachen  noch  die  weitere  Unterscheidung  hinzu, 
welche  mit  der  Verschiedenheit  oder  dem  Fehlen  der  Flexion  zusammen- 
hängt: vgl.  .ein  Wilder-  und  ,das  Wild'.  Zu  Farbenbezeichnungen,  aber 
nur  zu  diesen,  tritt  auch  eine  Artbestimmung  (z.  B.  ein  helleres  Blau). 
Die  Verbindung  des  substantivierten  Neutrums  mit  einem  Genitiv  hat 
leicht  etwas  Zweideutiges;  .das  Witzige  der  Antwort'  kann  heissen  ,der 
witzige  Teil  der  Antwort'  aber  auch  ,der  Umstand,  dass  die  ganze  Ant- 
wort witzig  war'.  Thut  es  not.  Missdeutung  auszuscliliessen,  so  leisten 
,in-  oder  ,an'  gute  Dienste  als  Ersatz  für  einen  Genitiv  partitiven  Sinnes. 
,Das  Plötzliche  des  Umschlags'  wird  jeder  ohne  weiteres  richtig  verstehen. 
Ohne  bestimmenden  Zusatz  wird  das  substantivierte  Neutrum  im  Deutschen 
selten  im  Sinne  des  Abstractums  auf  ,heit',  ,keit'  gebraucht.  Interessant 
sind  besonders  Ausdrücke  im  Spanischen  wie  de  antiguas  (,vor  Alter-,  so- 
fern die  alten  Dinge  mit  weiblichen  Namen  benannt  sind),  de 
gnardadas  (,vor  lauter  Autheben'),  desgleichen  de  puro  molido  (,vor  lauter 
Zerschlagenheit'  einer  männlichen  Person)  etc.,  wo  de  den  Grund  angibt. 
Es  treten  hier  also  die  Adjektiva,  obwohl  sie  eine  Eigenschaft  als  ein 
für  sich  Seiendes  bezeichnen,  merkwürdigerweise  in  tlectierter  Form  auf, 
durch  genus  und  numerus  des  Wortes  bestimmt,  das  den  Träger  der 
Eigenschaft  nennt.  Merkwürdig  ist  ferner  im  Spanischen  der  Gebrauch 
substantivierter  aber  nicht  Personen  bezeichnender  Adjektiva  mit  dem 
Artikel  el  oder  lo  zur  zusammenfassenden  Bezeichnung  dessen,  was  sich 
vermöge  einer  gemeinsamen  Eigenschaft  inmitten  alles  Seienden  als  Einheit 
denken  lässt  oder  als  einheitlicher  Bestandteil  ausgesondert  wird:  vgl. 
el  ridiculo,  el  interior  del  libro,  el  extranjero  (die  Fremde);  in  anderen  Fällen 
begegnet  lo:  lo  bajo,  lo  conum".  Der  Vortragende  suchte  dann  die  Grenzen 
für  den  Gebrauch  des  sog.  neutr.  span.  Artikels  lo  zu  bestimmen  und  die 
Gedankenvoraussetzung  darzulegen,  auf  deren  Grund  die  Verknüpfung  dieses 
neutralen  Artikels  mit  einem  tlectierten  Adjektiv  (vgl.  todo  lo  bellas 
,alle  Schönheit,  die  an  gewissen  weiblich  benannten  Wesen  haftet')  möglich 
geworden  ist." 

Der  Vorsitzende.  Hofrat  Mussafia,  dankte  dem  grossen  Forscher 
aiif  dem  Gebiete  der  romanischen  Syntax  mit  warmen  Worten  für  diesen 
ausgezeichneten  Vortrag,  dem  die  vollzählig  versammelten  Sektionsmitglieder 
und  viele  Gäste  aus  anderen  Sektionen  mit  griisstem  Interesse  gefolgt  waren. 

Privat-Ducent  Dr.  K.  Zenker  machte  hierauf  vorläufige  Mitteilung 
von  den  Hauptergebnissen  seiner  Untersuchung  über  Die  historische 
(Ti-imdlage  und  Entwicklunin  der  Sage  von  (Toniiund  und  Iseiubard, 
welche  den  Gegenstand  des  durch  sein  hohes  Alter  wie  durch  seine 
stilistische  und  metrische  Eigenart  und  seine  historischen  Beziehungen 
gleichermassen  interessanten,  nur  fragmentarisch  erhaltenen  altfranzösischen 
Epos  von  Gormund  und  Isembard  Ijüdet.  Der  Vortragende  gab  zunächst 
die  Litteratur  über  den  Gegenstand  und  skizzierte  dann  den  Inhalt  der 
r>ichtung,  über  den  wir,  soweit  das  Fragment  uns  im  Stiche  lässt,  nähere 
Auskunft  durch  ein  Kesume  derselben  in  Philipp  Mouskets  Reimchronik 
erhallen.  Die  in  einem  deutschen  Ritterroman  des  15.  Jahrhunderts,  dem 
Loher  und  Midier,  erhaltene  Uebersetzung  einer  verlornen,  aus  dem  14. 
Ztscbr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.  XV^.  17 


258  Miszellen. 

Jahrhundert  stammenden  Chanson  von  Gormund  und  Isembard  ist  nach 
ihm  für  unsere  Kenntnis  von  dem  Inhalte  des  alten  Epos  ziemlich  wertlos, 
indem  wir  es  hier  mit  einer  späten  TJeberarheitung  zu  tun  hahen.  in 
der  die  ursprüngliche  Fassung  bereits  vielfach  bis  zur  Unkenntlichkeit 
entstellt  ist.  Bezüglich  der  in  dem  Epos  nachweisbaren  historischen  Ele- 
mente führte  der  Vortragende  dann  in  der  Hauptsache  folgendes  aus: 

..Die  Schlacht,  welche  das  Fragment  sclüldert.  ist  anerkanntermassen 
die  Schlacht  von  Saucourt  (im  Gau  Vimeux),  in  welcher  der  französische 
König  Ludwig  III.,  der  Sohn  Ludwigs  des  Stammlers,  am  3.  August  881 
einen  glänzenden  Sieg  über  die  Normannen  davontrug,  einen  Sieg,  von 
dessen  mächtigem  Eindruck  auf  die  Zeitgenossen  auch  das  deutsche 
Ludwigslied  Zeugnis  ablegt.  Sodann  ist  der  Saracenenkönig  Gormund, 
welcher  als  Anführer  des  feindlichen  Heeres  erscheint,  unzAveifelhaft 
identisch  mit  dem  dänischen  Seekönige  Guthorm  (=  Kampfwurm  i.  der  im 
Jahre  879  von  Aelfred  dem  Grossen  besiegt,  auf  den  Namen  Aethelstan 
getauft  ixnd  mit  Ostanglien  belehnt  wurde.  (Die  Namensform  Gormund 
erklärt  sich  aus  der  abgekürzten  Form  Gorm.  welche  französisch  Gormon 
ergab.)  Aber  auch  den  Kern  der  ganzen  Sage,  die  Erzählung  von  Isem- 
bards  Verbannung  durch  König  Ludwig,  seinem  Bündnis  mit  Gormund 
und  der  gemeinsamen  Heerfahrt  beider  hat  man  l)is  in  die  neueste  Zeit 
als  geschichtlich  begründet  angesehen,  indem  man  dem  Berichte  des 
Chronicon  Centulense  (Chronik  von  St.  Ki(|uier,  abgeschlossen  1088.  be- 
gonnen etliche  Jahre  früher)  und  dem  im  wesentlichen  mit  ihm  überein- 
stimmenden, bei  Alberich  von  Troisfontaines  citierten  Berichte  des  Guido 
von  Bazoche  (f  1203)  historische  Glaubwürdigkeit  beimass.  Dem  gegen- 
über hat  schon  Düramler  in  seiner  Geschichte  des  ostfränkischen  Reiches, 
2.  Aufl..  III,  151  die  beiden  genannten  Berichte  (dine  weiteres  als  sagen- 
haft bezeichnet:  in  der  Tat  kann  es  kaum  einem  Zweifel  unterliegen, 
dass  das  Chronico)i  Centulense  entweder  direkt  aus  unserem  Epos  oder 
aus  der  ihm  zu  Grunde  liegenden  Volkssage,  Guido  von  Bazoche  aber  aus 
einer  auf  die  gleiche  Quelle  zurückgehenden  litterarischen  Ueberlieferung 
geschöpft  hat.  Die  zeitgenössischen  Geschichtsschreiber  wissen  von  den 
fraglichen  Ereignissen  nichts,  sie  nennen  die  Anführer  des  normannisehen 
Heeres  nicht,  und  aus  der  Darstellung  der  vertrauenswürdigen  angel- 
sächsischen Chronik,  der  Hauptquelle  für  die  ältere  englische  Geschichte, 
geht  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  hervor,  dass  Guthorm  an  der  Schlacht 
von  Saucourt  nicht  betheiligt  war.  Es  fragt  sich,  wie  die  betreffende 
Sage  entstehen  konnte.  Vielleicht  dürfen  wir  annehmen,  dass  eine  \'er- 
wedislung  vorliegt  mit  einem  anderen  nordischen  Häuptlinge  namens 
Wurm  (Vurmo»,  der  als  einer  der  Anführer  des  dänischen  Heeres  genannt 
wird,  welches  im  Jahre  882  von  Karl  III.  an  der  31  aas  belagert  wurde; 
da  dieses  Heer  das  gleiche  war.  welches  im  Jahre  vorher  die  Schlacht  von 
Saurourt  geschlagen  hatte,  so  ist  die  Vermutung  zulässig,  dass  Wurm 
bereits  an  dieser  Schlacht  Anteil  genommen  und  vielleieht  eine  hei  vor- 
ragende Eolli'  in  derselben  gesidelt  hatte.  l)er  Name  Wiirm  musste  tian- 
zösisch  Gormon  ergeben.  Die  Identität  des  Namens  hätte  ilann  dazu 
geiührt,  dass  man  ihn  mit  Gormon-(iuthorm,  von  dessen  Thaten  man  auch 
diesseits  des  Canuls  gehört  haben  mochte,  identificierte. 

Was  Isembaril  lietrifft,  so  bietet  die  geschichtliche  Ueberlieferung 
zu  einer  Identitication  desselben  mit  einem  unter  Karl  dem  Kahlen  nach- 
weisl)aren  fränkischen  Grossen  dieses  Namens  keine  hinreichenden  Anhalts- 
punkte: zweifelhaft  -cheint  es  auch,  ob  derselbe  irgend  etwas  zu  ihun 
hat  mit  einem  Isembardus  ülius  ^^'arini.  welcher  in  der  vom  31önch  von 
St.  Gallen  verfassten  sagenhaften  Geschichte  Karls  des  Grossen  auftritt. 
Dagegen    besteht    nun    eine    merkwürdige     Uebereinstimmung    zwischen 


Miszellen.  259 

dem.  was  unser  Epos  nach  Mouskets  Resume  über  Isembards  Schicksale 
bis  zu  seiner  Rückkehr  nach  Frankreich  berichtete,  und  einer  bei  Dudo 
von  St.  Quentin  (Anfang  des  XI.  Jahrhunderts)  aufbewahrten  alten  nor- 
mannischen Tradition  über  den  ersten  Normannenherzog  Rollo  (Hrolf), 
wenn  man  anders  mit  der  Mehrzahl  der  Forscher  den  englischen  König 
Alstemius  (=  Aethelstan),  zu  welchem  Dudo  den  Rollo  gelangen  lässt. 
als  identisch  ansieht  mit  Guthorm-Aethelstan.  Diese  Uebereinstimmung 
macht  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  betreöende  Tradition  entweder 
von  Rollo  auf  den  Helden  des  Epos  oder  umgekehrt  übertragen  wurde. 
Das  erstere  wäre  natürlich  anzunehmen,  wenn  man  mit  Steenstrup  und 
Amira  die  Erzählung  Dudos  gegenüber  der  von  ihr  gänzlich  abweichenden 
skandinavischen  Tradition  über  Rollo  als  historisch  glaubwürdig  betrachtet. 
Im  einen  wie  im  andern  Falle  muss  die  Uebertragung  schon  sehr  früh 
stattgefunden  haben,  zu  einer  Zeit  nämlich,  wo  Rollo  noch  nicht  durch 
seine  Belehnung  mit  der  Normandie  (911)  aus  der  Reihe  der  übrigen 
nordischen  Häuptlinge,  welche  damals  die  Küsten  Frankreichs  brand- 
schatzten, herausgetreten  war;  Isembard  aber  mnss  dann  ursprünglich 
gleichfalls  ein  solcher  nordischer  Heerführer  gewesen  sein,  der  erst  nach- 
träglich von  der  Sage  in  einen  ungerecht  vertriebenen  Franken  verwandelt 
wurde.  Einen  fremden  Eroberer  zu  einem  in  seine  Heimat  zurückkehrenden 
Verbannten  zu  stempeln,  ist  ja  der  epischen  Sage  durchaus  geläufig.  (So 
wäre  nach  Radulphus  Glaber  der  berühmte  Hasting  ein  zu  den  Normannen 
übergelaufener  Bauer  aus  der  Gegend  von  Troyes  gewesen.)  Dies  also 
vorausgesetzt,  hat  die  angenommene  Uebertragung  der  in  Rede  stehenden 
Tradition  gar  nichts  Auffälliges,  indem  bekanntlich  auch  die  Historiker  jener 
Zeit  die  verschiedenen  Wikiugerhäuptlinge  beständig  miteinander  verwechseln. 
Somit  würde  dann  die  Erzählung  Dudos  von  Rollos  .Tugendschicksalen  die 
älteste  Fassung  der  Sage  von  Gormund  und  Isembard  darstellen." 

Der  Vortragende,  dessen  Ausführungen  die  Versammlung  mit  leb- 
haftem Beifalle  lohnte,  gedenkt  eine  eingehende  Untersuchung  über  den 
Gegenstand  demnächst  zu  veröffentlichen. 

Realschuldirektor  J.  Fetter  (Wien)  sprach  in  einer  mit  der  engl. 
Sektion  gemeinsam  abgehaltenen  Sitzung,  welcher  auch  Herr  Hofiat 
Dr.  Erich  Wolf  vom  h.  Unterrichtsministerium  und  L.  S.  Insp  Dr.  K.  F. 
Kummer  anwohnten  (Vorsitzender:  Univ.- Professor  J.  Schipper),  über 
„Die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des  französisclieii  Unterrichts  an 
den  deutsch -österreichischen  Realscliulen.*'  Der  Vortragende  gab 
zuerst  ein  Bild  von  der  gegenwärtigen  Gestaltung  des  frz.  Unterrichts 
an  den  genannten  Schulen,  machte  dann  Andeutungen  über  die  bis- 
herigen Erfolge  und  künftig  noch  anzustrebenden  Ziele,  legte  seine  An- 
sichten über  die  Ausbildung  der  Lehrer  neuerer  Sprachen  dar  und  schlug, 
indem  er  die  Vertreter  der  Wissenschaft  um  ihre  unentbehrliche  Mitwirkung 
bat,  vier  Thesen  vor,  von  deren  Annahme  und  Durchführung  er  sich  eine 
wesentliche  Förderung  des  neusprachlichen  Unterrichtes  verspreche. 

Die  regste  Tätigkeit  herrsche  seit  einer  Reihe  von  Jahren  auf 
dem  Gebiet  des  frz.  Unterrichts:  Vorträge,  Schriften  und  Resolutionen 
geben  davon  Zeugnis.  Das  Wichtigste  aber,  was  bisher  geschehen,  seien 
die  vielen  Lehrversuche,  welche  mit  dem  neuen  A'erfahren  gemacht  wurden. 
Hindernd  aber  seien  dabei  die  nui^enüirende  Vorbildung  der  Lehrer  M  und 


^)  Da  sich  über  diesen  Punkt  niemand  aus  der  österreichischen  Lehrer- 
schaft zum  Worte  gemeldet  hat,  könnte  sich  bei  den  anwesenden  Herren  aus  dem 
Deutschen  Reiche  die  irrtümliche,  aber  begreifliche  Meinung  gebildet  halten,  es 
sei  damit  A\'irklich  so  schlimm  bestellt,  l'as  ist  nun  keineswegs  der  Fall,  und  die 
Behauptung  des  Vortragenden  geht  in  die.ser  allgemeinen  Form  zu  weit.  Ref. 

17* 


260  MiszeUen. 

die  Ueliorfüllunif  der  Klassen.')  Die  Lehrer  erhielten  zwar  eine  solide 
wis.senschafrliche  Bildung,  aber  in  vielen  Fällen  stünden  Wissen  und 
Können  nicht  auf  der  gleichen  Stufe,  und  doch  sollte  auch  letzteres  nicht 
vernachlässigt  werden.  Wohl  wurde  in  Oesterreich  seit  einiger  Zeit  schon, 
und  jetzt  mehr  denn  früher,  Lehramtskandidaten  und  —  während  der 
Ferienzeit  —  selbst  angestellten  Lehrern  durch  Verleihung  von  Stipendien 
Gelegenheit  zur  praktischen  Spracherlernung  bezw.  Hebung  geboten,  aber 
ein  solcher  Aufenthalt  in  Frankreich  sei  für  diejenigen,  welche  noch  vor 
der  Prüfung  stehen,  von  zweifelhaftem  Nutzen,  weil  der  Kandidat  sich 
leicht  veranlasst  sehen  könne,  für  die  allernächste  Zukunft,  d.  i.  das 
Examen  zu  arbeiten.  Weiter  solle  die  Thätigkeit  der  Lektoren  geregelt 
werden;  eine  zweistündige  Uebung  täglich  Märe  für  den  zukünftigen 
Lehrer  der  neueren  Sprachen  nicht  zuviel.  Doch  gehe  die  Forderung, 
dass  der  Lehrer  mit  zwei  fremden  lebenden  Sprachen  vertraut  sein  solle, 
zu  weit.  Die  praktische  Lehrerbildung  sollte  ehebaldigst  reorganisiert 
werden.  Wiewohl  Vortragender  sonst  in  allem  mit  Waetzold  überein- 
stimme, finde  er  doch  dessen  Forderungen  rücksichtlich  der  Vorbildung 
der  Lehrer  zu  hoch.  Was  die  schriftlichen  Hausarbeiten  der  Schüler 
angehe,  so  seien  die  meisten  unselbständig  und  hätten  höchstens  als 
Schönschreibübungen  einen  Wert;  die  Korrektur  derselben  durch  den 
Lehrer  sei  eine  grosse  Last.  Es  genüge  eine  gemeinsame  Korrektur  in 
der  Schule  und  eine  gelegentliche  Revision  der  Hefte. 

Ein  Fortschritt  gegenüber  der  alten  Lehrweise  sei  der  rege  Ge- 
dankenaustausch im  lebendigen  Unterrichte,  die  Aufnahme  der  neuen  Worte 
durch  das  Ohr  und  die  bessere  Aussprache  seitens  der  Schüler.  Ein 
grosser  Fortschritt  sei  die  gedächtnismässige  Aneignung  der  neuen  Lektion 
durch  Chor-  und  Einzelübungen,  das  Memorieren  mustergiltiger  Texte  und 
die  sich  daran  knüpfende  Anleitung  zu  selbständiger  Tätigkeit.  Als  be- 
sonders erfreulich  sei  hervorzuheben,  dass  der  Schüler  häufig  in  der 
fremden  Sprache  angesprochen  werde  und  ebenso  antworte.  Noch  nie  sei 
in  Oesterreich  auf  dem  Gebiete  des  neus]irachlichen  Unterrichts  eine 
solche  Fülle  von  Erfahrungen  gesammelt  worden,  als  dies  in  den  letzten 
sechs  Jahren  der  Fall  war.  Die  Methode  bedürfe  aber  noch  der  weiteren 
Ausgestaltung,  und  die  jetzigen  Lehrbücher  würden  sich  bald  überleben, 
da  in  den  Wandlungen  voraussichtlich  nicht  so  rasch  ein  Stillstand  ein- 
treten werde.  Deshalli  Aväre  es  jetzt  noch  nicht  an  der  Zeit,  in  Oester- 
reich einen  neuen  Lehrplan  wie  in  Deutschland  einzuführen,  wohl  aber 
wären  Uebergangsbestimmungen,  wie  solche  beti'cfi's  der  schriftlichen  Auf- 
gaben erlassen  worden,  wünschenswert,  damit  der  Unterricht  ohne  pliitz- 
liches  und  völliges  Aufgeben  des  bisherigen  Verfahrens  allmählich  und 
sicher  einer  Verbesserung  entgegengeführt  werde.  Uebersetzungen  in  die 
fremde  Sprache  hätten,  wie  dies  in  Oesterreich  bereits  geschieht,  in  die 
zwei  ersten  Jahrgänge  zu  entfallen,  doch  könne  sich  der  Vortragende 
denjenigen,  welche  das  Ausmass  der  grammatischen  Kenntnisse  auf  ein 
Minimum  beschränkt  wissen  mischten,  nicht  anschliessen.  Leider  sei  die 
dem  neusprachlichen  I'nterrichtc  zugemessene  Zeit  viel  zu  kurz.  Zum 
Schluss  seines  mit  sehr  grossem  Beifalle  aufgenommenen  Vortrages  dankt 
der  Vortragende  der  hohen  Unterrichtsvcrwaltung  für  ilie  Förderung  bei 
Versuchen    in    der    neuen   Lehrweise    und    stellt    folgende   Thesen   auf: 


')  Diesen  wichtigen  Umstand  hat  der  Vortragende  leider  nicht 
weiter  berührt.  Der  Unterrichtserfulg  wird  aber  in  Klassen  mit  50 — 60 
Schülern,  welcher  Zahl  in  der  IV.  und  V.  nur  drei  wöchentliche  Lehrstunden 
gegenüberstehen,  selbst  bei  einer  vortrefflichen  Methode  und  aufoi)fernden 
Tätigkeit  des  Lehrers  immer  nur   ein  niittelmässiger  sein  können.     Ref. 


Miszellen.  261 

1.  An  jenen  I^niversitäten,  wo  es  bisher  nicht  der  Fall  war,  wäre  in  den 
Vorlesungen  der  Universitätsprofessoren  die  litterarische  und  syjrachliche 
Entwicklung    der    letzten    drei    Jahrhunderte    mehr    zu    berücksichtigen. 

2.  Die  Thätigkeit  der  Lektoren  wäre  zu  regeln  und  zu  erweitern,  3.  Der 
üebergang  vom  alten  zum  neuen  Lehrplan  ist  durch  Uebergangsbestimmungen 
zu  vermitteln.  4.  Der  Lehrer  ist  von  der  regelmässigen  Durchsicht  der 
schriftlichen  Hausarbeiten  zu  entlasten. 

Daran  knüpfte  sich  eine  längere  Debatte,  an  welcher  sich  die 
Universitäts-Professoren  Hofrat  Mussafia,  Schipper,  Schröer  (Freiburg  i. 
Br.),  Landschulinspektor  Dr.  Huemer,  Prof.  A.  Sonntag  (Bockenheim), 
Oberlehrer  Dr.  John  Koch  (Berlin)  und  Prof.  W.  Duschinsky  (Wien)  be- 
teiligten. 

Hofrat  Mussafia  findet  die  1.  und  2.  These  inopportun,  weil  in 
Fetters  Vortrag  ohnehin  mit  genügender  Deutlichkeit  darauf  hingewiesen 
worden  sei,  dass  der  künftige  Lehrer  sich  die  fremde  Sprache  soviel  als 
möglich  zum  Eigentum  machen  solle.  Er  erblicke  in  diesen  Thesen  einen 
Ratschlag,  eine  Mahnung  an  die  Vertreter  der  österreichischen  und 
deutschen  Universitäten;  er  spreelie  hier  nicht  pro  domo,  sondern  nur  als 
Mitglied  der  roman.  Sektion  und  brauche  die  Universitäten  nicht  zu  ver- 
teidigen; es  möge  jede  in  sich  gehen  und  überlegen,  ob  diese  Mahnung 
für  sie  gelte,  oder  ob  sie  sich  frei  von  jeder  Unterlassung  fühle. 

Dir.  Fetter  erklärt,  seine  These  sei  bloss  ein  Ansuchen,  eine  Bitte, 
die  sich  aus  dem  Vortrage  ergebe. 

Prof.  Schröer  findet  sie  für  seine  Person  nicht  anstössig,  möchte 
aber  doch  eine  weniger  verletzende  Fassung  dafür  vorschlagen. 

Prof.  Sonntag  nimmt  für  die  Schulmänner  das  Recht  in  Anspruch, 
sich  über  ihre  eigene  Vorbildung  auszusprechen. 

Oberlehrer  Dr.  Koch  meint,  man  dürfe  durch  ein  Missverständnis, 
wie  hier  eines  vorzuliegen  scheine,  keine  Verstimmung  zwischen  den 
Universitäts-  und  Mittelschullehrern  aufkommen  lassen;  es  handle  sich  ja 
in  diesem  Falle  nicht  um  ein  Misstrauen  gegen  die  Universität,  sondern 
die  These  drücke  nur  den  Wunsch  der  Lehrerschaft  aus. 

Der  Vorsitzende.  Prof.  Schipper,  befürchtet  nicht,  dass  ein  Miss- 
verständnis vorliege;  er  selbst  gestehe  den  anwesenden  Herrn,  besonders 
denen  von  <Ier  Mittelschule,  das  volle  Recht  zu,  ihre  Wünsche  in  Bezug  auf 
ihre  VorVtildung  hier  laut  werden  zu  lassen,  denn  gerade  darin  liege  der 
Segen  der  Philologen- Verhandlungen,  dass  sie  fruchtbar  werden  für  den 
gesammten  Unterricht;  er  halte  es  aber  wie  Schröer  für  richtig,  dass  mit 
dem  Studium  der  früheren  Perioden  der  Sprache  und  Litteratur  zu  be- 
ginnen sei.  weil  auf  ihnen  die  spätere  Entwicklung  beruhe;  eine  ab- 
geschlossene Zeit  ermögliche  eine  übersichtlichere  Bearbeitung,  es  stehen 
dafür  auch  bessere  Hilfsmittel  zu  Gebote;  im  übrigen  genüge  es,  wenn 
ein  junger  Mann  zu  selbständigen  Arbeiten  angeleitet  worden  sei.  damit 
er  auch  auf  (Tebieten,  die  nicht  eingehend  behandelt  worden,  sich  zurecht 
finde.     Er  nehme  die  These  als  berechtigten  Wunsch  an. 

Hofrat  Mussafia  bemerkt  zur  Richtigstellung,  dass  er  die  Be- 
rechtigung des  Wunsches,  auch  Vorträge  über  die  moderne  Sprache  und 
Litt,  zu  iiiiren,  la  nicht  bestreite.  Er  habe  sagen  wollen,  man  mitge  den 
Universitäten  mit  dem  Lektionskatalog  in  der  Hand  beweisen,  dass  eine 
solche  Vernachlässigung  überhaupt  stattfinde ;  vom  Standpunkt  der  Sprache 
leugne  er  es;  wenn  die  Univ.-Professoren  eine  Vorlesung  ankündigten,  so 
begännen  sie  mit  den  frühesten  Zeiten  und  hörten  mit  der  (jicgenwart 
auf;  die  sprachlichen  Belege  würden  auch  aus  Denkmälern  aller  Zeiten 
(vom  Eulalialiede  bis  zu  Z(da)  gewählt.  Die  frz.  Litt,  möge  ja  vielleicht 
an  der  einen  oder  anderen  Hochschule  etwas  seltener  vorgetragen  werden 


262  Miszellm, 

als  andere  Litteraturen;  aber  dass  srerade  in  Wien  davon  gesprochen 
werde,  wo  18  Jahre  hindurch  ausschliesslich  dafür  ein  Prof.  angestellt 
gewesen  und  dreimal  wöchentlich  über  ein  allgemeines,  zweimal  üljer  ein 
besonderes  Thema  gelesen  worden  ist;  wo  heute  Prof.  Meyer-Lübke  über 
irgend  eine  Periode  der  neufranz.  Litt,  zu  lesen  pflegt:  das  verletze  ihn 
in  hohem  Masse.  Seien  denn  die  moderne  Sprache  und  Litt,  so  ver- 
waist, dass  es  nöthig  sei,  einen  darauf  bezüglichen  Wunsch  auszudrücken! 
Er  finde,  dass  eine  solche  Mahnung,  ein  so  einseitiger  Wunsch  hier  nicht 
am  Platze  sei,  und  wünscht,  dass  von  der  Aufstellung  der  1.  These  ab- 
gesehen werde. 

Prof.  Schipper  meint,  er  fühle  sich  persönlich  zwar  nicht  dazu 
veranlasst,  müsse  aber  doch  die  Tätigkeit  der  engl.  Univ.-Lehrer  recht- 
fertigen. 

Auf  Wunsch  Dir.  Fetters  wird  doch  die  These  zur  Abstimmung 
gebracht:  31  Stimmen  sind  dafür,  27  dagegen. 

Zur  2.  These  bemerkt  Hofrat  Mussafia,  dass  sie  in  noch  höherem 
Masse  als  die  erste  die  internen  Angelegenheiten  der  Univ.  lietrefl'e.  Man 
regle,  was  nicht  geregelt,  man  erweitere,  was  zu  eng  sei.  Es  mache 
grosse  Schwierigkeiten,  für  die  geringe  Entlohnung  gute  Lektoren  zu 
bekommen,  auch  sei  das  Entgegenkommen  vonseiten  der  Studierenden 
gering,  weil  der  Lektor  auf  die  Prüfung  keinen  Eintiuss  habe.  Das  ganze 
Lektorwosen  gehöre  eigentlich  nicht  zur  Univ.;  es  sei  ein  Mittel  für  die 
Studierenden,  sich  das  nachträglich  anzueignen,  was  man  schon  bei  ihrem 
Eintritte  fordern  sollte.  Mussafia  bittet,  ihm  lieber  bestimmte  Regeln 
anzugelien,  wie  dem  Übel  abzuhelfen  wäre.  Er  sei  nicht  gerade  gegen 
diese  These ,  möchte  aber  dann  eine  weitere  aufstellen  des  Inhalts : 
an  jedem  Gymnasium  oder  doch  an  einer  grösstmöglichen  Zahl  von 
Gymnasien  sollen  von  tüchtigen  Lehrern  Kurse  veranstaltet  werden,  in 
welchen  durch  3—4  Jahre  das  Studium  der  modernen  Sprachen  betrieben 
werde;  wer  die  Absicht  habe,  später  moderne  Philologie  zu  studieren, 
möge  sich  dann  hier  entsprechend  vorbereiten. 

L.  S.  Insp.  Dr.  Huemer  bemerkt,  um  bei  NichtÖsterreichern  kein 
Missverständnis  aufkommen  zu  lassen,  dass  an  den  österr.  Gymnasien 
ohnehin  von  der  IV.  Klasse  aufwärts  unobligate  C'urse  mit  2 stündiger 
Unterrichtszeit  in  der  Woche  für  die  franz.  und  engl.  Sprache  eingerichtet 
sind,  wenn  sich  eine  genügende  Zahl  Teilnehmer  meldet. 

Dir.  Fetter  ist  der  Ansicht,  dass  die  Lektoren  doch  das  billigste 
Mittel  seien,  um  junge  Leute  mit  der  fremden  Sprache  vertraut  zu 
machen. 

Prof.  Schipper  schliesst  sich  Mussafia  in  allen  wesentlichen  Punkten 
an  und  hebt  hervor,  dass  Wien  so  glücklich  ist,  zwei  tüchtige  engl. 
Lektoren  zu  besitzen,  er  freut  sich  auch,  dass  Fetter,  im  Gegensatze  zu 
Eamljeau,  das  Lekrorenwesen  nicht  nur  nicht  beseitigen,  sondern  erweitern 
wolle,  ist  aber  mit  einer  Vermehrung  der  Stundenzahl  nicht  einverstanden, 
weil  das  Honorar  iler  Lektoren  ein  zu  gei'inges  sei  und  die  Studierenden 
unmöglich  noch  mehr  arbeiten  könnten  als  bisher. 

Prof.  Sonntag  empfiehlt,  die  These  aufzustellen:  .Es  ist  wünschens- 
wert und  notwendig,  dass  die  Universität  für  die  praktische  Vorbildung 
der  heranzubildenden  Lehrer  sorgt.' 

Prof.  Schipper  hingegen  formuliert  Fetters  2.  These  wie  folgt: 
„Die  Tätigkeit  der  Lektoren  in  Seminarien  ist  in  der  bisherigen  Weise 
beizubehalten."   Dir.  Fetter  und  die  Anwesenden  stimmen  dieser  Fassung  zu. 

Mit  Kücksicht  darauf,  dass  die  Zeit  schon  vorgerückt  sei  und  die 
3.  und  4.  These  nur  innerösterreichische  Vcrliältnisse  betrefi'en,  beantragt 
Realschul-Prof.  Duschinsky,  diesellien  von  der  Tagesordnung  abzusetzen. 


Miszellen.  263 

Prof.  Schipper  regt  die  Gründung  eines  neupliilologischen  Vereins 
an;  dort  könnten  die  Verhandlungen  fortgeführt  werden.  Dieser  Antrag 
wird  angenomen. 

Landesschulinspektor  Dr.  Joh.  Huemer  hielt  in  einer  gemeinsamen 
Sitzung  der  philologischen  und  romanischen  Sektion  (Vorsitzender:  Prof. 
von  Christ  aus  München)  einen  interessanten  und  in  der  Zukunft  frucht- 
hringenden  Vortrag  „Über  die  Sauimluiig-  vulgär-lateinischer  Wort- 
formen"*, in  welchem  er  die  hisher  mehr  oder  minder  weitgehende  Ver- 
nachlässigung dieser  Formen  in  den  Varianten  der  Ausgaben ,  in  den 
Wortindices  und  in  Georges"  Lexicon  hervorhob  und  es  als  Folge 
der  über  die  Kraft  eines  Einzelnen  hinausgehenden  Grösse  der 
Arbeit  hinstellte,  wenn  eine  Sammlung  derselben  nocli  immer  nicht  zu- 
stande gekommen  sei.  Huemer  teilte  dann  mehrere  wertvolle  Ergeb- 
nisse seiner  Studien  über  die  vulgäre  Sprache  mit  und  schlug  die  An- 
nahme einer  Eesolution  vor,  welche  die  Schaffung  eines  auf  der  Höhe  der 
Wissenschaft  stehenden  Lexicons  der  vulgär-lat.  Worrformen  anregt  und 
die  Mittel  und  Wege  zur  Erreichung  dieses  Zieles  näher  bezeichnet. 

Der  Vortragende  erörterte  zunächst  die  Entstehung  und  Bedeutung 
des  Lexicons  der  lateinischen  Wortformen  von  Georges,  der  in  dankens- 
werter Weise  auch  die  vulgären  und  archaischen  Formen  in  seine  Samm- 
lung aufgenommen  habe.  Aber  die  Sammlung  dieser  Formen  sei  ungenau 
und  unvollständig,  daher  auch  unverlässlich ,  gleichwohl  aber,  solange 
kein  besserer  Behelf  dieser  Art  zu  Gebote  stehe,  für  Philologen  und 
Eomanisten  von  grossem  Werte.  Die  Quellen  des  Vulgärlateins  lägen 
jetzt  zum  Teil  in  berichtigter  Form  vor,  das  Inschriftenmaterial  sei 
erweitert,  die  Ausgaben  der  spätlateinischen  Schriftsteller  vermehrt  und 
revidiert.  Huemer  gab  nun  eine  vollständige  Sammlung  der  Formen 
mis  und  tis.  die  mit  Ennius  begann  und  mit  den  Lamentationes  des 
Matheolus  (XIII.  Jhdt.)  schloss;  er  brachte  neue  Beispiele  für  die  Vulgär- 
formen masceJ,  alecus,  miserissemus  seo  (=  seu)  etc.,  um  darzuthun,  dass 
die  bisherigen  Sammlungen  vulgärlat.  Worttormen  unvollständig  seien. 
Der  Vortragende  zog  hierauf  aus  der  Sammlung  der  Formen  mis  und  tis 
bestimmte  Schlüsse  auf  die  Erklärung  der  Formen  mi,  mismi,  mus,  ma, 
murn,  erklärte  einige  Stellen  in  den  Autoren,  verteidigte  sie  vor  Emen- 
dation  und  begrenzte  das  Vorkommen  dieser  Formen  für  die  spätere  Zeit 
auf  ein  bestimmtes  territoriales  Gebiet.  St)lche  Ausblicke  waren  nur 
möglich  auf  Grundlage  einer  vollständigen  Sammlung  der  Stellen.  Vor- 
tragender erörterte  dann  die  Notwendigkeit  einer  vollständigen 
Sammlung  der  Vulgärformen  überhaupt  und  erinnerte  daran,  dass  die 
A^Mener  Akademie  der  Wissenschaften  schon  1860  eine  Preisaufgabe  zur 
Erreichung  dieses  Zweckes  gestellt  habe.  Diese  Preisaufgabe  sei  aber 
nicht  gelöst  worden,  da  die  Grösse  der  Arbeit  ilire  Liisung  hinderte. 
Redner  schlug  Teilung  der  Arbeit  vor:  ein  Einzelner  könnte  die  Samm- 
lung nur  wagen,  wenn  umfangreiche,  veiiässliche  Wortindices  zu  den 
massgeblichen  Autoren  namentlich  der  spätlateinischen  und  frührumanischen 
Schriftdenkmäler  geboten,  Lesarten  vulgär  geschridiener  Handschriften  in 
grösserem  Lmfange  mitgeteilt  und  die  Collationen  wichtiger  Hand- 
schriften von  den  gelehrten  Gesellschaften  und  Einzelnen  auf  Ansuchen 
ausgefolgt  würden.  Schon  dadurch  könnte,  S(daTige  ein  Corpus  der  wich- 
tigsten vulgär  geschriebenen  Handschriften  nicht  zustande  kommt,  dem 
Sammler  Hilfe  geschafft  werden.  Mit  neuen  Hilfsmitteln  ausgerüstet, 
könnte  auch  ein  Einzelner  es  wagen,  nach  dem  Muster  von  Georges  die 
vollständige  Sammlung  der  vulgären  Wortformen  zu  vollziehen,  und 
damit  die  Basis  schaffen,  auf  der  die  Frage  gelöst  werden  könnte: 

-Was  ist  Vulgärlatein":" 


264  Miszellen. 

Zur  Erreichung  dieses  Zieles  empfiehlt  Vortragender,  von  Prof. 
Wo  Hfl  in  (München)  kräftigst  unterstützt,  die  Annahme  folgender  Re- 
solution: 

.Die  philologische  und  romanische  Sektion  der  42.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in  Wien  hält  die  Schaffung  eines 
dem  gegenwärtigen  Stande  der  wissenschaftlichen  Forschung  entsprechenden 
Lexicons  der  vulgär-lateinischen  Wertformen  für  ein  Bedürfnis  und  er- 
wartet von  der  Liberalität  der  gelehrten  Gesellschaften  und  Einzelner, 
die  sich  mit  der  Herausgabe  namentlich  spätlateinischer  und  früh- 
romanischer Schriftdenkmäler  befassen,  durch  die  Anlegung  und  Beigabe 
reichhaltiger  Wortindices,  durch  erweiterte  Mitteilung  von  Lesarten 
vulgär  geschriebener  Handschriften,  durch  leihweise  Ueberlassung  von 
Collationen  solcher  Handschriften  u.  ä.  eine  wesentliche  Förderung  dieser 
Arbeit." 

Hdfrat  Mussafia  meint,  es  Hesse  sich  das  angestrebte  Ziel  vielleicht 
eher  erreichen,  wenn  ein  Ausschuss  gewählt  würde,  der  über  konkrete 
Mittel  zu  beraten  hätte.  Ein  solches  wäre  die  Abfassung  eines  Memo- 
randums, welches  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  mit  der  Bitte 
vorzulegen  wäre,  dass  bei  der  Veranlassung  von  Handschriften-CoUatinnen 
die  genaue  Notierung  der  lautlichen,  morphologischen  und  graphischen 
Varianten,  welche  bisher  Avenig  oder  gar  nicht  beachtet  wurden,  zur  Pflicht 
gemacht  werde. 

L.  S.  Insp.  Huemer  möchte  doch  die  Annahme  der  Resolution 
empfehlen,  um  ein  Sxibstrat  zu  gemeinsamem  Vorgehen  zu  haben.  Die 
Resolution  wird  hierauf  einstimmig  angenommen  und  wie  der  vorhergehende 
Vortrag  mit  grossem  Beifalle  ausgezeichnet,  el)enso  der  konkrete  Vorschlag 
Mussafias.  In  den  Ausschuss  zur  Einleitung  wirksamer  Schritte  behufs 
Erreichung  des  Zieles  wurden  Hofrat  Mussafia,  Prof.  Mej'er-Lübke 
und  L.  S.  Insp.  Huemer  gewählt. 

Während  dieser  Debatte  und  des  folgenden  Teils  der  Tages- 
ordnung hatte  Prof.  Meyer-Lübke  den  Vorsitz  geführt  und  durch  um- 
sichtige Leitung  der  Verhandlungen  eine  rasche  Einigung  über  die  ein- 
zuschlagenden Wege  erzielt. 

Schliesslich  kann  Referent  sich  der  Pflicht  nicht  entziehen,  in 
diesem  Berichte  auch  seines  eigenen  Vortrags  „Uel)er  sclnyierig:e 
Frag'eii  bei  der  Textgestaltung  altfranzösischer  Dicliterwerke"  Er- 
wähnung zu  thun  und  kurz  hinzuweisen  auf  den  Inhalt  seiner  Ausführungen, 
die  vielleiclit  für  spätere  Herausgeber  afr.  Texte  hätten  fruchtbar  gemacht 
werden  können,  wenn  nicht  die  Kürze  der  noch  verfügbaren  Zeit  eine 
Diskussion  der  berührten  Fragen  unmiiglich  gemacht  hätte. 

„Die  Schwierigkeiten,  welche  sich  der  Lösung  vieler  Fragen  bei 
der  Ausgabe  eines  afr.  Dichterwerkes  entgegenstellen,  entspringen  aus  dem 
griisseren  oder  geringeren  Gegensatze  zwischen  theoretischen  Grundsätzen 
und  der  Möglichkeit  ihrer  Ausführung.  Diese  schwierigen  Fragen  können 
die  Wiederherstellung  eines  Denkmals  rücksichtlich  seines  Inhalts  oder 
seiner  Form  betreffen.  Die  Möglichkeit  einer  befriedigenden  Reconstruction 
des  Inhalts  wächst  mit  der  Zahl  der  Handschriften,  damit  steigern  sich 
aber  gleichzeitig  die  Anforderungen  an  den  Herausgeber.  Schon  beim 
Vorhandensein  zweier  annähernd  gleichwertiger  Hss.  oder  Hss.-Familien 
steht  derselbe,  wenn  sie  auseinandergehen,  oft  unentschlossen  da;  er  wird 
sich  aber  trotz  aller  Bedenken  zu  einem  conseiiuenten  Verfahren  ent- 
schliessen  müssen.  Wie  weittragend  die  Art  dieser  Entscheidung  für  die 
Gestalt  des  zu  reconstruierenden  Textes  ist.  lässt  sich  besonders  deutlich 
am  Yvain  zeigen,  wo  die  Einführung  der  Lesarten  von  V  aus  der  Hss.- 
Gruppe  a  im  ganzen  und  grossen  den  Försterschen  Text  ergibt,  während 


Missellen.  265 

die  etwaige,  nötigenfalls  durch  die  grössere  Hss.-Zahl  zu  rechtfertigende 
Bevorzugung  der  Gruppe  ß  eine  davon  abweichende  Gestalt,  die  dem 
Holland'schen  Texte  näher  stünde,  ergeben  würde.  Aehnlich  wie  hier,  wo 
die  naturgemäss  mehr  oder  minder  subjektive  Entscheidung  des  einen- 
Herausgebers  die  Lesarten  einer  bestimmten  Hss. -Gruppe  in  den  Vorder- 
grund stellt,  während  sie  der  andere  mit  vielleicht  gleicher  Berechtigung 
unter  die  Varianten  verweist,  liegen  die  Verhältnisse  dort,  wo  die  Auf- 
findung einer  neuen  oder  Einbeziehung  einer  lüsher  nicht  verwerteten, 
einigermassen  für  sich  stehenden  Hs.  die  mehr  oder  minder  weitgehende 
Umgestaltung  eines  Textes  zur  Folge  haben  kann.  Letzteres  ist  z.  B.  bei 
Eaouls  Mcraugis  von  Fortlesguez  der  Fall,  welche  Dichtung  Referent 
unter  Mitbenützung  der  wichtigen  vaticanischen  und  der  Berliner  Hs. 
herauszugeben  im  Begriffe  steht.  Die  unvermeidliche  Subjektivität  des 
Urteils  —  und  im  angedeuteten  Sinne  auch  der  Zufall  —  spielt  somit 
oft  eine  grössere  oder  geringere  Rolle  bei  der  Gestaltung  eines  Textes. 
Selbst  die  Ergebnisse  einer  noch  so  sorgfältigen  Untersuchung  der  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse unter  den  Hss.  liefern  dafür  noch  keine  allgemein 
giltige  Formel;  denn  obgleich  im  allgemeinen  der  Consensus  der  Majorität 
für  sich  stehender  Gruppen  den  Ausschlag  geben  wird,  kommt  doch  immer 
sehr  viel  auf  den  besonderen  Wert  oder  Unwert  der  einzelnen  Glieder  an. 
Es  ist  also  dem  Hei'ausgeber  in  den  meisten  Fällen  gar  nicht  möglich, 
das  Original  wieder  herzustellen,  sondern  höchstens  die  älteste  erreichbare, 
aber  schon  einem  Kopisten  angehörende  Redaktion.  Ein  oft  zu  wenig 
beachtetes  Mittel  könnte  teilweise  als  Korrectiv  bei  der  Textgestaltung 
dienen:  die  Verwertung  der  Ergebnisse  aus  einer  Untersuchung  der 
stilistischen  Eigenart,  soweit  diese,  wenn  keine  anderen  Werke  desselben 
Dichters  vorliegen,  aus  den  übereinstimmenden  Teilen  der  Ueberlieferung 
festgestellt  werden  kann. 

Auch  der  zweite  Teil  der  Aufgabe  eines  Herausgebers,  die  Wieder- 
herstellnng  der  ursprünglichen  Form  kann  unter  Umständen  grosse,  ja 
unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiten.  Wohl  ist  es  in  den  meisten 
Fällen  noch  möglich,  die  äussersten  Umrisse  des  ältesten  sprachlichen  Ge- 
wandes zu  bestimmen,  über  viele  Einzelheiten  und  innere  Verhältnisse 
aber  wird  Genaueres  selten  zu  erfahren  sein.  Die  Möglichkeit  einer 
solchen  Eeconstruction  hängt  nun  völlig  von  der  Art  der  Ueberlieferung 
ab:  ist  diese  insofern  eine  günstigere,  als  sich  der  Herausgeber  sprachlich 
an  eine  der  Zeit  ttnd  Mundart  des  Dichters  nahestehende  Hs.  anlehnen 
kann,  so  wird  die  neuhergestellte  Form  im  ganzen  und  grossen  der  ur- 
sprünglichen gleichen ;  weichen  aber  alle  Hss.  augenscheinlich  weit  von 
der  ursprünglichen  Niederschrilt  ab,  so  ist  die  Frage,  ob  und  wie  eine 
Uniformierung  durchzuführen  sei,  sehr  schwierig  zu  beantworten.  Theo- 
retisch ist  die  Ausgleichung  nicht  zu  billigen,  weil  ihr  Ergebnis  wissen- 
schaftliche Ansprüche  nicht  beiriedigen  kann;  aber  der  Gegensatz  zwischen 
der  Mundart  der  Reime  und  des  Versinnern  ist  oft  ein  zu  grosser,  als 
dass  man  ihn  fortbestehen  lassen  kihmte."  —  Referent  zeigte  nun  an 
einigen  konkreten  Fällen  das  Verfahren  der  betreffenden  Herausgelier. 
welches  bald  radikaler,  bald  conservativer  war,  je  nachdem  den  Forderungen 
der  Praxis  oder  der  Theorie  mehr  nachgegeben  wurde.  —  „Noch  schwieriger 
wird  diese  Rcconstruction  bei  Denkmälern,  wo  schon  in  der  Sprache  des 
Dichters,  sei  es  infolge  von  Beeinflussung  derselben  seitens  einer  anderen 
Mundart  oder  der  werdenden  Schriftsprache,  Mischformen  zu  erkennen 
sind.  Wird  der  Widerspruch,  welcher  in  der  Bindung  mundartlich  ver- 
schiedener Reimwörter  liegt  und  daher  nicht  beseitigt  werden  kann,  auch 
im  Versinnern  fortbestehen  zu  lassen  sein?  —  Diese  Schwierigkeit  in 
wissenschaftlich   befriedigender   Weise   zu   lösen   ist   eine   Unmöglichkeit, 


266  Miszellen. 

weil  in  einem  solchen  Falle  die  schon  von  dem  Verfasser  herrührenden, 
aher  nicht  gesicherten  fremdmundartlichen  Züge  von  späteren  Ziataten 
der  Schreilier  nicht  mehr  unterschieden  werden  ki  innen.  Ein  Herausgeber 
kann  aber  auch  diese  Frage  nicht  offen  lassen ;  er  wird  vielleicht,  da  eine 
jede  auf  unsicherer  Grundlage  unternommene  Aenderung  etwas  Willkür- 
liches an  sich  hat,  am  ehesten  geneigt  sein,  die  Hs.  oder,  wenn  deren 
mehrere  vorliegen,  die  anscheinend  von  der  Mundart  des  Dichters  am 
wenigsten  abweichende  Hs.  bis  auf  augenfällige  Versehen  einfach  ab- 
zudrucken. Damit  wäre  allerdings  die  Schwierigkeit  nicht  behoben, 
sondern  nur  umgangen.  Eine  solche  Ausgabe  böte  vom  Gedichte  ein 
mosaikartiges  Zerrbild,  das  keinen  günstigen  Eindruck  hervorzubringen 
vermöchte.  Es  dürfte  in  einem  solchen  Falle  sich  doch  eher  empfehlen, 
eine  Uniformierung  des  nicht  gesicherten  Teiles  der  überlieferten  Sprache 
im  Sinne  der  Absicht  des  Dichters  vorzunehmen,  also  jene  Mundart  —  be- 
ziehungsweise die  Schriftsprache  —  durchzuführen,  in  welcher  zu  dichten 
er  anscheinend  sich  Mühe  gegeben  hat;  denn  wenn  der  Procentsatz 
der  fremdartigen  Reime  ein  sehr  niedriger  ist  (in  Meraugis  0,6  "/o),  so 
thut  der  Herausgeber  selbst  im  Falle,  dass  er  weiter  ginge  als  der  Ver- 
fasser, indem  er  gar  alle  nicht  gesicherten  Formen  in  den  Charakter  der 
den  Grundstock  bildenden  Sprache  übertrüge,  nichts  anderes  als  was  der 
Dichter  selbst  bei  einer  späteren  Eevision  —  grössere  Achtsamkeit  und 
Fortschritte  im  Gebrauche  dieser  angelernten  Sprache  vorausgesetzt  — 
gethan  haben  würde.  Bei  starker  Mischung,  wie  sie  etwa  die  franco- 
italienische  Litteratur  aufweist,  kann  natürlich  von  einer  Herstellung  der 
Sprache,  welche  der  Dichter  mit  so  geringem  Erfolg  zu  schreiben  ver- 
suchte, nicht  mehr  die  Rede  sein."  — 

Nachdem  so  die  einem  Herausgeber  möglicherweise  vorkommenden 
Fälle,  vom  einfachsten  bis  zum  kompliziertesten,  berührt  und  die  Mittel 
anzudeuten  versucht  worden  waren,  durch  welche  «len  Schwierigkeiten 
meistens  begegnet  wird  oder  unter  besonderen  Umständen  vielleicht  be- 
gegnet werden  könnte,  lenkte  Referent  die  Aufmerksamkeit  auf  die  übliche 
Einrichtung  der  A'aria  lectio  und  des  Glossars.  Er  war  hier  wie  bezüg- 
lich der  frülier  berührten  Fragen  nicht  so  sehr  von  der  Hoffnung  geleitet, 
eine  unmittelliare  Förderung  der  Sache  bewirken  zu  können,  als  vielmehr 
Vfin  dem  A\'unsche,  autoritative  Urteile  über  das  bisher  beobachtete  oder 
künftig  mit  liesserem  Erfolg  zu  beobachtende  ^'erfahren  hervorzurufen. 
Bezüglich  der  Varianten  wäre  es  nach  seiner  IMeinung  vielleicht  schon  an 
der  Zeit,  sich  für  allgemeine  Fälle  darüber  zu  einigen,  wie  und  inwie- 
weit Abweichungen  mitgeteilt  werden  sollen:  ob  z.  B.  die  in  der  Hs. 
gebrauchten  Abkürzungen  diplomatisch,  und  in  welchem  Ausmass  die  laut- 
lichen und  graphischen  Varianten  —  bei  Aufrechthaltung  der  Trennung 
von  den  Sinnvarianten  —  wiederzugeben  wären.  Hinsichtlich  des  Glossars 
wurden  l)escheidene  Zweifel  darüber  geäussert,  ob  dieses  durch  die  vielfach 
übliche  Aufnahme  aller,  auch  sehr  bekannter,  noch  im  Neufrz.  in  gleichem 
Sinne  gebräuchlicher  '\\'örter  ein  treues  Bild  von  der  Sprache  des  Dichters, 
die  doch  von  der  Art  des  Inhalts  wesentlich  mitbedingt  wird,  zu  geben 
vermöge  und  liei  jüngeren  r>enkmälern  der  Nutzen  einer  solchen  Auf- 
zählung in  hdmendem  Verhältnis  zur  aufgewandten  Mühe  stehe;  ob  nicht 
auch  hierin  ein  gewisses  Masshalten  zu  empfehlen  wäre. 

Hofrat  Mussafia  erinnerte  schliesslich  an  den  bevorstehenden 
100.  Geburtstag  des  Altmeisters  Friedrich  l)iez  und  gab  die  beifällig 
aufgenommene  Anregung,  dass  dieser  denkwürdige  Tag  an  allen  deutschen 
Universitäten  in  einer  noch  zu  vereinbarenden  Weise  seiner  Bedeutung 
entsprechend  gefeiert  werde.  Als  1.  Vorsitzender  dankte  Mussafia  den  vor- 
tragenden  Herren    für   ihre  Mühe,    den   Mitirliedern    der   Sektion    für   ihr 


Miszellen.  267 

zahlreiches  Erscheinen  und  drückte  den  warm  empfundenen  Wunsch  aus, 
dass  alle  Teilnehmer  eine  angenehme  Erinnerung  an  diese  schönen  Tage 
gemeinsamer  Arbeit  mitnehmen  mfichten. 

Prof.  Tobler  dankte  als  Senior  der  Sektionsmitglieder  beiden 
Vorsitzenden  für  ihre  von  schönem  Erfolge  begleiteten  Arbeiten  und  die 
Führung  der  vorbereitenden  Geschäfte.  — 

Endlich  spricht  Eef.  auch  an  dieser  Stelle  den  Herren  Vortragenden 
seinen  Dank  aus  für  die  grosse  Liebenswürdigkeit,  mit  welcher  sie  ihm 
sein  Amt  als  Sekretär  und  Referenten  erleichtert  haben. 

Wien.  M.  Friedwagner. 


Ein  neuprovenzalisches  Sirventes,  übersetzt  von  A.  Bertucli.^) 

Trntzlied. 

Wenn  man  so  sieht,  wie  die  Hohlheit  sich  bläht 
Und  den  guten  Brüsten  die  Milch  vergeht 
Und  die  schönen  Feigen  zu  Grunde  gehn 
Und  die  Tröpfe  gehobenen  Hauptes  stebn, 
Wenn  Du,  proven^alische  Sprache,  musst  leiden, 
Dass  sie  Dir  täglich  die  Flügel  beschneiden. 
Wenn  Menschenverstand  man  so  selten  mehr  findet 
Und  die  Vernunft  so  kläglich  erblindet, 
Gibts  Tage,  da  fährt,  als  müsst'  es  so  sein, 
Der  Funke  von  selbst  aus  dem  Kieselstein. 


\i  Der  Urtext  ist  Mistral' s  Esjpouscado,  in  den  Isdo  d'or  (Paris 
1889),  S.  240  ff",  enthalten.  Der  durch  seine  trefflichen  Umdichtungen 
der  Nerto  (Strassburg  1891)  und  der  Mireio  (Strassburg  1893)  bekannte 
Uebersetzer  gibt  in  der  obigen  deutschen  Nachbildung  der  MistraFschen 
Dichtung  den  Ton  seiner  Vorlage  auf  vorzügliche  Weise  wieder.  —  Der 
in  dem  Gedichte  enthaltene  heftige  Zornausbruch  des  Hauptes  der  Feliber 
wird  mehr  als  genügend  erklärt  durch  den  oft  recht  stumpfsinnigen 
Widerstand,  den  seine  und  seiner  Gesinnungsgenossen  Bestrebungen  in 
Frankreich  finden.  Den  provenzalischen  Schulkindern  war  es  lange  und 
wird  es  auch  heute  noch  bei  Strafe  verboten,  sich  in  den  Schulpausen 
ihrer  heimischen  Sprache  zu  bedienen ;  Krämer,  Kleinhändler  u.  a.,  die  nie 
den  französischen  Süden  verlassen  haben,  stellen  sich,  als  verständen  sie 
ihre  ihnen  von  Kindesbeinen  an  geläufige  Muttersprache  nicht,  und  ziehen 
der  Mundart  ihrer  Väter  ein  schreckliches  Französisch  vor,  das  mir 
A.  Daudet  als  den  Ausüuss  einer  besondern  Dummheit  seiner  südfranzü- 
sischen  Stammgenossen  bezeichnete;  südfranzösische  Zeitungen  bekämpfen 
die  litterarische  Verwendung  des  Provenzalischen  und  werden  dabei  von 
den  Beh(">rden  unterstützt,  die  die  separatistische  (oder  föderalistische) 
Bewegung  der  Feliber  mit  scheelem  Auge  betrachten,  u.  dgl.  m.  —  De 
pan  bedeutet  Brot;  tapeno,  Kapern:  ferigoulo,  Thymian;  bon-rible,  wilde 
jilinze  (Pferäemmze) ;  poudadouiro,  Pflugschar  (der  Uebersetzer  nimmt  das 
Wort  in  der  Bedeutung  , Gartenmesser",  der  aber  das  prov.  poudadouiro 
eme  Taraire  widerspricht);  embut,  Trichter;  dourgo,  Krug;  draiet,  Sieb; 
tnoideire,  Stampfer  oder  Keule  des  Mörsers;  trissadou,  Mörser. 

E.    KOSCHWITZ. 


268  3Iiszellm. 

Glaubt  Ihr  vielleicht,  es  müsse  uns  freuen, 

Wenn  unaufhiirlich  sie  wiederkäuen. 

Pass  dort  oben  Prophet  ist  ein  jedes  Kind 

Tnd  dass  hier  unten  wir  Tölpel  nur  sind! 

Eektoren.  Lehrer,  die  ganze  Bande. 

Für  die  uns  die  Büttel  die  .'Steuern  entwinden, 

In  allen  Schulen  bereit  zu  finden 

Uns  vorzuwerfen,  wie  eine  Schande. 

Unsere  ^[undart,  die  unser  Verband 

j\Iit  dem  Vaterhaus  ist  und  dem  Heimatland! 

(ilaubt  Ihr,  es  greife  die  Galle  nicht  an, 

Wenn,  frei  und  stolz  wie  Artaban, 

Man  allezeit  seine  Ptlicht  getan 

Und  nicht  mehr  satren  darf  de  pnn! 

Nicht  mehr  wagen  darf,  sein  Leid  zu  erzählen 

Und  sich  fürchten  muss  vor  Schelten  und  Schmälen, 

Wenn  man  beim  Krämer,  fürs  ]\Iittagessen. 

Tapeno  verlangt  hat  und  vorher  vergessen 

Herabzulangen  vom  Büchergestell 

r)en  Littre  oder  den  Bescherelle! 

Glaubt  Ihr,  dass  es  die  Herzen  erbaut 

Für  ferigoulo  und  hon-nhIe-'KYAMt 

Unserer  Knabenzeit  Laute  zu  missen 

Und  alle  die  Namen  geächtet  zu  wissen, 

Die  poudadouiro  fürs  Gartenbeet. 

Den  embut,  die  donrgo  und  den  draict 

—  Alles  Wörter,  die  unsern  bejahrten  Leuten 

Des  Hauses  und  Mahles  Behagen  bedeuten  — 

Und  nicht  mehr  zerstampfen  zu  dürfen  in  Ruh 

Den  Lauch  mit  moideire  und  trissadoid 

Glaubt  Ihr.  man  könne  sich  leicht  drein  schicken, 

Wenn  man  gesagt  hat:   ..Ich  bin  so  geboren'- 

Und  es  tönt  Einem  ewig  das  Lied  in  die  Ohren: 

,.Du  musst  Deinen  eigenen  Vater  ersticken. 

Du  musst  sie  verstopfen,  die  heilige  (Quelle. 

Uml  riesle  sie  noch  so  eri|uickend  und  helle; 

Gegen  den  Himmel  hinauf  musst  Du  spucken. 

Du  darfst  auf  das  Brausen  des  Windes  nicht  hören. 

Deine  "\'ogelnester  musst  Du  zerstiu-en 

In  der  Laube  (nun,  in  des  Daches  Lucken !- 

Nun  wohl!  Erst  recht  nicht!  Vom  äussersten  Osten 

Bis  zum  Velay,  bis  zum  Medoc, 

Wir  halten  es  blank,  es  soll  uns  nicht  rosten 

Unser  verfehmtes  Idiom  des   Od 

Wir  werden  es  reden  beim  Sammeln  der  Frucht, 

Beim  Warten  des  Viehs,  bei  der  Seidenzucht, 

AVenn  der  Jüngling  der  Maid  seine  Liebe  gesteht, 

AVenn  die  Frau,  um  zu  idaudern.  zur  Nachbarin  geht, 

Wenn  wir  (^el  aus  den  reifen  Oliven  bereiten 

Und  wenn  wir  im  fri'>hlichen  Winzerzug  schreiten. 


Missellen.  269 

Sie  wird  mit  uns  sein,  wenn  wir  fischen  gehn 

Und  im  Garne  die  zappelnde  Beute  besehn. 

Um  den  Fischern  das  Brot  in  die  Suppe  zu  schneiden 

Und  um  sie  zu  grüssen,  wenn  abends  wir  scheiden; 

Sie  wird  mit  uns  kommen  zum  lustigen  Jagen 

Um  lärmend  auf  Dickicht  und  Büsche  zu  schlagen 

Und  den  Jägern  das  Abendessen  zu  würzen; 

Sie  soll  uns  helfen,  die  Zeit  zu  verkürzen 

Und  dabei  sein,  wenn  wir  an  festlichen  Tagen 

Im  Übermut  über  die  Stränge  schlagen. 

Sie  wird  die  Sprache  der  Freude  sein, 

Sie  soll  uns  verbinden  zu  trautem  Verein, 

Unsere  Hirten  werden  sie  rufen 

Von  ihrer  Steinmarken  moosigen  Stufen, 

Sie  soll  beim  Schifferstechen  erklingen. 

Wenn  die  Kämpen  auf  schwankendem  Boote  ringen; 

Wir  jauchzen  sie  auf  dem  3Ieere,  dem  freien, 

Wir  werden  sie  bei  den  Bravaden  schreien, 

Wir  werden  sie  brüllen,  wenn  wir  die  Stiere 

Zum  Rennen  treiben,  die  trotzigen  Tiere! 

Und  in  der  Schenke,  am  Jahrmarkt  dann 

Von  Sankt  Andreas,  von  Sankt  Johann, 

Wird  sie  mit  uns  in  der  feilschenden  Menge 

Plaudern  und  zechen  im  Volksgedränge; 

In  ihr  wird  gespottet,  in  ihr  wird  gelacht. 

Wenn  wir  die  Mandeln  vom  Baume  schlagen; 

Und  gilt  es,  dem  Ptlug  Lebewohl  zu  sagen, 

Um  einzurücken  zur  Heeresmacht, 

So  soll  sie  uns  in  die  Kaserne  begleiten 

Und  den  Heiltrank  gegen  das  Heimweh  bereiten. 

0  der  schalen  Gesellen,  der  traurigen  Thoren, 

Die  ihre  Kinder  ihrer  entwöhnen 

Um  der  Eitelkeit  und  dein  Dünkel  zu  fröhnen, 

Die  den  Sinn  für  die  Güter  der  Heimat  verloren! 

So  miigen  sie  denn  im  Gewühle  verkommen! 

Dir  aber  sei  »b  der  untreuen  Söhne, 

Die  sie  verschmähn.  Deine  traulichen  Töne, 

Meine  Provence,  der  Mut  nicht  benommen! 

Es  sind  Tote,  die  nur  noch  ins  Grab  nicht  gesunken 

Und  als  Kinder  entartete  Milch  schon  getrunken. 

Die  alten  Schlösser  von  Signes,  les  Baux. 
Von  Roumanin  und  von  Peiro-tiö 
Verschweigen  ihnen  die  glänzenden  Namen, 
Die  zierliche  Anmut,  der  Keimrede  Klang 
Der  altproven^alischen  Edeldamen, 
Der  Meisterinnen  im  Minnegesang. 
Das  Tamburin,  das  so  selten  mehr  schallt, 
Des  Klausners  Glocke,  die  langsam  verhallt, 
Werden  ihnen  ihr  Leid  nicht  klagen 
Und  die  alten  Pfade  ihnen  nichts  sagen. 


270  Missellen. 

Noch  die  Legenden  aus  alten  Tasifen: 

Und  wenn  wir  das  Holzscheit  zniu  Herde  tragen 

In  der  Christnacht,  so  riaramt  es  für  sie  nicht,  die  Blinden 

Mit  keinem  Ort  wird  sie  Liebe  verbinden. 

Von  den  ürgrossmüttern  werden  die  alten 

Sprichw(">rter  und  Sclnvänke  sie  nicht  behalten; 

Aus  Hoffart  nicht  wissen,  was  ehmals  gewesen. 

Nicht  mehr  verstehn,  was  mit  wichtiger  31iene 

.Maikäfer  plaudert  mit  Horniss'  und  Biene 

Und  an  Sonn'  und  Gestirne  die  Stunde  niclit  lesen. 

Ihr  aber,  Erstgeborne  der  Natur, 
Gebrannte  Söhne  der  sonnigen  Flur, 
Die  Ihr  noch  in  der  Sprache  der  alten  Zeit 
Mit  den  3Iädchen  schäkert  und  um  sie  freit. 
Fürchtet  euch  nicht:  Ihr  müsst  Meister  bleiben! 
Denn  Ihr  seid  stämmig  und  kerngesund 
Wie  die  Nussbäume  drausseii  im  Heiilegrund ; 
Und  wenn  sie  es  noch  so  bunt  mit  Euch  treiben, 
0  Ihr  Bauern  (/;lenn  also  nennt  man  Euch  gern), 
Ihr  bleibt  doch  trotz  Allem  des  Landes  Herrn. 

Inmitten  Eurer  Felder  stiller  Welt 

Belauschet  Ihr  der  Saaten  leises  M'eben, 

Ganz  Eurer  Arbeit  hingegebun 

Und  ganz  auf  Eurer  Väter  Land  gestellt. 

Ihr  seht  sie  von  fern  im  Vorübergleiten. 

Der  Kaiserreiche  gewaltsame  Pracht, 

Der  Revolutionen  zerschmetternde  Macht 

Und  werdet  bestehn  im  Wechsel  der  Zeiten, 

Der  Barbarei,  der  Civilisationen 

Und  am  nährenden  Busen  der  Heimat  wdhnen. 


Ein  deutscher  Offizier  an  der  Seite  l'raiizösiseher 

Cluiuviuisteu. 

In  den  Zeitungen  Deutschlands  machte  ein  Figaro-Artikel  die 
Runde,  den  der  Hauptmann  a.  D.  und  Schriftsteller  Tanera,  Italiener 
von  Geburt,  gegen  Emile  Zolas  vorletzten  Roman:  „irt  Debäcle-  gerichtet 
hat.  T.  wirft  dem  Romanschriftsteller  vor,  dass  er  von  der  französischen 
Armee  des  grossen  Krieges  ein  gehässiges  Zerrbild  entworfen  habe,  in 
deiu  alle  edlen  Eigenschaften  der  Soldaten,  ihre  Tapferkeit,  ilir  National- 
gefühl, ihr  Ausharren  inmitten  aller  Strapazen,  Gefahren  und  Leiden  ver- 
schwiegen seien.  Insbesondere  soll  Z.  das  Verhältniss  des  Kaiser  Napoleon  III. 
zur  Armee  schief  und  einseitig  dargestellt  haben,  denn  die  Soldaten  hätten 
nicht  von  Anfang  an  ihr  Vertrauen  zu  dem  Olierfeldherrn  verloren,  der 
letztre  sei  nicht  von  Hause  aus  eine  so  schattenhafte,  niedergebeugte  Trauer- 
gestalt gewesen,  wie  Zola  uns  glauben  lasse.  Zunächst  wollen  Avir  Hr.  T. 
unser  Erstaunen  darüber  nicht  vorenthalten,  dass  er  für  seine  litterarische 
Plänkelei  die  Gastfreundschaft  eines  vom  grimmigsten  Deutschenhasso  er- 
füllten Blattes,  in  dem  ein  Herr  Jaccjues  Saint-Cere  (Rosenbaum)  die  verächt- 


MiszeUen.  271 

liebsten  Schmähartikel  gegen  Deutschlands  Kaiser  und  Kaiserin  schreibt,  in 
Anspruch  genommen  hat.  Ob  vu)u  militärischen  Standpunkte  aus  das  correct 
gehandelt  ist.  können  wir  nicht  entscheiden,  vom  moralischen  und  nationalen 
Standpunkte  aus,  erscheint  es  uns  tadelnswerther,  als  das  Vorgehen  eines 
französischen  Soldaten,  der  gänzlich  entmutigt,  von  Hunger-  und  Seelen- 
leiden niedergebeugt,  seinen  Fahnen  untreu  wird.  Aber  das  ist  ein  Vor- 
Avurf,  der  nicht  den  Kritiker  Zolas  trifft,  sehen  wir  uns  die  sachlichen 
Einwände  T.'s  genauer  an.  Die  Schilderung,  welche  Zola  vom  Kaiser 
und  seiner  Armee  gibt,  soll  ein  Zerrbild  sein,  das  wohl  aus  der  Voraus- 
setzung hervorgehe,  nur  eine  entartete  französ.  Armee  könne  von  den 
..Prussiens''  l)esiegt  werden.  Aber  da  ist  es  doch  seltsam,  dass  französische 
Geschichtswerke  die  Sachlage  in  allen  Hauptpunkten  ebenso  schildern,  wie 
Hr.  Zola.  Wir  haben  ein  vom  einseitig  national-französ.  Standpunkte 
geschriebenes  Werk  gelesen :  VInvasion  allemande  par  le  General  Boulanger 
(der  natürlich  wenig  mehr,  als  seinen  Xamen  geliehen  hat)  und  dieses 
lässt,  trotz  seiner  geflissentlichen  Verherrlichung  französischer  Bravour 
und  trotz  der  absichtlichen  Herabsetzung  des  deutschen  Cleneralstabes  imd 
der  deutschen  Armeeführer  uns  ebenso  in  die  Auflösung,  Entuuithigung 
und  Disziplinlosigkeit  der  kaiserlichen  Armee  blicken,  wie  Zolas  Eoman. 
Diss  die  französische  Sache  von  Anfang  an  eine  verlorene  war,  dass  es 
an  den  nötigsten  Vorbereitungen  des  Krieges  fehlte,  dass  die  (jeneräle 
unter  einander  haderten,  die  Soldaten  ihr  Vertrauen  zu  dem  Kaiser  und 
seinen  Generälen  eingebüsst  hatten,  dass  der  Kaiser  selbst  so  wenig  die 
öttentliche  Meinung  für  sich  hatte,  dass  er  bei  seiner  Abreise  zum  Heere 
Paris  vermied,  wird  aus  diesem  auf  Documente  gestützten  AVerke  auch 
dem  blödesten  Auge  klar.  Von  der  Armee  deutet  der  Verfasser  dieser 
fast  100  Lieferungen  umfassenden  Schrift  (es  soll  der  Militärschriftsteller 
Barthelemy  sein)  an,  dass  sie  die  Ablagerungsstätte  des  schlimmsten, 
zuchtlosesten  Gesindels  gewesen  sei.  Bei  allen  anständigen  Franzosen  sei 
der  Soldatenheruf  als  solcher  so  verhasst  und  verachtet  gewesen,  dass 
einzelne  Soldaten  sich  des  Abends  kaum  in  die  weniger  belebten  Strassen 
von  Paris  gewagt  hätten,  weil  sie  Misshandlungen  befürchteten.  Wie  es 
noch  jetzt  in  dieser  Armee  trotz  ihrer  Reorganisation  und  trotz  der  all- 
gemeinen Wehrpflicht  aussieht,  wird  Herr  T.  wahrscheinlich  aus  dem 
lesenswerthen  Buche  von  Descaves:  „Les  sous  oßV  ersehen  haben, 
(iewiss  fehlte  es  auch  in  der  Conscriptions- Armee  an  edlen  Vertretern  des 
A\'afl'enhandwerks  und  an  schönen  Zügen  der  Vaterlandsliebe  und  der 
Tapferkeit  nicht.  Aber  sie  fehlen  ebensowenig  bei  Zola.  Wir  wollen  nur 
auf  das  kameradschaftliche  Verhältniss  zwischen  Jean  Macquart  und 
Maurice  Levasseur  hinweisen.  Zola  hat  so  wenig  die  Absicht,  seine  Nation 
und  die  französ.  Armee  herabzusetzen,  dass  er  mit  tiefem  Mitleid  uns 
das  Franctireurtum  des  Elsässers  Weiss  und  dessen  unglückliches  Ende 
schildert  und  von  der  grauenvollen  Abschlachtung  eines  angeblichen 
l!re^^ssischen  Spions  ohne  jede  Misshilligung  berichtet.  Auch  die  schi'inen 
Züge  nationaler  Hingebung,  mit  der  todmüde,  verhungerte  Soldaten  von 
französischen  Bürgern  gepflegt  werden,  l)eweisen  doch,  ilass  es  sich  bei 
Zola  nicht  um  eine  Herabsetzung  des  französischen  Namens  handelt. 
Ebensowenig  gibt  der  Schriftsteller  die  Hott'nung  aut  eine  bessere  Zukunft 
Frankreichs  auf.  Selbst  der  Bürgerkrieg  und  die  Greuel  des  (.'omnuxne- 
aufstandes  machen  ihn  in  diesem  Glauben  niclit  irre.  Der  Grundgedanke 
des  ßomanes,  dass  die  entnervte  Gesellschaft  des  zweiten  Kaiserreiches 
dem  Anstürme  der  frischen,  gesunden  Kraft  der  .Pn(ssic)tt<''  in  Folge  un- 
abänderlicher Naturnotwendigkeit  unterliegen  musste,  geht  so  sehr  aus  den 
naturwissenschaftlich-sozialen  Voraussetzungen  Zolas  hervor,  dass  wir  ihn 
dem  Patrioten  nicht  zum  Vorwurf  maclien  kimnen.     Auch  der  in  Frank- 


272  Miszellen. 

reich  sehr  getährliche  Einwand,  der  Schriftsteller  habe  die  Ehre  und  Würde 
der  französ.  Frau  zu  erniedrigen  gesucht,  ist  ganz  tingerecht.  Allerdings 
lässt  Zola  eine  junge,  liebessüchtige  Gattin  mit  französischen,  wie  luit 
deutschen  Offizieren  tändeln,  aber  in  wenigen  seiner  Eomane  finden  sich 
so  wenige  verächtliche  Frauengestalten,  wie  in  der  „Debäcle."  Gibt  es 
denn  gewissenlose  Koketten  wie  jene  Mine.  Delaherche  nur  in  Frankreich? 
Auch,  dass  Zola  den  bleichen,  lebensmüden  Kaiser  zu  Schminkkünsten 
seine  Zuflucht  nehmen  lasse,  wird  von  T.  heftig  getadelt.  Wir  wissen 
nicht,  wie  es  sich  damit  verhält.  Wenn  aber  ,,der  Neffe  des  Onkels"  nichts 
Schlimmeres  begangen  hätte,  als  dass  er  seine  blassen  Wangen  roth  färbte,  so 
würde  das  Andenken  des  politischen  Hochstaplers,  der  an  der  Korruption  Frank- 
reichs mitgewirkt  hat,  fleckenlos  in  der  Geschichte  dastehen  und  nicht  so 
vielen  edlen  Patrioten  Frankreichs  die  Schamröthe  ungeschminktester  Art 
ins  Gesicht  treiben.  Zola  ist  nobel  genug,  dem  Urheber  eines  der  ruch- 
losesten aller  Kriege  sein  echt  menschliches  Mitgefühl  nicht  zu  versagen. 

Es  ist  wahr,  der  franziis.  Romanschriftsteller  hat  an  dem  Kriege 
keinen  Auteil  genommen  und  muss  seine  Detailkenntnisse  aus  den  Mit- 
teilungen von  Combattanten  schöpfen.  Solche  Mitteilungen  können 
natürlich  oft  blosses  Lagergeschwätz  sein  und  zu  falschen,  parteiischen 
Vorstellungen  führen.  Aber,  dass  dies  hier  der  Fall  ist,  hat  Hr.  T.  keines- 
wegs erwiesen.  Er  findet  zwar  die  geographische  Unkenntniss  französischer 
Offiziere,  die  bei  den  Bauern  sich  erst  erkundigen,  wo  sie  stehen,  un- 
begreiflich, aber  die  geschichtliche  Thatsache,  dass  es  dem  damaligen 
franzt'is.  Offizierkorps  meist  an  der  nittigen  wissenschaftlich-technischen 
Schulung  fehlte  (auch  hierfür  gibt  die  „Invasion  aUcinande"  sehr  deutliche 
Belege),  und  dass  der  Armee  zwar  Karten  von  Deutschland,  aber  nicht 
von  Frankreich  zugeteilt  waren,  erklärt  vieles.  Ob  nun  Hr.  T.,  der  den 
Krieg  doch  nur  auf  deutscher  Seite  mitmachte,  die  inneren  Verhältnisse 
der  französischen  Armee  besser  kennt,  als  Zola,  dein  so  reiche,  directeste 
Mittheilungen  zu  Gebote  standen,  ist  nicht  nur  dem  Ref.,  sondern  auch 
verschiedenen  hiesigen  Offizieren  sehr  zweifelhaft  gewesen.  Jedenfalls  er- 
scheint uns  .der  Verf.  der  „Invasion  allenumde"  da,  wo  es  sich  um  französ. 
Armeeverhältnisse  handelt,  ein  besserer  Gewährsmann,  als  der  Kritiker  Zolas. 

Vom  deutsch-nationalen  Standpunkt  aus,  wird  man  Hr.  Z<dasl\oman, 
trotzdem  er,  aus  Rücksicht  auf  gewisse  Leserkreise,  auf  die 
„Prussiens"  schimpft  und  selbst  das  Franctireurtum  beschönigt,  nur  als 
ein  Zeugniss  sachlicher  Geschichtsauffassung  und  richtiger  Selbsterkenntniss 
rühmen  dürfen.  Ueber  die  Schilderung  des  Kaisers  Napoleon  und  seiner 
Armee  mit  Z.  abzurechnen,  das  hätte  T.  besser  den  Landsleuten  des 
französ.  Schriftstellers  überlassen.  Als  eine  Art  Gegengewicht  zu  Taneras 
Kritik  weisen  wir  übrigens  noch  am  Schluss  auf  das  in  Deutschland 
ziemlich  seltene  Werk:  „V Invasion  alleniandc'"  hin.  das  sich  z.  B.  hier  in 
Dresden  nur  in  2  Expl.,  nämlich  in  der  Privatbibliothek  Sr.  Jlajestät  des 
Königs  von  Sachsen  und  in  der  Büchersammlung  des  T'nterzeichneten  findet. 

K.  Mahrexholtz. 


Teroiii  für  das  Studiuni  der  neueren  Spraelien 
iu  ilamburg-Altona.     IJericht  über  das  Vereiusjahr  1S82;'JKJ» 

a.  Sommersemester  1892. 
L)ie  Sitzungen  wurden  am  27.  April  en'iffnet.  An  9  neugriechischen 
Leseabenden  vereinigte  man  sich  zur  Lektüre  von  Rhangavi,  die  Hoch- 


Miszellen.  273 

zeit  des  Kutrulis.  Wie  im  vorhergehenden  Semester  unterstützten  einige 
Gäste  griechischer  Zunge,  besonders  die  Herrn  Demetriades  und  Zepos  in 
dankenswerter  Weise  regelmässig  diese  Lektüre.  Am  13.  Juli  kamen 
Deutsche  und  Griechen  in  den  Räumen  einer  Handlung  von  griechischen 
Weinen  zu  einer  freundschaftlichen  Sitzung  zusammen. 

Über  die  Verhandlungen  des  5.  deutschen  Neuphilologen- 
tages, zu  denen  Prof.  Dr.  Eambeau  vom  Verein  als  Vertreter  entsendet 
worden  war,  erstattete  dieser  in  der  Sitzung  vom  15.  Juni  ausführlichen 
Bericht,  zum  Teil  in  Gemeinschaft  mit  Prof  Dr.  Wendt. 

Auch  über  den  4.  nordischen  Philologentag,  den  Prof.  Ram- 
beau  gleichfalls  besucht  hatte,  berichtete  derselbe  am  24.  August,  der 
letzten  Vereinssitzung  des  Sommersemesters. 

Weitere  Sitzungen  unterblieben  infolge  der  von  Ende  August  bis 
Anfang  Oktober  währenden  Choleraepidemie,  der  auch  Herr  Prof.  Richard 
vom  Realgymnasium  des  Johanneums,  an  den  griechischen  Abenden  häufig 
ein  mitthätiger  Gast  des  Vereins,  zum  Opfer  fiel.  Der  Verein  bewahrt 
ihm  ein  ehrendes  Andenken. 

b.  Wintersemester  1892/93. 

Während  des  Winters  fielen  die  früheren  Mittwoch-Leseabende  aus. 
Dagegen  wurden  die  schon  im  Sommer  nebenher  verlaufenden  italienischen 
Leseabende  an  den  Sonnabenden  fortgesetzt.  Sie  fanden  wie  früher 
unter  Leitung  des  Herrn  Galvagni  in  den  Räumen  der  Scuola  Italiana 
statt.  Gelesen  Avurde:  Ariost's  Orlando  furioso  und  sodann  Verga's 
Cavalleria  rusticana  e  altre  novelle. 

Folgende  Vorträge  wurden  gehalten: 

1.  Dr.  Bimsel:  Referat  über  Wendt,  England.  Leipzig,  Reis- 
land 1892. 

2.  Dr.  Maack:  Die  französische  Malerei. 

3.  Prof.  Dr.  Fels:  Die  französische  Akademie  und  die  Kandidaten. 

4.  Dr.  Kohn,  Schiller  vor  100  Jahren  in  Frankreich. 

Der  Verein  zählt  am  Schlüsse  des  Wintersemesters  45  hiesige  Mit- 
glieder. Eines  seiner  eifrigsten  Mitglieder,  Herrn  Prof.  Dr.  Rarabeau,  hat 
er  im  Laufe  des  Semesters  von  hier  müssen  scheiden  sehen,  da  der 
Genannte  dem  Rufe  an  die  Johns  Hopkin's  University  zu  Baltimore  Folge 
leistete.  In  der  Sitzung  vom  11.  Januar  \\Tirde  derselbe  in  Anerkennung 
seiner  grossen  Verdienste  um  den  Verein  zum  Ehrenmitgliede  ernannt. 
Im  Vorstande  war  Dr.  Hahn  Vorsitzender  im  Sommer,  Prof.  Dr.  Wendt 
Vorsitzender  im  Winter. 


Die  Universität  Genf  versendet  folgende  Circulare: 
FACULTfi  DES  LETTRES.  SEÄUNAIRE  DE  FRANgAIS  MODERNE. 
Le  Seminaire  de  frangais  moderne  est  dirige  par  une  Commission  nommee  par 
le  Departement  de  I'Instruction  Publique  et  composee  du  Doyen  et  de  deux 
professeurs  presentes  par  la  Faculte.  I.  L'enseignement,  fonde  sur  la 
coUaboration  des  etudiants  et  du  professeur,  se  compose  de  Conferences 
ou  leQons  pratiijues  destinees  specialement  aux  membres  du  Seminaire. 
n.  Cet  enseignement  dure  un  semestre.  II  est  reparti  en  deux  degres 
(section  preparatoire  et  section  superieure)  et  comprend  pour  chaque  degre 
six  heures  par  semaine.  HI.  Sont  admis  sur  leur  demande  au  nombre 
des  membres  du  Seminaire:  1°  les  etudiants  immatricules  dans  une  des 
Facultes  de  TUniversite;  2°  les  personnes  qui  possedent  un  grade  universi- 
taire  ou  qui  sont  fonctionnaires  dans  un  etablissement  public  dinstruciion 
Ztschr.  f.  frz.  Spr.  u.  Litt.    XV-'.  18 


274  Miszellen. 

primaire  ou  sccondaire;  3°  les  institutrices  diplömees  ou  appartenant  ä 
des  etablissements  publics  d'instruction  ä  Tetranger  Pour  appartenir 
ä  la  section  supeiieiire,  les  membres  doivent  justifier  devant  la  Coiumission, 
oi;  Tun  de  scs  membres  delegue  par  eile,  de  connaissances  süffisantes  de 
la  langue  et  de  la  litterature  fran^aises.  IV.  Les  membres  de  chaque 
section  sont  admis  ä  assister  ä  titre  gratuit,  mais  sans  y  prendre  nne 
part  active,  aux  Conferences  de  l'autre  section.  V.  Les  deux  sections  sont 
reunies  en  une  Conference  d'enseignement  normal.  Cet  enseignement 
consiste  en  des  le^ons  de  frangais  donnees  ä  tour  de  röle  par  les  membres 
du  Seminaire  appartenant  ä  la  seconde  section,  sous  la  direction  d'un 
professeur,  ä  de  jeunes  eleves  de  l'Ecole  allemande  formant  une  classe 
speciale  et  debutant  dans,  l'etude  de  la  langue  franc^aise.  Ces  legons  ont 
Heu  hors  de  l'Universite,  dans  les  classes  de  TEcole  allemande.  Chaque 
le(^on  est  preparee  d'avance,  selon  un  ordre  convenu.  Chacjue  Conference 
comprendra  deux  le^ons,  la  premiere,  portant  sur  la  grammaire ;  la  seconde, 
sui'  la  lecture,  la  conversation  et  la  prononciation.  Ces  le^ons  sont  suivies 
d'une  jiistification  par  les  deux  membres  qui  les  ont  faites,  puis,  d'une  dis- 
cus&ion  generale  entre  tous  les  membres  du  Seminaire  qui  y  ont  assiste, 
enfin  d'une  critique  par  le  professeur.  VI.  Les  membres  du  Seminaire  (lui 
appartiennent  ä  des  etablissements  d'instruction  publi(iue  seront  autorises, 
sur  leur  deraande  adressee  ä  la  Commission,  ä  assister,  pour  les  branches 
qu'ils  auront  designees,  ä  Tenseignement  donne  dans  les  ecoles  secondaires 
et  primaires  du  canton  de  Geneve.  VII.  Les  membres  du  Seminaire 
fönt  sous  la  direction  de  chaque  professeur  des  travaux  et  des  legons  (jui 
donnent  Heu  ä  une  discussion  generale  avant  le  jugement  definitif.  Les 
sujets  de  travaux  ou  de  le^ims  sont  laisses  au  choix  des  membres.  La 
lecture  d'un  travail  ecrit  ou  une  le^on  faite  par  un  membre  du  Seminaire 
ne  doit  pas  durer  plus  de  ({uinze  minutes.  VIII.  Les  Conferences  du 
Seminaire  auront  Heu  au  commencenient  et  ä  la  fin  de  la  journee  et  tous 
les  jours  de  la  semaine,  afin  (jue  les  membres  du  Seminaire  soient  empeches 
le  moins  possible  de  suivre  les  cours  de  l'Universite.  IX.  Ces  c<in- 
ferences  se  repartissent  de  la  maniere  suivante  pour  les  deux  sections: 
PREMlfiRE  SECTION  (PRfiPARATOlRE).  Conference  de  phonetique  fran^aise 
1  heure,  Conference  de  grammaire  fran^aise  moderne  1  heure,  Conference  de 
traduction  d'auteurs  allemands  et  fran^ais  1  heure.  (Par  les  membres  de  la 
Conference.)  Conference  de  composition,  langue  et  style  1  heure.  (Traduc- 
ti(ins  ecrites,  descriptions,  analyses  litteraires,  etc.)  Conference  de 
narration  orale  1  heure.  Conference  de  diction  1  heure.  Total  H  heures. 
SECONDE  SECTION  (SUPERIEURE.)  Conference  de  grammaire  histori.iue 
1  heure,  Conference  de  composition  fran^aise  1  heure,  Conference  de 
pedagogie  1  heure.  (Discussion,  apres  une  exposition  faite  par  un  membre, 
dos  theories  de  Spencer,  Bain,  Herbart,  etc.)  Conference  de  (juestions 
d'usage;  gallicismes  1  heure,  Conference  de  traduction  d'auteurs  allemands 
1  heure.  (Par  le  professeur.)  Conference  de  lecture  analyti(|ue  d'auteurs 
fran^ais  1  heure.  (I)'apres  les  Chefs-d'oeuvre  des  prosateurs  fran^ais  au 
XlXi' siele,  par  Tissot  et  Colas.)  Total  6  heures.  La  Conference  d'enseig- 
nement normal  a  Heu  une  fois  par  semaine  et  dure  deux  heures.  Leyon 
"le  grammaire  40  minutes,  Le(,'on  de  lecture.  etc.  40  minutes,  Critique 
40  minutes.  Pour  la  Conference  d'enseignement  normal,  ou  se  servira 
du:  Lchrlnich  der  framösischen  Sprache,  nach  der  analytisch-direkten 
Methode  für  höhere  Schulen,  von  Dr.  .lulius  Bii'nbaum.  X.  Les  conditions 
d"inscription  aux  Conferences  du  Seminaire  sont  les  memes  (jue  pour  les 
cours  de  ITniversite.  (5  francs  par  semestre,  pour  chaque  heure  de 
le^:on  par  semaine.)  Ceux  des  membres  du  Seminaire  (jui  desirent  prendre 
part  ä  la  Conference  d'enseignement  normal  paienr  une  inscription  speciale 


Miszellen.  275 

de  10  francs  poiir  iin  scmestre.  La  finaiice  complete  d'inscriiitiun  aux 
Conferences  du  Seminaire  et  ä  la  Conference  d'enseigneiuent  normal 
s'elevera  donc  ä  40  francs  par  semestre.  XI.  Au  commencement  du 
semestre  les  membres  du  Seminaire  inscrivent  leurs  noms,  en  indiijuant  leurs 
titres,  dans  un  registre  special  depose  entre  les  mains  du  Doyen  de  la 
Faculte.  Dans  chaque  section,  Tun  d'entre  eux  est  designe  puur  servir 
d'lntermediaire  entre  ses  collegues  et  la  Commission.  XII.  Les  membres 
du  Seminaire  qui  auront  ete  regulierement  immatricules  pourront  reclamer, 
ä  la  tin  du  semestre,  un  certiflcat,  (jui  ne  fait  pas  mention  de  la  section 
ä  laquelle  ils  ont  appartenu,  et  qui  porte  la  signature  du  Doyen  de  la 
faculte  et  des  autres  membres  de  la  Kommission.     Geneve,  mai  189H. 

COURS  DE  VAC'ANCES  DE  FRAXgAIS  MODERNE  1893.  Les 
Cours  de  vacances  sont  destines,  soit  aux  maitres  etrangers  (lui  enseignent 
la  langue  fran^aise  et  qui  ne  peuvent  faire  ä  Geneve  qu'un  sejour  de 
ijuelques  semaines  pour  s'exercer  ä  la  mieux  parier,  soit  aux  etudiants 
etrangers  qui  passent  leurs  vacances  ä  Geneve.  Ils  auront  lieu  en  deux 
series.  La  premiere  serie  (cours  d'ete)  durera  du  15  juillet  au  31  aoüt, 
et  comprendra  10  lieures  de  legons  par  semaine,  soit  deux  heures  chacun 
des  cinq  premiers  jours  de  la  semaine.  La  sesonde  serie  (cours  d'automne) 
durera  du  l^r  octobre  au  21  octobre,  et  comprendra  12  lieures  de  legons 
par  semaine,  soit  deux  heures  chaque  jour.  Ils  serout  diriges  par  M.  le 
Prof.  Beruard  Bouvier,  avec  la  collaboration  de  MM.  les  Prof.  L.  Wuarin; 
Dl'  K.  Thudichum,  Privat-docent;  L.  Zbinden,  maitre  au  College,  Privat- 
dozent. L'enseignement  se  compose  de  cours  et  d'exercices  pratiques,  qui 
porteront  sur  les  matieres  suivantes:  Litterature  fran^aise.  Le  theätre 
et  la  poesie  de  1850 — 1880:  1.  Serie:  2  heures,  2.  Serie:  2  heures;  Lecture 
analytique  des  „Chefs-doeuvre  des  prosateurs  frangais  au  XIX.  siede," 
par  V.  Tissot  et  L.  Collas.  Paris,  Delagrave  1882:  1.  Serie:  1  heure, 
2.  Serie:  1  heure;  Traduction  d'auteurs  allemands  en  fran^ais:  1.  Serie: 
1  heure,   2.   Serie:   1  heure:  Exercices  d'improvisation  et  travaux  ecrits: 

1.  Serie:   1  heure,    2.  Serie:   2  heures;    Phonetique:    1.   Serie:    2  heures, 

2,  Serie:    2   heures;    Syntaxe    frangaise;    gallicismes;    questions    d'usage: 

1 .  Serie :  2  heures,  2.  Serie :  2  heures ;  Diction  et  lecture  expressive ; 
prononciation :  1.  Serie:  1  heure,  2.  Serie:  2  heures;  Total:  1.  Serie: 
10  heures,  2.  Serie:  12  heures.  Les  participants  aux  cours  fönt  sous  la 
direction  de  chaque  prolesseur  des  travaux  et  des  le^-ons,  dont  les  sujets 
sont  laisses  ä  leur  choix  et  qui  donnent  lieu  ä  une  discussion  generale 
avant  le  jugement  definitif.  Sont  admis  ä  participer  aux  cours:  1°  Les 
etudiants  immatricules  dans  une  universite.  2"  Les  personnes  qui  possedent 
un  grade  universitaire  ou  qui  sont  en  fonctions  comme  directeurs  ou  maitres 
dans  un  etablissement  public  d'instruttion.  3°  Les  institutrices  appartenant 
ä  des  etablissements  publics  d'instruction  ou  diplömees,  et  recommandees 
par  leurs  autorites  scolaires.  Les  participants  reguliers  aux  cours  et  exercices 
pratiques  qui  en  feront  la  demande  recevront  un  certiflcat  signe  du  Doyen  de  la 
Faculte  des  Lettres  et  du  professeur  dirigeant.  Les  inscriptions  sont  prises 
(par  correspondance  ou  verbalement)  aupres  du  Secretaire-Oaissicr  de  FUni- 
versite,  pour  la  1.  serie,  du  8  juillet  au  21  juillet;  retribution  fr.  20;  pour  la 

2.  serie,  du  25  septembre  au  8  octobre;  retribution  fr.  10.  Les  participants 
sont  invites  ä  se  prescnter  aussitöt  apres  leur  arrivee  ä  M.  le  Professeur 
Bernard  Bouvier  (adresse:  Bourg-de-Four,  10)  qui  leur  donnera  les  renseigne- 
ments  dont  ils  auront  be*oin.  Ils  tr^uvcront  des  indications  sur  les  pensions, 
les  prix  et  les  conditions  du  sejour  ä  Geneve  au  Bureau  officiel  des  ren- 
seiyements  (5,   (juai   du   MontBlanc,   de    10  heures  ä  midi,   tous  les  jours). 

Genkve,  mal  1893.  Le  Recteur. 

"^  18* 


Novitätenverzeichnis. 


Catalogue  des  manuscrits  des  bibliothe(iues  pubUijues  de  France.  Depar- 
tements. T.  18:  Alger.  In-8»,  XXXII-684  p.  Paris,  Plön,  Nourrit  et  Ce. 
[Ministere  de  Finstruction  publique  et  des  beaux-arts.] 

Varnhacfen,  H.  Systematisches  Verzeichnis  der  Programmabhandlungen, 
Dissertationen  und  Habilitationsschriften  aus  dem  Gebiete  der  roma- 
nischen und  englischen  Philologie,  sowie  der  allgemeinen  Spracli-  und 
Litteraturwissenschaften  und  der  Pädagogik  und  Methodik.  Zweite, 
vollständig  umgearbeitete  Aufl.  Besorgt  von  Johannes  Martin.  Leip- 
zig. Koch's  Verlag.     M.  4. 


Bulletin  de  la  Societe  des  Parlers  de  France.  Paraissant  tous  les  deux 
mois.     Tome  I.     No.  1.     Paris,  H.  Welter,  40  S.  8°. 

Studien,  franzr)sische.  Hrsg.  v.  Prof.  DD.  ü.  Körting  u.  E.  Koschwitz. 
Neue  Folge.  1.  Hft.  gr.  8°.  B.,  W.  Gronau.  I.  Bibliographie  des  patois 
gallo-romans  par  Dietr.  Behrens.  2.  ed..  revue  et  augmentee  par 
Tauteur,  traduite  en  fran^ais  par  Eugene  Kabiet.    ("\T[I.  255  S.i  6, — 


Albert,  A.C.  Die  Sprache  Philippes  de  Beaumanoir  in  seinen  poetischen 
Werken,  eine  Lautuntersuchung.  Erlangen  und  Leipzig,  A.  Deichertsche 
Vcrlagsbuchh.  Nachf.  (Georg  Böhme).  1893.  60  S.  S**.  [Münchener  Bei- 
träge zur  roman.  u.  engl.  Philol.  hrsgg.  von  H.  Breymann  und  E.  Koeppel. 
V.  Heft].     M.  1,50. 

Bloch,  G.  Die  Ileform  der  französischen  Orthographie  im  Anschluss  au 
die  Petition  Havet,  professeur  am  College  de  France,  an  die  Academie 
fran^aise.     Biol,  Selbstverlag  des  Verfassers.    234  S.    8°. 

Bremer,  ().  Deutsche  Phonetik.  Leii)zig,  Breitkopf  &  Härtel,  1893.  [Gram- 
matiken deutscher  Mundarten  I.] 

Chrron,  F.  Nf)ms  de  lieux  du  canton  de  Ferte-Alais  (Seine-et-Oise i.  In-8°, 
IH  p.    Paris,  Beulet. 

iJelboulle,  A.    Buisse.  boissie,  bouysse,  boisse.    [In:  Romania  XXII]. 

Gottschalk,  A.  Ülier  die  Sprache  von  Provins  im  13.  Jahrhundert  nebst 
einigen  Urkunden.    Diss.    Halle.    62  S.    8°. 

Gnrpc,  E.    Zur  Sprache  des  Apollinaris  Sidonius.    Zabern,  Fuchs.    M.  1,50. 

Hacdicke,  IL  t'ber  einige  Ländernamen  im  Französischen.  Pr.  Pforta. 
14  S.    40. 

Hatzfeld,  A.  La  Reforme  orthographii|ue  dcvant  l'Academie  fran^aise. 
ln-8°,  24  pages.    Paris.     [Extrait  du  Correspondant.] 

llorf'tk,  W.  Tempora  u.  I\Iodi  im  Französischen,  gr.  8°.  27  S.  Bielitz, 
M.  Schneewei.ss. 

Jf<ir)il)iq,  A.  Über  Dialektgrenzen  im  Romanischen,  [In:  Zs.  f.  rom.  Phil, 
XVil,  160  ff.] 


Novitätenverzeichnis.  277 

Kalepky,  Tli.    Zum  sog.  historischen  Infinitiv  im  Französischen.    [In:   Zs. 

f.  rom.  Phil.  XVII,  285—288]. 
Klint,  A.    Fransk-Svensk  Ordbok.    Stockholm,  F.  &  G.  Beijer  Bokförlags- 

aktiebülag.     LXXIII,  678  S.     8°. 
Krup,  W.    l)as  französische  en  (inde).    Progr.  des  Köngl.  Progymnasiums 

zu  Bereut.    14  S.    40. 
Lafaye,  B.    Dictionnaire  des  synonymes  de  la  langue  fran^aise,  avec  une 

introduction   sur  la  theorie  des  synonymes.    6e  edition.     In-8°  ä  2  col., 

LXXXin-347  S.    Paris,  Hachette"^et  Ce.  23  fr. 
Lanusse,  M.    De  l'intiuence  du  dialecte  gascon  sur  la  langue  fran^aise. 

De  la  fin  du  XVe  siecle  ä  la  seconde  moitie  du  XVIIe.     Paris.   Mai- 

sonneuve  et  Ce.    XV,  465  S.    8". 
—  De  Joanne  Nicoto  philologo.  Gratianopoli  1893.    204  S.    8°. 
Marchot,  P.    Solution  de  la  question  du  suffixe.  arius.    [In:   Zs.   f.  rom. 

Phil.  XVII,  288—292]. 
Merguet,  V.  Der  Sprachgebrauch  des  anglo-normannischen  religiösen  Dramas 

(Mystere)  Adam.    Gel.    Königsberg  92.    24  S.    4». 
PoUte,  C.    Origine  des  noms  des  rues  et  places  de  la  ville  de  Saint-Quentin. 

Petit  in-16,  487  p.    Saint-Quentin,  imprim.  Poette.    (1891). 
Bydberg,   G.    Le  Developpement   de   „facere"    dans  les  langues   romanes 

(these  pour  le  doctorat).    In-S",  IV-256  p.    Paris.  Noblet. 
Stefan,   A.     Laut-   und   Formenbestand  in   Guillaume's   li   cler's   Roman 

.,Fergus".     Pr.     Klagenfurt  49  S.     8°. 
Thomas,  A.    Le  latm-itor  et  le  provengal-eiVe.    [In:  ßomania  XXII]. 
Vising,  I.    Om  vulgärlatinet.    [Saertryk  af :  Forhandlinger  paa  det  4.  nor- 

diske  Filolpgm0de  i  K0benhavn  den  18—21.  Juli  1892/]    K0benhavn  1893. 
Zander,  E.    Etudes  sur  Tarticle  dans  le  fran^ais  du  XVIe  siecle.    A  l'oc- 

casion  du  concours  ouvert  pour  le  chaire  de  professeur  de  frangais  et 

d'anglais  au  lycee  de  Wexiö.    Dissertation,  Lund  1893.    50  S.    4**. 


Bibesco,  A.  La  Question  du  vers  frangais  et  la  tentative  des  poetes  de- 
cadents;  par  le  prince  Alexandre  Bibesco.  In-4°,  11-55  p.  Paris,  imp. 
et  lib.  Lemerre. 

Firniery.  Sur  la  versification  de  Marot.  [In:  Revue  de  phil.  fr.  et  prov. 
VII,  I]. 

Wtdff,  Frederik.  Om  rytm  och  rytmicitet  i  värs  samt  ndgra  ord  om 
Alexandriner  och  knittelvcärsen.  K^benhaven.  [Saertryk  ai':  Forhand- 
linger paa  det  4.  Nordiske  Filologm0d  i  Köbenhavn  den  18 — 21  Juli. 
1892.] 

Hohlfeld.  A.  B.  Studies  in  french  versification.  Baltimore.  36  S.  8°.  [S.-A. 
aus  Mod.  Lang.  Notes  VIII,  1  u.  5]. 


Auge,  C.  Deuxieme  Livre  de  grammaire.  „Livre  de  Televe.''  In- 12,  193  p. 
avec  170  grav.    Paris,  Larousse.    80  cent. 

Blanc,  E.  Dictionnaire  alphabeti(|ue  et  analogiiiue  de  la  langue  franc^aise, 
ä  i'usage  des  ecoles:  langue  (riebe  nomenclature),  etymologies,  pronon- 
ciation,  synonjmes,  contraires  et  analogues,  histoire  et  gengraphie, 
statistique,  notions  philosophiques  et  encyclopediiiues,  notions  murales 
et  religieuses,  3,000  mots  illustres.  In-16,  1,115  p.  Lyon.  Vitte.  2  fr. 
50.    (1892.).    [Collection  F.  T.  D.] 

Boettcher,  C.  Die  Bildung  der  Zeiten  in  der  französischen  Konjugation. 
Für  den  Elementarunterricht.    Pr.    Königsberg.    69  S.    8^ 

Ducotterd.  X.  u.  W.  Mardner.  Lehrgang  der  franzi)sischen  Sprache,  auf 
(rrund  der  Anschaug.  u.  m.  besond.  Berücksicht.  d.  mündl.  u.  scbriftl. 


278  Novitäten  Verzeichnis. 

lieien  Gedankenausdrucks  bearb.  1.  Tl.  1.  Abtlg.  4.  Aufl.  S".  (VIII, 
91  S.  m.  3  Bildern.)     Franklurt  a/M.,  C.  Jügels  Verl.    Geb.  1,30. 

Bussouchet,  J.  Exercices  sur  la  Petite  Gramraaire  frangalse  de  M.  31. 
Brächet  et  Dussoiichet.  Livre  de  l'eleve.  8«  edition.  In-16,  IV-156  \). 
Paris,  Hachette  et  Ce.    80  cent. 

Egal,  B.  (B.  v.  d.  Lage),  manuel  de  la  conversation.  Recit  frangais  et 
exercice  de  conversation  ä  Tusage  des  ecoles  et  ä  l'etude  personnelle. 
7.  ed.    8».    (VIII,  164  S.)     B.,  H.  W.  Müller.    Kart.  0,80. 

Haeusser,  l'rof.  Dr.  E.  Selbstunterrichtsbriefe  f.  die  modernen  Sprachen, 
unter  Mitwirkg.  v.  Fachmännern  nach  eigener  Methode  bearb.  Fran- 
zösisch   32  Briefe,   gr.  8".   (512  S.)   Karlsruhe,  J.  Bielefeldes  Verl.  31,50. 

—  Dasselbe.     Suppl.  2  Briefe,     gr.  8°.     (36  S.)     Ebd. 

Jespersen,  0  Fransk  Elementarbok  enligt  Ijudskrit'tsmetoden.  Bearbetning 
tili  svenskan  af   A.  Wallensköld.     Helsingfors  1893.    VU.    203  S.    8°. 

Le^oHs  de  langue  frangaise;  par  les  Freres  des  ecoles  chretiennes.  Cours 
preparatoire.  Livre  de  l'eleve.  In-18  Jesus,  144  p.  Paris,  lib.  Pous- 
sielgue.     [Enseignement  primaire.] 

Sicard,  G.  Guide  de  la  prononciation  fran^aise.  In-8'^,  XIV-127  p.  Paris, 
P.  Delarue. 

Wirth,  C.  Le  Livre  de  composition  fran^-aise  des  jeunes  tilles.  190  sujets 
de  redaction,  200  exercices  de  langue,  dlnvention,  d'intelligence  et 
d'elocution.  Preparation  au  certificat  d'etudes  primaires.  Partie  de 
la  maitresse.  In-16,  XVIII-397  p.  avec  grav.  Paris,  Hachette  et  Ce. 
2  fr.  50.    [Enseignement  des  jeunes  tilles.] 


Breal,  M.  De  Tenseignement  des  langues  Vivantes.  Conferences  faites 
aux  etudiants  en  lettres  de  la  Sorbonne.  In-16,  151  p.  Paris,  libr. 
Hachette  et  C«.     2  fr. 

Uucinage,   E.     Zur    Reform    des    französischen   Unterrichts.     Pr.    Tilsit. 

22  S.     4«. 

Mey,  Oscar.  Die  Schulen  und  der  organische  Bau  der  Volksschule  in 
Frankreich.  Berlin,  Verlag  des  Bibliographischen  Bureaus.  1893. 
256  S.     80. 

(^iiiehl,  Bealsch.-Dir.  Dr.  Karl  Französische  Aussprache  u.  Sprachfertigkeit. 
Phonetik,  sowie  mündl.  u.  schriftl.  bgn.  im  Klassenunterrichte.  Auf 
Grund  v.  Unterrichtsversuchen  dargestellt.  2.  Aufl.  gr.  8'^.  (VUI.  154  S.) 
Marburg  i/H.,  N.  G.  Elwert's  Verl.     2.70. 

Schoepke.  Der  französische  und  englische  Unterricht  im  Dienste  des  Deut- 
schen.    Progr.   der   städtischen   Realschule  zu  Dresden.     .lohannstadt. 

23  S.     40. 

Strien,  G.     Der  französische  Anfangsunterricht  am  Gymnasium  nach  den 

neuen  prenssischen  Lehrpläneii.     Pr.  Dessau.     15  S.     4°. 
Tauhir,  J.    Ziele  und  Wege  des  französischen  Unterrichtes  auf  der  Unter- 

und  Mittelstufe   der   niederösterreichischen  Realschulen.     Pr.     Krems. 

22  S.     80. 
Tohler,   Ad.     Romanische   Philologie.     [In:   Die   deutschen   Universitäten. 

Für   die   Uuiversitätsausstellung   in   Chicago  1893,   unter   Mitwirkung 

zahlreicher   I'niversitätslehrer   hrsg.   von   Prof.  "W.  Lexis.     2  Bde.  gr. 

Lex.-8o.     (XII,   620  u.  VII,  406  t>.).     Berlin,  A.  Asher  &  Co.     24  M.] 
Winddhorn,  F.    Zur  Theorie  unil  Praxis  des  l'nterrichts  in  den  fremden 

Sprachen.     Pr.     Unter-Barmen.     24  S.     40. 
Woher,  E.     Zum  französischen   Unterricht.     Kritische  Bemerkungen  und 

praktische  Erfahrungen.     Pr.     Berlin.     31  S.     4°. 


Novitätenverzeicimis.  279 

AdvieUe,   V.    Le  Theätre  ä  Arras  et  ä  Lille  en  1683.    Les  Representations 

de  Dancourt.     In-S",  XII-52  p.     Lille,  Quarre.    Paris.  Tresse  et  Stock. 

[Petite  Bibliotheiiue  du  nord  de  la  France.] 
Ammami,  J.  J.     Das  Verhältnis  von  Strickers  Karl  zum  Eolandslied  des 

Pfaffen   Konrad   mit   Berücksichtigung   der   C'lianson   de  Eoland.     Pr. 

Krumau.     32  S.     8°. 
Barine,  Ä.    Alired  de  Musset.    In-16,  183  p.  et  portrait.    Paris,  Hacbette 

et  Ce.     2  fr.     [Les  Grands  Ecrivains  frangais.J 
Becker,  Ph.  Aug.     Jean  Lemaire,   der  erste  humanistische  Dichter  Frank- 
reichs.    8".     (XII,  390  S.)     Strassburg  i/E.,  K.  J.  Trübner,  Verl. 
Bklier,  J.     De  Nicoiao  Museto   (gallice:  Colin  Muset).  francogallico  car- 

minum  scriptore  (these).     In-8'',  141  p.     Paris,  Bouillon. 
—  Les  Fabliaux.     Etudes   de  litterature  populaire  et  d'histoire  litteraire 

du  nioyen  äge.     In-S",  XXVni-488  pages.     Paris,  Bouillon.     [Forme 

le  98«  fascicule  de  la  bibliotheque  de  PEcole  des  hautes  etudes.] 
Benard.  P.     Moliere   et  sa   troupe   ont-ils  donne   des  representations  en 

Picardie?    lecture  faite  daus  la  seance  publique  annuelle  de  la  Societe 

academique  de  Saint-Quentin  du  18  mars  1891.    In-8°,  15  pages.    Saint- 

Quentin,  imp.  Poette.  (1892). 
Bondois,  P.     Les   Grands   Fran^ais.     Victor   Hugo:   sa   vie,   ses   oeuvres. 

4e  edition.    In-8°,  109  p.  et  portraits.    Paris,  Picard  et  Kaan.    1  fr.  90. 

[Bibliotheque  d'education  nationale.  —  Collection  Picard.] 
Bouqiiet.  F.     Points  obscurs  et  nouveaux  de  la  vie  de  Pierre  Corneille, 

etude  historique  et  critique,  avec  pieces  justificatives.     In-8°,  XVI-394 

pages.     Paris.  Hachette  et  Ce.     7  fr.  50.     (1888.) 
Cledat,  L.    La  Poesie  lyrique  et  satirique  en  France  au  moyen  äge.    Avec 

plusieurs  reproductions  d'apres  des  documents  uriginaux.   In-S",  240  pag. 

Paris.  Lecene,  Oudin  et  C»?.     [Collection  des  classiques  populaires.] 
Deschanel,   E.     Lamartine.     2    vol.    In-18  Jesus.    T.  1er,  XI-327  p.    t.  2, 

337  p.     Paris,  C.  Levy;  Libr.  nouvelle.     7  fr. 
Bescostes,  F.     Joseph   le  Maistre  avant    la  Revolution.     Souvenirs  de  la 

societe  d'autrefois  (1753-1793).    2  vol.  In-80,  T.  ler,  337  p.  et  portrait; 

t.  2.  407  p.  et  Portrait.     Paris,  Picard  et  fils. 
Despres,  A.    Les  Editions  illustrees  des  Fahles  de  La  Fontaine.    , Supple- 
ment."    In-8°,  19  pages.     Paris.  Rouquette  et  fils. 
Dreyer,  K.     Hartmanns  von  Aue  Erec   und  seine   altfranzösische   Quelle. 

Pr.     Königsberg.     33  S.     4". 
Dühring,  Dr.  Eiig.    Die  Grössen  der  modernen  Literatur,  populär  u.  kritisch 

nach  neuen  Gesichtspunkten  dargestellt.    2.  Abth. :  Grössenschätzung.  — 

Rousseau.     Schiller.     Byron.     Shelley.  —   Blosse  Auszeichngn.     Jahr- 

hundertsabschluss.    gr.  S».     (XVI,   412  S.)     L.,  C.  G.  Naumann.  8,—. 
Ei^tignard,  A.     Xavier   Marmier;    sa    vie   et   ses    oeuvres.     In-8°,   291    p. 

Paris,  H...Champion. 
Fischer,  K.  Über  Montchrestien's  Tragr)dien.  I.  Teil.  Pr.  Rheine.  32  S.  4°. 
Fouillee,  A.    Descartes.    In-16,  207  p.  et  portrait.    Paris,  Hachette  et  Ce. 

2  fr.    [Les  Grands  Ecrivains  fran^'ais.] 
Gaste,  A.     Les  Drames  liturgiques  de  la  cathedrale  de  Rouen  (contribu- 

tion   ä   l'histoire   des   origines   du   theätre   en   France).     In-8°,   87   p. 

Evreux,  imp.  Odieuvrc.    [Extrait  de  la  Revue  catholique  de  Normandie.] 
Gauthiez,  P.     Etudes  sur  le  XVIe    siecle  (Rabelais,   Montaigne,   Calvin). 

In-18  Jesus,   XVIII-339  p.     Paris,    Lecene,   Oudin  et  C«.     [Nouvelle 

Bibliotheque  litteraire.] 
Geiger,  A.     Petrarca  und  Rousseau.     Berlin.  Lesser.     M.  0,60. 
Geist,  A.    Studien  über  Alfred  de  Musset  nebst  einer  erstmaligen  metrischen 

Uebersetzung  der  Epistel  Lettre  ä  Lamartine.    Pr.    Eiohstaett.    65  S.  8°. 


280  Novitütenverzeichnis. 

Ginisty,  P.     L'Annee  litteraire:   par  Paul  Ginisty.     Avec  une  preface  de 

Henrik  Ibsen.    (8e  annee.  1892.)    In-18  Jesus,  XII-339  p.    Paris,  Char- 

pentier  et  Fas(iuelle.     3  fr.  50.     [Bibliothöque  Charpentier.] 
Grfard .   0.     L'Eflucation   des  femmes  par   les  ferames.     Etudes   et  Por- 

traits.    (Fenelon,  M^e  de  Maintenon,  Mme  de  Lambert,  J.  J.  Rou.sseau, 

Mrae  d'Epinay,  Mme  Necker,  Mme  Roland.)     4^   edition.    In-16,  XXXI- 

366  p.     Paris,  Hachette  et  Ce.     3  fr.  50.     [Bibliotheque  variee.] 
Haurvau,  B.     Jean  de  Hesdin.     [In:  Romania  XXII.] 
Hervieitx,  L.     Les  Fabulistes  latins  depuis  le  siecle  d' Auguste  jusqu'  ä,  la 

fin  du  raoyen  äge.     T.  3:    Avianus  et  ses  anciens  imitateurs.     In-8°, 

III-535  p.     Paris,  Firmin-Didot  et  Ce.     (1894.) 
Homme  (V)  au  masque  de  fer,  c'est ...   Moliere.  opinion  emise  par  Ubalde 

et  presentee  ä   nouveau   par    Un  bouquineur.     In-16.  48  p.     Aix-les- 

Bains,  Gereute. 
Hubert,  B.    Die  Plaideurs  Racines.    Eine  litterarhistorische  Studie.    Pr. 

Leipzig.     24  S.     8". 
Jacob.     M>ne  de  Sevigne  et  ses  enfants  ä  la  cour  de  Versailles:  THeritier 

de  M.  le  maire :  la  3Iascarade  de  Scarron ;  la  Princesse  Ida.    Illustrations 

de  P.  Kauffmann   et  Ferdinandus.     2e   edition.     In-8'',   233  p.     Paris, 

üelagrave. 
Kleinschmidt,  A.    Fenelon.     [In:  Nord  und  Süd.     Juni.] 
Kriegamann,    G.      Voltaire's    Beziehungen    zu    Turgot.      Programm    des 

Gymnasiums  zu  Wandsbeck.     17  S.     4". 
Lambert,   F.     Studien   zu   J.  J.  Rousseaus   Emil.     I.    Die   Abhängigkeit 

J.  J.  Rousseaus  in  seiner  Erziehungslehre  von  J.  Locke.     Pr.     Halle. 

34  S.     4°. 
Laporte,  A.     Les  Bouquinistes  et  les  Quais  de  Paris  tels  qu'ils  sont.    Re- 
futation du  pamphlet  d'O.  Uzanne,  .le  Monsieur  de  ces  dames  ä  leven- 

tail,  ä  l'ombrelle,  etc.''  In-18,  82p.  Paris,  tous  les  bouquinistes  des  quais. 
Lippold,  G.  F.    Bemerkungen  zu  Corneilles  Cinna  (Teil  I).    Pr.    Zwickau. 

19  S.     4». 
Meissner,  Dr.  Fritz.     Der  Einfluss  deutschen  Geistes  auf  die  französische 

Litteratur  d.  19.  Jahrh.  bis  1870.    gr.  8o.    (YIU,  249  S.)    L..  Renger. 
Montvqut,  E.     Esquisses  litteraires.     In-16,  319  p.    Paris,  Hachette  et  C®. 

3  fr.  50  cent. 
Morel- Fatio,  A.     Sur  Guillaume  de  Mustaut.     [In:  Romania  XXII.] 
Noelle,  A.  Beiträge  zum  Studium  der  Fabel  mit  besonderer  Berücksichtigung 

Jean  de  La  Fontaine's.     Nebst  vergleichenden  Texten  und  metrischen 

Verdeutschungen.     Pr.     Cuxhaven.     57  S.     4''. 
Nouri/,  J.     Le  Theätre-Fran^ais  de  Ronen  en  1793  (direction  Ribie).  d'a- 

pres  des  docuraents  inedits.     In-16,  67  p.    Ronen,  imprimerie  Lapierre. 

[Extrait  du  Patriote  de  Normandie,  Nouvelliste  de  Ronen,   des  23,  24, 

25,  30,  31  janvier  et  des  2,  4,  6,  8,  9,  10  fevrier.] 

—  Les  Coniediens  ä  Ronen  au  XVII^  siecle,  d'apres  les  registres  parois- 
siaux  de  Saint-Eloi.  In-16.  41  pages.  Ronen.  Lapierre.  [Extrait  du 
Patriote  de  Normandie,  Nouvelliste  de  Konen  des  12,  13.  14.  15  d6- 
cembre  1892,  et  des  4,  5  et  13  janvier  1893.] 

Piaget.  A.    Simon  (rreban  et  Jacques  Millet.    [In:  Romania XXII,  S.  230  ff.] 
Picot,  E.    Je  jeu  des  cent  drutz.     [In:  Romania  XXII] 

—  et  Piaget,  A.  Une  supercherie  d'Antoine  Verard.  [In:  Romania  XXII, 
244  ff.] 

Portal,  E.    La  letteratura  provenzale  moderna.    Palermo,  Pedone  Lauriel. 

4.37  S.     18. 
Renourier,  C.     Victor   Hugo   le   poeto.     In-18   Jesus,    VIII-375  p.     Paris, 

Colin  et  Ce. 


Nov'dätenverzeiclinis.  281 

IRiezler.  Naimes  von  Bayern  u.  Ogier  der  Däne.  Ak.  München.  1892.  96  S.  8°. 
Bequin.    Jean  de  Fontay  et  le  tonibeau  d'Alain  Chartier.    In-S",  10  pages- 

Paris,  Leroux.     [Extrait  du  Bulletin  archeologique  du  comite  des  tra- 

vaux  historiques  et  scientifiques  (no  3,  1892).] 
Reynier,   G.     Thomas  Corneille:    sa    vie    et    son  theätre  (these).     In -8", 

392  p.     Paris;  Hachette  et  Qe.     7  fr.  50. 
SalomuH,  0.     Föreläsningar  ofver  Jean  Jacques  Rousseau  med  hänsjn  tili 

hans  uppfostringsgrundsatzer.  II.  Gothenburg,  Wettergren  &  Kerber.  8". 
Samhuc,  E.     Etüde  sur  Casimir  Delavigne.    In-8'',  32  pages.    Paris,  Duc. 

[Bibliotheque  de  la  Province.] 
Sandras,  E.  G.    Legons  sur  Tbistoire  de  la  litterature  frangaise.    18?  edit. 

In-12,  384. p.     Paris.  Belin  freres. 
Sporleder,  C.  Über  Montchrestien's  „Escossoise.^  Diss.  Marburg  93.  44  8.4". 
Stieff,  L.     P.  Corneilles,   seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen  Stellung  zu 

Aristoteles  und  den  drei  Einheiten,  und  Corneille  als  Theoretikea*   bis 

zum  Erscheinen   seiner   drei  Discours   im  Jahre   1660.     I.   Progr.   des 

Realgymnasiums  zum  heiligen  Geist  in  Breslau.     39  S.     4". 
'Thomas,  A.    Chretien  de  Troyes  et  l'auteur  de  lOvide  moralise.  [In:    Ro- 

mania  XXII.] 
Wagner,  Ernst    Winfried.     Meilin   de  Saint-Gelais.     Eine  litteratur-  u. 

sprachgescbichtl.   Untersuchg.     Diss     gr.  8^     (151  S.)     Ludwigshafen, 

A.  Lauterborn. 


Barberino,  Andrea  Da.  J.  Reali  di  Francia.  Testo  critico  per  cura  di 
Gius.  Vandelli  II,  1.  Bologna,  Romagnoli.  CXVIII-291  S.  L.  10. 
[Coli,  di  opere  inedite  e  rare.] 

Cloetta,  W.     Le  mystere  de  l'epoux.     [In:  Romania  XXII,  177  ff.] 

Descliamps,  E.  (Euvres  completes.  Publiees  d'apres  le  manuscrit  de  la 
Bibliotheque  nationale  par  Gaston  Raynaud.  VIII.  In-8°,  366  p.  Paris, 
Firmin-Didot  et  Ce.     [Societe  des  anciens  textes  francais.] 

Doncieux,  G.  Fragment  d'un  miracle  de  sainte  Madeleine.  [In:  Ro- 
mania XXII.] 

Extraits  de  la  Chanson  de  Boland,  publies  avec  une  introduction  litteraire, 
des  observations  grammaticales ,  des  notes  et  uii  glossaire  cou.plet, 
par  Gaston  Paris.  4^  edition,  revue  et  corrigee.  Petit  in- 16,  XXXIV- 
166  p.  Paris,  imp.  Lahure;  lib.  Hachette  et  C'e.  l  fr.  50.  [Classiiiues 
francais.] 

Extraits  des  chroniqueurs  francais  du  moyen  äge  (Villehardouin,  Joinville, 
Froissart,  Commines),  avec  notices  biographiques  et  notes  grammaticales 
par  L.  Petit  de  Julleville.    In-18  Jesus,  412  pages.    Paris,  Colin  er  Ce. 

Link,  Th.     Der  Roman  d'Abladanc      [In:  Zs.  f  rom.  Phil.  XVII,  21.")  ft.] 

Picot,  E.  Cumplement  de  TOraison  d'Arnoul  Greban  ä  la  Vierge.  [Jii: 
Romania  XXIL] 

Stimming,  A.  Anglonormannische  Version  von  Eduards  I.  Statutuni  de 
viris  religiosis.     [In:  Zs.  f.  rom.  Phil.  XVII,  279  ff'.]. 

Zenker,   R.     Der  Lai  de  lEpine.     [In:    Zs.  f.  rom.  Phil.  XVII,  233  ff.J 


Bossuet.  Oraisons  funebres.  Xouvelle  edition,  revue  sur  celle  de  1689, 
avec  une  introduction,  des  notes  philologiques,  histori(iues  et  litteraires 
et  un  choix  de  documents  historiques,  par  P.  .Jacquinet.  ln-18  Jesus, 
XXII-5Ö9  p.     Paris,  Belin  freres. 

Corneille,  F.  (Euvres  completes  de  P.  Corneille.  Suiviea  des  (Euvres  choi- 
sies  de  Thomas  Corneille.  T.  l^r.  In-16.  XII-439  p.  Paris,  Hachette 
et  O.     1  fr.  25.     [Les  Principaux  Ecrivains  francais.] 


282  Nomtätenverzeichnis. 

Dumas,  A.  Theätre  complet  d'Alexandre  Dumas  tils.  Edition  des  come- 
diens.  T.  7.  (La  Piincesse  de  Bagdad:  Denise:  Francillun.)  In-8<*, 
456  p.     Paris,  C.  Levy. 

Fenelon.  Opuscules  academiques  de  Fenelon,  contenant  le  discours  de 
reeeption  ä  rAcademie  frangaise.  le  memoire  sur  les  occupations  de 
l'Acaderaie,  et  la  lettre  ä  l'Acaderaie  sur  Teloquence,  la  poesie,  l'histoire. 
etc.  Edition  classique,  revue  et  annotee  par  C.  (>.  Delzons.  In-16, 
XX-123  p.     Paris,  Hacliette  et  Qe.     80  cent.     [Classiques  franyais.] 

Feuillet,  0.  Theätre  complet.  T.  4.  (Le  Sphynx;  Fn  roman  parisien; 
la  Partie  de  dames;  Chamillac.)  Li-18  Jesus,  459  pages.  Paris,  ('.  Levj-; 
Librairie  nouvelle.     3  fr.  50.     [Bibliothe(iue  contemporaine.] 

Frangois  de  Sales  {sai)it).  CEuvres.  Edition  complete.  d'apres  ks  auto- 
graphes  et  les  editions  originales,  enrichie  de  nombreuses  pieces  ine- 
dites,  publiee  par  les  soins  des  Heligieuses  de  la  Visitation  du  preraier 
monastere  d'Annecy.  T.  2:  Defense  de  l'estendart  de  la  sainte  Croix. 
In-H",  XLVn-484  p.  et  fac-simile.    Annecy,  imprim.  Nierat.    8  fr.    (1892.) 

Gilbert,  F.  (Euvres  choisies.  Publiees  avec  les  corrections  de  l'auteur 
et  les  variantcs  litteraires,  precedees  de  pages  liminaires  inedites  sur 
la  vie,  la  mort,  le  testament  et  les  ecrits  du  poete,  par  l'abbe  P.  Huot, 
„Pierre  d'Arc",  de  la  Societe  des  gens  de  lottres.  Editinn  „ne  varietur-. 
Li-8«,  LXIV-157  pages.     Paris,  Sevin;  Nilssoii.     8  fr.  50. 

Hugo,  V.  CEuvres  completes.  Edition  definitive,  d'apres  les  maniiscrits 
originaux.  Victor  Hugo  raconte  par  un  temoin  de  sa  vie  (1818-1821). 
(Euvres  de  la  premiere  jeunesse.  In-16,  268  p.  Paris,  lib.  Hetzel 
et  Ce.     2  fr. 

—  (Euvres  completes  de  Victor  Hugo.  Edition  definitive  d'apres  les  ma- 
nuscrits  originaux.  Victor  Hugo  raconte  par  un  temoin  de  sa  vie 
(1822-1841).     „Mesfils."    In-16.  267  p.    Paris,  libr.    Hetzel  et  Ce.2  fr. 

—  (Euvres  completes.  Edition  nationale.  Illnstrations  d'apres  les  dessins 
originaux  de  nos  grands  maitres.  Histoire.  I:  Napoleon  le  Petit. 
Fascicules  1  et  2.     Petit  m-i°,  p.  1  ä  144.     Paris,  Testard. 

—  (Euvres  inedites  de  Victor  Hugo.  Toute  la  lyre  (derniere  serie).  In-8°, 
803  p.     Paris,  libr.  May  et  Motteroz:  Hetzel  et  C'\     7  fr.  50. 

—  (Euvres  inedites  de  Victor  Hugo.  Toute  la  lyre.  (Derniere  Serie.) 
In-16,  296  pages.     Paris,  May  et  Motteroz.     3  fr.  50. 

Lamartine.  (Euvres  de  Lamartine.  ,.Les  Confidences."  In-16,  394  pages. 
Paris.  Hacliette  et  Ce;  Jouvet  et  ('e.  8  fr.  50.  [Cettc  edition  est 
publiee  par  les  soins   de   la  Societe  proprietaire  de  M.  de  Lamartine.] 

La  Fontaine.  Contes  et  Nouvelles  de  La  Fontaine.  T.  8.  In-82.  127  pages 
avec   grav.     Paris,  Boulanger.     60  cent.    [Petit  Bibliotlieiiue  diamant.j 

—  Fables.  Nouvelle  edition,  reviseo  ot  augmentee,  cullationnee  sur  les 
meilleurs  textes,  et  renfermant  un  commentaire  grammarical  et  litte- 
raire,  une  histoire  resumee  de  la  fable  depuis  les  origines  jus(|u'au 
XVIL*  siecle.  une  etudc  sur  la  composition  et  le  style  ilans  les  fables 
de  La  Fontaine  et  une  vie  de  l'auteur  d'apres  les  plus  recents  biographes, 
par  M.  Charles  Aubertin.     In-12,  595  p.     Paris.  Belin  freres. 

—  (Euvres  completes  de  La  Fontaine.  T.  3.  In-16,  479  p.  Paris,  Hachette 
et  Ce,     1  fr.  25.     [Les  Principaux  Ecrivains  fran^ais.] 

Marivaux.  CEuvres  choisies  de  Marivaux.  T.  l<?r.  (Le  Jeu  de  lamour 
et  du  hasard;  l'Eprcuve.)  In-32,  160  p.  Paris,  Berthier.  25  cent. 
[Bibliotheque  nationale.] 

Möllere.  CEuvres.  Nouvelle  edition,  revue  sur  les  plus  ancienues  impres- 
sions  et  augmentee  de  variantcs,  de  notices.  de  notes,  d'un  lexique 
des  niots  et  locutions  remarquables,   de  portraits,   de  fac-similes,  etc., 


Novitätenverseichms.  283 

par  MM.  Eugene  Despois  et  Paul  Mesnard.  T.  11.  Xotice  bibliugra- 
phique,  additions  et  correetions  par  M.  Arthur  Desfeuilles.  In-S", 
333  p.  Paris,  Hachette  et  C^.  7  fr.  50.  [Les  Grands  Ecrivains  de 
la  France.] 
Moliere.  (Euvres  completes.  T.  3:  le  Misanthrope;  l'Ecole  des  maris;  les 
Fächeux.  Illustrations  de  Louis-Edouard  Fournier.  In-32,  266  p.  Paris, 
Dentu.     2  fr.     [Petite  coUection  Guiilaume.] 

—  (Euvres  completes.  II.  (Sganarelle :  Don  Garcie  de  Navarre ;  les  Fuur- 
beries  de  Scapin.)  Illustrations  de  Louis-Edouard  Fournier.  In-32, 
284  p.     Paris,  Dentu.     2  fr.     [Petite  collection  Guiilaume.] 

—  Le  Tartuffe,  comedie.  Texte  revue  sur  l'edition  originale  et  public 
avec  commentaire,  etude  sur  la  piece  et  notice  historique  sur  le  theätre 
de  Moliere  par  Emile  Boully.    In-12,  LXXVI-133  p.    Paris,  Belin  freres. 

—  L'Avare,  comedie.  Xouvelle  edition,  conforme  ä  l'edition  princeps,  avec 
toutes  les  variantes,  une  etude  sur  la  piece,  un  commentaire  historique, 
pbilologique  et  litteraire  par  AI.  Marcou.  In-18  Jesus,  VIII-160  p. 
Paris,  Garnier  freres. 

—  George  Dandin.  ou  le  Mari  confondu.  comedie  en  trois  actes.  Avec 
une  notice  et  des  notes  par  Georges  Monval.  Dessin  de  L.  Leloir,  grave 
ä  eau-forte  par  Champollion.    In-16.  X-92  p.     Paris,  Flammariou.    6  fr. 

—  Theätre  de  Moliere.  Texte  collationne  sur  les  meilleures  editions. 
Eaux-fortes  de  Paul  Avril.  T.  4.  In-32,  361  p.  Paris,  Arnould. 
(1892.)     [Petite  Bibliotheque  portative.] 

Montaigne.    Essais.    Premier  livre.    In-32.  189  pages.    Paris,  imp.  Mangeot; 

üb.  de  la  Bibliotheque  nationale.     25  cent.     [Bibliotheque  nationale.] 
Precost.     Manon  Lescaut.     T.  2.    In-32,  124  p.  avec  grav.    Sceaux,  impr. 

Charaire  et  t'e.     Paris,    Boulanger.    60  cent.     [Petite  Bibliotheque  di- 

amant.  no  15.] 
Regnard.     Theätre   de  Regnard.     Suivi  des  Poesies   diverses,   de   la  Pro- 

vengale,  des  Voyages  en  Laponie.  en  Suede.  etc.    Avec  une  introduetion 

par  M.  Louis  Moland.    In-18  Jesus,  XVI-578  p.    Paris,  imprim.  ^louillot; 

librairie  Garnier  freres. 
Samt-Simon.     Memoires.     Pulilies  par   MM.   Cheruel  et  Ad.  Eegnier   fils. 

T.  20:    Table  analytique,    redigee  par   Tauteur  lui-meme    et   imprimee 

pour  la  premiere  fois  d'apres  son  manuscrit  autographe.     2'"   edition. 

ln-16,  IV-641  p.     Paris,  Hachette  et  Qe.     3  fr.  50. 
Sevigne  {Mme  de\     Lettres  choisies.   accompagnees  de  notes  explicatives 

sur   les  faits  et   les  personnages   du   temps,   precedees   d'observations 

litteraires  par  M.  Sainte-Beuve  et  du  portrait  de  M'"«'  de  Sevigne  par 

Muie  de  Lafayette  sous  le  nf>m  d'un  inconnu.    In-18  Jesus,  XIX-540  p. 

Paris.  Garnier  freres. 
Villon,   F.     (Euvres   completes   de   Frangois   Villon.     Publiee.s   avec   une 

etude  si;r  Villon.    des  notes.  la  liste  des  personnages  historiques  et  la 

bibliographie.  par  M.  Louis  Jlidand.     In-18  Jesus.  XLIX-343  p.    Paris, 

Garnier  freres. 
Voltaire.     (Euvres   completes    de  Voltaire.     2   vol.     ln-16.     T.  7,   423  p.; 

t.  22,   315  p.     Paris.   Hachette  et  ('e.     Chaque   tome.    1  fr.  25.     [Les 

Principaux  Ecrivains  fran^ais.] 

—  Zadig,  ou  la  Destinee,  histoire  Orientale.  Illustrations  de  J.  (iarnier. 
•E.  Piops  et  A.  Robaudi,  gravees  en  couleurs  par  (iaujeau.  In-4°.  169  p. 
Paris,  impr.  Chamerot  et  Eenouard;  „les  Amis  des  livres". 

Zola,  E.  Les  Rougon-Macquart.  Histoire  naturelle  et  sociale  d'une  fa- 
raille  sous  le  second  Empire.     Le  Docteur  Pascal.     In-lS  .i^'^us,  396  {) 


284  Novitätenverzeichnis. 

et  tableau.     Paris,   Charpentier  et  Fasquelle.     3  fr.  50.     (Bibliotheque 

Charpentier.J 


Godefroy,  F.  Morceaux  choisis  des  prosateurs  et  poetes  fran^ais  des  XVll*' , 
XYIII«"  et  XIXe  siecles,  presentes  dans  Fordre  chronolu^ique.  gradues 
et  accompagnes  de  notices  et  de  notes.  C'cmrs  superieur:  Prosateurs. 
3e   edition.     In-18  Jesus,  VIII-734  p.     Paris.  Gaume  et  C*". 

Marcou,  F.  L.  Morceaux  choisis  des  classiques  fran(;ai3  (XVIe.  XVIIe, 
XVIII«'  et  XIXe  siecles),  ä  Tusage  des  classes  de  sixieme.  cinquieme 
et  quatrieme.  8^  edition.  2  vol.  In-18  Jesus.  Prosateurs,  ¥111-456  p.; 
Poetes,  VIII-486  p.     Paris,  Garnier  freres. 

Pellissier,  Ä.  Morceaux  choisis  des  classiques  frangais  (prose  et  vers). 
Recueil  compose  d'apres  les  programnies  officiels  pour  la  classe  de  troi- 
sieme.  Nonvelle  edition.  In-16,  320  p.  Paris,  Hachette  et  C^.  2  fr. 
[Cours  gradue  de  litterature  fran^aise.] 


Alexander,  R.  Le  Muse  de  la  conversation.  Kepertoir  de  citations  fian- 
qaises,  dictions  modernes,  curiosites  litteraires.  historiques  et  anecdo- 
tiques  avec  une  indication  precise  des  noms.    Paris.  Bouillon.  VII.  446  S. 

Bruno,  G.  Le  Tour  de  la  France  par  deux  enfants.  Devoir  et  Patrie. 
Livre  de  lecture  courante.  Cours  moyen.  Livre  du  uiaitre.  6.  edition. 
In-12,  512  p.  avec  plus  de  200  grav.     Paris.  Belin  freres. 

—  Le  Tour  de  la  France  par  deux  enfants.  Devoir  et  Patrie.  Livre  de 
lecture  courante.  avec  plus  de  200  grav.  instructives  pour  les  legons  de 
choses.  233*3  edition.  (Programme  du  27  juillet  1882.)  Cours  moyen. 
In-12,  312  p.  avec  grav.     Paris.  Belin  freres. 

Grisot.  Morceaux  choisis  de  litterature  franraise  (prose  et  poesie).  Cours 
elementaire.  10''  edition.  In-16.  376  p.  Saint-Cloud,  iraprim.  Belin 
freres.     Paris,  lib.  de  la  meme  maison. 

Leroy,  C.  Lectures  graduees  et  legons  pratiques  de  litterature  et  de 
style  (prose  et  poesie).  renfermant  des  modeles  tires  des  meilleurs  au- 
teurs,  avec  des  appreciations.  des  notices  biographiqucs.  des  definiticms 
des  divers  genres  de  composition.  37''  edition.  In-18,  VI-514  p.  Paris. 
Belin  freres. 

Maciue.  Athalie,  tragedie.  Precedee  d'une  etude  et  accumpagnee  des  notes 
liistori(iues,  grammaticales  et  litteraires  par  E.  Anthoine.  A  Tusage 
des  classes  d'enseignemcnt  primaire.  In-16,  XXXV- 100  p.  Paris, 
Hachette  et  Cf.     l  fr.  25. 

Sammlung  franziisischer  u.  englischer  Gedichte  zum  Auswendiglernen. 
Für  hiihere  T'nterricht*anstalten  zusammengestellt  vom  Lehrerkollegium 
der  höheren  Mädchenschule  zu  Duisburg,  gr.  8°.  105  S.)  l)uisburg, 
J.  Ewich.     1.20. 

Argot  {VJ  de  Sainl-Cyr.     In-32,  VIll-76  p.     Paris,  Ollendorff. 

Florox,   L.     Französische  Elemente    in    der  Volkssprache    des  nördlichen 

Roergebiets.     [.lahresbericht   über  das  Keal- Progymnasium  der  Stadt 

Viersen.]     28  S.    4". 
Hingre.     Observations   ä    propos    des   chuintantcs    du    patois   de    Coligny. 

[In:  Rev.  de  phil.  fran^.  et  pruv.     VIII,  1.] 
Nouceau   de)    petit   Dictionnaire   d'argot.    ou   le   Langage   tin   de   siecle. 

In-18  Jesus,  8  pages  avec  vign.     Paris,  (iabillaud. 
Puichaud,  C.     Dictionnaire   du  patois  du  Bas-Gätinais.     [In:    Revue  de 

phil.  fr.  et  prov.  VII.T.] 


Novitätenverzeklmis.  285 

Zeligzon,  L.     Aus  der  Wallonie.     Wissenschaftliche  Beilage  zum  Jahres- 
bericht des  Lyceums  zu  Metz.     28  S.     4°. 
Armana  marsihes  per  Vannado  1892.     Eecuei  de  coiite,  charradisso,   can- 

soun  e  galejado.     (4^  aniiado.)    In-4°.  91  p.  et  annonces.     Marseille, 

impr.  du  Petit  Marseillais;  15,  quai  du  Canal. 
Bonnardot,  Fr.     Patois  lorrain-messin.     Daillements  recueillis  sur  place 

par  FraiKjois  Bonnardot.    CJornpositions  poetiques  par  Tahlie  Hubert  Yion. 

eure  de  Bazoncourt.    [In:  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lotlir.  Geschichte 

und  Alterthumskunde  IV,  2.     (1892.).] 
Chanson  nourelle,   en  patois;   i)ar  C.  D-     In-4°  ä  2  col..  1  page.     La  Ma- 
deleine, imprini.  Dumoulin-Rousselle. 
Courrcspovndaici  de  l'escolo  felibrcnco  de  Paris.     Ir^  annee.    N"   1.    In-8" 

ä  2  col.,  4  p.     Paris,  impr.  Duc;  121,  boulcvard  de  Sebastopol. 
'Latidupe,   C.     N'  vous  fiez  point  aux  appareinces,   chanson  nouvelle  en 

patois  de  Lille;  par  Cesar  Latulupe,   de   1'  Vaclette.     In-4°  ä  2  col., 

1  p.     Lille,  Delory. 
Littte  (la)  ä  cop's  d'tijon,  chanson  nouvelle  en  patois  de  Wavrin;  par  Un 

sans-souci  Avavrinois.    In-4*'  ä  2  col..  1  p.    Lille,  imprimerie  Vaudroth- 

Fauconnier. 
Marquiset,  A.  L.     Mössieu  Joseph,   piece  en  un  acte.     In-8°,    23  pages. 

Besan^on,    imp.    Jacquin.      [Premiere    representation    ä    Besangon,    le 

22  janvier  1893.     Extrait   des   Annales    franc-comtoises    (livraison   de 

mars-avril  1893).] 
Mcplo)id,  E.     Au  reveil  beige,  chanson  nouvelle  en  patois  de  Lille;  par 

Emile  Meplond.     In-4°  ä  2  c(d..  1  p.  Lille,  imp.  Delory. 
Philippo,  L.     Un  homme  desespere,  chanson  nouvelle  en  patois  de  Lille. 

In-4''  ä  2  col..  1  page.     Lille,  imprimerie  Liegeois-8ix. 
Plauchud,  E.     La  Fado  de  l'Aven.     In-8°,  23  p.  Digne,  imprim.  Chaspoul, 

Constans  et  Ye  Barbaroux.     (1892.)     [Extrait  du  Bulletin  de  la  Societe 

scientifique  et  litteraire  des  Basses -Alpes]. 
Tauche,   H.     L'Idee    des   sinciers.   chanson   nouvelle   en   patois   de   Lille. 

In-4''  ä  2  col.,  1  page.     Lille,  imprimerie  Wilmot-('ourtecuisse. 
Un  cocu  console  (chanson  nouvelle  en  patoisj;  par  J.  B.  V.     ^1-4"  k  2  col.. 

1  page.     Lille,  imprimerie  Delory. 
Visner,  G.    Le  Eamel  pa'isan  del  parla  moundi,  cants  caousits  de  G.  Visner 

Am'    un    ajustou   d'ensach   e   disputo    de   traducciou   franceso   e  letro- 

prefac^'o   de   Pascal   Gros   (Rimo-SaouQo) ,    directou   de    „la  Sartan"    de 

Marseilho.     In-8",  XXVIIl-140  pages  avec  vign.     Toulouse,  imprimerie 

Vialelle  et  C'e;  as  bureous  de  ,,le  Gril".     Paris,  Savine.     4  fr. 


Audigier,   C.     Quelques    coutumes    et   traditions    de    la   Haute-Auvergne. 

In-8'',  69  p.     Aurillac.  imprim.  Bancharel.     (1892.)     [Etüde  extraite  de 

la  Eevue  d'Auvergne.] 
Bar za,~- Brei z.     Chants  populaires   de  la  Bretagne,  recueillis.   traduits  et 

annotes  par  le  vicomte  Hersart  de  La  Villemarque,  de  llnstitut.     9e 

edition.     In-16,  GXXVI-545  p.     Paris.  Pcrrin  et  Ge 
David,  L.     Poesies  populaires.     In-S".  47  pages.     Älortain.  ]\Iathieu. 
Fagot,  P.     Folkhire   du  Lauraguais  (Pierre  Laroche).     Quatrieme   partie: 

Ghants.     In-S».  p.  161  ä  254.     Albi.  imp.  Amalric.     (1892.1 
La  Sicoiiere,  B.  de,  Bibliographie  des  usagcs  et  des  traditions  populaires 

du  departenient  de  rGrne.     In-8°,  35  p.     Vannes,  Lafolye.     1892. 
Legendes   hourguignonnes,   Eecits   histori(|ues    et   legendaiies.      Eanul    de 

Mont-Saint-Jean.  Philippe  Pot,  Petites  legendes,  par  M.  Tabbe  E.  B***. 


286  Novitätenverseichnis. 

cui-e   de  Volnay.     9e   edition.     In-S".    23i3   p.    avec   grav.     Tours,    lib. 

Marne  et  fils.  '(1891.) 
Le!<py,V.     Pictons  et  Pioverbes  du  Bearn.     Parismiologie   comparee.     2«' 

edition.   revue.   corrigee  et  augmentee.     In-8°.  XVI-289  p.     Pau,   imp. 

Garet.     (1892.) 
Pinea II,  S.,   le  Folklore  du  Poitou.     Avec  notes  et  index.     Paris,  Leroux. 

XI-557  p.     8".     5  fr. 
tidint- Martin,  L.     La  Guilloune,  etude  sur  la  Noel  populaire  en  Gascogne, 

en  France  et  ä  l'etranger.     Auch. 
SebiUoi,  P.     Traditions   et  Superstitions   de  la   boulangcrie.     In-8'',   76  p. 

et  Portrait.     Paris,  libr.  de  la  Bourse  du  commerce;   libr.  Lechevalier. 
Souvestrc,  E.,  E.  du  Laiireiis  de  la  Barre  et  F.  M.  LuzeJ.    l'ontes  et  Le- 
gendes de  Basse-Bretagne.     Avec  une  intruduction   par  Adrien  Oudin 

un   frontispice   de   Paul   Lliai'din   et   des   iliustrations   de  'V\\.  Busnel. 

Ll-4^  XXXVI-202  p.     Nantes,  Societe  de.-^  bibliophiles  bretons.  (1891.) 
Thnrici,  C.     Traditions  populaires  de  la  Haute-Saone  et  du  Jura.     In-16, 

X-65.S  p.     Paris.  Lechevalier. 


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PC  Zeitschrift  für  französische 

2003  Sprache  und  Literatur 

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Bd.  15 


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